Der Tote im Mittellandkanal - Andrea Gerecke - E-Book

Der Tote im Mittellandkanal E-Book

Andrea Gerecke

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Beschreibung

Keiner konnte ihm das Wasser reichen. Jedenfalls schien es immer so. Mit seinem unschlagbaren Charme überwältigte er jeden, ob Mann oder Frau. Nun liegt der überaus schöne Sven Kruse auf der Rückbank seines Porsche, mit billigem Kaninchendraht aus dem Baumarkt gefesselt, tot im Mittellandkanal. Ist der Tote, der einen ziemlich aufwendigen Lebensstil geführt hatte, Opfer einer Autoschieberbande, sind seine unzähligen Frauengeschichten ein Motiv oder hat er sich bei Bestechungen Feinde gemacht? Fragen über Fragen. Was zunächst völlig klar ist, wird im Laufe der Untersuchungen jedoch immer zweifelhafter, bis das Ermittlerteam erneut die berühmte Stecknadel im Heuhaufen findet. Ein neuer Fall für den erfolgreichen Kommissar Alexander Rosenbaum aus Berlin, der aufgrund seines problematischen Familienlebens weiterhin im westfälischen Minden ermittelt. Zur selben Zeit taucht ein alter Herr auf, der das rätselhafte Verschwinden seines alten Schulfreundes äußerst undurchsichtig findet. Die Anzeige bei der Polizei hat unangenehme Folgen für die Familie des Vermissten. Es kommt zu einer beispiellosen Erklärung …

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Im Verlag CW Niemeyer sind bereits

folgende Bücher der Autorin erschienen:

Mörderischer Feldzug

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

ISBN 978-3-8271-9416-9

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9819-8

Der Roman spielt direkt am Treffpunkt von Weser- und Wiehengebirge im Nordrhein-Westfälischen. Malerisch liegt das mittelgroße Städtchen an der Weser, die beide Erhebungen teilt oder vereint. Je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Alle Handlungen und Charaktere sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten ergeben sich also rein zufällig. Regionale Wiedererkennungseffekte sind indes erwünscht …

 

 

Über die Autorin:

Gebürtige Berlinerin mit stetem Koffer in der Stadt. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW. Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Literarische Spezialität sind mörderische Geschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach den Gutenachtgeschichten für Erwachsene „Gelegentlich tödlich“ folgten „Warum nicht Mord?!“ und „Ruhe unsanft“. 2011 erschien der erste Fall von Kommissar Alexander Rosenbaum „Mörderischer Feldzug“ innerhalb der Weserbergland-Krimi-Reihe, der in Minden spielt. Dazu kommen humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied bei den „Mörderischen Schwestern” und im „Syndikat” sowie im Leitungsteam der Mindener Lesebühne.

Siehe auch www.autorin-andrea-gerecke.de

 

 

„Aller Menschen harrt der Tod,

und keinen gibt’s auf Erden,

der untrüglich weiß, ob ihn der nächste Morgen

noch am Leben trifft.“

Euripides

Untergang

Der Mond stahl sich kurz durch eine Wolkenlücke und beleuchtete das Treiben. Kahle Bäume warfen filigrane Schatten. Ein paar Enten schnatterten aufgeregt. Kaum hörbar setzte der Wagen zurück, machte einen halben Kreis und entfernte sich dann vom Ufer, ohne dass die Scheinwerfer seinen Weg beleuchtet hätten. Zwei Personen saßen im Auto.

Unterdessen versank der Porsche, in dessen Lack sich die Nacht spiegelte, langsam im Mittellandkanal. Wasser stieg im Fahrzeug auf. Der Motor stotterte. Auf der Rückbank befand sich ein Mann, fest gewickelt in Kaninchendraht. An seinem Hinterkopf klaffte eine große Wunde und Blut verklebte die Haare. Er lag zusammengekrümmt, scheinbar tot. Als das eiskalte Wasser die Polsterung und damit auch ihn erreicht hatte, zuckte er plötzlich zusammen.

Sven Kruse schlug die Augen auf. Er glaubte sich in einem Albtraum, versuchte sich zu bewegen, zappelte, strampelte und schaffte es, sich aufrecht hinzusetzen. Sein Blick fiel auf das goldene Feuerzeug neben seinen Füßen. Es gehörte nicht ihm.

„Hilfe“, brüllte er. „Hilfe! Hört mich denn keiner?“

Keine Menschenseele konnte ihn hier, in einem Umfeld von lauter Industriebauten, um diese Tageszeit vernehmen. Rundum die Fluten, die das Fahrzeug umschlossen, waren schon über dem Wagen zusammengeschlagen und ließen kaum mehr Raum für einen Atemzug.

Sven Kruse legte den Kopf schräg unter das Dach, am ganzen Körper zitternd. Es gelang ihm, einen Finger aus dem Draht herauszuwinden und damit den Fensterheber zu betätigen. Eine Fingerspanne breit nur öffnete sich die Scheibe, dann versagte die Technik.

In Sekundenbruchteilen fuhr ihm sein ganzes Leben durch den Sinn. All die Schönen, die er geliebt hatte. Und jetzt das. Nie und nimmer hätte er damit gerechnet. Ausgerechnet damit. Er erinnerte sich an das Gerangel und dass er nach einem linken Haken seines Kontrahenten hintenüber gestürzt war. Dann das Blackout.

Sein Kopf geriet unter Wasser. Er hielt die Luft an. Eigentlich war er ein guter Schwimmer und konnte mühelos lange Tauchstrecken überwinden. Aber hier nahm die Panik Besitz von ihm. Ein letztes Mal bekam er etwas Oberhand. Während er dann doch automatisch Luft holte, gelangte Wasser in seine Lungen. Er hustete, verschluckte sich und spürte, wie es ihm den Magen anhob.

Mit den Füßen stampfte er auf den Boden, als ob das etwas hätte bringen können. Plötzlich erstarrten seine schreckgeweiteten Augen im Moment. Der Wagen setzte am Grund auf. Vom Motor war schon ein kleines Weilchen nichts mehr zu hören.

Die Enten hatten sich beruhigt. Das Wasser im Kanal schlug sanft an die Mauern.

Stille Nacht

Weihnachten war die Hölle. Es fing ja schon damit an, dass noch mehr Leute die glorreiche Idee hatten, an jenem Freitagnachmittag die A 2 gen Berlin zu bevölkern. Bis zur Autobahnauffahrt klappte alles einigermaßen, wenn man mal von dem maulenden Albert absah, der auf dem Beifahrersitz in seiner Transportkiste Radau machte. Doch das war Alexander Rosenbaum von seinem Vierbeiner gewöhnt. Der mochte die Fahrerei eben nicht. Und wenn Alexander ehrlich zu sich war, dann hatte auch er schon die Nase voll von den stundenlangen Touren. Jetzt jedenfalls standen sie kurz hinter Hannover, als die übliche Stop-and-go-Arie begann.

Heiligabend fiel in diesem Jahr auf einen Sonnabend und der Kommissar hatte sich die Woche zwischen den Feiertagen freigenommen. Wobei damit nur ein verschwindend kleiner Bruchteil seiner aufgelaufenen Überstunden abgegolten war. Es war in Minden nicht anders als in Berlin, Überstunden fielen eben auch hier bei Kommissaren an, und zwar reichlich. Grundsätzlich sollten die natürlich innerhalb der folgenden zwei bis drei Monate abgebummelt werden. Aber die Praxis bewies immer wieder die Funktionsunfähigkeit dieser Vorgabe. Entweder war die Personaldecke zu dünn oder die jeweilige Lage erlaubte einen Abbau der Stunden nicht.

Gern hätte sich Alexander Rosenbaum etwas davon bezahlen lassen wollen, aber das wurde nur sehr ungern genehmigt. Schließlich kostete das Geld! Er sah die Personalchefin Martina Mahler mit ihrer Lieblingsaussage und der Ablehnung vor sich. Also schob er gerade mal wieder einen Berg von Stunden vor sich her. In Erwartung, dass er eines Tages die Order bekam, mal eben ein Weilchen zu Hause zu bleiben. Oder die zusätzlichen Zeiten wurden gedeckelt, weshalb man ab einem bestimmten Zeitraum für null arbeitete.

Und nun vertrödle ich hier auf der Straße schon wieder einmal kostbare Lebenszeit, grübelte Alexander bei sich und suchte nach einem passenden Sender. Radio Westfalica hatte ihn bereits zuvor auf der Bundesstraße verlassen. Er entschied sich, wie fast immer, für den Deutschlandfunk. Ausgiebige Nachrichten und die nötigen Verkehrsinformationen, dazu reichlich interessante Berichte. Allerdings immer untermalt von seinem Kater, der protestierende Laute von sich gab.

„Sei ruhig, mein Lieber, wir packen das schon“, tröstete er sich und seinen Begleiter und streckte zwei Finger der Rechten kraulend zwischen den Gitterstäben hindurch, was das Tier allerdings nicht sonderlich beeindruckte. Es schien noch mehr zu maunzen. Die Töne wurden schriller. Außerdem stieg ein etwas scharfer Geruch auf. Ein Glück nur, dass Alexander ein dickes, weiches Handtuch in die Kiste gelegt hatte. Die konnte das Malheur nun aufsaugen.

„Albert!“ Alexander Rosenbaum klang jetzt energischer, um gleich wieder einzulenken. Was konnte schließlich der Kleine dafür, dass in ihm schlechte Laune aufstieg. „Ganz friedlich und keine Panik, mein Alter, das ist nur eine Übergangsphase. Nachher bist du wieder bei Lena und Tina. Die freuen sich schon riesig auf dich und werden dich im Puppenbettchen verstauen …“

Bei dem Gedanken musste er jetzt grinsen. Der Anblick damals war auch zu witzig gewesen. Kater Albert mit seinen beiden Töchtern, die das Tier tatsächlich im Puppenwagen verpackt bekamen. Der Vierbeiner ließ alles gnädig mit sich geschehen und fast schien es, als wolle er huldvoll lächeln über diese kindischen Aktionen. Irgendwann wurde es dem Tier zu viel und es sprang mit Nachtmütze über den Ohren heraus und flitzte durch die Wohnung. Was hatten Olga und er sich amüsiert bei diesem Auftritt. Da war die Welt noch heil.

Alexander Rosenbaum trat auf die Bremse. Fast wäre er in dem Wagen vor ihm gelandet. Ein Lkw hatte mal wieder zum Überholvorgang die Spur gewechselt, ohne Rücksicht auf die folgenden Fahrzeuge. Ein einmaliges Blinken nur als Bestätigung: So, jetzt bin ich in der Mittelspur. Alle anderen Fahrzeuge hatten sich dem gefälligst anzupassen.

Die Dämmerung ließ inzwischen die Konturen verschwimmen und die Sicht wurde schlechter. Nur ein wenig wackelte die Katzenkiste, die er fürsorglich angeschnallt hatte, damit auch nichts passieren konnte. Eben lief die Wettervorhersage. Das klang gar nicht gut. Bei den Temperaturen war wohl selbst in der nächsten Zeit kein Schnee in Sicht. Dabei hatte er seinen Töchtern versprochen, dass er mit ihnen rodeln, einen Schneemann bauen und eine Schneeballschlacht veranstalten wollte. Man sollte eben den Mund nicht zu voll nehmen, seufzte er vor sich hin.

In der Höhe von Magdeburg gab es auch noch eine Totalsperrung der Autobahn und die Umleitung führte über die Landstraßen. Unter normalen Umständen vielleicht ganz idyllisch, dachte Alexander bei sich, aber doch nicht an diesem Tag und in Begleitung seines mürrischen Katers! Er zuckelte in der Autoschlange durch beschauliche Dörfer. Überall strahlte die Weihnachtsbeleuchtung an und in den Häusern. Manche Einwohner schienen sich im Wettstreit um den aufwendigsten Dekorationseinsatz übertreffen zu wollen.

Da hatte sich Kommissar Alexander Rosenbaum nun zu Jahresbeginn 2011 aus persönlichen Gründen von Berlin nach Minden versetzen lassen. Er wollte sich eine Auszeit nehmen, die aber verlief bekanntermaßen gänzlich anders als geplant. Wieder schwammen die Gedankenfäden von seinem ersten Fall von sexuellem Missbrauch und Mord an einem kleinen Mädchen durch sein Gehirn. Er konnte sich von diesen Erinnerungen und Anblicken einfach nicht lösen. Immer wieder überlappte die getötete Karla mit seiner Großen. In seinen Träumen verfolgte ihn das brutale Geschehen. Und die anschließende Kette von tragischen Verstrickungen. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Hätte er nicht doch durch intensivere Ermittlungen den zweiten Anschlag auf die kleine Frieda verhindern können? Das Mädchen würde sicher seines Lebens nicht wirklich froh werden. Hätte, wäre, könnte … Alexander grübelte wieder und wieder.

Das Weihnachtsfest in Berlin zelebrierte er auch nur wegen der Familie seiner Frau. Er hatte sich in seiner Kindheit immer gewundert, warum sich daheim an mehreren Abenden hintereinander – länger als eine Woche – Angehörige und Freunde versammelten und ausgelassen feierten. Bei seinen Spielgefährten lief das anders ab. „Chanukka”, hatte er irgendwann seine Mutter flüstern hören. Das klang geheimnisvoll. Aber der kleine Alex hatte keinen sonderlichen Unterschied ausmachen können, was das Weihnachtsfest anging. Geschenke und Süßigkeiten waren ihm als Kind wichtig und von denen gab es reichlich. Und er erinnerte sich an die in Öl gebackenen Speisen wie Pfannkuchen oder Kartoffelpuffer mit Apfelmus und Sahne, da lief ihm stets das Wasser im Mund zusammen. Gelegentlich bekam er Bauchgrimmen, weil er zu viel von alldem naschte. Aber das konnte man gut überstehen.

Die vielen Lichter hatten es ihm mit ihrem Gefunkel angetan, weshalb er auch als Erwachsener schon der Erinnerung halber immer großen Wert auf Kerzen legte. Ein Weihnachtskranz stand außerdem damals in der Stube. Dass der den neugierigen Nachbarn geschuldet war, nahm er als Kind nicht wahr. Ansonsten lebten die Eltern ihren Glauben nur ganz zurückhaltend. Sie machten ihm auch keine Vorschriften, als er eines Tages mit Olga ankam und sie zu Hause vorstellte. Sie würde seine Frau werden, hatte er Mutter und Vater angestrahlt. Was wollten sie ihrem Einzigen diesen Herzenswunsch versagen … Auch wenn sie unter vier Augen so ihre Vorbehalte hatten – bei einer Ungläubigen.

Chanukka und Weihnachten fanden in diesem Jahr zum Teil zeitgleich statt. Kurz vor dem Heiligen Abend begann schon das jüdische Lichterfest und währte noch ein paar Tage länger. Eine glückliche Fügung, hatte Alexander Rosenbaum bei sich gedacht, als er seine Eltern einlud, die er erneut im Hotel „Mondial“ in der Nähe vom Kudamm einquartierte. Von da aus konnten sie unabhängig Touren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unternehmen. Und vor allem seine Mutter Hella Lieselotte schwor auf den Wellness-Bereich mit kleinem Schwimmbad und Sauna und einer Einkaufsrunde durchs renommierte KaDeWe in unmittelbarer Nachbarschaft.

Seine Schwiegereltern waren schon bei ihm zu Hause angereist und bewohnten das Gästezimmer. Mehrere Aktionen waren gemeinsam geplant und er hatte sich extra ein Weihnachtsmann-Kostüm zugelegt, um in diesem Jahr die Mädchen zu überraschen. Er war sich allerdings nicht ganz sicher, wie das bei seiner Mutter und dem Vater ankommen würde, und deshalb hatte er einfach vorher nichts verraten. Das sollte ein Jux für alle werden.

Nun befand sich zwischen all den Geschenken im Kofferraum eben auch das rot-filzige Kostüm mit Mütze und weißem Bart, das er günstig bei Philipps an der Königstraße erstanden hatte. Bei dem Gedanken an die Präsente legte sich unweigerlich ein Lächeln auf das Gesicht von Alexander Rosenbaum. Die Assistentin Janine Hacker hatte ihm umsichtig bei der Besorgung im Kaufhaus Hagemeyer zur Seite gestanden. Sie hatten nach erfolgreichem Kauf noch einen Milchkaffee in der ersten Etage beim Italiener getrunken und ein Weilchen über Gott und die Welt geplaudert. Eigentlich brauchte er nur zu nicken und zu bezahlen, als sie für jedes Familienmitglied etwas aussuchte. Frauen haben da eben ein besseres Händchen, beschloss er innerlich.

Inzwischen war Alexander auf der Stadtautobahn von Berlin gelandet, der Verkehr lief endlich relativ zügig. Der Funkturm leuchtete schon in der Ferne. Albert hatte sich beruhigt und döste vor sich hin. Ach was, sagte sich Alexander Rosenbaum, wir machen uns alle zusammen in Familie ein wunderschönes Fest, komme, was da wolle.

Als er vor seinem Wohnhaus gleich einen Parkplatz fand, atmete er tief durch, lächelte vor sich hin und stieg entspannt aus dem Peugeot 505 seines Vaters, wobei er die Arme weit von sich streckte und heftig gähnte. Endlich mal gut schlafen, wäre auch eine Idee, überlegte er und dachte an die vielen Überstunden im Büro und die quälenden Gedanken, die ihn allenthalben verfolgten.

Als Alexander Rosenbaum die Haustür aufschloss, stand gerade Gregor neben den Briefkästen, holte in aller Ruhe die Post des Tages heraus und schaute ihn grinsend an.

„Hallo, na, gute Fahrt auf der Autobahn gehabt?“, fragte der Rivale.

„Wieso sollte dich das interessieren. Mein Leben geht dich einen Scheißdreck an“, stieß Alexander zwischen den Zähnen hervor und fühlte, wie sein Körper verkrampfte. Gleich waren da wieder die Bilder von seinem Nachbarn und Kollegen mit seiner Frau Olga im Schlafzimmer ein paar Stockwerke höher, ineinander verkeilt im Bett. Und dieser Geruch!

„He, nun reiß dich mal zusammen. Frohe Weihnachten auch!“ Gregor schüttelte den Kopf, drehte ihm den Rücken zu und lief zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch.

Währenddessen lehnte Alexander an der Haustür, die hinter ihm ins Schloss gefallen war. Er spürte, wie sich ein schweißnasser Film auf seiner Stirn bildete und vermeinte seinen eigenen, heftig stechenden Geruch wahrzunehmen, der aber doch vielleicht eher dem Kater zuzuordnen war. Dann griff er sich die beiden Reisetaschen, die auf den Fußboden geglitten waren, sowie die Katzenkiste und stapfte entschlossen nach oben.

Olga musste den Wagen von Alexander schon auf der Straße gesehen haben. Die Wohnungstür stand jedenfalls offen. Und er betrat mit seinem reichlichen Gepäck den Flur.

„Hallo, meine Mäuse, wo seid ihr denn, hier ist der Papa!“

Es dauerte Bruchteile von Sekunden, bis ihm zwei kleine Mädchen voller Begeisterung an den Armen hingen.

„Oh, der Papa ist da! Endlich.“ Lena baumelte wie ein Klammeraffe an ihm und Tina tat es ihr auf der anderen Seite gleich und jubelte ebenfalls: „Mein Papa! Und der Albert auch! Wie schön. Aber pfui, der Albert riecht ja ganz doll.“

Nun schnatterten beide Kinder aufgeregt durcheinander und wollten den Vater weiter in die Wohnung ziehen. Der aber schloss zunächst die Tür hinter sich, stellte den Katzentransporter auf den Boden und öffnete die Luke. Albert schaute nur kurz nach rechts und links und sauste schon an allen vorbei ins Schlafzimmer, um sich dort unter dem Bett zu verstecken. Das Gewusel hier war ihm eindeutig zu aufregend.

„Du hast uns doch bestimmt was mitgebracht“, drängelte Tina, die wie ihre Schwester den strengen Geruch des Katers gleich wieder vergessen hatte.

„Tja, da muss ich doch mal sehr überlegen … Andererseits kommt immerhin in Kürze der Weihnachtsmann. Ich glaube, der hat jetzt alle Geschenke im Sack. Da wird bei mir gar nichts übrig geblieben sein.“ Alexander grinste in sich hinein und hatte den Auftritt mit Gregor im Flur fast verdrängt.

Aus der Küche kam jetzt seine Frau angelaufen. In einer edlen, figurbetonenden Jeans und einer auffallend schönen Bluse, die er noch nicht an ihr kannte, nicht wie sonst in ausgebeulten Leggins und einem schlabberigen Pullover.

Ganz kurz durchzuckte ihn der Gedanke, dass sie sich vielleicht für ihn so adrett zurechtgemacht hatte. Schließlich hatte er sich angekündigt. Aber er schob das rasch beiseite, denn schon tauchte hinter Olga deren Mutter auf. Mit Lockenwicklern in den Haaren. Seinen Schwiegervater Josef bemerkte er nun mit einem Blick im Wohnzimmer vor dem Fernseher, natürlich auf seinem Sessel. Er atmete tief durch und begrüßte beide Frauen, während er eine nach der anderen oberflächlich umarmte.

„Und jetzt noch einen Kuss“, mahnte Lena an, indem sie Vater und Mutter an den Händen griff und beide miteinander zu vereinen suchte. Olga lächelte bemüht und Alexander tat, wie ihm geheißen. Ob vielleicht doch alles wieder gut werden würde? Er wollte sich jedenfalls die größte Mühe geben.

Heiligabend machte sich Alexander kurzzeitig aus dem Staub, um sich im Keller die Weihnachtsmannmaskerade anzulegen.

„Ich bin dann mal auf einen Sprung weg, lasst euch überraschen“, hatte er nur in den Raum geworfen. Da knisterte schon die Stimmung in der Wohnung. „Wieder typisch. Wir wollen hier ganz gemütlich in Familie zusammensitzen und der feine Herr verzieht sich einfach. Ist doch gleich Zeit für die Bescherung“, konterte Olga aus dem Hintergrund. Die übrigen Verwandten sahen sich dabei nur schweigend an oder blickten aneinander vorbei.

Am Vormittag hatte er noch seine Eltern aus dem Hotel abgeholt und nun saßen sie gemeinsam mit Olgas Angehörigen auf engstem Raum zusammen. Das konnte nicht lange gut gehen, das war es eigentlich noch nie, wenn er sich recht besann. Aber er hatte so hohe Ansprüche gerade an diese Zeit. Sie sollte friedlich, freundlich, harmonisch vonstatten gehen.

Als Alexander Rosenbaum jetzt im Kellerverschlag stand, fiel ihm die Bemerkung von seinem Freund Andreas ein: „Zu Weihnachten und im Urlaub, da zeigt sich, ob eine Beziehung auch standfest ist. Entweder alles läuft blendend oder es endet katastrophal im absoluten Fiasko. So manche Scheidung nahm da schon ihren Anlauf …“ Recht hat er, grübelte Alexander bei sich und streifte sich die Mütze mit dem angehängten großen weißen Bart über.

An der Holzlattentür hatte er sich einen Rasierspiegel befestigt, um sich halbwegs betrachten zu können. Doch, das könnte gut klappen, überlegte er bei sich. Nur die Augen würden ihn vielleicht verraten. Und die Stimme? „Ho, ho, ho“, dröhnte er jetzt übungshalber in tiefem Bass in die menschenleeren Räume. „Von drauß’ vom Walde komm ich her …“ Er kicherte vor sich hin. Da bekam er ja Angst vor sich selbst. Er wollte mal nicht zu dick auftragen. Und freute sich im nächsten Augenblick schon auf das kleine Schauspiel.

Alexander hatte sich einen großen braunen Jutesack über die Schulter geworfen. Darin all die Präsente der gesamten Familie, die zuvor noch im Schlafzimmer deponiert waren. Zum Glück erwiesen sich die Geschenke für die Erwachsenen als nicht so raumfüllend. Aber ein ordentliches Gewicht legte alles zusammen schon an den Tag.

Er lief die Stufen im Haus zügig nach oben, erst auf der letzten halben Treppe stapfte er laut hörbar auf, blieb vor der Wohnungstür stehen und wummerte kräftig dagegen. Es dauerte auch nur wenige Augenblicke, bis Olga sie öffnete und ihn erstaunt anschaute, hinter sich die beiden Mädchen, die allerdings flugs Reißaus nahmen, als sie den Mann in seinem roten Aufzug erblickten.

„Wohnen denn hier die beiden Mädchen Lena und Tina und die Familie Rosenbaum?“, brummte Alexander in gediegenem Bass. „Ich habe da ein paar Geschenke in meinem Sack, die ich hier verteilen möchte. Auch für etliche Erwachsene, wenn die denn allesamt artig waren.“ Irgendwie gefiel er sich in seiner Rolle und schritt gemessen an Olga vorbei in die Wohnung hinein.

„Mach den Mädels nur keine Angst. Du klingst ja grausig“, zischte sie ihn dabei an und fasste sich nervös an die Nasenspitze. Während sie ihren Mann von oben bis unten begutachtete, musste sie sich aber doch ein Lachen verkneifen. „Perfekt“, flüsterte sie doch wieder einlenkend.

Im Wohnzimmer hatten sich die beiden Kinder hinter den See-Großeltern versteckt, die breit lächelten, und hielten sich an den Händen. Oma und Opa aus Bayern, zur Unterscheidung mit dem Vorsatz „Berg” versehen, ließen sich von der guten Stimmung anstecken. Die Situation verzauberte alle, als Lena zuerst ihr Gedicht völlig fehlerfrei aufsagte, und auch Tina hatte im Kindergarten einen schönen Spruch für den Weihnachtsmann gelernt. Mit leuchtenden Augen nahmen sie ihre Geschenke in Empfang, die Erwachsenen taten ein Gleiches.

„Danke, lieber Weihnachtsmann, und komm bald wieder“, lächelte ihn Tina an.

„Schade, dass du den Papa verpasst hast. Aber ich gebe ihm ganz bestimmt sein Geschenk“, versicherte Lena mit ernstem Blick.

Alexander unterdrückte ein glucksendes Lachen. Ein Glück nur, dass die Maskerade auch so viel vom Gesicht verbarg.

„Ich muss mich dann mal wieder auf den Weg machen“, ließ er eine sonore Stimme erklingen. „Es gibt ja noch so viele Kinder, die auf ihre Geschenke warten. Ein wundersamer Umstand nur, dass kein Schnee liegt, da geht alles schneller vonstatten.“

Lena unterdrückte die Frage, wie denn das funktionieren könnte, mit dem Schlitten, den Rentieren und all dem Gepäck ganz ohne die weiße Pracht auf den Wegen. Da wollte sie lieber nachher den Papa fragen, denn der Weihnachtsmann schien doch sehr in Eile. Außerdem nahmen sie ihre eigenen schönen neuen Sachen völlig in Anspruch.

Die Tage flogen dahin und hinterher hätte keiner mehr zu sagen vermocht, wo die Streitereien ihren Ausgangspunkt nahmen. Wahrscheinlich schon Heiligabend, wo die Großeltern sich gegenseitig übertrumpft hatten in der Auswahl der hochpreisigen Geschenke, die Mädchen nach kurzer Zeit doch alle links liegen ließen und sich lieber einen Märchenfilm anschauten. Da knirschte es in der Familienharmonie und ein paar bissige Äußerungen wurden als Pfeile ausgesandt. Der Berg-Opa Josef hatte bei den Fitness-Accessoires von Alex gegrummelt: „Na ja, so ernst war das mit dem Sport nun auch wieder nicht gemeint.“ Die Berg-Oma Edwina ließ sich kurz zu euphorischem Jubel bei den Parfümerie-Wellness-Artikeln hinreißen, um das Lächeln gleich wieder gefrieren zu lassen. Und Olga kommentierte leise: „Eine Perlenkette, na klasse, was für alte Weiber.“

Alexanders Eltern verließen auch ziemlich früh am 24. Dezember die Wohnung, um sich wieder in ihr Hotel zurückzuziehen.

„Ich glaube, es ist an der Zeit für uns zu gehen“, hatte seine Mutter noch während des Abendessens kurz diplomatisch von sich gegeben. Auf das Dessert verzichteten seine Eltern.

„Lass mal, Junge, ist schon gut. Wir brauchen auch unsere Ruhe, vor allem dein Vater“, tröstete seine Mutter im Auto und ergänzte: „Das mit dem Büchergutschein für uns ist übrigens eine gute Idee gewesen. Woher wohl der Weihnachtsmann wusste, dass wir gern lesen? Den Gutschein können wir gleich in Karlshagen bei unserer netten Buchhändlerin umsetzen.“ Und der Vater warf einen freundlich-kritischen Blick durch das Fahrzeug, während er liebevoll die Polsterung tätschelte: „Ist schon ein genialer Wagen, mein altes gutes Stück. Halte den mal in Ehren! Und der Oldtimer-Kalender ist prima, mein Sohn. Da werden so viele Erinnerungen wach.“ Alexander nickte nur geistesabwesend, fuhr die Eltern noch zum Hotel und verabredete sich mit ihnen für den zweiten Feiertag zu einem gemeinsamen Ausflug mit den Mädchen.

Es lief alles schief, was schieflaufen konnte. Obwohl sich vor allem die Schwiegermutter schon Mühe gab, das musste man ihr lassen. Olga brauchte sich um fast gar nichts in der Küche zu kümmern. Dort schaltete und waltete Edwina, zauberte allerlei Köstlichkeiten, während sich Josef durch die Kanäle zappte, das eine oder andere Bier in der Zwischenzeit stemmte, rülpste und gediegen fluchend die Politik kommentierte, vor allem die peinlichen Aktionen um den Bundespräsidenten. Ein ausgemachtes Streitthema für die Herren. Man solle doch nicht so kleinkariert denken, hatte Alexander einen Politiker im Ohr, der sich in der Tagesschau äußerte. Er bekam einen dicken Hals, wenn er daran dachte. Das sollte ihm mal passieren, dass er sich etwas im Job zuschulden kommen ließ. Flugs wäre er weg vom Fenster. Dienstaufsichtsbeschwerde und sofort vom Dienst suspendiert. Wahrscheinlich würde aber in diesem Fall der Ehrensold bis ans Lebensende gezahlt, dazu noch Büro und Fahrer. Irgendwas mache ich falsch, dachte Alexander. Ihm sauste gerade die jährliche Summe von 200.000 Euro durch den Kopf. Aber das hatte er bestimmt falsch zugeordnet. Das konnte ja gar nicht sein. In meinem nächsten Leben werde ich Politiker, schwor sich Alexander in Gedanken und ließ die Äußerungen seines Schwiegervaters zwischendurch einfach in ein Ohr rein und aus dem anderen wieder ungehört heraus. Dann musste er nichts kommentieren.

Alexander blieb bei Mineralwasser und saß auf einer Sofaecke im zähen, mitunter aufbrausenden Männergespräch oder er beschäftigte sich lieber mit Lena und Tina, spielte mit ihnen mehrere Runden Mensch ärgere Dich nicht, wobei die Kleine schnell die Geduld verlor. Das hat sie nicht von mir, quälte sich Alexander in Gedanken und glaubte schon eine gewisse Ähnlichkeit mit Gregor festzustellen. Auf Dauer sicherlich unerträglich! Die Frauen tuschelten häufig in der Küche, was in Alexander ein unangenehmes Gefühl verursachte.

Nun wurde es ja leider nichts mit einem Ausflug in den Schnee, obwohl die Mädchen jeden Morgen verlangend aus dem Fenster schauten. Deshalb baute der Vater in seine Gutenachtgeschichten eben immer mal eine abenteuerliche Aktion der Stadt- und Feldmäuse im weißen Flockenwirbel ein. Dann sollten die Kleinen eben wenigstens davon träumen können.

Direkt nach dem Fest hatte Alexander Rosenbaum in der Dienststelle angerufen und auch gleich Wolfhard am Apparat.

„Wie mein Fest war, willst du wissen“, erkundigte sich Wolfhard. „Sehr kalorienreich und harmonisch. Ich glaube, ich habe noch mehr zugenommen. Meine Frau kocht aber auch zu perfekt. Ich werde mir jetzt mal für Silvester ein paar gute Vorsätze zurechtlegen. Und wie war’s bei dir?“

„Och, es ging so. Familie ist eben auch sehr stressig“, wich Alexander aus. „Aber die Mädchen haben sich gefreut. Ich war doch in diesem Jahr der Weihnachtsmann. Eine super Sache. Könnte mich mit der Rolle glatt anfreunden.“

Wolfhard lachte am anderen Ende.

„Tja, wenn du mal neben unserer Arbeit Zeit und Laune hast, kannst du ja hier bei der VHS-Theaterwerkstatt vorbeischauen. Die inszenieren wirklich sehenswerte Stücke und führen die dann unter anderem im Kleinen Theater am Weingarten auf. Übrigens, sehr kuscheliges Ambiente. Vielleicht bist du ein noch unentdecktes Talent und solltest auf die Bretter, die die Welt bedeuten …“

„Wohl eher nicht. Ist bestimmt auch eine Frage der Freizeit. Aber spannend klingt das schon. Und wie sieht es bei euch in der Dienststelle aus?“

„Ach, na ja, da passierte ein ziemlich spektakulärer Brand im Hotel Bad Minden an der Portastraße.“

„Oh, ist das ein Thema für uns, gab es Tote, handelt es sich um Brandstiftung?“

In Alexander rotierten sofort die berufsmäßigen Gehirnverbindungen.

„Du nun wieder. Mach mal Urlaub und schalte richtig ab. Vermutlich war es ein technischer Defekt, durch den ein Wäschetrockner in der Wäschekammer des Hotels in Brand geriet. Das Feuer griff dann logischerweise auf den Raum über und auf Teile der Küche, die angrenzt. 19 Hotelgäste und Angestellte konnten sich glücklicherweise rechtzeitig ins Freie retten. Aber sechs von ihnen mussten wegen Verdachts auf Rauchgasintoxikation ins Klinikum Minden.“

„Und unsere Leute …?“

„Also, logischerweise ein Großaufgebot der Feuerwehr, die den Brand bekämpfte und auch relativ zügig gelöscht hat. Die Vollsperrung der Lübbecker Straße während der Löscharbeiten hat natürlich ziemlich den Verkehr behindert. Und wir haben umgehend unsere Ermittlungen aufgenommen. Heike hat bei der Spurensicherung in all dem Dreck ganz schön geflucht. Aber es gab keine Leichen im Keller, falls du so was vermutest. Kannst also beruhigt weiter in deinem Berlin bleiben. Übrigens hat das Hotel einen phänomenalen Biergarten unter schönen alten Bäumen, da sollten wir mal im Sommer einen gemeinsamen Abstecher hin unternehmen. Ansonsten haben wir nur gerade so einen offensichtlich verwirrten älteren Herren, der seinen Buddelkastenfreund vermisst und an Mord glaubt. Der Sache gehen wir natürlich nach, aber das ist pure Routine. Hoffentlich werde ich nicht auch mal so, wenn ich in die Jahre komme …“

„Na, dann mach’s mal gut“, ging Alexander nicht weiter auf diese Bemerkung ein. „Und einen optimalen Rutsch ins nächste Jahr. Freue mich schon auf unsere weitere Zusammenarbeit.“

„Danke, dir auch. Und weitere Zusammenarbeit? Ich dachte, du bist nur befristet bei uns?”

„Mal schauen“, wiegelte Alexander ab und verabschiedete sich von seinem Kollegen.

Noch vor dem Jahreswechsel waren auch die Eltern von Olga abgereist. Edwina hatte sich nur sehr unterkühlt von Alexander verabschiedet. Josef indes schlug ihm derb die Hand auf die Schulter: „Saugute Zeit bei euch. Wir kommen bald wieder.“

Alexander war nicht bei der Sache. „Tschüss dann und gute Reise“, verabschiedete er sich. Die Mädchen standen artig an der Tür und umarmten ihren Berg-Opa und die Berg-Oma.

An diesen und den folgenden Tagen herrschte Funkstille im Bett bei Alexander und Olga. Beide hatten jeweils kurze Ansätze gestartet, aber erfolglos. Die Versuche stießen nicht auf Gegenliebe. Sie trug jetzt ein Parfüm, das er an ihr nicht kannte und das Übelkeit bei ihm erzeugte.

Silvester stieg eine große Party mit Kollegen und Freunden. Gregor war darunter. „Hab dich nicht so. Es war ein Ausrutscher und ich habe mich doch entschuldigt“, erklärte Olga dazu. „Und jetzt habe ich keinerlei Lust mehr, darüber zu diskutieren.“

Während in der Silvesterknallerei alle ihre Sektgläser erhoben hatten und anstießen, entschied sich Alexander Rosenbaum, seine Zeit in Minden zu verlängern.

Die Sache mit dem Vaterschaftstest hatte er doch nicht vorgebracht. Es fehlte ihm einfach die Traute. Manchmal war es im Leben vielleicht doch besser, wenn man nicht zu viel nachforschte, hatte er sich schon innerlich verflucht. Seitdem Alexander wusste, dass er nicht der Vater von Tina war, konnte er die Kleine nicht mehr so liebevoll betrachten wie zuvor. War Gregor tatsächlich der Erzeuger seiner Jüngsten oder doch noch ein anderer?

Alles ruht

Roswitha schloss die Tür hinter Wilhelm und fasste sich an die Brust. Das Herz. Sie kannte die beklemmenden Symptome. Ihr Hausarzt hatte schon von Operation und dem Einsatz von zumindest einem Stent gesprochen. Nein, eine OP kam überhaupt nicht infrage. Das würde schon wieder werden, grübelte Roswitha bei sich und überlegte, ob und wie sie die Geschichte von eben Herbert beibringen sollte. Sie hatte gehofft, alles würde in sich ruhen, und die ganze Arie tief in einer Gedankenschublade versteckt, an der sie nie im Leben wieder rühren wollte. Von einer früheren Freundin, die an Depressionen litt, wusste sie, dass man sich eventuell von Ängsten und Dämonen befreien konnte, indem man sie gedanklich in einen Tresor sperrte, zu dem man nur selbst den Schlüssel hatte. Aber in diesem besonderen Fall war die Schublade oder auch die Tresortür in ebenjenem Augenblick aufgesprungen, als sie den Freund ihres Vaters in der Tür erkannte.

Wie ein Gespenst war Wilhelm an diesem Heiligen Abend bei ihr aufgetaucht und hatte Sturm geklingelt. Sie hatte in der Küche gestanden und den Kartoffelsalat für den Abend vorbereitet. Ihr Mann Herbert war noch einmal in die Stadt gefahren, um in der Bäckerstraße die dringend nötigen Einkäufe zu erledigen, wie er sagte. Wie immer, wie jedes Jahr zum Fest. Er besorgte Geschenke stets im allerletzten Augenblick. Es würde sowieso sicher wieder was von der Drogeriekette sein. Hoffentlich ein Gutschein, dann könnte sie sich später selbst etwas aussuchen.

„Ist der Kurt da?“, fragte Wilhelm, ohne guten Tag zu sagen, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.

Roswitha erschrak und mit einem Mal sah sie all die Geschehnisse vor ihrem inneren Auge. Sie bat Wilhelm ins Haus, auf einen Kaffee. Schließlich kannte sie den alten Freund ihres Vaters. Einst waren sie Nachbarn gewesen und er doch wohl ihr Patenonkel, wenn sie sich recht besann. Doch darüber waren die Jahre hinweggegangen und alles war im Sande verlaufen. Der grauhaarige Mann lief noch recht grade für sein Alter, blickte konzentriert prüfend nach rechts und nach links und schlug dann den direkten Weg in die Wohnküche ein.

„Ich nehme den Kaffee mit Milch und zwei Stücken Zucker“, sagte Wilhelm.

„Ich glaube, daran erinnere ich mich sogar“, zog jetzt ein schwaches Lächeln in das Gesicht der Frau, als sie dem Mann einen großen Pott mit dem heißen Getränk hinüberschob. Er hatte seinen Mantel nicht abgelegt, obwohl sie ihm das angeboten hatte. Auf der Küchenspüle lagen einige abgepellte Kartoffeln, die leicht dampften. Ich müsste jetzt eigentlich weitermachen, überlegte Roswitha, nachher würde die Schale wieder so festkleben. Außerdem müsste der Salat noch ein paar Stunden ziehen, damit er wirklich gut schmeckte, und schließlich wollte sie die Haare gewaschen haben, ehe Herbert heimkehrte …

Wilhelm nahm seine Brille ab, schloss die Augen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. „Ihr habt euch gut versteckt. Ich habe ein Weilchen gebraucht, um euch zu finden. Und wo ist nun Kurt?“

In Roswitha zuckten die Ideenblitze durcheinander, aber es blieben keine wirklich guten hängen. Was um alles in der Welt sollte sie dem Mann jetzt erzählen. Wie konnte sie ihn nur vertrösten, dass er beruhigt abzog. Dann fiel ihr spontan eine Geschichte ein und sie fing an zu erzählen, wobei sie Stück um Stück lockerer wurde.

„Mein Vater hat sich nach Menorca abgesetzt. Du weißt doch, wie gern er immer verreist ist. Und auf seine alten Tage hat er sich nun für diese Ferieninsel entschieden. Hat sich eine schöne Eigentumswohnung zugelegt. Lebt da sein Leben und genießt jede Stunde.“

„Aha“, gab Wilhelm verblüfft von sich, „auf die Nachbarinsel von Malle hat es meinen alten Freund also verschlagen. Dann kannst du mir ja sicher seine Adresse und die Telefonnummer geben.“

Roswitha spürte heftige Hitzewallungen, obwohl diese Zeit lange hinter ihr lag. Nur die Ruhe bewahren, dachte sie bei sich. Sie strich sich eine fettige Haarsträhne hinters Ohr.

„Er lebt sehr zurückgezogen und hat sämtliche Kontakte zu allen ehemaligen Freunden und Verwandten abgebrochen. Auch wir kommen kaum an ihn heran. Selbst die Transaktion seiner Rente erfolgt über eine benachbarte Familie auf der Insel. Er ist zuletzt ziemlich streitsüchtig gewesen …“

„Hmm, und wie geht es ihm so gesundheitlich?“, fragte Wilhelm und nestelte an seiner Krawatte.

Roswitha glaubte nun, Oberwasser zu haben und fing an, relativ fröhlich zu parlieren. Von wegen, der Vater habe sich bestens eingelebt, das Klima bekomme ihm hervorragend, und vor allem die gesunde Mittelmeerkost. Er hätte sogar nach dem Tod der Mutter wieder eine Lebensgefährtin. Fast schien sie die Geschichte selbst zu glauben, so detailliert beschrieb sie die neue Frau an der Seite des Vaters: ihre Frisur, die Figur, ihre Art.

„Lass mir doch einfach deine Telefonnummer hier. Ich rufe dich an, wenn er sich mal meldet, und gebe dir Bescheid“, sagte Roswitha. „Ich müsste dann auch mal wieder an meine Hausarbeit. Schließlich ist Heiligabend und wir wollen nachher gemütlich zusammensitzen.“

„Ich weiß“, entgegnete Wilhelm. „Deshalb bin ich auch heute gekommen.“ Und er erhob sich.

„Danke für den Kaffee. Grüß mir auch deinen Mann. Wie hieß er doch gleich? Heinz oder Heinrich?“

„Herbert“, korrigierte Roswitha. „Tja, der muss auch gleich heimkommen. Ich habe wirklich zu tun. Nichts für ungut.“

Sie begleitete den alten Mann zur Tür, der jetzt doch gebrochener zu gehen schien. Die Frau schloss die Haustür hinter ihm und Wilhelm lief zu seinem Auto.

Niemals in den Süden, dröhnte es in seinem Kopf. Das waren die Worte seines alten Freundes gewesen. Nur über meine Leiche bekommst du mich in diese Gluthitze, hatte er einmal lachend erwidert, als es in einem Gespräch darum ging, wo man denn seinen Lebensabend verbringen wolle. Den halben Tag lang in Siesta verbringen, das war schier undenkbar! Für ihn würde es überhaupt nur eine Variante geben, wenn er irgendwann einmal auswandern sollte. Das müsste dann eine Schäreninsel sein. Kühle, frische Luft, das wäre es. Die Mücken würden ihn überhaupt nicht stören, er habe kein süßes Blut.

Als Wilhelm in seinem Auto saß, liefen ihm ein paar Tränen über die Wangen. Er wischte sie fort, startete das Fahrzeug und fuhr in die Stadt. Irgendwo musste er ein Polizeirevier finden. Hier war einiges oberfaul. Kurt hätte sich nie und nimmer so einfach aus dem Staub gemacht.

Vor vier Jahren hatten ihn die Tochter Roswitha und der Schwiegersohn von Hamburg abgeholt, um ihn zu sich nach Hause zu nehmen. Allein würde er doch alles gar nicht mehr schaffen, hatte Roswitha damals entgegnet. Gut hat der Kurt sein Töchterchen erzogen, war Wilhelm damals eingefallen, und er hatte lächelnd genickt, obwohl ihm der Abschied so schwerfiel. So anderthalb Jahre lief der Kontakt nach Münster, wo die Familie zunächst wohnte. Dann brachen die Telefonate von einem Tag auf den anderen ab und er bekam auch seine Briefe zurück. „Empfänger unbekannt verzogen“, stand darauf. Das konnte gar nicht sein. Sie waren doch die dicksten Freunde.

An einer Tankstelle hatte Wilhelm nach dem nächsten Polizeirevier gefragt. „Heute, am Heiligen Abend?“, hatte der Tankwart an der Königstraße den Kopf geschüttelt. „Da sollten Sie besser bei Ihren Lieben daheim unter dem Tannenbaum sitzen und sich verwöhnen lassen, mit Stollen und Zimtsternen und den Gedichten Ihrer Enkelchen.“ Aber er beschrieb dem alten Herrn den Weg zur Marienstraße. Zu hartnäckig schien sein Anliegen zu sein.

Endlich stand der Mann an dem Tresen, der mit einem knallroten Weihnachtsstern geschmückt war. Seine Schultern hingen herunter. Kurt nach Menorca, nie und nimmer, fuhr es ihm wieder und wieder durch den Kopf. Er kannte seinen alten Freund zu gut. Wenn er sich von dannen gemacht haben sollte, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, dann höchstens in den kühlen Norden, um dort in aller Gemütsruhe zu lesen und zu fischen.

„Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“, fragte ein Beamter höflich.

„Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben“, erklärte Wilhelm.

„Heute, am Heiligen Abend?“, fragte der Uniformierte eher sich und schüttelte leicht den Kopf. Er benutzte dieselbe Formulierung wie der Tankwart kurze Zeit zuvor. Ihm kam der alte Herr doch ein wenig verwirrt vor. Aber er musste ihn wohl ernst nehmen.

„Dann kommen Sie bitte mit in den benachbarten Raum“, bat der Polizist und wies zu einer Glasfront, hinter der sich ein Schreibtisch befand. „Da können wir ungestört reden. Und ich nehme Ihre Anzeige auf.“

Beide Männer betraten das Zimmer, der Polizist setzte sich an seinen Computer und Wilhelm nahm ihm gegenüber Platz. Ganz langsam und behutsam, so als wolle er die Angelegenheit hinauszögern, sie vielleicht ungeschehen machen, indem er gar nichts unternahm.

„Worum geht es denn“, erreichte ihn dumpf eine Frage.

„Um meinen Freund, den Kurt. Der ist seit … tja, seit wann eigentlich, seit vier Jahren verschwunden.“

„Und da kommen Sie ausgerechnet heute zu uns? Wäre etwas eher nicht angebrachter gewesen? Wann genau hatten Sie denn den letzten Kontakt zu Ihrem Freund?“

„Per Telefon vor zweieinhalb Jahren. Und dann kam meine Post immer wieder zurück. Zwischendurch ging es mir gesundheitlich nicht so gut. Ich hatte einen Hirntumor, wissen Sie. Da konnte ich mich nicht kümmern. Aber jetzt ist alles herausoperiert und ich habe meine Suche intensiviert. Wir kennen uns schließlich von Kindesbeinen an, der Kurt und ich. Waren immer ein Herz und eine Seele. Und eben war ich bei seiner Tochter, die behauptet, er wäre nach Menorca ausgewandert. Das kann nie und nimmer stimmen. Da ist was passiert. Sie müssen ihn unbedingt suchen lassen. Ich glaube gar, er ist tot!“

„Immer mit der Ruhe, Herr …?“

„Winkler, Wilhelm Winkler ist mein Name. Ich komme aus Hamburg. Hier ist mein Ausweis“, er schob sein Personaldokument über den Schreibtisch.

Er schien wohl doch bei Sinnen zu sein, grübelte jetzt der Polizist, wobei andererseits die Sache mit dem Tumor durchaus auf geistige Verwirrung hindeuten konnte. Aber was sollte er an dieser Stelle und vor allem zu diesem Zeitpunkt unternehmen? Zu Hause wartete die Frau mit den Zwillingen auf die Bescherung. Kurz bevor Wilhelm Winkler aufgetaucht war, hatten sie noch miteinander telefoniert und die Kinder hatten im Hintergrund schon nach ihm gerufen.

„Ich nehme jetzt einfach mal alle Details auf, die nötig sind.“