Der Tote im Watt - Angelika Friedemann - E-Book

Der Tote im Watt E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennt als das gänzliche Verderben seines Gegenstandes. Gotthold Ephraim Lessing Im Watt wird ein schwimmender, männlicher Leichnam entdeckt. Noch ahnen die Beamten der Husumer Kriminalpolizei nicht, dass sie einem perfiden Verbrechen auf die Spur kommen. Eike Klaasen, der erste Hauptkommissar, hat jedoch private Probleme, deswegen kommt es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Kollegen, bis es schliesslich eskaliert. Auch darunter leiden die Ermittlungen.

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Impressum

Angelika Friedemann

Der Tote im Watt

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Eike Klaasen betrat das Büro. „Moin, Janne! Was führt dich zu uns?“, zog er die Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne, schloss seine Waffe in dem Schreibtisch ein.

Rolf kam herein, grüßte. „Sie sind aber früh dran, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Etwas Gutes, da bereits Kaffee vorhanden ist“, holte Eike zwei Becher aus dem Regal, goss Kaffee ein. „Du auch?“, drehte er sich zu Doktor Janne Stern um.

„Gieß nach. Danke“, klappte er den Aktendeckel zu. „Lenzig-Singer!“

„Wie bitte? Was gibt es dabei für uns noch zu tun?“

„Frau Lenzig fordert das Erbe von ihrem Schwiegersohn, klagt jetzt.“

„Ach so. Sage ihr, sie spinnt und schick sie zum Teufel“, grinste Eike, stellte Rolf den Kaffeepott hin, setzte sich. „Die Tochter wurde Stunden vor ihm ermordet. Beweisbar. Zweitens hätte sie ausnahmslos nichts geerbt, da er die Scheidung wollte. Bei einer Trennung wäre Töchterchen generell leer ausgegangen, da es einen Ehevertrag gab. Für jedermann klar verständlich. Hätte die Tochter geerbt, wäre sie ebenfalls leer ausgegangen, da eine lange Liste Gläubiger auf Geld wartete. Wäre dito alles futsch gewesen. Was geht so ein Verfahren überhaupt die Staatsanwaltschaft an?“

„Amtshilfe. Sie schlug die zweite Frau Ihres Ex-Mannes brutal nieder, stahl den Schmuck, verwüstete das Haus, weil sie der Meinung ist, er kassierte alles von der Tochter ab. Am Mittwoch wurde sie in Hamburg festgenommen. Als Herr Lenzig nachmittags heimkam, fand er seine Frau bewusstlos in einer Blutlache vor. Sie musste notoperiert werden, lag drei Tage auf der Intensivstation, konnte dann erst aussagen. Sie ist mittlerweile außer Lebensgefahr. Ein Nachbar erzählte Herrn Weiss, er sah mittags die erste Frau Lenzig dort. Das gab man sofort an die Hamburger Kollegen weiter. Sie nahmen die Frau fest, stellten die Schmuckstücke sicher. Sie schwieg, bis man ihr anhand von Spurenmaterial die Tat nachweisen konnte.“

„Die Mutter ist wie die Tochter. Geldgeil, verlogen, kriminell.“

„Herr Kristens, das ist ja erst der Anfang der Geschichte.“ Er klappte die Unterlagen an der Stelle auf, wo man einen roten Schnipsel sah. „Der große, gut aussehende Beamte, den Namen weiß ich nicht mehr, hatte schon damals auf Sylt meine Kleine falsch beschuldigt. Er kam ja einen Abend zu ihrem Haus, forderte Sex. Als sie natürlich entrüstet ablehnte, weil sie ja ihrem Verlobten immer treu war, hatte er zu ihr gesagt, das wirst du bereuen. Dafür schicke ich dich in den Knast. Nur deswegen sperrte man meine Kleine ein. Das mit ihrem Tod hat der Beamte doch extra so hingedreht, damit ich nichts erbe. Ich habe doch meine Siri am Samstagmorgen noch gesehen. Sie wollten gerade alle beide frühstücken. Es sollte nie eine Scheidung geben. Das ist auch eine Lüge von diesem Kommissar“, schlug er die Akte zu.

„Lass sie einweisen, da sie Hallus hat. Ich möchte von einer pummeligen, kleinen, dazu noch schwangeren Tussi Sex? Eher würde ich es mir selber besorgen, wenn ich so großen Notstand hätte.“

Janne und Rolf grinsten.

„Das kann nicht sein, weil wir jeden Nachmittag zusammen nach Husum gefahren sind. Sie spinnt. Haben Sie Fotos von der Braut gesehen? Da muss man unter Geschmacksverkalkung leiden, um so eine Frau mitzunehmen. Wir haben damals gerätselt, was Thaler in ihr sah, wie er sich mit so etwas einlassen konnte. Wie Eike sagte, sie war hochschwanger. Den Obduktionsbericht formulierte nicht Eike, sondern die Gerichtsmedizin. Siri Lenzig verstarb circa vier Stunden vor ihm.“

„Ich muss dem nachgehen, verfasse entsprechend den Aussagen von Ihnen, Herr Kristens, anschließend deine, Eike. Die Angelegenheit dürfte …“

Das Telefon störte.

Eike meldete sich. „Moin, Herr Friesers!“ „Da liegt was?“ Eike schrieb etwas, schob den Block Rolf zu, der den Raum verließ. „Ja, in fünf Minuten. Warten Sie dort bitte auf uns, Herr Friesers.“

Eike stellte das Telefon zurück. „Janne, es schwimmt angeblich jemand in der Nordsee. Könnte ein Mensch sein.“

„Ich lasse derweil eure Auskünfte tippen, da ihr die unterschreiben müsst. Ist es ein Mensch, ruft an, da es dann ein Toter ist, wie ich vermute.“

„Du hast heute deinen witzigen Tag“, zog er die Jacke über. „Schreibe hin, sie spinnt, wenn sie ihre Tochter morgens sah, da beide Personen bereits tot waren. Nennt man Wahnvorstellungen. Bei meiner Aussage vermerke, ich ziehe in Erwägung, die Tussi zu verklagen.“

„Rüdiger, Jacob kommen hin“, teilte ihm Rolf im Auto mit. „Sag mal, das glaubt doch der Staatsanwalt nicht wirklich, oder?“

„Dann wäre er breesig. Die Frau ist doch nicht mehr klar im Kopf. Mach dir keinen Kopp deswegen, das ist schneller erledigt, wie sie den Unfug zusammenreimte. Nun sitzt sie für viele Jahre.“

Am Deich wartete der Bauer auf sie. „Moin, Herr Friesers.“

„Moin. Da draußen, dat is´ een Mensch, da bin ich mir sicher.“

Eike schaute durch das Fernglas. Es war ein Mensch, ein Mann.

„Sahen Sie hier jemand oder parkte ein Auto vorn?“, erkundigte sich Rolf.

„Nix. Ich bin ja erst unten lang gefahren, habe die Schafe rausgelassen, dann vorne rüber und retour. Kieke so rüber, denke, ich bin breesig. Halte also an, kieke nochmals. Da schwimmt eener. Ich rufe an.“

„Rolf, sie müssen vorn alles absperren. Kommen noch mehr Schafe her?“

„Alle da. Nur die Blocks müssen noch abgeladen werden.“

„Ab Mittag, Herr Friesers. Ist Ihnen auf dem Deich etwas aufgefallen?“

„Nur die leere Flasche lag darum. Die begreifen nie, dat man den Müll nich´ in der Gegend herumwirft. Möchte mol wissen, wie dat bei denen in der Wohnstube aussieht. Dat müssen sie gestern hingeworfen haben, weil so früh am Morgen, ist hier nie jemand.“

Eike guckte die Wasserflasche an. „Nimmt Ihnen mein Kollege gleich ab. War gestern etwas?“

Rolf holte einen Plastikbeutel aus der Jackentasche und stülpte den über die Flasche.

„War min Jung hier, da er vorne dat Tor reparierte. Da entfernten welche die Sicherung. Schon dat dritte Mol in diesem Jahr.“

„Beim nächsten Mal melden Sie es uns, dann nehmen wir vorher Fingerabdrücke ab. Dusselige Freizeitbeschäftigung.“ Sie verabschiedeten sich, gingen näher Richtung schwimmenden Leichnam, der nun parallel zu ihnen dümpelte.

„Ablaufendes Wasser“, stellte Eike fest. „Rufe bitte Doktor Stern und den Doc an.“ Eike fluchte vor sich hin, während er sich seiner Kleidung entledigte. Warum immer er?

„Lars, ziehe dich aus. Du kommst mit“, rief er den Kollegen zu, die angeschlendert kamen.

„Oh, muss das sein?“, fragte der ihn erschrocken.

„Das Watt ist nun nicht sooo kalt. Egal, einer kommt mit. Also Beeilung“, rannte er nur mit der Boxershorts bekleidet durch die Matsche, in das seichte Wasser, welches ihm schließlich bis zu seinem Bauchnabel reichte.

Schiet, war das kalt, dazu noch der böige Wind.

„Wer ist das?“, rief ihm Rüdiger zu. „Mann, ist doch lausig kalt.“

„Wem sagst du das. Kalt und dreckig“, wateten sie weiter.

Eike drehte den Leblosen. „Kenne ich nicht. Nach Badeunfall sieht das nun nicht aus. Ziehen wir ihn raus.“

„Kenn ich auch nicht“, guckte Rüdiger den etwa 25-jährigen Mann an. „Sieht wie ein Banker gekleidet aus.“

„Nur die kennen wir. Sie gehen nicht im Anzug paddeln“, zogen sie ihn, jeder einen Arm festhaltend Richtung Ufer. Vorn am Schlick angekommen, nahm Rüdiger seine Beine, Eike fasste ihn unter den Achseln an. So trugen sie ihn zu dem geteerten Weg durch das glitschige Watt, legte ihn dort ab.

„Ihm fehlen die Schuhe. Bitte einen Schlauch“, scherzte Rüdiger.

„Lars, fährt dich heim. Lege dir eine Unterlage auf den Sitz. Danach kommt ihr wieder her, sucht unter anderem nach den Schuhen. Eventuell sieht man sie bei Ebbe.“ Eike selbst zog sein Shirt über, beugte sich nun zu dem Toten herunter. Er nahm die Handschuhe von Rolf, zog die an, schaute in den Taschen des Opfers nach. Leer. Nun blickte er den Kopf an - nichts. Ertrunken war er definitiv nicht. Er schaute in den Mund. Die Zunge war dick geschwollen. Wieso war dann der Mund geschlossen gewesen?

„Was denkst du?“

„Gift. Er war tot, bevor er baden ging. Sogar den Mund schloss ihm der Täter vorher. Schätzungsweise 12, 13 Stunden. Also gestern zwischen 19.00, 20.00 Uhr. Hole dir bitte mein Handy aus der Jackentasche. Ruf Herrn Friesers an, da wie wissen möchten, wann sein Junior das Tor reparierte.“

„Eike, der Oberstaatsanwalt kommt.“

„Der Doc wäre mir lieber, könnte ich nämlich Duschen gehen. Jacob, sperrt vorn den Parkplatz komplett ab, dazu die Zufahrt von der Straße her, sobald man ihn abgeholt hat.“

„Moin, die Herren“, grüßte Janne, zog Handschuhe an, hockte sich herunter. „Du stinkst. Etwas gefunden?“

„Nichts von außen sichtbar, keine Papiere.“

„Dafür schicker Anzug. Der kostete bestimmt an die 2.000 Euro. Wann?“

„Gestern, am frühen Abend. Ich vermute, er wurde vergiftet. Schau die Zunge an.“

„Also nicht ertrunken?“

„Auf keinen Fall.“

Rolf kam näher. „Habe mit dem Junior selber geredet. War nach dem Mittagessen. Er schätzt halb zwei. Es parkten vorn drei Autos. Einmal Hamburg, einmal DAN, einmal NF. Der Wagen gehört einer Frau Wagner. Sie geht mittags immer eine Stunde spazieren, danach wieder in den Laden. Ist wohl ´ne Bäckerei. Er kommt gegen elf zu uns.“

„Sehr gut“, stand er auf. „Ihr bleibt hier, ich fahre nach Hause. Sie sollen bitte den Deich absuchen, den Papierkorb kontrollieren, ob sie etwas finden. Du fotografierst alles.“

„Willst du nicht auf den Doc warten?“

„Du erzählst es ihm. Ich möchte nur eins, den Dreck abwaschen. Ich friere.“

„Er duftet so gut“, lästerte Janne. „Kennt ihn jemand?“

„Unbekannt. So, ich fahre. Rufe an, dass man ihn abholt. Rolf notiere dir bitte, was das für ein Anzug ist. Kaufte er den hier, finden wir das fix heraus.“

Eine halbe Stunde später war er zurück. „Was sagte der Doc?“

„Warum er extra herkommen musste. Du hast uns schon alles gesagt, mehr morgen. Er war brummig.“

„Wo ist Doktor Stern?“

„Er musste los. Die Anzeigen holt er am Nachmittag ab.“

„Schon etwas entdeckt?“

„Nichts. Mülleimer ist völlig leer.“

„Rüdiger, ihr sucht noch weiter, geht unten am Wasser zurück. Vielleicht wird etwas angeschwemmt. Die Absperrung bleibt vorerst dran. Jacob, ihr könnt Streife fahren.“

Er hielt beim Bäcker. „Moin, Frau Wagner. Wir müssen kurz snaken.“

„Moin. Was habe ich mit der Polizei zu tun, Herr Klaasen?“, fragte sie erschrocken. „Kommen Sie mit nach hinten.“

Eike hielt unwillkürlich auf zu atmen, sobald sie die Tür öffnete, er den penetrant süßlichen Geruch wahrnahm. Er holte durch den Mund Luft. Er hasste das Aroma von Kuchen.

Sie führte ihn in ein kleines Büro, wo ihr Mann saß. Der blickte sie verblüfft an. „Kriminalpolizei? Ist was passiert? Moin, die Herren.“

„Moin, Herr Wagner. Wir möchten Ihrer Frau nur ein paar Fragen stellen. Sie waren gestern spazieren. Wissen Sie von wann bis wann?“

„Wie immer. Von eins bis zwei. Warum?“

Eike überhörte die Frage. „Standen dort andere Fahrzeuge?“

„Ja, drei, glaube ich zumindest. Ich achte nie darauf, weil immer wer dort parkt.“

„Was für Autos?“

„Weiß ich nicht. Neben mir so ein Brauner. Josef, wie sagst du immer zu den Dingern?“

„Kackbraun. Warum wollen Sie das wissen, Herr Klaasen?“

„Es wurde ein Mann leblos im Wasser schwimmend gefunden.“

„Tot?“, schlug sie die Hände ins Gesicht. „Da im Watt? Warum badet man dort?“

„Hätte er gebadet, wäre ja Herr Klaasen nicht hier, Trude“, schüttelte Josef Wagner den Kopf.

„Sahen Sie dort Menschen?“

„Ja, zwei ältere Frauen, ein Ehepaar und den Friesers Jungen. Der war aber mit dem Trecker da. Der reparierte das Tor, weil heute die Schafe hinkommen. Dort drehte ich ja um, spaziere zurück.“

„Können Sie uns die Leute beschreiben?“

„Die beiden Damen so Mitte sechzig. Beide im hellen Mantel, beide graue Haare, kurz. Die eine Frau war fast einen Kopf größer als die andere. Die war etwas kleiner als ich. Das Ehepaar so um die Fünfzig. Er trug Jeans und eine schwarze Lederjacke. Sie, Jeans, eine helle Lederjacke, so kurze Stiefel in der gleichen Farbe. Sie grüßten freundlich. Das müssen die Leute mit dem braunen Auto gewesen sein, weil der nämlich weg war, als ich ankam. Der Parkplatz war frei. Daneben stand ein blauer Wagen. So einer, wie Konrad hat.“

„Der fährt einen neuen Golf. Seiner ist allerdings schwarz.“

„Der war aber blau“, beharrte Gertrud Wagner.

„Sie sprachen von drei Autos. Von dem dritten Fahrzeug sahen Sie niemand?“

„Nein. Nur die vier Leute. Vielleicht fuhren die Frauen ja mit zwei Autos.“

„Was für ein Fahrzeug? Farbe meine ich.“

„Rot. Können Sie sich an Ihre Kindheit erinnern, Herr Klaasen? Von Ihrer Oma die Nachbarin die fuhr so ein ähnliches Auto. So klein, kugelig. Nur der da sah neuer aus. Rot war er.“

„Trude, das nennt man dann Oldtimer.“

„Nein, der war doch neu. Er sah jedenfalls gut gepflegt aus.“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Herr Klaasen, bei ihr ist ein zehn Jahre altes Auto noch neu.“

„Josef, die Autos sind alle noch gut gewesen, die du verkauft hast. Unsere Waschmaschine hielt auch 16 Jahre und das Radio noch länger.“

Eike zeigte dem Ehepaar noch das Gesicht des Toten, aber sie kannten ihn nicht.

„Danke, Frau Wagner, das war schon alles. Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie an.“

„Ach, das ist ja alles so schlimm. Wer ist es denn?“

„Wissen wir noch nicht.“

„Ich sage ja immer, sie sollen nicht überall schwimmen gehen. Das Wasser ist jetzt noch kalt und schon passiert was.“

„Trude, kein Mensch geht in Klamotten schwimmen.“

„Wieso war der angezogen, Josef?“

„Sieht man auf dem Foto. Den warf man rein.“

„Meinst du? Das ist ja schlimm. Warum warf man ihn dann nicht in die Nordsee, sondern ins Watt?“

„Herr Klaasen, ich verklickere ihr das noch.“

Sie bekamen jeder ein Paket Kuchen in die Hand gedrückt. „Ihr Lütter mag den besonders gern“, wusste die Bäckersfrau.

Eike atmete draußen mehrfach ein - aus.

„Das roch richtig lecker. Was sie da wohl gerade gebacken haben?“

„Hättest du ja fragen können. Es stank süß. Drei Stunden in dem Laden und ich kippe wegen Sauerstoffmangel um.“

„Eike, stell dir mal vor, du kannst den ganzen Tag Kuchen essen. Der ist sogar noch warm.“

„Rolf, wäre für mich eine Foltermethode.“

„Ich bringe dir gelegentlich ein Stück Pflaumenkuchen von meiner Mutter mit. Danach willst du den ständig essen.“

„Vorher geht die Welt unter. Pflaumen gibt es erst im Herbst.“

„Du weißt eben nicht, was gut ist. Marc isst den auch gern.“

„Doch, nur Kuchen gehört nicht dazu. Gebe ich Torben, der mag das Zeug. Fahren wir ins Büro. Beordere bitte Rüdiger hin. Sie müssen die Flasche wegbringen.“

Er las die Aussagen von Doktor Stern durch, reichte eine Kopie Rolf. „Musst du unterschreiben. Die Lenzig gehört für immer weggesperrt“, unterschrieb er.

„Völlig krank, die Braut. Weiß man, von wem es die Tochter erbte. So was von raffgierig“, schüttelte er den Kopf, unterschrieb.

Die beiden Beamten kamen herein. „Was gibt´s?“

„Habt ihr noch etwas entdeckt?“

„Nichts. Die Schuhe bleiben verschollen.“

„Rolf, Rüdiger, lasst mich bitte kurz mit Lars allein.“

Eike wartete, bis er die Tür schloss.

„Darf ich nachfragen, was das heute sollte? Ich friere im kalten Wasser, da lassen wir einen Toten, Verletzen dort liegen?“

„Nee, nicht deswegen.“

„Sondern? Bist du wasserscheu? Kannst du nicht schwimmen? Alles kein Beinbruch. Ich muss das für die Zukunft wissen. Wir wurden schon gerufen, weil jemand zu weit hinausgeschwommen ist und wir ihn retten mussten, weil niemand sonst greifbar war. Da kam kein Boot, ergo hieß es schwimmen. Erledigen zwar meistens Martin, Rüdiger und ich, da wir als Rettungsschwimmer ausgebildet sind, aber es kann auch anders kommen. Außerdem schwamm er nun nicht so weit draußen. Also kein Grund zu kneifen. Verstanden?“

„Bleibt das unter uns?“

„Natürlich. Deswegen reden wir beide ja vertraulich darüber.“ Eike sah ihm die Verlegenheit an, hätte fast gelacht: Das konnte ja wohl nicht sein, oder?

„Also weißt du … Ist ja irgendwie peinlich“, druckste er herum, schaute Eike nicht an.

Eike stand auf, holte Kaffee. „Lars, also was?“

„Ich bin sehr kurz gebaut, weißt du“, erklang aus kaum hörbar.

„Was glaubst du, wie klein wir bei der Kälte gebaut sind? Da zieht sich alles zusammen.“ Er stellte ihm den Kaffeepott hin.

„Nein, insgesamt.“

„Jetzt kommen wir der Sache näher. Eines solltest du dir dabei zuerst vor Augen halten. Ziehen wir einen Menschen aus dem Wasser, achtet kein Kollege darauf, welchen Slip du trägst, ob du nackt herumrennst oder ob man sieht, wie bestückt du bist. Wie gehst du austreten?“

„Immer aufs Klo.“

„Nun klamüsern wir das auseinander. Zuerst etwas ganz Simples. Ein Penisvergleich von der Seite, also im WC fällt generell eher unvorteilhaft aus, da der Blickwinkel auf den eigenen Penis, in dem Fall von oben, immer negativer ausfällt, als der von der Seite. Zweitens führt dieser Schwachsinn bei einigen Männern zu Stress. Ach herrje, meiner ist kleiner als von XY. Die Folge ist, man setzt sich damit selber unter Druck und das wiederum wirkt sich noch ungünstiger aus. Vermutlich wird nirgends bei Männern so viel gelogen, wie wenn es um ihr bestes Stück geht. Ich kann zu allen Zeiten, schiebe mindestens zehn Nummern hintereinander und wie gigantisch er angeblich ist. Die durchschnittliche Länge eines nicht erigierten Penis ist zwischen 7,5 und 10,2 Zentimetern. Im erigierten Zustand zwischen 12,5 und 16,5 Zentimetern. Die Größe im erigierten Zustand ist nicht proportional zur Penisgröße im nicht erigierten Zustand. Es sieht sowieso nicht jeder Penis gleich aus, da es da differente Formen, sogar Farben oder Steh-Verhalten gibt. Ein Messen des Penis im spannungslosen Zustand ergibt beim selben Mann täglich divergente Resultate, da die Penislänge sehr stark in der Länge variiert. Mögliche Ursachen sind Temperatur des Penis, Stress, körperliches Wohlbefinden, andere Fakten, die die Durchblutung des schlaffen Penis beeinflussen können, dazu zählen zu enge Jeans zum Beispiel.

Nun kommen wir zu der Sexualität. Es kommt nie auf die Größe an, sondern ob er sich versteift und die Art des Geschlechtsverkehres. Das Innere der Vagina reagiert vor allem auf festen Druck. Die dafür empfänglichsten Zonen befinden sich nur wenige Zentimeter vom Vagina-Eingang entfernt. Dazu reicht auch ein kleinerer Penis absolut aus. Nun zu deinen Frauen. Sprachen sie wirklich mit dir darüber, oder interpretierst du das in ihr Verhalten?“

„Na ja, komisch guckten sie oder so.“

„Beschwerte sich eine, lästerte, lehnte deswegen Sex mit dir ab, war danach nicht befriedigt?“

„Nein, nie. Sie guckten eben komisch, bevor es zur Sache ging.“

„Bildest du dir ein? Da lief noch nichts, was bedeutet, du warst noch nicht stark erregt?“

„Das war vorher.“

„Bestehen die Probleme seit Kurzem oder bereits seit der Pubertät?“

„Nein, grundlegend nicht. Ich war mit einer Frau liiert und irgendwie hatte ich nach drei Jahren genug. Sie wollte heiraten, aber ich bekam gerade meinen ersten Job, wollte keine Familie. Sie meckerte danach, ich wäre mickrig gebaut und so. Damit fing es eigentlich an. Mein Bruder lachte mich aus, weil ich spinnen würde. Weil der schlaff nun nicht bis zu den Knien hängt, dir die Tussi eine Breitseite verpasste, hast du einen Komplex. Es gebe eben unterschiedliche Größen und steif wäre der genauso groß wie alle anderen.“

„Korrekt, was er sagte. Es gibt den sogenannten Blutpenis. Der zieht sich im schlaffen Zustand inklusive seiner Schwellkörper zum Großteil in die Bauchhöhle zurück. Der ursprünglich kleine Penis wird im erigierten Zustand nun deutlich größer. Haben übrigens mehr als die Hälfte aller Männer. Das Gegenstück der Fleischpenis. Er sieht im normalen Zustand größer aus, weil er mitsamt dem Schwellkörper außerhalb der Bauchhöhle liegt. Er vergrößert sich bei einer Erektion nicht so viel wie der Blutpenis. Ein Dozent sagte zu uns Studenten mal scherzhaft, also beim Urinieren damit anzugeben, nur dusselig. Die Frauen sind höchstens enttäuscht, weil sich nicht mehr viel tut, außer dass er steif wird.“

„Du redest wie ein Arzt.“

„Ich bin nebenbei Doktor der Allgemein Medizin. Unwichtig.“

„Ach so. Irgendwie fingen danach die Probleme an, bis Inge kam. Sie war übers Wochenende mit zwei Freundinnen dort und es funktionierte alles, obwohl ich erst nicht wollte.“

„Warum nicht? Dachtest du, sie lästert?“

„Das auch. Sie entspricht irgendwie überhaupt nicht meinem Geschmack. Ich trank ein paar. Aber es funktionierte alles und es kam kein dusseliger Spruch.“

„Du setzt dich selber unter Stress, wie es sich anhört. Es geht mich nichts an, du musst daher nicht antworten, aber bist du deswegen mit ihr zusammengeblieben?“

„Irgendwie schon. Es gab jemand, wenn ich Bock bekam, obwohl die Fahrerei nervte. Deswegen bin ich umgezogen.“

„Lars, denkst du real, so eine Beziehung geht gut? Du nimmst eine Frau, weil sie mit dir Sex praktiziert, willst sie nur deswegen heiraten? Wohnt ihr schon zusammen?“

„Nee, will ich noch nicht.“

„Lars, stelle dich zum Urinieren so wie alle hin und du bemerkst, dass niemand einen Ton darüber verliert, auch das du vermutlich völlig normal gebaut bist. Deine Ex verpasste dir eine richtige Breitseite, weil Schluss war. Sie beschwerte sich drei Jahre nicht darüber, andere Frauen vorher ebenfalls nicht. Das Resultat - bei dir ist alles normal. Du hast aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus, mehr hineininterpretiert, als es je war. Deine Beziehung solltest du nochmals überprüfen, und zwar, bevor du heiratest. Da sollte schon mehr bei dir vorhanden sein, als das du, wenn du Lust hast, sie aufsuchst. Angenommen eine hübsche junge Frau flirtet mit dir, würdest du mit ihr weggehen?“

„Ja. Tat ich schon einige Male, nur im letzten Moment machte ich einen Rückzieher. Weißt du, Inge ist nun nicht meine Traumfrau, auch vom Aussehen nicht, außerdem ist sie drei Jahre älter. Obwohl, das stört mich am wenigsten.“

Eike schüttelte den Kopf. „Wenn ich meiner Lebensgefährtin das so sagen würde, bekäme ich eine geklebt und sie wäre weg. Ganz abgesehen davon, wäre ich nie mit einer Frau liiert, von der ich so etwas sagen würde. Da erwarte ich schon mehr.“

„Sie sieht ja auch süß aus, obgleich ich mehr auf Blondinen stehe. Weißt du, ich mag so den Weibchentyp, jedenfalls was das Äußere betrifft. So eine Frau, wo man denkt, sie möchte ich beschützen. Sie muss aber trotzdem über Politik, Weltgeschehen und so Bescheid wissen. Mit meiner Schwägerin kann ich mich stundenlang streiten und das finde ich geil. Sie macht auch sportlich alles mit, was mein Bruder mag. Sie besitzt trotz des Jungen noch ihren eigenen Freundeskreis. Da ziehen sie einmal im Monat um die Häuser. Weißt du, sie zoffen sich manchmal, aber beide finden das gut, weil sich niemand unterbuttern lässt, alles macht, sagt, was der andere will. Sie finden stets Kompromisse.“

„Dann suche dir so eine Frau. Denk zumindest gelegentlich genauer darüber nach. Wegen der anderen Sache befolge einfach meinen Tipp und du wirst bemerken, mit dir ist alles in Ordnung. Messe meinetwegen nach. Wärst du nicht liiert, würde ich sagen, gehst du einen Abend mit uns einen Trinken und suchst dir ein nettes Objekt, die du mit in deine Wohnung nimmst. Du bist ein gut aussehender junger Mann, dem es gewiss leichtfällt, etwas zu bekommen. Probiere es mit der Toilette und schiele nicht nach anderen Männern, sage dir vorher, ich bin wie alle. Nach einigen Malen, denkst du gar nicht mehr darüber nach. So, nun gibt es Arbeit. Ihr müsst die Flasche schnellsten ins Labor bringen. Danke.“

Christian Friesers erschien pünktlich. „Moin, was wollt ihr dieses Mal wissen?“

„Von wann bis wann reparierten Sie das Tor?“

„War so gegen halb zwei. Frau Wagner kam gerade von ihrem Spaziergang zurück, blieb bei mir stehen und wir snakten kurz.“

„Sind Ihnen vorn Autos aufgefallen?

„Der von Frau Wagner, daneben ein brauner SUV, Kia, mit Hamburger Kennzeichen. Ein roter 500er Fiat mit DAN.“

„Sahen Sie Leute dort?“

„Jow, das Ehepaar zu dem braunen Jeep kam gerade auf den Parkplatz und er betätigte den Schlüssel. Beide Anfang 50, schlank, beide trugen Jeans und Lederjacken. Seine schwarz, ihr hellbeige. Sie lange braune Haare, die zu einem Zopf geflochten waren. Sie sah hübsch aus, die Deern. Sie wohnen hinten am Schwimmbad im Hotel, haben sie am Vortag erzählt. Ein paar Tage ausruhen. Dann zwei Frauen, eine groß, die andere klein. Rentner. Keinen Schimmer, wie sie sonst aussahen. Drei Männer, Rentner, so um die 70 und die kleine Wenzel. Sie ging mit dem Lütten spazieren.“

„Katja Wenzel?“

„Jow, die eingebildete Schnepfe.“

Eike musste grinsen, weil sie das wirklich war.

„Wann sind Sie zurückgefahren?“

„Halb drei war ich bei Mudding. Anja holte gerade den Kuchen aus dem Ofen und die Lütten kamen sofort angerannt.“

„Standen da andere Autos auf dem Parkplatz?“

„Der alte Clio von Frau Wenzel. Ihre Karre stand ganz hinten, wie immer über zwei Parkplätze. Sie kann nicht einparken, die dusselige Kuh. Ein blauer Golf. Der sah neu aus mit einem Dortmunder Kennzeichen. Der alte Mercedes von Steffens. Ein Franzose, weiß mit Berlin und ein anderer weißer auch mit Berlin. Ludger und seine Frau kamen gerade angefahren. Sie besitzen seit Kurzem einen silbernen Q5. Sie gehen dort öfter spazieren.“ Danach verließ niemand aus der Familie den Hof, berichtete er weitere.

„Die drei älteren Männer, kennen Sie die, Herr Friesers?“

„Nur den Steffens. Der war früher Lehrer am Gymnasium. Der zog vor etwa 15 Jahren her. Kam wohl aus Hamburg, erzählte mein Onkel mal. Die anderen Männer kommen immer mit ihm. Manchmal ist noch einer dabei, der einen Rollator schiebt. Sie latschen gemütlich bis zum Tor, drehen um und retour.“

Auch er kannte den Toten nicht. „Danke, Herr Friesers.“

„Rolf, fahren wir die Leute ab.“ Er ging zu Renate. „Du musst bitte an die Hotels und Pensionen eine kurze Mitteilung verschicken. Wir suchen Gäste mit einem neuen blauen Golf mit Dortmunder Kennzeichen, mit einem roten Fiat 500, DAN, zwei weiße Autos Berlin. Danach verschicke das Foto von dem Toten, an die Polizeistationen, falls er vermisst wird. Danke.“

Katja Wenzel schaute sie groß an, als Eike seinen Ausweis zeigte.

„Was habe ich mit der Polizei zu tun, Eike?“, fragte sie schnippisch.

Er überlegte, was das für ein gräulicher Geruch war, der aus der Wohnung zu ihm strömte. „Für Sie heißt es Herr Klaasen. Seit wann duzen wir uns? Erklären wir Ihnen drinnen.“

„Ich habe jetzt keine Zeit“, klang es von oben herab.

„Gut, lassen wir Sie polizeilich vorführen. Die Kollegen werden Sie gleich abholen“, drehte er sich um.

„Na gut, aber nur kurz. Können wir ja hier besprechen. Um was geht es?“

„Ihr Sohn schreit seit einigen Minuten. Wollen Sie nicht nachsehen?“, schob sich Rolf an ihr vorbei.

„Nein, warten …“

„Scheiße“, hörte er Rolf sagen. Schnell schob er die Frau beiseite, trat ein. Es stank ekelhaft. Vor der Zimmertür blieb er verblüfft stehen. „Scheun´n Schiet“, murmelte er.

Rolf nahm den Jungen auf den Arm, redete leise mit ihm, viel bewegen konnte er sich nicht.

„Rolf, reiß bitte das Fenster auf.“ Er guckte nach der Frau, die noch an der offenen Wohnungstür stand, Er schaute in das Bad, die Küche.

„Frau Wenzel, wo können Sie und der Junge vorerst unterkommen?“

„Wieso? Wir haben eine Wohnung. Ich war gerade beim Aufräumen. Was geht das Siiee an? Was wollten Sie wissen?“

Eike zog sein Handy heraus, rief Kerstin und Jacob an, danach seinen Bruder und zum Schluss eine Sachbearbeiterin beim Jugendamt, schilderte, was sie vorfanden. Sie stand nur völlig teilnahmslos dabei. Der Junge fing erneut an zu schreien.

„Eike, findet man hier irgendwo etwas Trinkbares oder saubere Klamotten?“

„Sie bringen ihn gleich in die Klinik. Es muss …, keine Ahnung“, schüttelte er den Kopf. „Frau Wenzel, seit wann herrscht dieser … dieses Chaos? Was stinkt hier so grausam?“

„Ich war ja gerade beim Räumen. Deswegen ein bisschen Unordnung. Sie halten mich nur ab“, erklärte sie patzig.

„Hier wurde seit Wochen nicht geräumt, etwas gesäubert oder gar abgewaschen. Das ist eine völlig zugemüllte, verwahrloste Wohnung, in der es unmenschlich riecht. Wo schlief Ihr Sohn?“

„In seinem Bett natürlich. Verschwinden Sie endlich und geben mir meinen Jungen“, eilte sie, den Müll ignorierend auf Rolf zu. Eike hielt sie am Arm fest. „Er kommt in die Klinik, wird ärztlich untersucht und danach entscheidet das Jugendamt, wie es mit ihm weitergeht. Kommen Sie endlich von Ihrem hohen Ross herunter, Frau Wenzel. Ein Schweinestall sieht sauberer aus und riecht besser. Es gibt kein Kinderbett, nur Dreck, Müll, Ramsch, wohin man sieht. Selbst auf der Couch nur Gerümpel.“

„Verdammt, rede gefälligst nicht so mit mir“, kreischte sie hysterisch. „Haut endlich ab und versaut nicht meine Wohnung mit euren dreckigen Schuhen.“

„Irre!“, murmelte Eike. Er öffnete die andere Tür und schloss sie gleich wieder, da ihm daraus ein bestialischer Gestank entgegenschlug. „Wer liegt dort drinnen?“

Sie fing an zu weinen, rutschte an der Wand herunter.

„Rolf, gehe bitte mit dem Knirps hinaus. Wir haben eine Leiche. Ich muss telefonieren.“

„Waaass?“

„Die liegt schon sehr lange da, so wie es stinkt.“ Eike tastete mit den Füßen durch den Schmutz, den Unrat, riss die Fenster auf, öffnete die Jalousien, ging dann hinaus, atmete mehrmals tief durch. Nun rief er im Büro an, beorderte die Kollegen, den Doktor und den Staatsanwalt her.

Kerstin und Jacob erschienen. Sie nahmen den Jungen mit, fuhren ihn zur Klinik, wo er von Eikes Bruder untersucht werden sollte.

„Holen wir unsere Anzüge, sonst kannst du deine Sachen nachher wegwerfen.“

„Wie kann man so leben?“

„Frage sie.“

„Wer ist der Tote?“

„Rolf, bin ich Hellseher? Ich roch nur den Verwesungsgestank. Ergo muss jemand da liegen“, reichte er Rolf einen weißen Overall. „Es kann auch ein Vieh sein, welches da verwest.“

„War sie verheiratet?“

„Nein. Sie wird wohl kaum den Mann ermordet haben? Weiß eventuell das Jugendamt. Sie arbeitete bis vor der Geburt als Verkäuferin. In Husum lebt noch die Mutter. Ihre Eltern sind geschieden, aber schon seit Jahrzehnten. Der Bruder ist älter. Keine Ahnung, wo er wohnt, was er macht. Ich hasse diese Anzüge“, schloss er den Reißverschluss.

„Eingepackt in ein Kondom“, lästerte Rolf und Eike lachte laut. „Du bist unverbesserlich. Schuhe und Handschuhe an, dann geht es los. Vergiss den Gesichtsschutz nicht.“

„Rüdiger kommt.“

„Sie werden sich freuen, wenn sie den Saustall sehen. Sie müssen Frau Wenzel irgendwohin bringen. Du nimmst die Kamera.“

„Wieso ist die Wenzel eigentlich so eingebildet?“

„Eine hochnäsige, dumme Ziege. Man dachte immer, die Queen persönlich tauchte auf, wenn sie durch die Gegend stolzierte. Doreen ist mit ihr zur Schule gegangen. Sie sah sie mit dem Lütten, sprach sie an, da laberte sie Doreen dusselig an, was sie sich erlaube, sie zu duzen und so. Ich kenne die Braut nicht weiter, außer vom Sehen.“

„Eike, schon wieder ein Toter?“

„Noch unentdeckt, ob ein er, eine sie, ein es. Auf jeden Fall eine Leiche, die schon länger liegt, dazu eine zugemüllte Wohnung, die unangenehm riecht. Ihr fahrt bitte Frau Wenzel zu der Mutter. Da drinnen kann sie nicht bleiben.“

„Wo ist denn der Butcher von der Tussi?“

„Fahren die Kollegen gerade in die Klinik. Dort bleibt er vorerst, bis sie das mit dem Jugendamt klärt. Sie gehört erst einmal in Therapie oder so. Gehen wir rein, damit wir es hinter uns bringen“, ergriff er den Koffer.

Katja Wenzel saß immer noch im Flur, stierte vor sich hin.

„Frau Wenzel, meine Kollegen fahren Sie zu Ihrer Mutter oder Freunden, wo Sie vorerst wohnen müssen. Nehmen Sie also etwas mit, da die Wohnung versiegelt wird. Hier werden Sie in den nächsten Tagen nicht wohnen können. Wer ist der Tote in dem anderen Raum?“

„Ich räume ja gleich auf.“

„Nein! Verstehen Sie mich nicht? Sie verlassen diese Wohnung. Die Kollegen fahren Sie …“

„Du spinnst ja. Ich muss jetzt aufräumen“, keifte sie.

„Rüdiger, fahrt sie bitte in die Klinik. Sie sollen sie behalten, da sie völlig neben sich steht. Mach bitte ein paar Bilder, Rolf. Die schicken wir ihnen nachher zu, damit sie sehen, was mit ihr los ist. Ende mit dem Spektakel.“

„Das sieht ja gruselig aus“, stellte Lars fest.

„Das auch. Rolf durchatmen und losgeht es“, öffnete er die Tür.

„Das stinkt ja bestialisch.“

„Ihr kommt danach wieder her. Ist heute nicht mein Tag“, murmelte er. Er schaute auf das Doppelbett, aber außer Kleidungsstücke von ihr und dem Kleinkind, Reklamezettel, Pappe, Papier, irgendwelches Plastik, sah er nichts.

Im Flur erklang wüstes Geschrei, Ausdrücke. „Fesselt ihr die Hände, verdammt. Es reicht!“ Mit den Füßen schob er einen kleinen Gang frei, bis er an dem Bett stand.

Rolf hielt den Kopf kurz raus. „So etwas kenne ich nur aus dem Fernseher.“

„Nun nicht mehr. Immer durch den Mund atmen. Liegt dort etwas?“

„Müll, Dreck, Klamotten, Plastikgerümpel, leere Becher, Zeitungen. Das Zeug sieht aus, als wenn es mal nass geworden wäre. Wurde etwas Braunes darüber gekippt.“

„Fotografiere den Müll, während ich suche. Gut, dass ich noch nichts gegessen habe. Selbst der Kaffee rumort in meinem Magen. Ich sah ja schon einiges, aber das übertrifft alles. Hier lebte ein Säugling? Der muss einen großen Schutzengel haben, damit er das überlebte. Die Keime und Bakterien übertreffen alles.“

Eike warf die Sachen auf dem Bett beiseite. Der Gestank wurde penetranter. Unter einer geblümten Steppdecke fand er den Leichnam.

„Eine Frau. Deute ich das richtig, könnte es ihre Mutter sein. Ich muss kurz hinaus, benötige Sauerstoff.“

Rolf begleitete ihn. Er zog die Gesichtsmaske ein Stück herunter, atmete mehrmals tief ein und aus, bemerkte die merkwürdigen Blicke von einigen Passanten. Nun zog er die Handschuhe aus, griff zum Telefon.

„Rüdiger, bringt uns bitte einige Flaschen Mineralwasser mit. Danke!“ Nun rief er Renate an. „Ich benötige bitte die Telefonnummer, Adresse von Frau Wenzel, also der Mutter von Katja Wenzel. Ich warte, Renate.“ „Nein, ich weiß nicht, wie sie mit Vornamen heißt.“ „Danke!“

Er rief dort an, aber es meldete sich niemand. Nun Kerstin. „Ihr fahrt bitte zu Frau Wenzel“, nannte er ihnen die Adresse. „Ich vermute, sie ist tot. Geht also in die Wohnung. Eventuell besitzt ja jemand einen Schlüssel dazu, wenn nicht, lasst die Tür von Wilfried öffnen.“ „Ja, eine weibliche, stark verweste Leiche. Ältere Frau auf jeden Fall. Was ist mit dem Lütten?“ „Danke. Wir kommen nachher hin. Beginnt mit dem Üblichen.“

„Einar untersucht ihn gleich. Auf den ersten Blick sah er normal aus. Nochmals durchatmen, dann machen wir weiter“, holte er neue Handschuhe aus dem Auto. „Den Dreck werfen wir nachher gleich alles weg, sonst stinkt mein Auto.“

„Andere Kollegen haben wenigstens die Spusi, die den Mist für sie erledigen.“

„Wir sind eben nicht so feudal, packen überall selbst an. Los geht´s.“

Vor der Wohnungstür standen drei Personen.

„Was ist denn bei Frau Wenzel los?“

„Gehen Sie bitte in Ihre Wohnungen. Wir kommen später, befragen sie.“

„Ist es, weil es dort so stinkt?“, fragte ein älterer Mann.

„Gehen Sie in Ihre Wohnungen. Sie behindern Polizeiarbeit. Also bitte.“

Er wartete, bis alle weg waren, öffnete erst dann die Tür. Der Gestank hing wie unter einer Glocke in der Wohnung. Er zog den Mundschutz hoch, ging in das Schlafzimmer, während Rolf fotografierte. Nun räumte er den Leichnam völlig frei, warf alles an die Seite.

Die Tote war vollständig bekleidet. Die Hände lagen auf dem Bauch. „Rolf, komm bitte knipsen.“

„Weißt du schon, woran sie gestorben ist?“

„So sieht man nichts.“

„In der Küche sind nur die Dinge für den Jungen sauber, sonst alles dreckig. Die Fläschchen und die Teller stinken nach Desinfektionsmittel. Dies ist das einzige Putzmittel, welches ich fand. Den Müll scheint sie ansonsten zu entsorgen. Es sind keine dreckigen Windeln zu sehen. Sag mal, woher bekam sie so viel Geld, dass sie für den Kleinen ständig neue Klamotten kaufen konnte?“

„Null Ideen. Der Vater? Sind es viele?“

„Im Wohnzimmer, dem Bad liegen mindesten dreißig Strampler, dazu Pullis, sogar sechs Winterjacken. Das ganze Zeug kostete bestimmt an die 500 Euro. Zu Essen bekommt er Gläschen, Brei und Tee. Sie hat den einen Schrank voller Nahrungsmittel für ihn. Alles volle Packungen, Gläschen en gros. Für sie findest du nur wenig im Kühlschrank. Nicht eine Flasche Selters, Saft oder so. Es gibt keine Kaffeemaschine, keinen Toaster, Wasserkocher oder sauberen Topf. Im Bad liegen gestapelt hinter der Tür sieben Packungen Windeln, zig Dose Babycreme. Nimm die Decke von den Füßen. Danke. Badezeugs, Babyshampoo. Das sieht aus wie die Babyabteilung in einem Drogeriemarkt. Ansonsten nur ein Stück Seife und eine Dose Deo. Wo sie duschen oder so konnte – unbekannt. Hier nicht. Dort ist alles zugemüllt. Überall liegt Post. Die Briefe noch zu. Sie besitzt bei der Sparkasse ein Konto. 27 Euro sind drauf. Sie bekommt vom Jugendamt jeden Monat Geld und von der Arge. Ende. Miete scheint die Arge zu zahlen.“

„Wieso trägt ein Säugling in dem Alter noch Strampler?“

„Keine Ahnung! Marc bekam Hosen, Pullis. Geht schneller anzuziehen. Von den läppischen Summen kannst du unmöglich all den Kram kaufen. Du musst knausern, damit es irgendwie reicht.

„Moin. Wer knausert? Es stinkt gruselig.“

„Moin, Frank. Sie liegt auch seit Monaten hier.“

„Woran gestorben?“, fragte Doktor Frank Fiedler.

„Keine Ahnung. Könnte sogar normal sein. Wir mussten sie erst ausbuddeln, jetzt ablichten.“

„Wem gehört diese zugemüllte Bude?“

„Wenzel. Wir beabsichtigten sie eigentlich nur zu dem Toten vom Morgen zu befragen. Der Junge schrie, sie wollte uns nicht reinlassen, dann sahen wir, warum.“

„Die Tochter von Annika Wenzel? Karla oder so?“

„Katja. Du kennst sie?“

„Die Mutter. Sie putzte früher in der Schule und bei euch im Präsidium. Knut war immer sehr zufrieden mit ihr, dann wurde sie schlampig, kam mal, dann wieder nicht. Mit der Sauberkeit war es auch weit hergeholt. Entlassung. Irgendwann kam sie in die Klinik, war total voll. Sie wurde eingewiesen, um eine Therapie zu machen.“

„Was ist mit dem Ex-Mann?“

„Ist ja schon an die dreißig Jahre her. Angeblich wegen zu viel Alk von ihr, ließ er sich scheiden. Er versuchte, die Kinder zu sich zu holen, verlor. Damals bekamst du als Vater null Chancen, das Sorgerecht zu erhalten. Man sah Kinder lieber bei einer versoffenen Mutter vor die Hunde gehen. Er zahlte wohl immer gut. Sie setzte das in Alk um, hieß es. Karsten zog nach etwa einem Jahr trotzdem zum Vater nach Stade. Er muss zehn, zwölf gewesen sein, glaube ich. Mehr weiß ich nicht.“

„Könnte die Tote die Mutter sein?“

„Niemals. Sie ist dreimal so breit, wie sie hoch ist. Die Tote ist länger. Das Alter könnte stimmen.“

„Kennst du sie?“

„Nein, obwohl sie sehr mitgenommen aussieht.“ Er guckte nochmals. „Nein.“

„Moin, Doc“, grüßten die zwei Kollegen, die hereinkamen, das Gesicht verzogen.

„Moin. Hatten wir ja heute schon“, knurrte Frank Fiedler, untersuchte den Leichnam.

„Eike, die Mutter lebt, ist völlig zugedröhnt. Sie hat uns eingeladen, ob wir nicht einen mittrinken wollten. Zu Kerstin meinte sie lallend mit einigen Aussetzern: Min Lütte komm mit, du brauchst erst mal ´nen Kräftigen. Die Wohnung sieht wie die aus. Überall liegen Schnapsflaschen, Müll und es stinkt. Weißt du, was sie trinkt?“ Jacob zog ein Taschentuch heraus, hielt es vor die Nase.

„Fusel?“

„Denkst´e. Auf dem Tisch nur die teuersten Spirituosen. Chivas Regal, Glengoyne 12YO Single, Glenkinchie, Remy Martin, gleich drei Flaschen. Hennesey, DQ Vodka, Belvedere, Sacred Organic Vodka und so weiter. Da stehen volle und leere Flaschen für Tausende. Sie besitzt einen riesigen Plasma-Fernseher, ein neues Galaxy, das neuste Tablet, Galaxy, eine Hightech-Kaffeemaschine. Kerstin zählte 27 Pfund Kaffee. Die teuren Sorten, Fairtrade. Ansonsten nur Schrott, soweit unter dem Müll erkennbar.“

„Erstaunlich ist ihr Bad völlig sauber, aufgeräumt. Da stehen Kosmetika für viele Hunderter. Tabletten ohne Ende in einem Schrank. Herz, Cholesterin, zu hoher Blutdruck, Schmerzmittel, Schlaftabletten, Grippemittelchen, Cortisoncreme und all so ein Zeug. Bei sich war sie generell nicht mehr. Sie gehört auf ärztlichen Entzug.“

„Können wir nicht entscheiden. Warten wir was der Oberstaatsanwalt …“

„Bin da. Was gibt es jetzt? Hier stinkt es gruselig. Ist das heute ein Tag.“ Er blickte zum Bett. „Wie lange liegt sie so da?“

„Wir mussten sie erst frei räumen, da sie zugemüllt war. Gehen wir hinaus. Ich beanspruche Sauerstoff“, drängte sich Eike an den Kollegen vorbei.

„Wie lange, Doktor?“

„Mindestens drei Monate, wenn sie gut zugedeckt lag. So kann ich nicht mehr sagen. Äußerlich nichts erkennbar.“

Sie verließen alle die Wohnung.

„Wie seid ihr auf sie gekommen?“

Eike erzählte nochmals von der versuchten Befragung, dann, was die Kollegen bei der Mutter vorfanden.

„Wo ist die Tochter?“

„Im Krankenhaus, der Sohn auf der Kinderstation. Das Jugendamt wurde informiert. Der Lütte kann unmöglich so wohnen bleiben.“

„Gebe ich das ans Amt weiter, da das nicht die Aufgabe der Polizei ist. Das muss entsorgt, gründlich gereinigt werden. Was war nun mit der Mutter?“

„Alkoholkrank, die Wohnung ebenfalls verdreckt, allerdings sehr viel teurer Schnaps. Die Frau scheint dazu ein Gesundheitsproblem zu haben. Sie ist übermäßig dick, hat ein rotes Gesicht, japst bei jedem Schritt laut. Sie wird massive Kreislaufbeschwerden, Bluthochdruck et cetera haben, vermute ich. Eventuell sind sogar Leber, Nieren angegriffen.“

„Besitzt sie viel Geld?“

„Mutter und Tochter Hartz-IV-Empfänger.“

„Woher kommt dann das Geld?“

„Bei der Tochter sind ebenfalls Diskrepanzen“, stellte Eike fest, nahm die Wasserflasche, trank, während Rolf von dem Entdeckten berichtete.

„Diebstahl? Anhand der Kinderkleidung kann man vermutlich feststellen, aus welchen Läden sie stammen. Können Sie morgen erledigen. Die Tote wird abgeholt. Eike, guckt euch noch kurz oben um, ob ihr etwas Relevantes entdeckt. Die Wohnung wird versiegelt. Ich telefoniere mit den Ämtern, damit man etwas einleitet, sich um die Mutter kümmert. Auch die Wohnung seht ihr euch kurz an, danach ebenfalls versiegeln.“

„Aber nur kurz“, stellte Rolf fest. „Wir stinken schon wie die Bude.“

„Wie sagt man so nett? Wat mut, dat mut. Ich bin im Büro.“

Bevor sie fuhren, lasen sie die aktuelle Post, fotografierten die Berge Babykleidung, Kindernahrung, Windeln.

Sie notierten den Typ, die Nummern der neuen Geräte, schauten in das Handy, aber da waren nur Telefonate mit der Mutter.

In der Wohnung der Mutter sah es fast ebenso aus, wenn auch nicht ganz so krass. Man konnte noch problemlos laufen. Erstaunlich der Spirituosenbestand, die vielen leeren Flaschen. Im Küchenschrank fanden sie den Kaffee, daneben drei Pakete Zucker. Unten lagerten zig Dosen Fertiggerichte, Eintöpfe. Auf der sauberen Spüle standen ein Topf, ein Teller, einmal Besteck, eine Tasse. Das war alles sauber. Weiteres Geschirr fanden sie nicht.

„Die Tochter entwendete der Mutter das gesamte Geschirr, Besteck, die Töpfe“, stellte Eike fest.

„Sie hat wenigstens abgewaschen.“

„Deswegen musste die Tochter immer sauberes Geschirr von der Mutter stehlen, nehme ich an.“

„Die scheint total verkommen zu sein.“

„Ist nicht unsere Sache, nur die Straftaten.“

Auch hier fanden sie ungeöffnete Post. In einer Schrankwand standen neben leeren Schnapsflaschen Fotos.

„Wir wissen in Kürze, wer die Tote ist“, zeigte Eike ein Foto Rolf.

„Wer ist sie?“

„Sagt uns die Wenzel gleich. Ich tippe auf eine Schwester, wenn man die Gesichter so sieht.“

„Da waren sie noch schlanker.“