Der Tower - Ivar Leon Menger - E-Book

Der Tower E-Book

Ivar Leon Menger

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Beschreibung

Willkommen im goldenen Kerker! Job weg, Freund weg, Wohnung weg – da kommt für Galeristin Nova das Angebot, ein Jahr kostenlos im hochmodernen Pramtower mitten in Berlin zu wohnen, wie gerufen. Der absolute Jackpot! Doch bald verwandelt sich Novas Glücksgefühl in Unbehagen. Ihr neues Luxusdomizil ist ganz und gar nicht das Paradies, für das sie es anfangs hält. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Ort. Warum verhalten sich ihre Nachbarn so seltsam? Und wieso ist ihre Vormieterin tot? Nova muss die Wahrheit herausfinden, bevor es auch für sie zu spät ist ... - Eine junge Frau, ausgeliefert an einen Gegner ohne Namen und ohne Gesicht - Düsteres, atmosphärisches Locked-room-Setting Der neue Thriller von SPIEGEL-Bestsellerautor Ivar Leon Menger »Mit jeder Seite wird die Beklemmung größer – großartig!«  Alexandra Maria Lara Mehr Nervenkitzel von Ivar Leon Menger: ALS DAS BÖSE KAM ANGST FINSTER

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Seitenzahl: 365

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Der Nachwuchs-Galeristin Nova wurde nicht nur der Job gekündigt, sondern auch die Wohnung. Noch während sie verzweifelt nach einem neuen, bezahlbaren Zuhause sucht, erhält sie ein einmaliges Angebot: Sie darf ein Jahr lang kostenlos im hochmodernen Pramtower wohnen. Ein luxuriöses Wohngebäude mitten in Berlin, das seinen Bewohnern alle Wünsche erfüllt. Es ist das Paradies. Bis sie herausfindet, dass ihre Vormieterin auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Heimlich beginnt Nova mit Nachforschungen und merkt dabei zu spät, dass sie sich selbst in große Gefahr begibt. Warum und wofür wurde sie ausgewählt?

Ivar Leon Menger

Der Tower

Thriller

Für Ira Levin und Ruth Weibel, die den Grundstein gelegt haben

Prolog

Sie blickt in den Rückspiegel und sieht ihre Zukunft.

Der Umzugswagen, den sie günstig bei einem türkischen Transportunternehmen gemietet hat, knattert lautstark hinter ihr her, kämpft sich durch die verstopften Straßen Berlins. Dabei hinterlässt der Sprinter eine so dichte Rauchfahne, dass man noch Minuten später ihren Weg nachverfolgen kann.

Die geräumige Ladefläche des LKWs ist fast leer. Zwei Kartons mit Büchern, eine Kiste mit Krimskrams sowie ein halbes Dutzend Umzugskartons mit ihren Kleidern, das ist ihr ganzer Haushalt. Ihr Bett, den höhenverstellbaren Schreibtisch, den Schrank und die Couch hat sie schweren Herzens verkauft.

Diese Dinge braucht sie nun nicht mehr.

Über den CD-Player ihres Autoradios läuft zum vierten Mal der Song Vertigo von Edwin Rosen, den sie nach ihrer Trennung in Endlosschleife gehört hat. Zum ersten Mal muss sie nicht dabei weinen. Ihr Zeigefinger trommelt fröhlich im Takt der Musik auf dem Lenkrad mit.

Sie setzt den Blinker nach links und steuert den rostigen Mini Cooper in die Dircksenstraße, Richtung Alexanderplatz.

»Ich bin der glücklichste Mensch der Welt«, summt sie, als sich vor ihr das gigantische Hochhaus wie ein Leuchtturm im violettfarbenen Himmel erhebt. Ihr neues Zuhause.

Zwei Monate später findet man ihre Leiche.

Erster Teil

1

Ich stehe mit elf anderen in der dritten Etage des Altbaus und sehe mir die leer geräumte Mietwohnung an.

An den Wänden blättert der Putz ab, der Teppichboden ist fleckig und abgetreten, die Küche gerade so groß, dass man sich um die eigene Achse drehen kann, es riecht nach einer Mischung aus fauligem Obst, verdorbener Milch und Zitrusreiniger, wahrscheinlich der Kühlschrank. Doch ich will mich nicht beschweren. Mir wurde die Wohnung gekündigt und ich suche etwas Bezahlbares in Kreuzberg oder Neukölln.

Mir bleiben nur noch vier Tage bis zum Auszug.

Verzweifelt habe ich die letzten Wochen nach einem WG-Zimmer oder einer kleinen Wohnung gesucht, vergeblich. Entweder zu teuer oder den Vermietern war mein Job zu unsicher.

»Ich lege hier eine Liste aus, in die Sie sich eintragen können«, sagt die Dame mit der Hochsteckfrisur und klatscht in die Hände. Sie trägt ein sandfarbenes Businesskostüm, ihre Fingernägel sind perfekt lackiert. »Tragen Sie bitte Namen, Telefonnummer und Ihr Angebot ein.«

Wie die Hyänen stürzen alle zum aufgestellten Bügelbrett, auf dem die Unterlagen liegen. Zögernd blicke ich mich in der heruntergekommenen Bruchbude um. Vor zehn Jahren hätte man Geld dafür bekommen, hier einzuziehen.

»Sie haben kein Interesse?«, fragt mich die Maklerin und blickt gelangweilt auf ihre goldene Armbanduhr.

»Doch, doch«, sage ich schnell und stelle mich am Ende der Schlange an. Eine der jungen Frauen vor mir duftet nach einem schweren Abendparfüm. Es riecht so intensiv, als hätte sie darin gebadet.

»Das wirkt aber nicht so«, sagt die Maklerin und tritt neben mich. Mit strenger Miene zupft sie mir ein blondes Haar vom Blazer. »Kleiner Tipp. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Mitbewerbern, die zeigen Engagement. So etwas wirkt sich immer positiv aus.«

Wie gerne würde ich ihr sagen, dass mir ihre Machtspielchen mächtig auf die Nerven gehen, doch ich lächle sie nur an. »Bitte entschuldigen Sie. Die Wohnung ist toll! Ich war nur ganz in Gedanken und habe überlegt, wie ich die Möbel am besten aufstellen könnte.«

»Wohl etwas voreilig«, sagt sie und verschränkt kopfschüttelnd die Arme vor der Brust. »Damit beginnt man erst, wenn man den Vertrag unterschrieben hat. Was machen Sie nochmal beruflich?«

»Ähm, ich bin …« Ich zögere. »Ich arbeite hauptberuflich als Content Creatorin.« Dass mir in meinem alten Brotberuf als Galeristin kurz vor dem Ende der Probezeit gekündigt wurde und ich seitdem nebenher als Babysitterin jobbe, um irgendwie über die Runden zu kommen, muss sie ja nicht unbedingt wissen.

Sie schmunzelt. »Ach, Sie sind die Influencerin?«

Ich kann nicht deuten, ob sie es freundlich meint oder abschätzig. Meine Erfahrung sagt mir, dass es wahrscheinlich Letzteres ist. Dabei geht es in meinen Beiträgen meist um Kunst, Nachhaltigkeit und Gewalt gegen Frauen.

»Na, dann machen Sie lieber mal ein gutes Angebot«, flüstert sie und wendet sich wieder ab.

Endlich bin ich an der Reihe. Vor mir liegt ein liniertes DIN-A4-Blatt, das mit verschiedenen Handschriften gefüllt ist. Ich blicke verstohlen auf die rechte Leiste, in der meine Konkurrentinnen und Konkurrenten ihre Angebote abgegeben haben. Mir stockt der Atem. Es ist wie bei eBay. Von Zeile zu Zeile erhöhen sich die Summen. Die Person, die sich als Erste eingetragen hat, kann einem nur leidtun. Die anderen haben sie sofort überboten, meist in Zwanzig- oder Fünfzig-Euro-Schritten. Ich starre auf das letzte Angebot.

Es ist unbezahlbar. Unbezahlbar geworden.

Dass noch niemand etwas gegen diese illegale Vorgehensweise unternommen hat, ist ein Skandal. Doch wenn man in Berlin überhaupt noch an Wohnungen kommen will, muss man das Spiel mitspielen. Auch ich mache dabei mit.

Ich greife zum Kugelschreiber und trage meinen Vor- und Nachnamen ein. In die Zeile daneben schreibe ich die Telefonnummer meines Prepaid-Handys.

»Beeilen Sie sich!«, ruft die Maklerin aus der Wohnküche. »In einer Viertelstunde kommen die nächsten Bewerber. Dann muss die Wohnung leer sein. Bitte seien Sie so fair!«

Von wegen fair. Ich blicke auf die leere Zeile, in der ich mein Angebot eintragen soll. Ich kann es mir eigentlich nicht leisten, doch ich brauche diese Wohnung. Und danach noch einen weiteren Job. Ich könnte wieder Essen ausliefern oder am Hauptbahnhof für Tierorganisationen Spenden sammeln.

»Nun machen Sie schon!«, ertönt eine genervte Stimme hinter mir.

Mein Handy vibriert in der Jeans.

Ich könnte um zehn Euro erhöhen, dann hätte ich das beste Angebot abgegeben. Doch nach uns kommen weitere Kandidatinnen und Kandidaten, die sich für die Wohnung interessieren. Es ist aussichtslos.

Ich ziehe das Telefon aus der Hosentasche und sehe auf das Display. Es ist eine Berliner Nummer. Nicht, dass ich eine neue Sponsoren-Kooperationsanfrage verpasse. Auch wenn der letzte Marketingauftrag schon über zwei Monate her ist.

Zögernd nehme ich das Gespräch an. »Hallo?«

Es knackt in der Leitung. Mich begrüßt eine freundliche Frauenstimme. »Guten Tag. Spricht dort Nova-Marie Niehaus?«

»Ähm, ja?«

»Hätten Sie kurz Zeit?«

»Um was geht es denn?«

Neben mir taucht die Hochsteckfrisur auf und tippt mehrmals auf meine Schulter, als würde sie ungeduldig einen Fahrstuhlknopf drücken. »Hören Sie, was wird das hier? Gehen Sie gefälligst raus zum Telefonieren!«

»Bitte nur einen Moment«, flüstere ich ihr zu.

»Frau Niehaus, ich habe eine erfreuliche Nachricht für Sie«, spricht die Anruferin am anderen Ende unbeirrt weiter. »Ich rufe im Auftrag der Natasho-Aktiengesellschaft an. Es geht um Ihre Bewerbung, die bei uns eingegangen ist.«

»Natasho?«, frage ich. Ich kann mich an kein Unternehmen mit diesem Namen erinnern. »Um welche Brand geht es denn?«

Die Maklerin beginnt zu schnauben. Ich hebe entschuldigend die Hand und schlendere auf die nikotinvergilbten Gardinen zu. Vielleicht ein Wink des Schicksals? Falls ich durch diesen Anruf einen lukrativen Job an Land ziehe, könnte ich mir diese Wohnung bestimmt leisten.

»Sie wurden auserwählt«, sagt die freundliche Frauenstimme am Telefon. »Herzlichen Glückwunsch!«

»Auserwählt?«, wiederhole ich irritiert und blicke zur Maklerin hinüber, die gerade das Klemmbrett mit den Höchstangeboten in ihrer bordeauxfarbenen Ledertasche verstaut. Sie wird doch nicht einfach gehen wollen, ohne dass ich …?

»Bitte warten Sie!«, rufe ich der Maklerin zu und löse mich aus meiner Starre. »Ich habe mein letztes Angebot noch nicht eingetragen!«

»Zu spät«, entgegnet die Maklerin kühl und wirft den Kopf in den Nacken. »Sie hatten Ihre Chance.« Dann verschwindet sie zügigen Schritts im Wohnungsflur.

Ich will ihr gerade hinterherstürmen, als wieder die Frauenstimme an meinem Ohr ertönt: »Frau Niehaus, sind Sie noch am Apparat?«

»Ja, ja, bin ich«, entgegne ich niedergeschlagen und stütze mich auf der staubigen Fensterbank ab. Eine tote Fliege streckt mir ihre starren Beinchen entgegen. Ich blicke aus dem Fenster auf den verwahrlosten Innenhof. »Tut mir leid, ich bin nur gerade etwas …«

Es knistert in der Leitung. »Passt Ihnen heute, zwölf Uhr? Alexanderplatz 8, Pramtower Building.«

Pramtower.

Augenblicklich kommt meine Erinnerung zurück. Meine Bewerbung für das hochmoderne Wohngebäude muss mindestens über sechs Monate zurückliegen. Und jetzt rufen sie mich plötzlich an?

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt.

»Natürlich, ich habe Zeit!«, sprudelt es aus mir heraus. In meiner aktuellen Situation greife ich nach jedem Strohhalm. »Ich werde pünktlich da sein!«

»Entzückend«, sagt die Frau am Telefon. »Wir freuen uns sehr darauf, Ihnen heute Ihr neues Domizil zu präsentieren.«

»Ich freue mich ebenfalls!«, entgegne ich, obwohl ich keine Ahnung habe, auf was ich mich da gerade einlasse.

2

Ich trete aus der U8 und verlasse die U-Bahn-Station.

Über die gigantische Freifläche des Alexanderplatzes wuseln Schulklassen an der Weltzeituhr vorbei, vor Galeria Kaufhof spielen Straßenmusiker, am Brunnen der Völkerfreundschaft sitzen Jugendliche und starren auf ihre Handys, der würzige Duft von gebratenen Burgern und Döner in der Luft, vereinzelt Touristengruppen, die ihre Kameras nach oben halten und den Berliner Fernsehturm fotografieren. Wie eine zweite Sonne erstrahlt die silberne Kugel in zweihundert Metern Höhe in einem wolkenlosen pastellblauen Himmel.

Hier könnte also bald mein neues Zuhause sein.

Ich hole mein Handy heraus, fotografiere ebenfalls den weltberühmten Fernsehturm und poste eine schnelle Story auf Instagram. Diesen Moment möchte ich für mich und meine 12461 Follower festhalten. Auch wenn niemand im Netz ahnt, welches heiß begehrte Gebäude ich jeden Moment betreten werde.

Mein Blick wandert den imposanten Neubau des Pramtower empor, der direkt neben das Park Inn gebaut wurde. Das moderne Hochhaus hat mindestens genauso viele Stockwerke wie das Hotel, bestimmt über vierzig. Die Aussicht von dort oben muss überwältigend sein. Mit Blick auf den Reichstag und die Museumsinsel mit dem Berliner Dom.

Es ist kurz vor zwölf, ich bin lieber überpünktlich. Das ist wahrscheinlich meine letzte Chance, wenn ich in vier Tagen nicht auf der Straße stehen will. Und diese Adresse wäre der absolute Jackpot. Über dieses Gebäude spricht ganz Berlin. Wer will hier nicht wohnen?

Ich gehe auf das Eingangsportal zu.

Eine dunkelgrün getönte Glastür rauscht zur Seite und ich betrete den edelschwarzen Teppich, der mich ins Herz des Architekturwunders führt. Rechts und links des zehn Meter hohen Flurs erwarten mich kleine, ausgewählte Luxusgeschäfte, die Haute Couture, Parfüm und internationale Delikatessen verkaufen. Es duftet elegant nach Chanel, Dior und Tom Ford. Über versteckte Lautsprecher läuft entspannte Jazzmusik. Es fühlt sich an, als würde ich in einem Luxushotel einchecken.

Ich gehe den Gang weiter, lasse die Geschäfte hinter mir.

Bis ich wieder vor einer Glastür stehe. Sie ist überdimensional hoch, schwarz verspiegelt und glänzt bronzefarben.

Zu meiner Überraschung öffnet sie sich nicht.

Über mir jazzt immer noch ein Saxofon über die Boxen. Nervös summe ich den Song mit, ich liebe diese Ballade von John Coltrane. Ich drehe mich Hilfe suchend um. Doch außer mir ist niemand zu sehen.

Verzweifelt suche ich nach einem Türgriff oder Ähnlichem, ich kann aber außer einer goldenen Überwachungskamera über dem Eingang nichts erkennen. Aber ich bin an der richtigen Adresse, oder? Auch wenn ich nirgends ein Schild sehen kann, auf dem Pramtower steht.

Ich zucke verwirrt mit den Schultern.

Keine Sekunde später ertönt aus unsichtbaren Lautsprechern eine Frauenstimme. Ich erkenne sie sofort wieder. Sie hat mich angerufen.

»Hallo, Frau Nova-Marie Niehaus. Herzlich willkommen im Pramtower. Wir haben Sie schon erwartet.«

»Ähm, ja, hallo … hier ist Nova«, sage ich zaghaft und blicke zu der goldenen Überwachungskamera hinauf. Ist die echt oder nur Prunk? »Nova Niehaus. Genau … ich … ich habe gleich einen Termin zur … zur Wohnungsbesichtigung.«

Keine Ahnung, warum ich fast stottere. Ich fühle mich so nervös wie vor einem Bewerbungsgespräch.

Kommentarlos gleitet die Tür auf.

Ich muss schlucken.

So luxuriös hatte ich mir das Wohngebäude nicht vorgestellt. Die Empfangshalle ist noch extravaganter als das Entree mit den Geschäften. Von der zwanzig Meter hohen Betondecke baumeln mehrere Kristallleuchter herab. In der Lounge stehen weiße Designer-Ledermöbel auf Vintage-Teppichen. Es gibt sogar eine Bar, hinter der ein Barista Espresso zubereitet. Es ist der absolute Traum. So etwas kenne ich nur aus Reportagen über Superreiche in New York.

Ich zwicke mich in den Arm. Nein, es ist kein Traum.

Nie im Leben hätte ich gedacht, jemals die Möglichkeit zu erhalten, hier einzuziehen.

Noch wohnst du hier nicht, Nova, ermahne ich mich, mach dir nicht zu früh Hoffnungen. Es gibt immerhin die Möglichkeit, dass dieser mysteriösen Firma nur ein Fehler unterlaufen ist und du nicht die glücklich Auserwählte bist.

Ich atme einmal tief durch und gehe auf den Empfangstresen zu. In goldenen Lettern prangt der Schriftzug Reception an dem weißen Marmor. Dahinter erwartet mich eine junge Frau in meinem Alter, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Sie trägt ein dunkelblaues Designerkostüm mit einer minimalistischen weißen Bluse. Es passt perfekt zu ihrem blonden, akkurat geschnittenen Pagenkopf.

»Herzlich willkommen bei der Natasho AG«, sagt sie und deutet eine Verbeugung an. »Mein Name ist Isadora Bruhn. Aber alle nennen mich Isa.« Sie zwinkert mir zu. »Bei uns im Pramtower fühlen wir uns wie eine große Familie. Und dazu gehört, dass wir uns duzen. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung?«

Kurz bin ich irritiert. Das ist nicht die Person, mit der ich Kontakt hatte. Die Stimme ist viel höher als die der Frau am Telefon.

»Ja, natürlich«, sage ich und knöpfe meinen abgetragenen H&M-Blazer zu, weil meine Finger irgendetwas tun müssen. Das ist alles so unwirklich. »Ich … ich bin Nova. Ihre … ich meine, deine Kollegin hat mich angerufen. Ich habe um zwölf einen Besichtigungstermin.«

»Richtig. Kim hat dich kontaktiert.« Sie nickt eifrig und legt ihren Zeigefinger auf das Touchpad eines Laptops. »Herr Miklas, unser Concierge, wird jeden Moment kommen und dir deinen persönlichen Liferoom zeigen. Nimm doch bitte solange Platz. Möchtest du vielleicht einen Kaffee oder etwas anderes?«

»Ähm, ja gern«, sage ich überrascht. Was für ein Kontrastprogramm zu meiner Wohnungsbesichtigung am Vormittag! »Einen Cappuccino. Mit Hafermilch, bitte. Wenn das möglich wäre?«

»Hier ist alles möglich«, schmunzelt Isadora. »Dafür ist unser Pramtower berühmt. Aber das hast du sicherlich schon aus den Medien erfahren, nicht wahr? Wobei wir streng darauf achten, dass nicht allzu viele Details an die Öffentlichkeit gelangen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen – ja, Kim erfüllt uns jeden Herzenswunsch.« Sie hebt die Augenbrauen. »Und damit meine ich nicht nur Cappuccino mit Hafermilch.«

»Kim?«, frage ich. »Wer ist das?«

Sie lächelt mich bedeutungsschwanger an.

Und schweigt.

3

Ich habe gerade den letzten Schluck des köstlichen Cappuccinos ausgetrunken, als ein kleiner, älterer Herr im Frack neben mir am Couchtisch erscheint. Seine wenigen grauen Haare sind streng nach hinten gekämmt. In der Hand hält er ein iPad, das Display strahlt ihm bläulich ins Gesicht.

»Nova-Marie Niehaus?«, fragt er und bleibt dabei so bewegungslos stehen wie eine Wachsfigur bei Madame Tussauds. Nur seine trüben Augen huschen kurz zu mir, dann wieder auf sein iPad.

»Ja«, sage ich und erhebe mich. »Nova.«

»Mein Name ist Miklas. Ich bin der Concierge. Bitte folgen Sie mir«, sagt er mit leicht slawischem Akzent und deutet mit dem Arm auf die Aufzüge am anderen Ende der Lobby.

»Verzeihung, dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«, sage ich, während wir durch die menschenleere, luxuriöse Empfangshalle gehen. »Wie kommt es, dass ich erst jetzt für die Wohnung ausgewählt wurde? Ich meine, meine Bewerbung liegt über sechs Monate zurück und ich habe nie eine Antwort erhalten. Niemals hätte ich gedacht, dass ich überhaupt eine Chance hätte.«

»Sie waren eine Wildcard«, entgegnet Herr Miklas knapp und tritt vor die Fahrstuhltür. Ich warte darauf, dass er einen Knopf drückt, doch stattdessen bleibt er reglos stehen.

»Wildcard? Was bedeutet das?«

»Eine Nachrückerin«, erklärt er und streicht sich durch die lichten Haare. Die Fahrstuhltür fährt geräuschlos auf. »Falls es mit einem Mieter oder einer Mieterin Probleme geben sollte.« Er tritt in die verspiegelte Kabine. »Und die gab es leider. Kommen Sie bitte?«

Ich folge ihm in den Fahrstuhl.

»Probleme? Was ist denn passiert?«

Herr Miklas räuspert sich.

Die Fahrstuhltür schließt sich. Über versteckte Lautsprecher beginnt leise klassische Musik. Ich erkenne die Enigma Variations von Edward Elgar. Ich liebe diese Musik, die ich oft auf Spotify höre, während ich ein Buch lese. »Hat der Mieter etwa gekündigt?«

Der Concierge schüttelt betroffen den Kopf.

Die Kabine rauscht die Stockwerke nach oben.

Mein Magen krampft sich zusammen, so schnell bewegt sich der Fahrstuhl. Ich greife mir an den Bauch. Auf dem überdimensionalen Display neben der Tür blinken nacheinander rote Zahlen auf: 24, 25, 26 … Augenblicklich spüre ich einen unangenehmen Druck in den Ohren, als würden wir durch die Schweizer Berge fahren.

»Man gewöhnt sich daran«, sagt er kühl und ich bemerke, dass er die Hand auf meinem Bauch mustert. Ahnt er, dass ich normalerweise lieber das Treppenhaus nehme?

Ich bekomme nicht direkt Panik in Fahrstühlen, aber wenn ich sie vermeiden kann, tue ich es. Daran ist nur dieser Film schuld, den ich als Zehnjährige mit meiner Mutter gucken musste, in dem ein defekter Fahrstuhl immer tiefer in den Schacht gefallen ist. Es kribbelt mich noch immer am ganzen Körper, wenn ich nur daran denke.

Die Kabine wird langsamer, bleibt sanft stehen.

»Wir sind da«, sagt Herr Miklas.

»Etage zweiunddreißig«, ertönt es über uns. Es ist schon wieder die Stimme der Frau, die mich angerufen hat. Wieso spricht sie auch die Ansagen im Fahrstuhl?

Die Tür gleitet auf.

»Nicht gekündigt?«, setze ich erneut an, erleichtert, dass wir endlich aus der Fahrstuhlkabine aussteigen. »Was war dann der Grund?«, frage ich. »Ich würde dafür sterben, hier im Pramtower wohnen zu können.«

Er wirft mir einen wortlosen Blick zu und eilt voraus, den breiten Flur entlang. Ich folge ihm über den purpurfarbenen Teppichboden. Im weichen, indirekten Licht, das von der Decke fällt, sehe ich mir die modernen Ölgemälde an den Sichtbetonwänden an. Der Stil ähnelt zum Verwechseln dem von Neo Rauch. Aber natürlich stammen diese Bilder nicht von Neo Rauch. So etwas hängt nur im Metropolitan Museum of Art in New York.

Rechts und links gehen Türen ab, auf denen edle Messingzahlen angebracht sind. Es scheint insgesamt nur sechs Wohnungen auf dieser Etage zu geben. Ich erkenne keine einzige Türklingel, geschweige denn ein Namensschild.

»Ihr neues Domizil ist Apartment 66e«, sagt Herr Miklas und ich bemerke erst jetzt, dass er das linke Bein leicht nachzieht. »Es ist die letzte Tür auf der rechten Seite. Sehen Sie?«

Ich habe Mühe, Schritt zu halten. Warum hat es Herr Miklas plötzlich so eilig? Meine harmlose Frage nach dem Vormieter scheint ihn aufgewühlt zu haben.

Er bleibt vor der Tür mit der Nummer 66e stehen. Er nimmt sich das iPad vor. Wahrscheinlich, um die Tür zu öffnen, denn auch hier kann ich nirgends einen Türgriff sehen.

»Nova, könnten Sie bitte diesen kurzen Text vorlesen?«, fragt Herr Miklas und hält mir das Tablet vor die Nase.

»Wie bitte?«

Er sieht mich erwartungsvoll an. »Für Ihre Stimmprobe. Damit Sie die Tür zu Ihrem Apartment öffnen können. Mir selbst ist das nicht gestattet.«

Ich blicke auf den Text, der auf dem Display erscheint. Mit seinen kurzen Zeilen sieht er aus wie ein Gedicht.

»Ich … ich verstehe nicht.«

»Ihre Stimme ist der Wohnungsschlüssel«, sagt er gedehnt, als spräche er zu einem begriffsstutzigen Kind. »Dadurch kommt niemand außer Ihnen in den Wohnbereich.« Er räuspert sich. »Sie haben doch hoffentlich die Bewerbungsunterlagen gelesen?«

Ich hatte sie damals nur überflogen. Soweit ich mich erinnere, war es ein Online-Fragebogen mit mehr als fünfzig Seiten klein gedruckter AGBs. Am Ende hatte ich den Bedingungen einfach zugestimmt.

»Ja, natürlich«, lüge ich und lache verlegen. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. »Das mach ich gerne«, sage ich und nehme ihm das iPad ab.

»Bitte recht langsam und deutlich«, sagt Herr Miklas.

Ich räuspere mich und beginne laut vorzulesen:

»Wenn der Wind den Schnee vertreibt,

kann das Vögelein aus dem Käfig fliehen,

ein Sonnenuntergang mit Mäusen

wird die Yuzus im Zoo reifen lassen.

Kaugummis schmecken nach Chlor und Ammoniak,

der Clown lacht im stillen Kämmerlein,

brave Rosemarie trägt eine Kette um den Hals.

Mein Name ist Nova-Marie Niehaus und im …«

Irritiert halte ich inne und blicke Herrn Miklas an.

Mit zusammengekniffenem Mund nickt er mit dem Kopf in Richtung iPad, um mir klarzumachen, dass ich den letzten Satz auch noch vorlesen soll.

Also dann:

» … und im Pramtower … werde ich zur glücklichsten Frau auf Erden.«

Er atmet schwer aus. »Ich dachte schon, Sie verpatzen Ihren letzten Satz«, sagt er und nimmt mir das Tablet aus den Händen. »Dann hätten wir die ganze Prozedur noch einmal von vorne beginnen müssen.« Zum ersten Mal lächelt er. Ich erkenne einen Goldzahn in seinem Mund. »Aber nun sind Sie eingeloggt. Bitte treten Sie ein, Nova.«

Ich sehe ihn verwundert an.

Unbeirrt deutet er auf die Wohnungstür. »Sind Sie nicht neugierig auf Ihr neues Zuhause? Kommen Sie, lassen Sie uns hineingehen. Ich möchte Ihnen gerne alles zeigen.«

Ich deute auf die Tür. »Und wie?« Ich streiche mit der Hand über das Türblatt. Es fühlt sich kalt an. »Wo ist die Klinke?«

»Sagen Sie einfach Ihren Wunsch«, sagt er kopfschüttelnd.

»Bitte … bitte Tür öffnen«, flüstere ich zögernd.

Herr Miklas lacht. Sein Eckzahn leuchtet wie ein Goldnugget in der Sonne. »Sie können ganz normal reden, Nova.« Er beugt sich zu mir vor. »Ob laut oder leise, Kim versteht Sie. Immer und überall.«

Er hat den Satz kaum zu Ende ausgesprochen, da schwingt die Apartmenttür mit einem leisen Zischen nach innen auf.

4

Ich gehe durch einen Flur und gelange in den bestimmt fünfzig Quadratmeter großen Wohnbereich. Ich bleibe abrupt stehen. Der Anblick, der sich mir aus dem bodentiefen Panoramafenster bietet, ist surreal. Das Apartment befindet sich auf Höhe der Aussichtsplattform des Fernsehturms. Die verglaste Kugel erscheint so nah, als könnte man nach ihr greifen.

Ich stehe da und staune.

»Beeindruckende Aussicht, nicht wahr?«, sagt Herr Miklas. Er geht an mir vorbei und legt das Tablet auf den kleinen Schreibtisch beim Fenster. »Dann will ich Ihnen mal Ihr neues Zuhause zeigen. Schließlich werden Sie hier ab morgen wohnen.«

Ich fahre erschrocken zu ihm herum.

»Moment. Noch ist es ja nicht meine Wohnung«, widerspreche ich reflexartig. Ich muss an die Maklerin von heute Vormittag denken, die mir geraten hat, sich nicht zu früh zu freuen. Zumal ich die Miete dieses Apartments niemals bezahlen kann. Was wird so ein Luxusapartment im Pramtower monatlich kosten? Allein die Neugier hat mich hierhergebracht, weil mir am Telefon gesagt wurde, dass ich auserwählt wäre.

Aber was besagt das schon?

Von einem Freund aus Hamburg weiß ich, dass man sich für eine Wohnung in der begehrten HafenCity ebenfalls bewerben musste. Dann wurde ausgelost, wer dort einziehen darf. Mein Freund hat tatsächlich gewonnen. Bezahlen musste er die Miete natürlich aber trotzdem.

Plötzlich fühle ich mich wie eine miese Betrügerin und völlig fehl am Platz. Was mache ich hier überhaupt?

»Ich glaube, das war alles ein großer Irrtum, Herr Miklas. Es tut mir unendlich leid. Da muss ein Fehler vorliegen. Das Apartment kann ich mir unmöglich leisten.« Ich schlucke. »Außerdem habe ich überhaupt keinen Mietvertrag unterschrieben.«

Er lächelt milde. »Doch, Nova. Das haben Sie.«

»Wie bitte?«

»Sie haben das Dokument unterzeichnet.«

Mir läuft es kalt den Rücken hinab.

Ich erinnere mich daran, dass ich in der Online-Bewerbung meinen Namen, meinen Geburtstag, die Wohnadresse, ein paar Angaben zu meinem Job und meinen Hobbys angegeben habe, sowie die Links zu meinen Social-Media-Accounts und zu meiner Website. Und auch, dass ich die AGBs und Datenschutzerklärungen digital unterzeichnet habe.

Und das sollte gleichzeitig ein Mietvertrag sein?

Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Ist das überhaupt rechtens?

»Aber … ich … ich kenne die Konditionen ja gar nicht«, stottere ich. »Ich unterschreibe doch keinen Vertrag, wenn ich nicht weiß, was die Wohnung überhaupt kostet. Das ist alles ein großes Missverständnis!«

Ich fühle mich von der Situation völlig überfordert.

»Nova, verstehen Sie doch – Sie wohnen hier gratis«, sagt Herr Miklas lächelnd. Wieder glänzt sein Goldzahn. »Ein Jahr lang. Deshalb haben Sie sich doch beworben, nicht wahr?«

»Wie bitte? Kostenlos?«

Verzweifelt versuche ich, mir die damalige Situation ins Gedächtnis zu rufen. Auf irgendeiner Social-Media-Plattform, wahrscheinlich TikTok oder Instagram, war ich über eine Ausschreibung gestolpert, in der explizit junge Influencerinnen gesucht wurden, die im Pramtower wohnen möchten. Ich hatte mich kurzerhand beworben, weil ich dachte, es handle sich dabei vielleicht um ein Wochenende, über das ich anschließend einen vorteilhaften Beitrag posten würde.

Ich weiß noch, dass ich eine Eingangsbestätigung erhalten hatte, doch dann herrschte Funkstille. Kein Wunder, dass ich das alles nicht mehr auf dem Schirm hatte.

Und nun sollte mein größter Traum einfach so in Erfüllung gehen? Ich darf hier als Mieterin einziehen? Und das für ein Jahr lang gratis?

Ich wische mir über die feuchte Stirn.

Hinter uns schwingt die Wohnungstür zu.

»Okay, wo ist der Haken?«, frage ich.

»Kein Haken, Nova. Sie sind unser Pro-Bono-Gast«, erklärt er. »Das Start-up hat eine Reihe ausgewählter Menschen dazu eingeladen, kostenlos im Pramtower zu wohnen. Die Natasho AG will den Querschnitt der Menschheit abbilden und dabei das Hochhaus und das Zusammenleben der Bewohner testen. Sie will einen sogenannten Beta-Test durchführen. Das kennen Sie sicherlich von Software-Programmen.«

Ich nicke. Obwohl mir diese Strategie der Programmierer noch nie gefallen hat. Es ist über die Jahre Sitte geworden, dass Computerfirmen ihre Programme im laufenden Betrieb testen, anstatt eine finale Version auf den Markt zu bringen. Und hier geht es um ein Wohnungsprojekt! Fehlt nur noch, dass sie einen bescheuerten A/B-Test machen, um zu ermitteln, welche Bewohnerin oder welcher Bewohner am besten performt.

»Wieso? Was müssen Sie denn noch testen?«, frage ich unsicher.

»Es werden nur ein paar programmierte Abläufe und Details weiterentwickelt. Die Sprachassistenz, die Automationen, solche Sachen. Und dabei Trainingsmaterial gesammelt. Technisch gibt es keinen Grund zur Sorge.« Herr Miklas tritt hinter einen weißen Eames Lounge Chair, dreht ihn leicht hin und her. »Wollen Sie denn nicht hier wohnen? Es ist eine einmalige Chance.«

»O doch, natürlich«, sprudelt es aus mir heraus.

Ich kann mich nicht dagegen wehren.

Nimm das Glück an, wenn es an deine Tür klopft, hat meine Mutter immer gesagt. Und dies scheint so ein Moment zu sein. Warum sollte ich nicht auch mal Glück haben?

»Es ist ein absoluter Traum«, sage ich und spüre, wie sich meine Schultern entspannen. »Und ich darf wirklich ein Jahr kostenlos hier wohnen? Ohne jegliche Gegenleistung?«

»Kein Haken«, wiederholt er ernst.

Ich strahle über das ganze Gesicht.

»Fein«, sagt er und deutet eine Verbeugung an. Wie ein englischer Butler. Die Geste ist mir unangenehm. »Dann werde ich Sie mal mit Ihrem Liferoom vertraut machen. Sind Sie bereit, Nova?«

5

»Wir befinden uns hier im Wohnbereich«, sagt er. Er dreht sich dem Panoramafenster zu, breitet die Arme aus. »Ist das nicht zauberhaft? Von hier aus können Sie über ganz Berlin blicken. Dahinten ist die Museumsinsel mit dem Dom, der Reichstag …«

Ich blicke mich in dem loftartigen Raum um. Das Apartment ist vollständig möbliert. Alles wirkt wie aus einem internationalen Architektur-Magazin. In der Mitte des Raums stehen zwei weiße edle Ledersofas, ein gläserner Couchtisch, daneben eine schwarze Designerlampe im Industrial-Stil, auf dem Boden ist edelster Dielenboden verlegt, wahrscheinlich Eiche. Am offenen Kamin laden zwei Ottomanen zum Verweilen ein. Es duftet zart nach Mandarine und Rosenblüten. An den Wänden hängen großflächige Schwarz-Weiß-Fotografien von Topmodels: Naomi Campbell in Paris, Linda Evangelista in der Wüste, Kate Moss in Rom. Ich erkenne den Stil sofort. Sind das etwa Originale von Peter Lindbergh? Ich trete näher an die Bilderrahmen heran. Tatsächlich, die Fotografien sind handsigniert.

»Die Möbel und die Bilder, gehören die auch zur Ausstattung? Oder werden die noch abgeholt?«, frage ich ehrfürchtig.

Herr Miklas lächelt. »Alles inklusive. Aber selbstverständlich können wir sie auch entfernen, wenn sie nicht Ihrem Geschmack entsprechen.«

»Nein, nein. Ich finde es ganz wundervoll«, sage ich schnell und drehe mich um die eigene Achse. Urplötzlich fühle ich mich wie eine Ultrareiche, der gerade ein neues Kaufobjekt offeriert wird. Es ist einfach viel zu schön, um wahr zu sein.

»Möchten Sie Ihr Schlafzimmer sehen?«

Ich nicke eifrig.

Wir gehen auf die weiße hochglanzlackierte Tür neben dem offenen Kamin zu. Auch sie hat keinen Türgriff. Ich überlege gerade, ob ich auch diese Tür per Sprachbefehl öffnen muss, da gleitet die Tür zur Seite und verschwindet in der Wand.

»Apartment 66e hat Sie schon ins System gespeichert«, sagt Herr Miklas stolz und klopft gegen die Sichtbetonwand. »Wäre ich alleine in diesem Raum, wäre die Tür nicht aufgegangen.«

»Wie ist das möglich?«

»Das ist Kim«, sagt er und betritt das geräumige Schlafzimmer. »Kim ist eine künstliche Intelligenz. Sie steuert das gesamte Gebäude. Stündlich lernt sie mehr über seine Bewohnerinnen und Bewohner.« Herr Miklas stellt sich vor ein imposantes schwarzes Kingsize-Bett. Ich fühle mich wie in einem Luxushotel. »Sie schlafen auf einem Grand Vividus von Hästens. Rosshaar, echte Handwerkskunst.«

Ich kann nur erahnen, was dieses Bett kosten muss.

»Kim wird auch Sie immer besser kennenlernen, Nova, um Ihre Wünsche und Bedürfnisse zu verstehen. Sie müssen dafür nur eine Zeit lang im Pramtower wohnen.«

»Aha«, sage ich knapp, weil es mir ein bisschen unheimlich vorkommt. KI-Apps sind mittlerweile Standard. Sie entwickeln selbstständig Texte, Bilder, Musik und Videos, lösen komplizierte Probleme, steuern Autos und helfen in der Medizin. Aber ein komplettes Hochhaus, das eigenständig denkt?

»Kommen wir nun zu Ihrem privaten Wellnessbereich«, sagt Herr Miklas und deutet auf die Tür neben dem japanischen Nachttischchen, auf dem eine schmale Designerlampe steht. Doch ich sehe mich noch im Schlafzimmer um, blicke von dem in die Wand eingelassenen Kleiderschrank zur gigantischen Fensterfront.

Wenn es dunkel wird, bin ich für ganz Berlin zu sehen. Wie auf einer Kinoleinwand über dem Alexanderplatz.

Herr Miklas bemerkt meinen Blick. »Haben Sie Fragen?«

»Wie sieht es mit Vorhängen aus? Soll ich welche aufhängen? Und darf ich da überhaupt einfach in die Betonwand bohren?« Ich habe diese und ähnliche Fragen in der letzten Zeit häufiger gestellt. »Ich habe einen Bekannten, der mir eine Bohrmaschine ausleihen kann«, plappere ich weiter.

Herr Miklas schmunzelt. »Einen Vorhang benötigen Sie nicht, Nova. Aber interessant, dass Ihnen das so früh aufgefallen ist. Manche Mieter haben erst nach dem Einzug danach gefragt.«

Ich sehe ihn irritiert an.

»Na los, äußern Sie Ihren Wunsch!«

»Wie bitte?«

»Es ist ganz einfach«, sagt er. »Sprechen Sie aus, was Sie auf dem Herzen haben. Kim wird es einrichten.«

»Ich hatte nur gefragt, ob ich hier im Schlafzimmer etwas Sichtschutz haben könnte.«

Ich zucke erschrocken zusammen.

Kaum habe ich meinen Satz zu Ende gesprochen, färben sich die Fensterscheiben schwarz ein. Wie Tinte, die in ein Glas Wasser geschüttet wird. Keine Sekunde später ist es stockfinster im Raum.

»Könnten Sie bitte das Licht anmachen?«, rufe ich nervös in Miklas’ Richtung.

Es wird wieder hell.

»Danke«, sage ich erleichtert, als sanftes, indirektes Deckenlicht den Raum warm ausleuchtet.

»Danken Sie nicht mir, sondern Kim«, sagt Herr Miklas grinsend. Er steht immer noch an Ort und Stelle, er hat sich scheinbar keinen Zentimeter bewegt. »Das System macht alles, was Sie wollen. Es ist wie Magie, Sie werden sehen.«

»Die KI regelt also wirklich alles hier?«, frage ich.

»Ganz recht, Nova«, erklingt eine weibliche Stimme von allen Seiten um mich herum. Ganz so, als würde ich darin baden. »Ich bin Kim. Die Assistentin deines neuen Lebens. Wir haben heute sogar schon miteinander telefoniert.«

Mein Bauch verkrampft sich.

Mich hat eine künstliche Intelligenz angerufen und sich mit mir unterhalten? Und ich habe es nicht bemerkt?

6

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Badezimmer. Das wird Ihnen gefallen«, sagt Herr Miklas und geht auf die nächste Tür ohne Klinke zu. »Kim werden Sie noch früh genug kennenlernen.«

Immer noch leicht verwundert betrachte ich die schwarz eingefärbten Fensterscheiben. So etwas Außergewöhnliches habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Ohne Licht war es so dunkel wie in einem Verlies. Einem Kerker im zweiunddreißigsten Stockwerk.

Ich rufe in den Raum: »Bitte wieder Fenster!«

Wie sich auflösende Rauchwolken verschwindet das Schwarz aus den Scheiben und gibt den Ausblick auf Berlin unter einem strahlend blauen Himmel frei. Erleichtert streiche ich mir die feuchten Hände an der Hose trocken.

Herr Miklas tritt neben mich. »Sie müssen nicht rufen, Nova. Kim versteht Sie in jeder Lautstärke.«

Die Badezimmertür fährt auf und gleitet in eine versteckte Zwischenwand.

Ehrfürchtig betrete ich den Raum, der so groß ist wie mein jetziges Wohnzimmer. Alle Wände sind mit weißem Carrara-Marmor verkleidet. Mein Blick streift über den verglasten Duschbereich, über die Doppelbadewanne mit Whirlpoolfunktion. Über den zwei Designer-Waschbecken hängt ein zimmerbreiter Badezimmerspiegel, in dem ein integrierter Fernseher läuft. Ein Nachrichtensprecher berichtet gerade über ein Zugunglück in Indien.

»Na, ist das nichts?«

Ich bin sprachlos, nicke nur. Mein Blick fällt auf eine verkehrsschildgroße Metallklappe, die an der Wand angebracht ist.

Herr Miklas bemerkt meinen Blick: »Ihr Wäscheschlucker. Dort werfen Sie einfach die benutzten Handtücher, Ihre Bettwäsche und natürlich auch Ihre Kleidungsstücke hinein.« Er schnippt mit den Fingern. »Und nur einen Tag später wird alles gewaschen und gebügelt wieder in Ihr Apartment geliefert.«

»Das werde ich mir nicht leisten können«, sage ich leise. Das mulmige Gefühl im Magen meldet sich wieder. Bei so viel Luxus um mich herum fühle ich mich klein und wertlos.

»Alles inklusive, Nova«, sagt Herr Miklas und streicht sich die Krawatte glatt. »Und nun präsentiere ich Ihnen die Küche.«

Ich folge ihm durch das Schlafzimmer zurück in den Wohnbereich. Verstohlen blicke ich zum Fernsehturm. Ob mich gerade ein paar Touristen von dort drüben beobachten?

Wir betreten einen Raum, den man kaum als Küche bezeichnen kann. Er erinnert mich eher an ein französisches Café. Nicht nur von der Größe. In der Mitte thront ein drei Meter langer Esstisch aus alter, dunkler Eiche, an dem acht pastellfarbene Designerstühle stehen, dahinter die puristische Küchenzeile in weißem Klavierlack, mit weißen Marmorarbeitsplatten, einem hochmodernen Backofen, Mikrowelle, Dampfgarer und Kühlschrank mit Display. Davor eine Kücheninsel aus gegossenem Beton, mit Gasherd sowie sechs Induktionsplatten mit integriertem Dunstabzug.

»Wahnsinn«, entfährt es mir, als ich wieder auf den drei Meter langen Esstisch vor mir blicke, auf dem eine Silberschale mit frischem Obst steht.

»Die Tischplatte ist aus einem Stück gefertigt«, erklärt er. »Aus einer einzigen Eiche. Es war für die Innenausstatter eine Herausforderung, die massive Platte nach oben zu bringen. Das können Sie sich sicherlich vorstellen.«

Ich nicke stumm.

»Aber das Beste kommt zum Schluss.«

Ich hebe neugierig die Augenbrauen.

Wie kann es denn noch besser werden?

»Sehen Sie das Bild da drüben, Nova?« Herr Miklas deutet auf ein zwei mal zwei Meter großes Ölgemälde im Goldrahmen an der Sichtbetonwand. Es zeigt ein klassisches Stillleben aus dem 17. Jahrhundert: einen Hummer, zwei Zitronen, Trauben, ein Blumengesteck und eine Flasche Rotwein.

Was soll daran so besonders sein?, denke ich. Doch im selben Moment wird mir bewusst, in welch kurzer Zeit ich mich an den Luxus des Pramtower gewöhnt habe. Natürlich ist solch ein Gemälde, bei dem es sich vermutlich um ein Original handelt, etwas Besonderes – zumal in einer Küche. In der Galerie, in der ich gearbeitet habe, lag der Schwerpunkt allerdings auf moderner Kunst. Mich überfällt ein leichtes Schamgefühl.

»Das ist Ihr Supermarkt, Nova. Ihr Restaurant, Ihre Apotheke, Ihre Parfümerie, Ihr Modegeschäft.«

Wie bitte? Irritiert gehe ich einen Schritt auf das Bild zu.

»Alles, was Sie sich wünschen oder benötigen, wird Ihnen über das Gemälde geliefert. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.«

»Wenn das so ist, dann hätte ich gern einen Cosmopolitan«, sage ich im Scherz, weil mir das alles so unwirklich vorkommt. Ich muss lachen. Wahrscheinlich, weil ich verkrampft bin. Die ganze Situation ist absurd. Niemand, dem ich davon erzähle, wird mir glauben.

»Danke für deine Bestellung, Nova«, ertönt eine sanfte Stimme von überall. Ich zucke vor Schreck zusammen.

»Sie werden sich schon bald daran gewöhnen«, schmunzelt Herr Miklas. »Glauben Sie mir, am Anfang hatte ich auch meine Probleme. Mit jemandem zu sprechen, den man nicht sieht. Aber nach wenigen Tagen fühlt es sich ganz normal an. Wie Fahrradfahren.«

»Ich weiß nicht …«

»Sie können übrigens wählen, ob Kim weiterhin mit einer weiblichen Stimme spricht oder ob Sie lieber eine männliche bevorzugen. Selbstverständlich gibt es auch eine geschlechtsneutrale Version. Die spricht aber ehrlicherweise wie ein Roboter. Also ich mag das nicht.«

»Nein, nein, ist schon gut so«, sage ich.

Die Informationsflut überfordert mich. Vor gut einer Stunde stand ich noch in einer heruntergekommenen Bruchbude und musste darum betteln, dort für viel Geld einzuziehen. Und jetzt erlebe ich das Wohnparadies auf Erden. Kostenlos, als Beta-Testerin.

Herr Miklas hebt sein iPad vor die Brust. »Zu guter Letzt müssen wir nur noch die App auf Ihrem Smartphone installieren und einrichten, dann können Sie die Wohnung beziehen. Haben Sie Ihr Telefon dabei?«

Ich nicke gedankenverloren und ziehe mein Handy hervor.

»Gehen Sie bitte in den App-Store und laden Sie sich die kostenlose Natasho-App herunter.«

Ich befolge seine Anweisungen und installiere die App.

»Fein«, sagt er und tippt etwas auf seinem iPad ein.

Im nächsten Moment färbt sich sein Bildschirm dunkelblau, merkwürdige Zahlen-und-Buchstaben-Kombinationen tauchen auf dem Display auf und schwirren wie ein Schwarm Fliegen durcheinander. »Und jetzt scannen Sie bitte mit Ihrer installierten App den Code.«

Ich halte mein Handy über sein Tablet.

Ein kurzer Bestätigungston erklingt und mein Display färbt sich ebenfalls dunkelblau. Dann vibriert das Telefon in meiner Hand und zwei Wörter erscheinen in signalgelber Schrift:

Hallo Nova

»Wunderbar, es hat geklappt. Das war es auch schon. Glückwunsch, Nova«, sagt Herr Miklas zufrieden und reicht mir die Hand. »Ich begrüße Sie ganz herzlich als neue Bewohnerin im Pramtower.«

»Danke. Ich kann das noch gar nicht alles glauben«, sage ich wie benommen und schüttele seine Hand, als sich plötzlich etwas hinter ihm bewegt.

Das Ölgemälde. Es gleitet zur Seite.

Dahinter, in der Betonwand, glänzt ein polierter, fast zwei Meter breiter Edelstahlaufzug.

Darin steht ein frisch zubereiteter Cocktail.

Ein Cosmopolitan.

7

»Du willst da wirklich einziehen?«, fragt Fritz, ohne von dem Mobiltelefon in seiner Hand aufzusehen. Fritz ist mein bester Kumpel und ebenfalls Influencer. Auch wenn er den Ausdruck hasst. Er ist Buchblogger, mit Vorliebe für die Juliette-Liebesroman-Reihe der Achtzigerjahre von Robert Wagner sowie New-Adult-Bücher mit Farbschnitt. Wenn ich mich in seiner Wohnung umsehe, leuchtet es rosa und lila aus den Bücherregalen. Fritz ist ein Feingeist, mit einer ausgeprägten Liebe fürs Detail. Deshalb wohnt er nicht mit seinem langjährigen Partner zusammen, da ihm dessen Wohnung zu wenig Stil besitzt. Ich weiß nicht, ob das auf Dauer gut gehen wird, aber die beiden lieben sich. Und das ist das Wichtigste. Es macht mich glücklich, wenn Fritz glücklich ist.

Ich nippe an meinem Hafer Latte, den er mir zubereitet hat, und deute auf das einzige Foto, das wir im Internet über den Pramtower gefunden haben. Es zeigt die Außenansicht. Ein Pressefoto der Natasho AG. Aufnahmen aus dem Inneren des Gebäudes, der Lobby oder den Luxusapartments scheint es nicht zu geben. Wir haben eine halbe Stunde danach gegoogelt.

Ich selbst habe es versäumt, ein Foto von meinem Apartment zu machen. Weil ich einfach zu überwältigt war.

»Da wohnen außer mir wahrscheinlich nur Promis«, sage ich und stelle das Glas auf dem Couchtisch ab. »Und die wollen nicht, dass es Fotos gibt.«

»Ich finde das äußerst merkwürdig«, sagt Fritz und zoomt mit den Fingerspitzen näher heran. Das Eingangsportal wird großflächig sichtbar. Beton, Stahl und Glas, keine Menschen.

Fast so, als wäre alles Lebendige wegretuschiert worden.

»Meine Wohnung ist im zweiunddreißigsten Stockwerk. Mit direktem Blick auf den Fernsehturm.« Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich fühle mich noch immer wie in einem wunderschönen Traum.

»Dann lass uns mal sehen«, sagt er leise und wischt das Foto nach oben. Die Fensterfronten sehen alle gleich aus.

»Es könnte vielleicht das hier sein«, sage ich und deute auf ein Fenster, hinter dem ich Apartment 66e vermute.

»Hm«, macht Fritz und legt das Mobiltelefon beiseite. »Ich weiß nicht, Nova. Und du hast den Vertrag wirklich schon unterschrieben?«

Ich zögere kurz. »Irgendwie schon.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, dass ich mich nicht mehr so genau daran erinnern kann«, entgegne ich und zucke mit den Schultern. Mir ist es selbst ein bisschen unangenehm. »Aber dafür darf ich dort kostenlos wohnen. Warum sollte ich das Angebot ablehnen? Ich kann ja wohl auch mal etwas Glück haben, oder?«

»Genau das macht mich ja stutzig«, sagt er nachdenklich. »Wer verschenkt denn so ein Luxusapartment?«

Ich schnappe mir ein Kissen und umklammere es. »Ich bekomme doch nichts geschenkt, Fritz. Ich wohne nur dort.«

»Ja, für ein ganzes Jahr! Weißt du, wie hoch die Monatsmiete für so ein Luxusding ist? Bestimmt 8000 Euro. Wenn nicht mehr.«

Ist Fritz eifersüchtig? Warum macht er mir meine neue Wohnung madig? Andererseits hat er natürlich recht. Wie hoch sind die Chancen, im Lotto zu gewinnen?

»Kennst du zufällig Lisette?«, fragt er. »Life of Lisette?«

»Klar, wer kennt die nicht?«, sage ich irritiert und frage mich, warum er plötzlich das Thema wechseln will. Lisette ist eine Berühmtheit auf Instagram, mit ihren DIY-Videos, in denen sie runtergekommene Wohnungen wieder in Schuss bringt. Ich schaue mir ihre witzigen Reels oft an, auch wenn ich sie nicht abonniert habe. Trotzdem werden mir ihre Videos durch den Algorithmus regelmäßig in den Feed gespült. In letzter Zeit waren es jedoch nicht mehr so viele. »Wieso? Was ist mit ihr?«

»Sie wohnt ebenfalls im Pramtower.«

»Echt? Lisette kommt aus Berlin?«, sage ich überrascht. Das war mir nicht bewusst. Ich dachte, die blonde Schönheit wohnt irgendwo in München oder Köln. Es gibt in der Tat gute Gründe, warum man den privaten Wohnort besser für sich behält, wenn man eine gewisse Reichweite erlangt hat. Nicht, dass Fans oder Stalker vor deiner Haustür warten. Es wäre ziemlich verrückt, wenn ich Lisette im Pramtower in der Lobby treffen würde. Vielleicht könnten wir sogar einen gemeinsamen Post machen. Mein Herz tut einen kleinen Sprung. »Na ja, durch ihren Erfolg kann sie sich den Pramtower auf jeden Fall leisten.«

Fritz sieht mich verwundert an. »Du hast also nichts davon gehört?«

»Nein, was denn?«

»Offenbar gab es in ihrem Apartment einen schrecklichen Zwischenfall«, sagt Fritz. »Deshalb sieht und hört man nichts mehr von ihr. Ihr Insta-Account ist seit zwei Wochen verwaist.«

»O je.« Ich lege das Kissen zur Seite, beuge mich zu ihm vor. Mein Freund Fritz ist sichtlich mitgenommen. »Was denn für einen Zwischenfall? Davon stand überhaupt nichts im Netz. Vielleicht macht sie nur Urlaub?«

»Lisette hat über vierhunderttausend Follower«, sagt Fritz ernst. »Da kann sie sich nicht erlauben, plötzlich keine Posts mehr zu machen. Da verliert sie sofort Reichweite. Nein, sie ist nicht im Urlaub, Nova.«

»Woher weißt du das? Kennst du …«

»Lisette ist tot«, fällt mir Fritz ins Wort.

»Was?«

Für einen kurzen Moment schweigen wir.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die lebenslustige junge Frau nicht mehr am Leben sein soll. Es ist ein Schock. Auch wenn ich sie persönlich überhaupt nicht kannte. Trotzdem war sie ein Teil meines digitalen Lebens.

»Was … was ist denn passiert?«, frage ich schließlich.

»Manche behaupten, es wäre ein Unfall gewesen«, sagt Fritz. »Von einem Freund weiß ich allerdings, dass die Polizei nicht davon ausgeht.« Fritz senkt unwillkürlich die Stimme, als er weiterspricht. »Sondern von Suizid. Deshalb hat die Presse nicht darüber berichtet. Wegen der Nachahmer.«

»Warum sollte sich Lisette umbringen?«, frage ich entsetzt.

Noch vor wenigen Wochen habe ich sie auf Instagram gesehen. Wie sie strahlend vor der Kamera posierte und die neuesten Farben und Tapeten vorstellte.

»Zuerst dachten die Rettungskräfte an ein Gasleck in der Küche«, sagt Fritz. »Denn dort haben sie Lisette bewusstlos aufgefunden. Kurz darauf setzte ihre Atmung aus.«

»Im Pramtower?«, sage ich überrascht. Augenblicklich kommt mir die hochmoderne Küchenzeile in den Sinn. »Das kann ich mir nicht vorstellen. In dem Gebäude ist alles vom Feinsten, der Pramtower hat bestimmt das beste Sicherheitssystem Deutschlands.«

»Genau, das behauptet die Leitung der Natasho AG auch. Wenig später hat die Polizei dann einen Abschiedsbrief auf Lisettes Handy gefunden«, sagt Fritz. »Damit war der Fall für die Kripo erledigt. Selbstmord durch Gasvergiftung.«