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„Die zahmen Vögel singen von Freiheit, die wilden fliegen.“ Der junge Nael merkt schon früh im Leben, dass er nicht für das Leben geschaffen ist, in das er hineingeboren wurde. Auf der Suche nach seiner Bestimmung begibt er sich ganz allein auf eine gefährliche Reise. Sein Ziel sind die Traumdeuter, die ihm seinen Traum deuten sollen, der ihn bereits seit seiner Kindheit verfolgt. Bilder in seinem Kopf, die ihn sowohl erfreuen als auch ängstigen. Doch nicht nur er ist an der Bedeutung seines Traums interessiert, auch die geheime Bruderschaft des schwarzen Skorpions hat großes Interessen an seinem Traum. Ihre Auftraggeber sehen in Nael eine Bedrohung für sie und ihre Pläne. Grund genug für sie, Nael gnadenlos zu jagen. Doch Nael erhält auch unerwartete Unterstützung auf seiner Reise und ein Wettrennen gegen die Zeit beginnt. Wird es Nael gelingen die Bedeutung seines Traums herauszufinden und seine Bestimmung zu leben?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
"Wozu bin ich auf dieser Welt?"
Eine Geschichte über die Bedeutung der eigenen Bestimmung
Für dich auf deinem Weg im Leben:
Von Herzen alles Liebe!
Wie jeden Morgen war ich bereits früh auf den Beinen. Ich saß hoch oben auf einer Düne und beobachtete, wie ganz langsam die ersten Sonnenstrahlen über den Wüstensand krochen. Erst spiegelten nur ein paar einzelne Sandkörner das warme Licht der Sonne wider, doch mit jeder Sekunde wurden es mehr. Die aufgehende Sonne vertrieb die Dunkelheit und tauchte die Wüste in ihr rötliches Morgenlicht: Ein neuer Tag begann. Die Geburt eines neuen Tages in der Wüste mitzuerleben war wirklich ein beeindruckendes Naturschauspiel, wenn man es das erste Mal sah.
Doch ich fühlte dabei: Nichts.
Gar nichts.
Ich wurde als Sohn der Wüste geboren und für mich war es das Normalste auf der Welt. Und ich hatte früh gemerkt, dass ich nicht hierher gehörte. Mein Herz sehnte sich nach etwas Anderem. Ich wusste nicht genau, was es wollte, wohl aber, was es nicht wollte: Es wollte nicht ein Leben lang umherreisen, wie es unser Volk machte, seitdem es bestand. Jedes Jahr wanderten wir zur exakt gleichen Zeit über die exakt gleichen Pfade an die exakt gleichen Orte, an denen wir immer nur kurz verweilten, bis wir wieder aufbrachen.
Ich bemerkte, dass es für die meisten meines Stammes genau das war, was sie machen wollten. Aber auf mich traf das nicht zu. Mein Herz sehnte sich nach etwas anderem. Es hatte einen Traum. Einen Traum, der mich bereits seit meiner frühen Kindheit verfolgte. Seitdem ich mich erinnern konnte, hatte ich diesen Traum. Als ich noch klein war, hatte ich den Traum vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr. Als ich größer und älter wurde, fing mein Traum an, mich öfter heimzusuchen. Das ging so lange, bis ich ein und denselben Traum jede Nacht träumte. Das war jetzt genau einen Monat her. Seitdem hatte ich jede Nacht dasselbe geträumt und jede Nacht war ich aufs Neue schweißgebadet hochgeschreckt.
In diesem Monat, seitdem mich mein Traum jede Nacht aufsuchte, veränderte sich mein Leben vollständig. Es fing damit an, dass mir die Dinge, die ich früher gerne gemacht hatte, keinen Spaß mehr bereiteten. Das Spielen mit meinen Freunden erfüllte mich nicht mehr. Und auch in anderen Lebensbereichen merkte ich eine deutliche Veränderung: Die Mahlzeiten, die meine Mutter zubereitete, fand ich ein Leben lang absolut köstlich. In diesem Monat schmeckte alles, was sie kochte, fade und schal. Ich fühlte nichts mehr. Und ich war mir sicher, dass nicht meine Mutter das Problem war. Ich war das Problem. Irgendetwas in mir hatte sich verändert. Und ich war mir sicher, dass das mit meinem Traum zu tun hatte. Mein Traum wollte mir irgendetwas mitteilen. Mein Traum wollte mir irgendetwas sehr Wichtiges mitteilen.
Mein Großvater hatte mir von Traumdeutern erzählt, die die Bedeutung von Träumen erklären konnten. Seit diesem Moment war für mich klar, was ich tun musste: Ich musste die Traumdeuter aufsuchen, damit sie mir die Bedeutung meines Traums erklären konnten. Ich hatte das Gefühl, dass mein weiteres Leben davon abhing.
Also traf ich eine Entscheidung, die mein ganzes Leben verändern sollte.
Wieder einmal schreckte ich mitten in der Nacht hoch. Wieder einmal war ich schweißgebadet und mein Herz schlug wie verrückt. Ich musste erst ein paar ruhige Atemzüge nehmen, bevor ich wieder klar denken konnte. Um mich zu beruhigen, schlug ich meine Decke zur Seite und ging ein paar Schritte. Über mir leuchteten die Sterne und der volle Mond strahlte hell. Ich liebte diesen Anblick. Ganz egal, wie aufgebracht ich zuvor war, der Blick in die Sterne gab mir immer ein Gefühl von Geborgenheit. Ganz so, als ob mir der Mond zuflüstern würde: »Sorge dich nicht, alles wird gut.«
In dieser Nacht war ich alleine unterwegs. Sehnsüchtig dachte ich daran, was meine Eltern wohl gerade machen würden. Eine Woche ist es jetzt bereits her, dass ich mich von ihnen verabschiedet hatte. Verabschiedet, um meinem Traum hinterherzureisen. Jenem Traum, der mich gerade aus meinen Schlaf gerissen hatte. Der Traum, der mein Innerstes mit einem wohligen Gefühl des Angekommenseins und der Zugehörigkeit erfüllte. Der Traum, in dem ich das Gefühl von Heimat spürte. Und auch der Traum, der mich jedes Mal schweißgebadet aufwachen ließ. Der Traum, der mich im tiefsten Punkt meiner Seele ängstigte. Diese Gegensätzlichkeit besaß eine gewisse Magie.
Ich wanderte durch die Dünen, bis sich mein Herzschlag wieder normalisiert hatte. »Hör auf dein Herz«, hatte mir unser Ältester mit auf den Weg gegeben, als ich mich von unserem Stamm verabschiedet hatte.
Nur, wie soll ich verstehen, was mir mein Herz mit diesem Traum mitteilen möchte?, fragte ich mich. Mein Traum verfolgte mich schon seit meiner Kindheit. So lange, wie ich mich erinnern konnte. Und dennoch hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, was er mir mitteilen wollte.
Heute bin ich 17 Jahre alt und habe mich auf den Weg hinaus in die Welt gemacht, um herauszufinden, was mir mein Traum sagen möchte. Mein Ziel sind die Traumdeuter, die in den Bergen wohnen. In meinem Stamm erzählt man sich, dass sie die Wege der Welt kennen und jedem, der den beschwerlichen Weg zu ihnen auf den Gipfel auf sich nimmt, die Bedeutung seiner Träume erklären. Und ich war gewillt den höchsten Gipfel der Welt zu erklimmen, wenn ich dafür nur die Bedeutung meines Traums erklärt bekäme.
Denn mein Traum war alles für mich, was zählte. Von ganzem Herzen war ich mir sicher, dass sich in meinem Traum meine Bestimmung im Leben versteckte. Ich brannte darauf herauszufinden, worum es sich dabei handelte. Mit dieser Gewissheit im Herzen wickelte ich mich wieder in meine Decke und schlief sofort ein.
Es war der Ruf eines Falken, der mich am frühen Morgen weckte. Als ich das allererste Mal so ein Tier gesehen hatte, hatte ich meinen Vater gefragt, was das für ein seltsamer Vogel sei. Aber auch er hatte so einen Vogel noch nie gesehen. Allerdings gab es in unserem Stamm einen alten Mann, der früher die Welt bereist hatte. Er hatte die Wüsten und Steppen unserer Heimat hinter sich gelassen und ist mit einem Boot übers Meer gefahren.
Er war in Ländern, die nicht nur aus Sand und trockener Erde bestanden. In Ländern, in denen es riesige Wälder, endlose Felder und tiefe Seen gab. Mit Menschen, die vom Ackerbau und vom Fischfang lebten. Wiederum andere gingen auf die Jagd. Und zu eben jener Jagd hatten einige Jäger solch einen Vogel dabei, der zielgerichtet Tiere aufspürte. Sie waren Freunde der Menschen und gingen mit ihnen eine Art Symbiose ein. Jeder hatte einen Nutzen vom anderen und so blieben sie gern zusammen. Der Name, den der alte Mann diesem Tier gab, war Falke.
Was dieser Falke allerdings in unseren Regionen machte, konnte mir der alte Mann auch nicht sagen. »Es könnte ein Zeichen sein«, sagte er nur und ich beschloss, dem Ruf des Falken zu folgen.
Seitdem ich unseren Stamm verlassen hatte, hörte und sah ich den Falken regelmäßig. Er rief, wenn er in eine andere Richtung gehen wollte als ich. Und er drehte seine Kreise am Himmel, wenn es seiner Meinung nach Zeit für eine Rast war. Ansonsten sah ich den Falken kaum. Irgendwo musste auch er essen, trinken und schlafen, da war ich mir sicher.
»Nicht jedes Geheimnis unserer Welt ist ergründbar«, erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter. Sie fehlte mir. Sie fehlte mir so sehr. Ich vermisste ihre Stimme, wenn sie mit mir sprach. Ich vermisste ihre Wärme, wenn sie mich in den Arm nahm. Und ich vermisste die Gewissheit, dass sie immer für mich da war, ganz egal, was auch geschah.
Und dennoch war ich mir trotz meiner Sehnsucht sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dass mich mein Weg im Leben aus der Wüste fortführte. Hin zu einem Ziel, das ich heute noch nicht einmal benennen konnte. Aber ich wusste, dass es existierte.
Die Wüste fing an sich zu verändern und hier und da waren bereits erste Anzeichen von Vegetation zu erkennen. Ich kannte diese Gegend, da ich bereits früher hier gewesen war. Das Leben eines ständig Reisenden bringt dich immer wieder an dieselben Orte.
Wie sehr ich mich danach sehnte, endlich im Leben angekommen zu sein und nicht mehr das Gefühl zu haben, immer nur weiter und immer nur weg zu müssen. Das Leben eines Umherziehenden ist einfach nichts für mich, dachte ich.
Mit den ersten Pflanzen veränderte sich auch die Tierwelt. Die lebensfeindliche Umgebung der Wüste bot nur wenigen Tierarten eine Heimat. Ich war mir sicher, dass auch mein treuer Wegbegleiter der Falke sich darüber freute, hier leichter an Beute zu kommen. Wie um meine Worte zu bestätigen, hörte ich den Ruf meines Falken und ich sah, wie er wie ein Stein vom Himmel fiel, nur um sich Sekunden später wieder mit einem kleinen braunen Fellknäuel in seinen Krallen in die Lüfte zu erheben.
Der Kreislauf des Lebens, dachte ich und lief weiter. In drei Tagen sollte ich an einen kleinen Fluss kommen. An diesem Fluss endete das Hoheitsgebiet der Wüste endgültig. Riesige Herden von Huftieren kamen hier regelmäßig vorbei, um ihren Durst zu stillen. Diese Umstände nutzten natürlich auch Jäger wie Krokodile zu ihrem Vorteil, weswegen höchste Alarmbereitschaft geboten war, wenn man sich im Fluss erfrischen wollte. Meine Reise wird hier nicht vorzeitig enden, sagte ich mir und nahm mir vor, stets auf der Hut zu sein.
Während ich lief, fiel mir die Lieblingsweisheit meines Großvaters in Bezug auf die Wüste ein, die er mir erzählte, seitdem ich ein kleiner Junge war. Immer, wenn etwas nicht so lief, wie ich es mir vorstellte und ich dadurch traurig oder wütend wurde, sagte er zu mir: »Immer nur Sonnenschein im Leben erschafft eine Wüste. Du brauchst auch Regen, damit dein innerer Garten blühen und gedeihen kann.«
Mir gefielen diese Worte. Und mir gefiel der Gedanke, dass jeder Mensch einen inneren Garten in sich trägt und ihn hegen und pflegen kann. Oder ihn verwuchern oder verkümmern lässt. Jeder so, wie es für ihn passt.
Während meiner Wanderung, bei der ich auf keinerlei Menschen traf, hatte ich viel Zeit, mich mit meiner Einsamkeit zu beschäftigen. Ich vermisste meine Mutter. Mein ganzes Leben lang war sie stets mein Rückhalt gewesen. Mein sicherer Hafen, zu dem ich immer zurückkehren konnte. Ganz egal, was ich angestellt hatte, ich wusste immer, dass meine Mutter für mich da sein würde. »Ich liebe dich bedingungslos«, hatte sie unentwegt zu mir gesagt und mich dabei in ihre Arme geschlossen.
Als ich noch jünger war, habe ich sie immer gefragt: »Was heißt bedingungslos?«
Und meine Mutter hatte geantwortet: »Meine Liebe für dich umfasst dein ganzes Wesen. All deine tollen Eigenschaften und all deine Unzulänglichkeiten. Alles, was mich zum Lachen bringt und genauso alles, was mich zum Weinen bringt. Das eine gibt es nicht ohne das andere im Leben. Genau so, wie der Tag die Nacht braucht und nur Licht Schatten werfen kann. Ich will dir damit sagen, ich liebe dich dafür, dass du bist, wie du bist.«
Der Anblick, wie meine Mutter sich mit Tränen in den Augen von mir verabschiedet hatte, hat sich wie ein glühendes Eisen in mein Herz gebrannt. Und dennoch musste ich gehen. Ich musste herausfinden, was mein Traum mir sagen wollte. Ich musste herausfinden, was mein Weg im Leben sein sollte. Und der erste Schritt auf diesem Weg bedingte den Abschied von meiner Familie und meinem Stamm – so hart er mir auch fiel.
Auch meinen Großvater vermisste ich sehr. Als ich noch kleiner war, hatte er mir viel von der Einheit der Welt erzählt. Von den scheinbaren Gegensätzen, die unsere Welt durch ihre Vielfalt bereichern. Von riesigen Meeren, undurchdringlichen Dschungeln und so hohen Bergen, dass auf ihren Gipfeln Wasser seine flüssige Form verliert und es dort oben so kalt ist, dass der unbändige Fluss des Wassers von der Kälte der Berge gestoppt wird.
Ich konnte mir das alles nie vorstellen. Alles, was ich kannte, war die Wüste. Sand, Sonne und Hitze. Und ab und an eine Oase, an der wir unseren Durst stillen konnten. Mehr nicht.
Wovon mir mein Großvater auch erzählt hatte, seitdem ich mich erinnern konnte, war, dass jedes Leben einen tieferen Sinn hatte. Die Welt hält für jeden von uns eine bestimmte Aufgabe bereit.
»Wozu wären wir sonst hier?«, hat mein Großvater dann immer mit seinem gütigen Lächeln auf den Lippen gefragt. Wenn ich ihn dann danach gefragt hatte, was meine Bestimmung im Leben sei, hat er mich liebevoll in den Arm genommen und mir erklärt, dass nur ich selbst das herausfinden könne. Ich müsse einfach nur den Zeichen in meinem Leben folgen. Dann werde ich ganz bestimmt meine Bestimmung finden. »Du kannst den Weg gar nicht verfehlen«, sagte er immer.
Wen ich nicht vermisste, war mein Vater. Ich hatte bei ihm immer das Gefühl, dass ich seinen Ansprüchen nie genügte. Nichts von dem, was ich machte, war gut genug für ihn. Ständig hatte er etwas auszusetzen an dem, was ich tat und wie ich es tat. Ich war froh, nicht mehr unter seiner ständigen Beobachtung zu stehen.
Mit diesen Gedanken suchte ich mir ein Nachtlager.
Geweckt von einem lauten Geräusch schreckte ich hoch.
Was war das?, fragte ich mich schlaftrunken in Gedanken. Es klang wie ein Ruf. Wie der Ruf eines Vogels. Ich sprang auf, rannte ein paar Meter und versteckte mich hinter einem großen Stein. Ich blickte in den Himmel, in dem sich sanft die erste Morgenröte abzeichnete. Das Spiel der Farben war ein bezaubernder Anblick und ich merkte, wie ich langsam wieder Gefallen an den Wundern der Natur fand, seitdem ich auf meinem Weg unterwegs war.
Und da entdeckte ich ihn: Majestätisch, mit ausgebreiteten Flügeln schwebte er direkt über mir. Es war mein Falke. Und noch einmal rief er. Ich hatte das Gefühl, als wollte er mir etwas Wichtiges sagen – oder mich vor etwas warnen.
Genau in diesem Moment hörte ich noch ein weiteres Geräusch. Ganz leise. Es war das verräterische Knacken eines trockenen Astes, auf den jemand getreten war.
Ich fuhr herum und dann sah ich sie: Drei vermummte Gestalten, die sich geduckt an meine Schlafstätte heranschlichen. Im Schutze des Dämmerlichts duckte ich mich noch tiefer hinter den Stein und versuchte kein Geräusch von mir zu geben, um diese Gestalten ja nicht auf mich aufmerksam zu machen.
Mein Herz schlug wie verrückt. Ich war mir sicher, dass das Pochen meines Herzens so laut war, dass sie mich einfach hören mussten. Die Zeit schien in diesem Moment stillzustehen. Auch als ich nichts mehr hörte, blieb ich noch eine ganze Weile geduckt hinter dem Stein, bis ich mich wieder traute einen Blick zu riskieren.
Die Diebe waren weg, der Ruf meines Falken hatte mich gerettet.
Immer noch mitgenommen von dem nächtlichen Überfall packte ich hastig meine Sachen, um meine Reise fortzusetzen. Um meinen trockenen Hals zu befeuchten, wollte ich nur noch einen großen Schluck aus einem meiner Trinkschläuche nehmen, bevor ich mich zu einem weiteren langen Marsch durch die Wüste aufmachte. Doch an der Stelle, an der ich meine Trinkschläuche in meinem Gepäck platziert hatte, konnte ich sie nicht finden.
Nervös begann ich mein spärliches Gepäck zu durchwühlen, in der Hoffnung, dass ich sie gestern Abend einfach nur an eine andere Stelle gelegt hatte. Doch egal, wo ich auch suchte, ich konnte keinen einzigen meiner Trinkschläuche finden.
Als ich jeden Winkel meines Gepäcks mehrfach durchsucht hatte, fiel auf einmal ein kleiner Gegenstand vor mir in den Sand. Ich bückte mich, um ihn näher zu betrachten. Es war ein Amulett. Und auf dem Amulett war ein schwarzer Skorpion zu sehen. Meine Angreifer hatten also eine Spur hinterlassen.
Und dann durchfuhr es mich wie ein Blitz: Als die Angreifer mich nicht finden konnten, begnügten sie sich damit, meine Trinkschläuche mitzunehmen. Allein und ohne Wasser in der Wüste unterwegs zu sein, glich einem Todesurteil. Und bis zum nächsten Fluss waren es noch mehr als zwei Tagesmärsche.
Mein Hals wurde schlagartig noch trockener als zuvor und ich fühlte mich jeglicher Hoffnung beraubt. Umzukehren ergab keinen Sinn, es war einfach zu lange her, dass ich bewohntes Gebiet gesehen hatte.
Einem Gefühl vertrauend beschloss ich einfach weiterzugehen. Wenn ich schon sterben sollte, dann wenigstens mit der Gewissheit, dass ich bis zu meinem letzten Schritt auf der Suche nach meiner Bestimmung war. Alles andere hätte sich einfach falsch angefühlt.
Und so schulterte ich mein Gepäck und machte mich auf meinen Weg fortzusetzen. Immerhin ist die Last, die ich jetzt zu tragen habe, deutlich leichter geworden, dachte ich und musste lachen. Im Angesicht des sicheren Todes scheint das Herz irgendwie leichter zu sein…
Als die Sonne am höchsten Punkt stand, wurde mein Durst immer unerträglicher. Um das Unausweichliche, mein Verdursten in der Wüste, nicht noch unnötig hinauszuzögern, beschloss ich heute einfach weiterzulaufen und mir keinen Schutz vor der unerbittlichen Mittagssonne zu suchen.
Wenn das mein Ende sein soll, dann ist es eben so, dachte ich. Ich merkte, wie mein Geist immer trüber wurde und ich anfing meine Umgebung nur noch verschwommen wahrzunehmen. Meine Beine verweigerten ihren Dienst und ich robbte mich weiter voran.
Ich merkte, dass mein Ende nun gekommen war. Meine letzten bewussten Gedanken galten meiner Familie: Meiner Mutter, die ich über alles auf dieser Welt liebte. Meinem Großvater, der mir so vieles beigebracht und für mein Leben mitgegeben hatte. Und auch meinem Vater, den ich aus der Tiefe meines Herzens ebenso liebte, auch wenn ich es nicht übers Herz gebracht hätte, ihm das jemals zu sagen.
Diese versöhnlichen Gedanken brachten mir innere Ruhe und ich merkte, wie mein unstillbares Verlangen nach Wasser versiegte.
Das Letzte, was ich hörte, bevor sich meine Augen für immer schließen sollten, war der Ruf meines Falken. Er klang verzweifelt und jeglicher Hoffnung beraubt. Mein letzter Gedanke war: So sollte mein Vater also doch recht damit behalten, dass ich zu nichts tauge.
Dann versank meine Welt in Dunkelheit.
Ich hustete mir meine Seele aus dem Leib, als ich wieder zu mir kam. So hatte ich mir mein Erwachen im Jenseits nicht vorgestellt, dachte ich. Ich setzte mich auf und sah mich um. Und ich hätte auch nicht erwartet, dass das Paradies exakt so aussieht wie die Wüste, die ich gerade durchqueren wollte, ergänzte ich in Gedanken.
Und gerade als ich meinen Blick nach rechts richtete, sah ich direkt in das Gesicht eines Mannes. Eines Mannes mit einem albernen Hut. Und geschminkt war er auch. Und er trug das breiteste Lächeln auf seinem Gesicht, das ich jemals gesehen hatte.
»Trink langsam, mein Freund. Du warst so kurz vor dem Verdursten, dass es dir jetzt auch nichts hilft, wenn du so gierig schlingst, dass du ertrinkst«, sagte er mit einer freundlichen Stimme.
Ich hörte auf ihn und trank langsame und kleine Schlucke, obwohl sich mein Körper nach nichts so sehr sehnte, wie nach dieser köstlichen Flüssigkeit namens Wasser. Der Fremde ließ mir alle Zeit der Welt und lächelte mich weiterhin freundlich an.
»Wer bist du?«, wollte ich von ihm wissen, als ich meinen Durst gestillt hatte.
»Mein Sultan nennt mich Cato«, antwortete er.
»Mich nennt man Nael«, stellte ich mich vor und reichte ihm die Hand. »Es freut mich sehr dich kennenzulernen, ich verdanke dir mein Leben.«
»Dein Leben verdankst du dem Allmächtigen, ich bin nur sein Werkzeug«, antwortete Cato.
»Dann danke ich dir eben dafür, dass du mich nicht den Geiern überlassen hast«, sagte ich.
»Das wiederum war mir ein Vergnügen«, sagte Cato.
»Bist du ganz allein hier in der Wüste unterwegs?«, wollte ich von ihm wissen.
»In dieser Aufmachung?«, fragte Cato und neigte seinen Kopf, wodurch die kleinen Glöckchen an seinem Hut einen ganz entzückenden Klang von sich gaben.
Auch wieder wahr, dachte ich.
»Ich bin der Hofnarr des Sultans. Und ich reise natürlich immer an der Seite meines Sultans, um ihn zum Lachen zu bringen«, ergänzte Cato.
»Erzählst du ihm denn den ganzen Tag Witze?«, fragte ich neugierig.
»Nicht den ganzen Tag, aber eine meiner Hauptaufgaben ist es, alles und jeden durch den Kakao zu ziehen. Ich habe aber auch noch eine ganz wichtige Aufgabe, die nur ich erledigen kann. Eine, von der das Schicksal unserer Welt abhängt«, sagte der Hofnarr geheimnisvoll.
»Welche denn?«, wollte ich wissen.
»Ich bin der Einzige, der dem Sultan seine Unfehlbarkeit absprechen darf. Nur durch den Mund eines Narren dürfen solche Worte an das Ohr des Sultans herangetragen werden. Jedem anderen würde er ohne zu zögern den Kopf abschlagen lassen«, erzählte Cato.
»Das war mir noch gar nicht bewusst«, antwortete ich erstaunt.
»Das wissen nur die Allerwenigsten. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass mein Kopf voller Flausen ist. Dabei ist es eine Kunst, in die ganzen Albernheiten auch Wichtiges und Lehrreiches für den Sultan zu verpacken«, erzählte Cato. »Aber du bist sicher erschöpft. Komm mit mir, du darfst die nächsten Tage auf meinem Kamel reiten und ich werde neben dir laufen.«
»Ich weiß nicht, womit ich diese Großzügigkeit verdient habe und auch nicht, wie ich dir das vergelten soll«, antwortete ich ehrlich ergriffen von der Freundlichkeit des Hofnarren eines ihm völlig Fremden gegenüber.
»Du bist ein Mensch in Not, natürlich helfe ich dir«, antwortete Cato. »Und ich verrate dir noch ein Geheimnis: Ich bin derjenige, der am meisten von meiner Hilfe dir gegenüber profitiert.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich erstaunt.
»Indem ich dir etwas zuteilwerden lasse, was du mir in deinem Leben im wahrscheinlichsten aller Fälle nicht in gleichem Maße vergelten kannst, schenkst du meiner Seele inneren Frieden. Ich tue nichts Gutes, um Dank dafür zu erhalten. Oder für eine Belohnung. Ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin.«
Mit diesen Worten half mir Cato hoch und stützte mich bei meinen ersten schwachen Schritten. Am Rot der untergehenden Sonne erkannte ich, dass ich mindestens einen halben Tag in der glühenden Hitze gelegen haben musste. Meine Beine gehorchten meinen Befehlen noch nicht wieder vollständig und ich war froh, dass mir Cato beim Laufen half.
Wir stiegen auf die nächste Düne und ich konnte meinen Augen kaum glauben: Vor uns lag eine riesige Karawane. So viele Menschen und Tiere hatte ich noch nie durch die Wüste wandern sehen. Ich sah prachtvoll geschmückte Kamele, lachende Kinder, trainierende Krieger und inmitten des ganzen Spektakels sah ich ein riesiges Zelt. Es musste das Zelt des Sultans sein, daran hegte ich keinerlei Zweifel.
»Komm mit, ich zeige dir meine Unterkunft und du kannst heute bei mir nächtigen«, sagte Cato und holte mich damit aus meinen Gedanken.
»Wir müssen morgen sehr früh los, da wir bis zur glühenden Mittagssonne den Rand der Wüste erreichen wollen, um unsere Kamele zu tränken. Sie haben seit drei Wochen keinen einzigen Schluck getrunken. Sie sind darin ein wenig erfahrener als wir Menschen«, erzählt Cato und zwinkerte mir zu.
Das Gesetz des Sultans sah es vor, dass jeder Besucher persönlich dem Sultan vorgeführt werden musste. Ob man danach noch selbst entscheiden konnte, wann man seinen Aufenthalt bei seiner Majestät beenden möchte, entschied der Sultan selbst.
Meine Audienz war für den Nachmittag angesetzt, erzählte mir Cato, als wir morgens aufbrachen. Die Diener des Sultans waren sehr geschickt im Abbau des riesigen Zeltes, vermutlich, da der Sultan nicht gerade für seine Geduld bekannt war. Der Sultan selbst reiste in einer Sänfte, die ihn durch ein Dach und mehrere Vorhänge vor den äußeren Widrigkeiten der Wüste schützte. Getragen wurde die Sänfte von einem halben Dutzend breit gebauter Männer.
»Kamele schaukeln meinem Sultan zu sehr«, sagte Cato, da er meine Verblüffung zu bemerken schien. »Komm, wir müssen los«, ergänzte er und ich folgte ihm.
Die Karawane hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und wir suchten uns unseren Platz im stetigen Fluss der Menschen und Tiere. Ich war überrascht über die Vielfältigkeit der Menschen, die der Sultan in seiner Gefolgschaft hatte. Neben den mir wohl bekannten Töchtern und Söhnen der Wüste gab es Männer mit tiefschwarzer Hautfarbe, Frauen mit nahezu weißer Haut, denen große Schirme gegen die erbarmungslose Sonne über ihre Köpfe gehalten wurden, Menschen mit dunklem Haar und welche mit hellen Haaren, Große, Kleine, Alte und Junge.
»Auf den ersten Blick so unterschiedlich und doch sind wir alle gleich«, sagte Cato, dem mein Staunen nicht verborgen geblieben war.
»Wie meinst du das?«, wollte ich wissen. »Wir sehen doch alle ganz anders aus.«
»Das haben deine Augen gut erkannt. Und jetzt schließe sie einmal für einen Moment und stelle dir das, was du gerade gesehen hast, noch einmal vor deinem inneren Auge vor«, sagte Cato. »Was nimmst du jetzt wahr?«
»Ich kann mir die Karawane nur noch schemenhaft vorstellen. All die Farben, die meine Augen wahrgenommen haben, sind nicht mehr in dem Bild in meinem Kopf zu sehen«, sagte ich, während ich meine Augen geschlossen hielt und zwanghaft versuchte, mir ein Bild der Karawane in meinem Kopf entstehen zu lassen.
»Und was siehst du, wenn du all die Details weglässt, die dir deine Augen zu jeder Zeit deines wachen Tages übermitteln?«, fragte Cato. »Wer zieht durch die Wüste?«
»Menschen und Tiere«, antwortete ich.
»Du siehst nur mit dem Herzen gut. Deine Augen nehmen nur wahr, dein Herz gibt allem Bedeutung«, sagte der Hofnarr, der mit seinen weisen Worten gar nicht wie ein Narr klang.
Während die Sonne immer weiter am Horizont emporkletterte, lief Cato den ganzen Weg neben mir, ohne ein einziges Mal zu murren, dass ich ihm seine Reitmöglichkeit weggenommen hatte. »Was hat dich dazu veranlasst, dass du allein die Wüste durchqueren wolltest?«, fragte er mich stattdessen.
Und ich begann zu erzählen.
Ich erzählte Cato von meiner Kindheit als Heimatlosem. Wie ich mit meinem Stamm Jahr für Jahr dieselben Wege wanderte und wir ein einfaches, aber glückliches Leben führten. Mein Glück sollte allerdings an dem Tag enden, an dem mich zum ersten Mal mein Traum heimsuchte. Es war an meinem zwölften Geburtstag, fast auf den Tag genau vor fünf Jahren.
Während ich in den Nächten vor meinen Geburtstagen auch in den Jahren zuvor sowieso kaum zum Schlafen kam, gab es diesmal einen besonderen Grund: Mein Traum war erwacht.
Und seit jenem Tag verfolgte er mich. In den ersten Jahren hatte ich ihn noch sehr selten, vielleicht ein paar Mal im Jahr. In den letzten beiden Jahren mindestens ein paar Mal im Monat. Und seit einem Monat besuchte mich mein Traum jede Nacht. Bis zu jenem Tag, als ich aufbrach, um meiner Bestimmung zu folgen.
Ich hatte meine Familie und meinen Stamm verlassen, um herauszufinden, was das Leben noch für mich bereithielt und was mir mein Traum sagen möchte. Und ich erzählte Cato, dass ich auf dem Weg zu den Traumdeutern sei. Dass ich alle, die ich kannte, hinter mir gelassen hatte. Ein Abschied, der ein Loch in meinem Herzen hinterlassen hatte.
»Jeder freudigen Wiederkehr geht immer erst ein tränenreicher Abschied voraus«, merkte Cato an. Und dann sagte er noch etwas zu mir, was ich nie wieder vergessen sollte. Seine Worte sprachen mich direkt in meinem Herzen an: »Die zahmen Vögel singen von Freiheit, die wilden fliegen.«
In meiner Kindheit, als wir als Nomaden durch die Gegend gereist waren, fühlte ich mich immer eingesperrt. Wir folgten immer den gleichen Routen und es war absolut vorhersehbar, wo es als Nächstes hinging. Ich aber wollte frei sein. Mein Leben selbst erkunden, nicht die ausgetretenen Pfade meiner Ahnen beschreiten, sondern meinen eigenen Weg im Leben gehen.
»Weswegen zieht ihr durch die Wüste?«, fragte ich den Hofnarren.
»Die Wege des Sultans sind unergründlich«, antwortete er mit einem Lachen und kippte seinen Kopf einmal nach links und einmal nach rechts, um seinen Glöckchen ihren süßen Klang zu entlocken.
Wir liefen den gesamten Vormittag und ich war immer noch verblüfft, wie ein so riesiger Strom an Menschen und Tieren den anstrengenden Weg durch die Wüste wählen konnte. Bei nächster Gelegenheit wollte ich Cato noch einmal darauf ansprechen, was das Ziel des Sultans war. Irgendetwas musste er doch wissen.
Cato ging gerade seinen Pflichten nach und bespaßte den Sultan, so nannte er es zumindest. Mich ließ er alleine auf seinem Kamel weiterreiten. Mein Körper hatte sich so weit gut erholt und ich hätte sicher schon wieder selbst laufen können, hatte aber auch nichts dagegen, mich noch ein Stück tragen zu lassen. So genoss ich den Ritt auf meinem Wüstenschiff und beobachtete den Strom der unzähligen Lebewesen in dieser lebensfeindlichen Umgebung.
Wie von Cato vorhergesagt, erreichten wir mittags die Oase. Alle freuten sich auf die Rast und das köstliche frische Wasser. Auch die Kamele durften endlich wieder trinken. Ich war immer noch erstaunt, wie sie so lange ohne Wasser auskommen konnten.
Meine Erfahrungen mit Wassermangel zeigten mir deutlich, dass ich nicht für die Wüste geschaffen war, ich gehörte einfach nicht hier hin. Mit meinem Großvater konnte ich darüber reden, dass ich mein Leben nicht in der Wüste und in den umgebenden Steppen verbringen wollte. Mein Vater wollte davon nie etwas hören. Du bist ein Sohn der Wüste, sagte er immer. Aber müssen Söhne zwangsläufig den Weg ihrer Väter einschlagen?
Wenn es nach meinem Vater ginge, war die Antwort ein klares Ja. Aber ich hatte eine andere Vorstellung von meinem Leben. Da es mein Leben war, konnte wohl auch ich bestimmen, wie ich es leben möchte. Und mich zog es hinaus in die Welt. Ich wollte endlich herausfinden, was diese Welt für mich bereithielt. Und ich wusste, dass die Welt nicht nur aus Wüste und Sand bestand.
Ich erinnerte mich wieder an die Erzählungen meines Großvaters: An Meere, die so gigantisch groß sind, dass du nur noch Wasser erblickst, egal in welche Richtung du dich umsiehst. An Wälder, die voller sattem Grün sind und den unterschiedlichsten Tieren eine Heimat bieten. An Berge, deren Spitzen zu jeder Jahreszeit mit einer weißen Schneedecke überzogen sind, da ihre Gipfel so hoch in den Himmel ragen, dass dort immer eisige Kälte herrscht.
Und ich war hungrig auf diese Welt. Ich wollte endlich raus aus der Wüste. Ich wollte herausfinden, was meine Bestimmung im Leben war. Und meine Bestimmung, das fühlte ich ganz tief in meinem Herzen, war unwiderruflich mit meinem Traum verknüpft.
»Komm mit, der Sultan erwartet dich«, riss mich Cato aus meinen Gedanken.
Es war erstaunlich, wie schnell das Zelt, oder besser gesagt der Zelt-Palast des Sultans, aufgebaut werden konnte. Gefühlt waren wir noch keine halbe Stunde in der Oase angekommen und doch war das Zelt bereits fertig aufgestellt und es duftete nach feinsten Speisen, die über Feuer gebraten wurden. Das Zelt wirkte von innen sogar noch riesiger, als es von außen aussah. Und von außen war es bereits sehr beeindruckend. Im Zelt selbst hatte ich das Gefühl, in einem Palast zu sein. Nichts erinnerte daran, dass wir uns mitten in der Wüste in einem Zelt befanden. Dem Sultan schien es an keiner Annehmlichkeit zu mangeln und ich bemerkte, wie sich Cato auf einen Stuhl setzte, der an einem kleinen Tisch stand. Auf dem Tisch stand ein quadratisches Holzbrett, auf dem sich helle und dunkle Felder abwechselten und auf den Feldern standen kleine Figuren. Der Anblick faszinierte mich und ich wollte Cato später auf jeden Fall fragen, worum es sich dabei handelte. Wenn es im Zelt des Sultans stand, musste es eine große Bedeutung haben.
Und dann sah ich ihn: Der Sultan erschien. Er war in prächtige Gewänder in Weiß und in Gold gekleidet. An jedem seiner Finger trug er goldene Ringe und um seinen Hals hing eine große Kette aus purem Gold mit einem Anhänger, der zwei gekreuzte Säbel zeigte, das Zeichen des Sultans. Er ließ sich auf seinem gepolsterten Podest nieder und machte es sich bequem. Mit einer kaum sichtbaren Handbewegung ließ er mich wissen, dass ich zu ihm kommen sollte, meine Audienz begann.
Genau in diesem Moment musste ich wieder daran denken, dass der Sultan selbst entschied, wie lange ihn seine Gäste beehren durften - und ob sie selbst wählen durften, wann sie ihren Weg fortsetzen wollten. Mein Mund wurde schlagartig trocken, ich nahm all meinen Mut zusammen und ging dem Sultan entgegen.
Ich senkte mein Haupt, da mir Cato zuvor die Regeln beigebracht hatte, die jeder Gast des Sultans einhalten musste, wenn ihm sein Kopf auf seinem Hals wichtig war. Und so wartete ich so lange mit gesenktem Haupt, bis der Sultan zu mir sprach und mir dadurch erlaubte wieder aufzublicken.
»Was führt dich in meine Wüste?«, wollte der Sultan von mir wissen.
»Verzeiht, ich wusste nicht, dass es eure Wüste ist«, antwortete ich.
»Alles um mich herum gehört mir, warum sollte es sich mit der Natur anders verhalten?«, fragte der Sultan.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Das Gespräch mit dem Sultan entwickelte sich so gar nicht, wie ich es mir erhofft hatte. Es erinnerte mich unmittelbar daran, dass der Sultan entschied, ob ein Gast ein Gast oder ein Gefangener war.
Ich hörte die Glöckchen des Hofnarren und war erleichtert, dass ich nicht sofort antworten musste.
»Des Sultans Weisheit besiegt des Gastes Dreistheit«, sang Cato und lachte dabei überschwänglich.
Der Sultan lachte mit und sagte: »Wohl gesprochen. Natürlich weißt du nicht so viel wie ich, deswegen lass uns zum Grund deiner Reise zurückkehren: Weswegen wolltest du meine Wüste durchqueren?«
»Ich folge dem Pfad meines Herzens«, antwortete ich.
»So? Und wo führt dich dein Herz hin? Wenn ich es richtig vernahm, fand dich mein Hofnarr halb vertrocknet ohne Wasserschlauch mitten in der Wüste«, sagte der Sultan.
»Dem Tode geweiht, für die Geier bereit«, hörte ich ein paar allzu bekannt klingende Glöckchen und wieder lachte der Hofnarr und der Sultan lachte mit.
»Das ist richtig, ich verdanke Cato mein Leben«, sagte ich und sah den Hofnarren dankbar an.
»Dann verdankst du dein Leben mir, denn er ist wie alles hier mein Eigentum«, sagte der Sultan. »Wie gedenkst du es mir zu danken, dass ich dich retten ließ?«
Ich dachte angestrengt nach: Was hatte ich von Wert, was ich dem Sultan anbieten konnte?
Wieder waren es die Glöckchen, die mich aus dieser unangenehmen Situation retteten.
»Was bist gewillt du zu geben, für dein eigenes Leben?«, sang Cato und kicherte dabei.
»Ich möchte euch den wertvollsten Besitz anbieten, den ich habe«, sagte ich, griff unter mein Gewand und nahm meine Halskette ab. Sie bestand aus einem Band aus Leder, an dem ein Ring angebracht war. »Dieser Ring ist das Erbstück meiner Mutter und ihrer Mutter zuvor. Laut den Ältesten unseres Stammes beschützt dieser Ring seinen Träger und seine Begleiter.«
Der Sultan gab mir ein Zeichen näherzukommen. Er besah sich den Ring. Der Ring war, anders als die Ringe des Sultans, nicht aus Gold gefertigt. Und im direkten Vergleich mit den kunstvoll gefertigten Ringen des Sultans wirkte er ziemlich plump. Er war nicht von einem Virtuosen der Schmiedekunst gefertigt, sondern von einem Laien mit Herzblut hergestellt.
Die Inschrift des Rings schien den Sultan dafür umso mehr zu interessieren. Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Worte zu entziffern, die sich im Inneren des Rings befanden. Als ihm das nicht auf Anhieb gelingen wollte, und da der Sultan nicht für seine Geduld bekannt war, hörte ich den Klang von Glöckchen und sogleich stand der Hofnarr neben dem Sultan und las die Inschrift meines Rings laut vor: »Auch das geht vorbei.«
»Auch das geht vorbei? Was soll das bedeuten?«, fragte mich der Sultan.
»Die Mutter meiner Mutter hat mir gesagt, dass ich das noch selbst herausfinden darf«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Und ehrlich gesagt hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, warum jemand so einen Satz in einen Ring gravieren sollte.
»Nicht für den Sultan bestimmt, da der Satz für ihn nicht stimmt«, reimte der Hofnarr.
»Ganz richtig. Meine strahlende Regentschaft über alles, so weit das Auge reicht, wird für immer sein«, bestätigte der Sultan Catos Worte. »Ich habe keine Verwendung für solch einen Firlefanz.«
»Deinen Ring zurück, nimm ihn, der Sultan lässt dich ziehen«, sang Cato und gab mir dabei meinen Ring zurück.
Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte der Sultan überrascht, da das anscheinend nicht sein Plan gewesen war. Er hatte sich aber gleich wieder gefasst und sagte: »Behalte deinen Ring. Und behalte dein Leben. Ich habe mich um Wichtigeres zu kümmern.«
Mit einer Handbewegung des Sultans war ich aus der Audienz entlassen und wurde aus dem Zelt geleitet. Beim Hinausgehen sah ich aus dem Augenwinkel, wie der Sultan sich an den Tisch mit dem merkwürdigen Aufbau setzte und sein Hofnarr ihm gegenüber Platz nahm. Ich musste unbedingt herausfinden, worum es sich dabei handelte.
»Du hast mir mein Leben gerettet. Zum zweiten Mal«, sagte ich zu Cato, als wir uns später in der Oase bei seinem Kamel trafen.
»Ich tue hier nur meine Pflicht«, antwortete Cato und zwinkerte mir zu.
»Deine Pflicht wem gegenüber?«, hakte ich nach.
»Meine Pflicht dem Leben gegenüber. Und natürlich dem Allmächtigen«, sagte er.
»Dem Sultan?«, witzelte ich.
»Sag so etwas nie wieder, wenn dir dein Leben lieb ist. Der Einzige, der hier Witze machen darf, bin ich«, sagte Cato und ich hatte ihn noch nie so ernst erlebt.
»Bitte verzeih mir«, sagte ich kleinlaut.
Das Klimpern seiner Glöckchen und das alberne Hin- und Herwerfen seines Kopfes zeigten mir, dass Cato nicht sauer auf mich war.
»Was habt ihr gemacht, nachdem ich das Zelt verlassen habe? Auf dem Tisch stand etwas, was ich noch nie gesehen habe. Mit vielen kleinen Figuren, mit denen bei uns Kinder spielen würden, aber bestimmt keine Erwachsenen«, sagte ich und war neugierig auf die Antwort des Hofnarren.
»Wir haben des Sultans liebsten Zeitvertreib gespielt. Dieses Spiel nennt sich Chatrang«, sagte Cato.
»Der mächtige Sultan spielt am liebsten ein Spiel?«, fragte ich staunend.
»Es ist kein Spiel für Kinder. In diesem Spiel trainiert der Sultan seine Kriegsstrategie. Einfach erklärt stehen sich zwei Armeen auf dem Spielbrett gegenüber und jeder Spieler versucht den gegnerischen Sultan kampfunfähig zu machen und so das Spiel für sich zu entscheiden«, erklärte er mir.
»Dauert es lange, dieses Spiel zu erlernen?«, wollte ich wissen.
»Um die Grundregeln zu erlangen, nein. Aber um richtig gut in diesem Spiel zu werden, bedarf es viel Übung«, erklärte mir Cato.
»Willst du wissen, wie der Sultan an dieses Spiel gelangt ist? Es ist eine spannende Geschichte und hätte der Sultan zur Gänze verstanden, weswegen ihm dieses Spiel geschenkt wurde, er hätte dem Schenker sofort den Kopf abschlagen lassen«, sagte Cato.
»Unbedingt, bitte erzähl mir die Geschichte«, antwortete ich neugierig.
Vor einigen Jahren war der Sultan im Krieg mit seinen Nachbarländern. Die Armeen der Nachbarländer waren der Armee des Sultans zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Selbst wenn alle Nachbarländer all ihre Soldaten gemeinsam entsendet hätten, so hätte die Zahl der Soldaten des Sultans diese vereinte Armee immer noch ums Dreifache überstiegen. Und eine ganz besondere Schlacht war der Auslöser für das Geschenk dieses Spiels.
Es handelte sich um eine Schlacht, die der Sultan auf dem Papier nicht hätte verlieren können. Seine Armee war der Armee seiner Feinde um das Zehnfache zahlenmäßig überlegen. Und doch schafften es seine Feinde, ihn zum Rückzug zu zwingen. Viele Soldaten des Sultans hatten an diesem Tag ihr Leben in dieser sinnlosen Schlacht verloren. Keiner in der Gefolgschaft des Sultans traute sich auszusprechen, was alle insgeheim dachten: Der Sultan hatte sich diese Niederlage selbst zuzuschreiben.
Wer so etwas äußerte, dem wurde der Kopf abgeschlagen. Der Sultan ist unfehlbar.
Es gab allerdings einen früheren General, der nicht mehr in der Gefolgschaft des Sultans diente. Er hatte sich dem Handwerk zugewandt und arbeitete mit Holz. Er fertigte künstlerische Skulpturen und Bögen, die ihresgleichen suchten. Und er fertigte auch Chatrang-Spiele. Jede einzelne Figur ein Meisterstück. Jedes Spielbrett mit seinen 16 Figuren pro Spielfarbe absolut einzigartig. Und eines seiner Meisterwerke überbrachte er persönlich dem Sultan. Der Sultan freute sich sehr über dieses kostbare Geschenk, denn der frühere General war ein angesehener Meister seiner Kunst.
Der Grund für das Geschenk, und dieser ist dem Sultan bis zum heutigen Tage verborgen geblieben, deswegen trägt der General auch heute noch seinen Kopf auf seinem Hals, war nicht etwa die Ehrerbietung, die der General dem Sultan damit ausdrücken wollte. Der Grund für dieses Geschenk war der Mangel an strategischem Geschick im Hinblick auf Kriegsführung, das dem Sultan, laut dem General, gänzlich fehlte.
Und in der Tat, durch das Spielen von Chatrang wurde der Sultan in seinen Schlachten geschickter. Er verstand auf einmal viel besser, mit welcher Strategie er sein Ziel erreichen konnte. Der General hatte mit seiner mutigen Herangehensweise an das Problem, das auch viele andere gesehen hatten, aber aus Angst untätig geblieben waren, vielen Soldaten ihr Leben gerettet. Indem er das Risiko eingegangen war, selbst eines Tages zum Tode verurteilt zu werden, falls der Sultan doch noch eines schicksalshaften Tages herausbekommen sollte, dass das Geschenk eine versteckte Botschaft an ihn enthielt, die da lautete: Auch du bist nicht unfehlbar, auch du hast noch viel zu lernen.
Ich hasste Abschiede. Das war schon immer so. Und dennoch war es für mich an der Zeit, meinem neu gewonnenen Freund Cato auf Wiedersehen zu sagen. Ich war mir sicher, dass sich unser Weg im Leben noch einmal kreuzen würde. Und ich war ihm über alle Maßen dankbar, dass er es tatsächlich geschafft hatte den Sultan auszutricksen, so dass ich meinen Weg allein fortsetzen durfte. Ein Hofnarr besitzt eben doch viel mehr Macht, als ich ihm vorher je zugetraut hätte.
»Ich wünsche dir auf deinem weiteren Weg nur das Allerbeste«, sagte Cato. »Zieh weiter und finde deine Bestimmung. Und sei du einem Fremden in Not genau so ein Freund, der auch ich dir war.«
»Das verspreche ich dir. Vielen Dank für alles, was du für mich getan und mich gelehrt hast. Ich werde unsere Begegnung nie vergessen«, sagte ich gerührt.
Wir umarmten uns und dabei gaben seine Glöckchen ein letztes Mal ihren unverkennbaren Laut von sich. Dann machte ich mich weiter auf meinen eigenen Weg.
Wie als Zeichen hörte ich in diesem Augenblick den Ruf eines Falken. Den Ruf meines Falken und ich freute mich so sehr darüber, dass ich doch nicht ganz alleine unterwegs sein würde. Ich blickte nach oben und sah den bekannten Schatten am Himmel, der über mir seine wachsamen Kreise zog.
Ich genoss es sehr wieder meiner Wege gehen zu können. Endlich konnte ich den Weg zu meiner Bestimmung fortsetzen. Und ich war dankbar, dass ich noch am Leben war. Wie wäre es wohl weitergegangen, wenn mich Cato nicht gefunden hätte und ich verdurstet wäre?, fragte ich mich.
Die Ältesten in meinem Stamm waren der festen Überzeugung, dass unsere Existenz aus verschiedenen Phasen besteht, die niemals enden. Sie sagen, dass wir bereits existiert haben, bevor wir als Menschen auf diese Welt gekommen sind. Und auch nachdem unsere körperliche Hülle zu Staub zerfallen sein wird, werden wir weiter existieren.
Für mich war das alles nur sehr schwer vorstellbar. Ob ich dann auch wieder einen Körper besitzen werde?, fragte ich mich. Ich wusste keine Antwort darauf. Es war auch gar nicht wichtig. Wichtig war nur, dass es in unserer Vorstellung immer weiterging. Den Tod als endgültiges Ereignis wollte und konnte ich mir nicht vorstellen. Er machte mir einfach zu viel Angst.
Das Leben musste einfach immer weitergehen. Auch nach dem Tod.
Als ich die Wüste vollständig hinter mir gelassen hatte, wurde meine Umgebung endlich lebensfreundlicher. Es gab mehr Tiere, die sich an diese Umgebung angepasst und sie als ihre Heimat auserkoren hatten. Es gab mehr Pflanzen und Bäume, die Schatten spendeten. Es gab auch kleine Bäche und Rinnsale.
Allein die Tatsache, dass ich zu jeder Zeit, zu der ich Durst verspürte, so viel trinken konnte, wie ich wollte, war eine unglaubliche Wohltat. Eine Wohltat, die wohl nur kennt, wer schon einmal auf Wasser verzichten musste oder sein Wasser so streng rationieren musste, dass Durst sein ständiger Begleiter war.
Ich erfreute mich gerade am Anblick der Natur und der Tierwelt, als ich den Ruf meines Falken vernahm.
Sofort warf ich mich zur Seite. Keine Sekunde zu früh, denn ich merkte gerade noch den Windhauch einer Faust, die mich an meinem Hinterkopf getroffen hätte, wenn ich nicht blitzschnell reagiert hätte. Die ungewohnte Umgebung hatte mich unachtsam werden lassen.
Ich rollte mich auf meine Füße und taxierte meinen Angreifer. Er war älter als ich und seine Statur ließ mich erahnen, dass er auch stärker als ich sein würde. Ein Dieb kalkuliert immer die Schwäche seines Opfers mit ein, wenn er für sich entscheidet, wen er ausrauben soll.
Doch bei mir hast du dich verrechnet, dachte ich und setzte an meine Schnelligkeit zu meinem Vorteil zu nutzen. Ich duckte mich unter einem zweiten Fausthieb weg und trat meinem Angreifer von hinten in die Kniekehle. Sein Bein gab nach, er sackte auf ein Knie und gab mir so die Chance, ihn mit einem gezielten Tritt an die Schläfe zu Fall zu bringen und kampfunfähig zu machen. Ich wollte ihn nicht ernsthaft verletzen, ich wollte aber auch nicht herausfinden, was er mit mir vorgehabt hätte, wenn er mich überwältigt hätte.
Nachdem er auf den Boden krachte, schnappte ich mir mein Seil aus meinem Gepäck und fesselte seine Arme. Dabei fiel mir sein Amulett auf, das er um den Hals trug. Genau so eines hatte ich doch schon einmal gesehen. Es war das gleiche Amulett, das ich gefunden hatte, nachdem meine Wasserschläuche gestohlen wurden: Auch auf ihm war ein schwarzer Skorpion abgebildet.
Das konnte kein Zufall mehr sein. Wenn etwas ein einziges Mal in deinem Leben passiert, kannst du einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sein. Wenn allerdings etwas zwei Mal passiert, sind die Chancen hoch, dass es auch ein drittes Mal passieren wird. Um das verhindern zu können, musste ich die Muster und die Zusammenhänge erkennen - und sie durchbrechen.
Mein Großvater sagte immer: »Du kannst von jedem Menschen etwas lernen. Auch von Dieben, Halsabschneidern und Verbrechern.« Ich war gewillt, das herauszufinden. Ich war neugierig darauf von ihm zu erfahren, was er sich von mir erhofft hatte. Ich hatte kein Gold bei mir. Und auch keine Edelsteine. Dafür wollte ich das Geheimnis des schwarzen Skorpions ergründen.
Ich gönnte meinem Angreifer und mir ein wenig Ruhe von dem Kampf. Ich dankte meinem Falken, der mich vor der drohenden Gefahr rechtzeitig gewarnt hatte. Als sich mein Herzschlag wieder beruhigt hatte, holte ich etwas Wasser von einem nahegelegenen Bach. Ich richtete meinen Angreifer auf und lehnte ihn mit dem Rücken an einen großen Stein. Danach spritzte ich ihm ein wenig Wasser ins Gesicht und er kam langsam wieder zu sich.
»Wie heißt du?«, wollte ich von meinem Angreifer wissen.
»Mein Name lautet Dorian«, antwortete dieser noch immer leicht benommen.
»Was willst du von mir? Ich besitze nichts von Wert«, sagte ich.
Der Dieb lachte.
»Was findest du so lustig?«, fragte ich.
»Du besitzt etwas so Wertvolles und du weißt es noch nicht einmal«, antwortete er.
»Ich besitze weder Gold noch edle Steine. Was kann deinesgleichen schon von mir wollen?«, wunderte ich mich.
»Du hältst mich für einen Dieb?«, fragte mich der Mann, den ich für einen Dieb hielt.
»Natürlich. Bist du das nicht?«, wollte ich wissen.
»Anderen Menschen ihre Besitztümer zu stehlen, wird meinen Fähigkeiten nicht gerecht. Wobei, je nachdem, was du als Besitztümer bezeichnest, könntest du doch recht damit haben«, sagte der Mann geheimnisvoll.
Dann fiel mir sein Amulett wieder ein und ich stellte die Frage, die mir unter den Nägeln brannte, seitdem ich das erste Amulett dieser Art gefunden hatte: »Was hat es mit dem schwarzen Skorpion auf sich?«
Schlagartig war der Mann hellwach. »Du bist ein gerissenes Kerlchen«, sagte Dorian.
»Beantworte meine Frage«, sagte ich barsch.
»Bist du dir ganz sicher, dass du wissen willst, was es mit dem schwarzen Skorpion auf sich hat?«, fragte Dorian. »Wenn ich es dir verrate, wirst du keine ruhige Minute mehr verbringen können. Noch nicht einmal während du träumst.«
Obwohl ich es bei diesen Worten mit der Angst zu tun bekam, siegte meine Neugier. Ich musste einfach wissen, wer sie waren und was sie von mir wollten.
»Sag schon«, erwiderte ich deutlich selbstsicherer, als ich wirklich war.
Und der Dieb erzählte mir von dem schwarzen Skorpion…
»Der schwarze Skorpion ist eine Bruderschaft und ich bin ihr treu ergeben und begleite den Rang eines Paladins. Als Paladin des schwarzen Skorpions werde ich ausgesendet, um die Welt in ihren Fugen zu halten. Ich und meine Brüder werden ausgeschickt, um die Welt zu bewahren, wie sie heute ist. Wir verhindern, dass die Welt aus dem Gleichgewicht gerät«, erzählte Dorian.
»Und was wollt ihr dann von mir?«, wollte ich wissen.
»Wir haben es auf das Wertvollste abgesehen, was du besitzt«, antwortete der Dieb.
»Ihr wollt mein Leben?«, fragte ich und es schnürte mir beim Gedanken daran die Luft ab.
Der Dieb lachte sein raues Lachen. »Du bist lustig, das gefällt mir«, sagte er. »Dein Leben ist nichts wert im Vergleich zu dem, hinter dem wir her sind.«
»Und das wäre?«, wollte ich wissen.
»Wir sind hinter deinem Traum her«, antwortete Dorian.
Diese Antwort machte mich sprachlos.
»Woher wisst ihr von meinem Traum?«, fragte ich, nachdem ich mich wieder etwas gefangen und die Neugier erneut über meine Angst gesiegt hatte.
»In unserem Orden gibt es ein Orakel. Dieses Orakel macht Weissagungen über die Zukunft. Es hat uns prophezeit, dass ein Auserwählter kommen wird, der einen Traum hegt, der die Kraft besitzt, die gesamte Menschheit zu verändern. Aus der Wüste wird er kommen, pechschwarzes Haar und rehbraune Augen wird er haben. Und er trägt ein Muttermal auf der rechten Wange in der Form des abnehmenden Mondes«, erzählte Dorian.
Ich fasste mir an die rechte Wange, genau an die Stelle, an der mein auffälliges Muttermal war. Meine gesamte Kindheit hatten mich die anderen Kinder damit aufgezogen.
»Und ich soll dieser Auserwählte sein?«, wollte ich ungläubig wissen. »Und was wollt ihr mit meinem Traum?«
»Wir wollen ihn aus deinem Kopf entfernen, damit du wieder ein ruhiges Leben führen kannst«, antwortete Dorian mit gelassener Stimme.
»Ihr wollt mir damit einen Gefallen tun?«, fragte ich ungläubig.
»Ich bin ein Paladin. Ich diene der Menschheit«, antwortete Dorian, völlig von seinen Worten überzeugt.
»Und was, wenn ich meinen Traum lieber behalten und nicht abgeben möchte?«, wollte ich wissen.
»Hier kommt der Part, den wir den Ungläubigen die Augen öffnen nennen. Wir lassen dir keine Wahl«, sagte er kalt.
»Und wozu das Ganze? Was bringt es euch, wenn ich meinen Traum nicht mehr habe?«, fragte ich.
»Unser Großmeister ist sehr daran interessiert, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Dass die Menschen keine Träume haben, sondern rational denken. Sie sollen das Gesellschaftsgefüge aufrechterhalten, das wir über Jahrhunderte erbaut haben. Jeder Mensch ist ein Zahnrad in diesem Getriebe. Würden zu viele Menschen auf die irrsinnige Idee kommen, dass ihr Leben einen ganz eigenen Sinn hat, den sie entdecken können, wer würde dann die einfachen Tätigkeiten erledigen? Wer wäre dann noch Tagelöhner? Wer würde noch als Soldat dienen? Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, würde zusammenbrechen und eine neue Zeitrechnung der Sinnhaftigkeit und Erfüllung würde beginnen. Eine grauenhafte Vorstellung«, erzählte Dorian.
Ich war sprachlos. Für mich klang das, was Dorian da beschrieb, nach nichts weniger als dem Paradies. Dann fiel mir noch eine wichtige Frage ein.
»Warum erzählst du mir das alles? Jetzt, wo ich davon weiß, kann ich mich viel besser vor euch in Acht nehmen«, sagte ich.
»Damit du weißt, dass ich kein gewöhnlicher Dieb bin. Es gibt viele von uns und meine Brüder werden erfolgreicher sein als ich. Wir werden dich kriegen und so verhindern, dass die Prophezeiung wahr wird und du ein neues Zeitalter einläutest. Und da du jetzt von uns weißt, wird sich Furcht und Misstrauen in dein Herz schleichen. Du wirst dir von nun an immer zwei Mal überlegen, wem du etwas von deiner Reise erzählst, da du immer im Hinterkopf hast, dass dieser Mensch einer unserer Spione sein könnte. Du wirst keine einzige ruhige Minute mehr haben, da du ab jetzt auf der Flucht bist«, sagte Dorian.
Das werden wir ja sehen, sagte ich zu mir, schulterte mein Gepäck und machte mich auf den Weg. Ich werde mich nicht von euch aufhalten lassen.
Die Trostlosigkeit der Wüste endlich hinter mir gelassen zu haben, tat meinem Herzen gut. Auch wenn ich als Sohn der Wüste geboren wurde, war mir doch schon immer klar, dass ich nicht dafür geschaffen war, mein Leben in der Wüste zu verbringen. Und so genoss ich es in vollen Zügen, dass die Landschaft um mich herum Stück für Stück lebendiger wurde.
Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand, kam ich in einem Dorf an. Ich freute mich auf die Chance, etwas Warmes zu essen zu bekommen. Cato war so freundlich und hatte mir vor unserem Abschied viele Münzen mitgegeben. »Nimm du sie, ich brauche sie nicht«, waren seine Worte. Und jetzt kam mir seine Großzügigkeit sehr gelegen. Ich hatte noch nie so viele Münzen auf einem Haufen gesehen, wie ich jetzt in meiner Tasche hatte. Da ich Cato seine Großzügigkeit nie auf dem gleichen Weg danken könnte, indem ich auch ihm gegenüber großzügig wäre, beschloss ich, meinen Mitmenschen gegenüber genauso großzügig zu sein, wie Cato es mir gegenüber war.
Am Eingang des Dorfes sah ich einen alten Mann auf dem harten Boden sitzen. Er hatte seine Augen geschlossen und ich war gerade dabei, an ihm vorüberzugehen, als er mich ansprach.
»Hast du eine kleine Spende für eine alten Mann?«, fragte er mich.
Ich war mir erst nicht sicher, wie er mich überhaupt hatte bemerken können. Aber als er seine Augen öffnete, begann ich zu verstehen: Seine Augen waren milchig trüb und ich erkannte, dass der Mann blind war. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob er seine Augen geöffnet oder geschlossen hatte.
»Natürlich. Wozu benötigst du Geld?«, wollte ich von ihm wissen.
»Ich habe Hunger«, sagte der Alte in einem barschen Ton.
Auch wenn mir sein Tonfall nicht gefiel, erinnerte ich mich an Catos Großzügigkeit mir gegenüber und sagte: »Ich auch. Was hältst du davon: Du zeigst mir, wo wir hier etwas Warmes zu essen bekommen und ich lade dich zu einer gemeinsamen Mahlzeit ein?«
»Abgemacht«, antwortete der alte Mann und erhob sich viel geschickter, als ich es von einem blinden Mann in seinem Alter erwartet hätte.
»Ich heiße übrigens Nael«, stellte ich mich ihm vor und streckte meine Hand aus. Und wollte sie direkt wieder zurückziehen, da ich mich daran erinnerte, dass der Alte blind war. Verblüfft stellte ich allerdings fest, dass der Alte bereits meinem Unterarm fest mit seiner Hand umschlossen hatte. Der Kriegergruß, dachte ich erstaunt. Der Alte überraschte mich immer mehr.
»Ich bin Alvar«, sagte der Alte. »Und du bist der erste seit Jahren, der mich nach meinem Namen fragt.«
Verblüfft starrte ich ihn an. Und ich war froh, dass er meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Warum?«, wollte ich wissen.
»Weil ich ein Bettler bin, ein Taugenichts. Seitdem mir mein Augenlicht genommen wurde, ging es mit meinem sozialen Leben steil bergab. Früher war ich ein gefeierter Krieger und im Schwertkampf kaum zu besiegen. In meiner letzten großen Schlacht geriet ich in Gefangenschaft und sollte Geheimnisse meines Königs preisgeben. Sie haben mich gefoltert und meine beiden Augen sind das Ergebnis meiner Standhaftigkeit. Sie mögen mir das Licht meiner Augen genommen haben, nicht aber meine Beobachtungsgabe«, erzählte Alvar.
»Lass uns etwas essen gehen und dann erzähle mir gerne mehr aus deinem Leben«, sagte ich ehrlich interessiert.
»Folge mir«, sagte mein blinder Freund und ich kam mir reichlich merkwürdig dabei vor, einem blinden alten Mann hinterherzulaufen.
Ohne auch nur ein einziges Mal an einer der Wegkreuzungen zu zögern, führte mich Alvar direkt in den Gasthof, der mitten im Dorf lag. Wir gingen hinein und der Wirt sprach den Alten direkt barsch an: »Es gibt hier nichts umsonst für Leute wie dich. Wenn du kein Geld hast, kriegst du auch kein Essen. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
»Ich danke dir für die Klarheit in deinen Worten. Und sei unbesorgt, ich habe Geld. Also nicht ich selbst, sondern mein Begleiter«, sagte Alvar und trat einen Schritt zur Seite, damit mich der Wirt sehen konnte.
»Oh, verzeiht, werter Herr. Ich hatte befürchtet, dass sich mein Freund hier wieder einmal ein Essen ergaunern möchte und erst danach herauskommt, dass er gar nicht dafür bezahlen kann«, sagte der Wirt und der Alte kicherte.
Wir nahmen an einem kleinen Tisch Platz und der Wirt zählte uns auf, was er heute zu essen hatten. Ich entschied mich für eine Suppe und einen Eintopf. Mein neuer Freund bestellte Speisen, als hätte er tagelang nichts gegessen, was vermutlich auch der Fall war.
Die Wartezeit auf unser Essen war die ideale Gelegenheit etwas mehr von meinem Gegenüber und seinem Werdegang in Erfahrung zu bringen. Mein Großvater sagte immer: Kluge Menschen lernen aus ihren eigenen Fehlern. Weise Menschen zusätzlich aus den Fehlern anderer. Ich fand, es war an der Zeit, mir etwas Weisheit anzueignen.
»Was kannst du einem jungen Menschen für sein Leben mit auf den Weg geben?«, begann ich meine Suche nach Weisheit.
Und der Alte erzählte so bereitwillig, als hätte er nur auf eine Chance gewartet, dass jemand wie ich vorbeikam und ihn nach seiner Sicht auf die Welt fragte.
»Wie ich dir vorhin bereits erzählt habe, war ich früher ein großer Krieger. Alle Menschen schätzten mich, waren freundlich zu mir und brüsteten sich vor ihren Freunden, wenn sie mich persönlich kannten. Seitdem ich ein Bettler bin, verhält sich der Großteil der Menschen mir gegenüber ganz anders. Sie beschimpfen mich, sie treten mich oder sie nehmen mich gar nicht wahr. Keinen von ihnen interessiert mehr, wer ich gestern war. Niemand interessiert sich für deine vergangenen Heldentaten. Im Leben zählt allein der Augenblick, das Hier und Jetzt«, sagte Alvar.
»Wenn du hier so schlecht behandelt wirst, warum gehst du dann nicht woanders hin?«, wollte ich wissen.
»Ich werde nicht von allen schlecht behandelt. Es gibt hier Menschen, die mich zu Zeiten meines Ruhms genauso behandelt haben, wie sie mich heute behandeln: Mit Liebe und mit Respekt vor dem Leben. Diese goldenen Seelen sind es, die unsere Welt zusammenhalten«, sagte der Alte.
»Wie finde ich solche goldenen Seelen?«, wollte ich wissen.
»Ich sage es mal so: Dein augenscheinlicher Vorteil mir gegenüber hilft dir dabei am allerwenigsten«, sagte Alvar und kicherte dabei.
»Wie kann ich sie dann finden, wenn nicht mit meinen Augen?«, hakte ich nach.
»Wir alle haben ein Gefühl dafür, ob uns Menschen etwas Gutes wollen oder nicht. Und ob Menschen die sind, die sie vorgeben zu sein. Dabei helfen uns unsere Augen am allerwenigsten, denn sie lassen sich leicht täuschen. Wir sehen nur mit dem Herzen gut«, sagte er.
Bei diesem Satz kam der Wirt mit unserem Essen und es roch einfach nur köstlich. Die dampfend heiße Suppe, der duftende Eintopf und die unzähligen weiteren Speisen, die sich mein neuer Freund bestellt hatte. Wir ließen es uns in Stille schmecken und entschieden uns dazu, unser Gespräch nach dem Essen fortzusetzen.
Nachdem wir uns satt gegessen hatten, bezahlte ich den Wirt und Alvar dankte mir für meine Großzügigkeit. »Ich möchte dir zum Dank etwas zeigen«, sagte der Alte geheimnisvoll.
»Was denn?«, wollte ich wissen.
»Ich sagte zeigen, nicht sagen«, sagte Alvar und kicherte wieder. »Komm mit.«
Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis wir zu einer offenen Hütte kamen. In der Hütte hingen sagenhafte Bögen aus den feinsten Hölzern, die ich jemals gesehen hatte.
»Darf ich dir einen meiner liebsten Freunde vorstellen?«, fragte mich der Alte und zeigte auf den Bogner, der gerade die Sehne auf einen der wunderschönen Bogen spannte. »Das ist Bahir, der beste Bogner, den ich kenne.«
Bahir kam freudestrahlend näher, immer noch den Bogen in seiner Hand. Aus der Nähe wirkte der Bogen noch viel mehr wie ein Meisterwerk und ich konnte meine Augen kaum von ihm lassen.
»Ich bin Nael, es freut mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte ich.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Bahir. »Was kann ich für euch tun?«
»Schieß auf mich«, sagte der Alte zu dem Bogner.
»Bist du lebensmüde?«, fragte ich voller Entsetzen.