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Wie finde ich meinen eigenen Weg im Leben? Die anstehende Entscheidung über seinen Start ins Berufsleben bereitet dem 24-jährigen Scott schlaflose Nächte: Soll er den Weg der Sicherheit in einem Großkonzern wählen? Oder doch lieber seinem Herzen folgen und das Startup mit seinem besten Freund gründen? Nachdem Scott bei einem Fahrradunfall fast ertrunken wäre, erwacht er auf einer ihm unbekannten Insel. Von den Inselbewohnern lernt Scott viel über die Geheimnisse des Glücklichseins und der eigenen Bestimmung. So bekommt er einen gänzlich neuen Blickwinkel auf sein Leben. Ob sie ihm wohl auch mit seiner inneren Zerrissenheit weiterhelfen können?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Welchen Weg soll ich im Leben gehen?
Eine Reise zu Glück und Erfüllung
Für Lukas, Niklas, Katja und Lucky:Ihr seid die funkelnden Sterne meines Lebens.
Ich setzte mich ruckartig in meinem Bett auf, da ich von gleißend hellem Licht geblendet wurde. »Wer hat denn bloß die Software für meinen Sonnenaufgangswecker geschrieben? Das ist viel zu grell«, dachte ich, während ich routinemäßig auf meinem Handgelenk herumtippte. Als mein Finger unerwartet auf Haut traf, fiel mir auf, dass ich gar nicht meine Smartwatch am Arm trug, über die ich normalerweise meinen Wecker ausschaltete. Und noch ungewöhnlicher: Diese Helligkeit kam auch gar nicht von meinem Wecker. »Nur woher kommt dann das gleißend helle Licht?«, fragte ich mich verblüfft.
Neugierig stand ich auf und begab mich zum Fenster, um die Quelle der Helligkeit zu ergründen: Dieses gleißend helle Licht kam tatsächlich von der echten Sonne. Ich sah mich um und bemerkte, dass ich mich auch gar nicht in meinem Apartment befand, sondern in einer spartanisch eingerichteten Hütte, die gut und gerne in einer Reisedokumentation über Inselparadiese als Hütte von Ureinwohnern herhalten konnte.
»Wie bin ich nochmal hierhergekommen?«, fragte ich mich.
Und dann dämmerte es mir wieder…
Die Insel
Gestern war ich noch in der Wohnung meines bestens Freundes Neill in Cambridge und wir hatten uns darüber unterhalten, ob wir jetzt unser Startup gründen sollen oder nicht. Spätabends bin ich mit dem Fahrrad über die Anderson Memorial Bridge gefahren, um meinen Kopf freizubekommen. Und dann hatte mich ein heranrasender Autofahrer so geschnitten, dass ich scharf ausweichen musste. Dabei bin ich frontal mit meinem Fahrrad gegen das Brückengeländer geprallt und kopfüber in den Charles River gefallen. Beim Sturz hatte ich mir so den Kopf gestoßen, dass ich im Wasser nicht in der Lage war, zu schwimmen und wie ein Stein bin ich immer tiefer und tiefer gesunken…
Bis ich dann hier in dieser Hütte aufgewacht bin. Nur wo genau ist eigentlich hier? Und wie bin ich hierhergekommen? »Wie Cambridge sieht das hier echt nicht aus«, dachte ich.
Da ich mich körperlich wieder hervorragend fühlte, beschloss ich herauszufinden, wo ich mich gerade befand. Neben meinem Bett lagen eine Art Shorts und ein leichtes Sommerhemd. »Für Schuhe und Socken hat man hier wohl keine Verwendung«, dachte ich, zog die Klamotten an und machte mich barfuß auf den Weg aus der Hütte.
Mit meinem ersten Schritt aus der Hütte landete ich barfuß in traumhaftem Sand. In der Tat wären hier meine Sneaker fehl am Platz gewesen und ich genoss das Gefühl von feinem Sand zwischen meinen Zehen. Ich blinzelte in die aufgehende Morgensonne. Den Sonnenaufgang kannte ich sonst nur von meinem Wecker, der den Sonnenaufgang für mich nachahmte. Und aufgrund der strahlenden Helligkeit, die immer noch merklich in meinen Augen brannte, würde ich dazu tendieren, dass er das Original wohl nur eher mäßig abbilden konnte.
Ich atmete drei Mal tief ein und aus. Ein Ritual, das ich mir bereits früh in meinem Leben zur Gewohnheit gemacht hatte. Diese drei Atemzüge schafften es immer, mich zu beruhigen.
Ich ließ meinen Blick schweifen und konnte meinen Augen kaum glauben: Soweit mein Blick reichte, sah ich Sand, Palmen, Meer und ein Inselparadies, das ich sonst nur von Postkarten kannte. Wen wundert's, da ich doch die letzten fünf Jahre nonstop mit meinem Studium beschäftigt war und nicht ein einziges Mal Urlaub gemacht hatte.
Rechts von mir sah ich einen kleinen Hügel, von dem ich bestimmt einen wunderbaren Ausblick haben würde. Diesen Ausblick wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen und so machte ich mich auf den Weg. Mein Pfad führte mich an Bäumen und Farnen vorbei, die ich noch nie gesehen hatte. Die Pflanzen waren aus sattem Grün, die Blumen in den buntesten Farben und überall wuselten Käfer und andere Insekten umher und schienen einen Riesenspaß am Leben zu haben.
Und dann entdeckte ich einen Kolibri, der völlig bewegungslos in der Luft stand. So etwas kannte ich sonst nur von fernsteuerbaren Drohnen und geübten Drohnenfliegern. »Sensationell«, dachte ich und blieb ein paar Minuten stehen, um dem Schauspiel zuzusehen.
Als ich mich wieder von der Natur losreißen konnte, ging ich die letzten Meter auf den Hügel hinauf und erkannte dort eine Art natürlich geformte Liege. Ich ging näher hin und zuckte zusammen: Auf dieser Liege lag ein Mann.
Irgendwie hatte ich erwartet, allein auf dieser Insel zu sein. Was anhand der Hütte, in der ich aufgewacht bin, vom logischen Standpunkt eher unwahrscheinlich war. Trotzdem war ich überrascht, gerade jetzt auf einen Menschen zu treffen.
Ganz vorsichtig näherte ich mich der Liege mit dem Mann, da ich ihn nicht wecken wollte, falls er schlief. Und obwohl ich für meine Verhältnisse fast lautlos schlich, hörte mich der Mann anscheinend doch, denn er öffnete mit einem Ruck die Augen und begrüßte mich freundlich mit: »Hallo Hoa Pili Hou! Schön, dass du endlich da bist.«
»Schön, dass ich endlich da bin? Wie ist denn das gemeint?«, fragte ich mich, antwortete dann aber dem Mann, der mich immer noch so strahlend anlächelte. »Hi, ich bin Scott. Und wie heißt du? Es freut mich auch, dich kennenzulernen. Wo sind wir hier?«
»Immer eine Frage nach der anderen«, lachte der Mann, stand von seiner Liege auf und kam auf mich zu.
»Ich bin Tata und freue mich sehr, dich auf unserer Insel willkommen heißen zu dürfen. Reisende nennen unsere Insel: Ka Mokupuni ʻike. Bist du gut angekommen?«, fragte mich Tata.
»Wenn kopfüber von einer Brücke zu stürzen und das Gefühl zu haben, zu ertrinken, gut bedeutet, dann ja«, antwortete ich leicht verstimmt.
Doch Tatas schallendes Gelächter steckte mich an und ich konnte meine schlechte Laune nicht aufrechterhalten. Verblüffend, wie ansteckend gute Laune doch ist.
»Die Art und Weise, wie Reisende auf unserer Insel landen, überrascht mich immer wieder aufs Neue«, sagte Tata. »Aber du hast bestimmt jede Menge Fragen. Wie kann ich dir helfen?«
»Du würdest mir schonmal genug helfen, wenn du mir erklären könntest, wie ich in der Hütte am Fuß des Hügels gelandet bin und wo meine Klamotten sind«, sagte ich.
»Sehr gern. Ich habe dich gestern Abend am Strand gefunden, halb ertrunken und splitterfasernackt. Ich hielt es für eine gute Idee, dich erst einmal ausruhen zu lassen. Dafür habe ich dir meine Freizeithütte zur Verfügung gestellt und passende Kleidung in deiner Größe konnte ich auch noch auftreiben«, erzählte Tata, immer noch mit einem breiten Grinsen. »Ich war ein bisschen spät dran gestern Abend und war sehr froh, dass du am Strand auf mich gewartet hast.«
»Ich soll am Strand auf ihn gewartet haben?«, fragte ich mich im Stillen und stellte stattdessen folgende Frage: »Hast du mich etwa erwartet?«
»Dich: Nein. Einen Reisenden: Ja. Wir wissen nie so genau, wer uns besuchen kommt, allerdings ziemlich genau, wann es wieder soweit sein wird«, antwortete Tata.
Diese Antwort warf für mich mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Ich beschloss, es vorerst dabei zu belassen und wollte später wieder auf dieses Thema zurückkommen.
»Wer ist wir?«, wollte ich von Tata wissen.
»Na, ich, meine Familie und mein Stamm«, strahlte mich Tata an. »Komm mit, ich möchte dir die wichtigsten Menschen in meinem Leben vorstellen.«
Und so machten wir uns auf den Weg in den Dschungel, weg von der Hütte, die mir heute als Nachtlager gedient hatte.
Während ich auf meinem kurzen Weg den Hügel hinauf schon gedacht hatte, dass der Dschungel hier wirklich lebendig war, wurde ich jetzt eines noch viel Besseren belehrt. Im Gegensatz zu dem Dschungel hier, war der vorherige nur eine kleine Lichtung. Überall, wo ich staunend hinsah, schwangen sich Affen von Ast zu Ast, flogen kunterbunte Vögel Pirouetten oder übten Schwärme von Schmetterlingen Kunstfluganordnungen.
»Hast du schon jemals die Natur so ausgelassen erlebt, wie an diesem Ort?«, fragte mich Tata.
Ich überlegte kurz, ob der Franklin Park Zoo da wohl mithalten konnte, verwarf den Gedanken aber direkt wieder. Tiere in Gehegen verhielten sich niemals wie ihre Artgenossen in Freiheit. »Nein, noch nie«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Willst du den Grund dafür wissen?«, fragte Tata.
»Unbedingt«, antwortete ich.
»Diese Tiere hier leben ihre Bestimmung«, sagte Tata und es klang so einfach, so logisch. »Und sobald jemand seine Bestimmung lebt, blüht er oder sie völlig auf. Denkst du, dass auch nur eines der Tiere sich Gedanken darüber macht, was wohl du oder ich gerade über sie denken?«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, antwortete ich. »Als ob sich Tiere über so etwas Gedanken machen würden«, fügte ich noch in Gedanken hinzu.
»Findest du es dann nicht auch erstaunlich, warum wir Menschen uns so oft Gedanken darüber machen, was andere über uns denken?«, fragte Tata.
»Von diesem Blickwinkel aus hatte ich das noch nie betrachtet«, gab ich zu. »Aber wie kann es ein Mensch schaffen, sich völlig frei von der Meinung anderer zu machen?«
»Das ist eine sehr gute Frage. Vor allem im Hinblick darauf, dass es die meisten Menschen verlernt haben, während es unsere tierischen Freunde uns doch Tag für Tag vorleben«, antwortete Tata. »Siehst du den großen Affen dort oben? Der sich gerade von Ast zu Ast schwingt und dabei einen lauten Schrei nach dem anderen loslässt?«
»Kaum zu überhören, der Gute«, gab ich schmunzelnd zu.
»Denkst du, dass er sich dafür interessiert, was wir beide oder irgendeiner seiner Artgenossen von ihm denken?«, fragte mich Tata.
»Sieht nicht so aus, als würde ihn das kümmern«, antwortete ich.
»Exakt. Er ist völlig bei sich selbst. Und was denkst du, hält uns Menschen davon ab, genauso frei sein zu können wie dieser Affe? Wozu benötigen wir Menschen immer die Bestätigung oder die Erlaubnis von anderen?«, fragte Tata.
»Keine Ahnung«, gab ich zu.
»Weil wir an uns selbst zweifeln. Wir sind nicht selbstbewusst genug, im Leben das zu tun, wonach sich unser Herz sehnt. Tiere kriegen das problemlos hin«, sagte Tata.
Tata wusste gar nicht, einen wie großen Nerv er da bei mir getroffen hatte.
Meine innere Zerrissenheit, die mich quälte.
Meine Entscheidung, die ich treffen musste.
Vielleicht konnte mir der Aufenthalt auf dieser geheimnisvollen Insel ja weiterhelfen…
Nachdem wir noch eine Weile in andächtiger Stille zusammen durch den Dschungel gewandert waren und ich aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam, sagte Tata: »Gleich wirst du den Lieblingsort meiner beiden Söhne kennenlernen. Und ich bin mir sicher, sobald du ihn siehst, wirst du auch sofort verstehen, warum sie diesen Ort so sehr lieben.«
»Die Messlatte für meine Erwartungen ist hiermit zumindest schonmal sehr hoch angesetzt«, dachte ich für mich und war gespannt auf was nun kommen sollte.
Und Tata hatte wahrlich nicht zu viel versprochen: Der Dschungel lichtete sich und gab einen phänomenalen Blick auf einen kleinen See frei. Der See lag inmitten von riesigen Bäumen, geschmückt mit Lianen und Blumen in den buntesten Farben und es gab sogar einen Wasserfall. Dieser Ort fühlte sich so friedlich an, so fern von meiner Welt der Hektik und des Beschäftigtseins. Und als wir uns dem See näherten, wurden wir auch gleich von zwei Jungs entdeckt, die beide direkt aus dem Wasser sprangen und auf uns zurannten.
»Papa, Papa!«, riefen beide Jungs. Ich schaute zu Tata und sah das Strahlen in seinen Augen und das breite Lachen auf seinem Gesicht. »So muss sich wahre Liebe und echte Glückseligkeit anfühlen«, dachte ich und notierte mir gedanklich, dass ich in meinem Lebensplan das Thema Kinder und den richtigen Zeitpunkt dafür noch einmal genauer betrachten sollte.
Die beiden Jungs hatten mittlerweile Tata erreicht und kletterten auf seinen Rücken und tollten auf ihm herum. Alle lachten und vergaßen in ihrem Spiel völlig die Welt um sich herum, mich inbegriffen.
Und dann sah ich noch jemanden: Eine wunderschöne Frau, die von der Stelle, an der die beiden Jungs gerade noch im Wasser waren, anmutigen Schrittes auf mich zukam. Mit jedem ihrer Schritte strahlte sie Gelassenheit und in sich ruhende Kraft aus.
»Tatas Familienglück ist wirklich beeindruckend«, dachte ich für mich.
»Schön dich kennenzulernen, ich bin Kiri«, sagte die bezaubernde Frau.
»Freut mich auch, ich bin Scott«, sagte ich und reichte ihr die Hand.
Ihr Händedruck war weich und kraftvoll zugleich. »Du hast uns aber ganz schön lange warten lassen«, sagte Kiri mit einem verschmitzten Lächeln.
»Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht wirklich sicher, wie ich überhaupt hierhergekommen bin. Ich erinnere mich nur noch an einen Fahrradunfall und an das Gefühl, fast zu ertrinken. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, war in einer kleinen Bambushütte aufzuwachen«, erzählte ich.
»Das ist die Freizeithütte von Tata«, sagte Kiri. »Wenn ihm der Trubel unserer Jungs einmal zu viel wird, geht er dorthin, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Unsere Jungs nennen sie liebevoll seine Stimmungswandelhütte. Tata geht aufgewühlt hinein und kommt gelassen wieder raus. Praktisch, nicht wahr?«
»In der Tat eine sehr gute Sache. Wird Tata denn manchmal wütend? Auf mich macht er gar nicht den Eindruck, als könnte ihn irgendetwas aus seiner Mitte bekommen«, fragte ich Kiri aus purer Neugierde.
»Ja. Wer wird das denn nicht? Tata hat für sich eine hervorragende Möglichkeit gefunden, seinen Gefühlen dort freien Lauf zu lassen, sie zu fühlen und wieder ziehen zu lassen. Wenn er zurückkommt, ist er wieder völlig in seiner Mitte und ausgeglichen«, erzählte Kiri.
Da musste ich jetzt doch noch nachhaken, da es mich einfach interessierte: »Wirst du denn auch manchmal wütend?«
»Natürlich«, sagte Kiri und strahlte mich an. »Jedes Gefühl hat seine Berechtigung und will uns etwas sagen. Immer, wenn ich wütend werde, bemerke ich, dass etwas mit mir nicht stimmt. Es ist nicht die Welt um mich herum, mit der etwas nicht stimmt. Wenn es jemand oder etwas schafft, mich wütend zu machen, weiß ich, dass ich nicht mehr in meiner Mitte bin. Und wenn ich nicht mehr in meiner Mitte bin, weiß ich, dass ich etwas tun muss, um wieder in meine Balance zu kommen.«
»Ihr lasst all eure Gefühle also einfach zu?«, fragte ich erstaunt. »Mir wurde schon als Kind eingetrichtert, dass es nicht richtig ist, Gefühle, wie zum Beispiel Wut, zu fühlen. Ich habe daraus gelernt, dass etwas nicht mit mir stimmt, wenn ich wütend werde.«
»Ja, diese Einstellung vertreten leider viele. Was machst du, wenn du dich wütend fühlst?«, fragte mich Kiri.
»Ich verdränge dieses Gefühl. Ich lenke mich mit irgendetwas ab, stürze mich in die Arbeit oder sehe fern«, antwortete ich und begann mich zu hinterfragen, ob das wirklich eine so gute Lösung war, wie ich immer dachte.
»Und wie fühlst du dich dabei?«, fragte Kiri.
»Ich fühle gar nichts, ich funktioniere einfach nur«, antwortete ich.
»Und wie sieht es bei dir mit positiven Gefühlen aus? Kannst du dich unbändig freuen, wie es meine beiden Jungs gerade tun? Meine Söhne haben vor Freude über ihren Papa noch nicht einmal wahrgenommen, dass wir einen Besucher haben«, sagte Kiri mit einem strahlenden Lächeln auf ihren Lippen.
»Ich kann mich schon freuen. Aber in dem Ausmaß, wie ich es von deinen Kindern gerade sehe oder ich mich selbst als Kind gefreut habe, nicht mehr wirklich. Ich bin jetzt erwachsen«, antwortete ich.
»Scott, darf ich dir die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben vorstellen?«, fragte mich Tata, nachdem er und seine Söhne sich fertig begrüßt hatten.
»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete ich.
»Scott, das hier sind meine beiden Söhne, Ninni und Lui«, sagte Tata feierlich und zeigte auf die beiden Jungs. Da ich wenig Ahnung von Kindern hatte, würde ich sie mal irgendwo zwischen vier und acht Jahren eingruppieren. Ninni, der Ältere der beiden, war wohl ein paar Jahre älter als sein Bruder Lui.
»Es freut mich sehr, eure Bekanntschaft zu machen«, sagte ich und hielt beiden Jungs meine ausgestreckten Handflächen hin, um sie einschlagen zu lassen. Soviel wusste ich zumindest über Kinder. Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen und jeder schlug so fest ein, wie er nur konnte.
»Kraft haben sie schonmal«, dachte ich und merkte immer noch, wie meine Handflächen brannten.
»Hallo Hoa Pili Hou«, riefen beide und lachten mich an. »Hallo kannte ich ja, aber was hatte dieses ‘Hoa Pili Hou’ zu bedeuten?«, dachte ich und nahm mir fest vor, Tata oder Kiri eines Tages danach zu fragen.
»Und meine zauberhafte Frau Kiri hast du ja schon kennengelernt«, sagte Tata und strahlte seine Frau dabei an.
»Das habe ich und du hast eine ganz wundervolle Familie, Tata«, sagte ich.
»Und dabei sind wir noch gar nicht fertig mit der Vorstellungsrunde«, lachte Tata und pfiff.
Wie ein geölter Blitz schoss etwas auf uns zu, was nur ein Tier sein konnte. Anhand der roten Fellfarbe entfuhr es mir: »Vorsicht, ein Fuchs!«
Ninni und Lui kringelten sich vor Lachen und sagten gleichzeitig: »Das ist doch kein Fuchs, das ist unser Lio.«
»Hier ist unser jüngstes Familienmitglied, unser Hund Lio«, sagte Tata feierlich und streichelte dem Hund sein rötlich braunes Fell. Ich sah, wie der Hund die Streicheleinheiten genoss und danach kam er direkt auf mich zu, um herauszufinden, wer ich wohl war. Ich streichelte Lio und er wedelte nicht nur mit dem Schwanz, sondern mit dem ganzen Körper.
»Sie leben meinen Traum einer Familie: Glücklich verheiratet, zwei Kinder und ein Hund«, dachte ich erstaunt.
»Jetzt aber genug von uns, erzähl uns mehr von dir«, sagte Kiri und blickte mich erwartungsvoll an. Die Jungs hatten anscheinend genug gehört und gesehen und sprangen zurück ins Wasser. Kiri, Tata und ich setzten uns ins Gras am Ufer des wunderschönen Sees und ich begann zu erzählen…
»Wie schon erwähnt, ich heiße Scott, bin 24 Jahre alt und wohne in Cambridge, Massachusetts. Aufgewachsen bin ich in Albany, zusammen mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern. Ich hatte eine wirklich schöne Kindheit und erinnere mich gerne daran, wie ich in meiner Jugend mit meinen beiden größeren Brüdern unterwegs war.
Für mein Studium bin ich vor fünf Jahren nach Cambridge gezogen, um dort angewandte Informatik zu studieren. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich an der renommierten Universität Harvard angenommen wurde und glaube bis heute, dass ihnen da ein Fehler unterlaufen sein musste, als sie mich zum Studiengang zugelassen haben.
Die letzten fünf Jahre meines Lebens habe ich hart daran gearbeitet, mein Studium zu absolvieren und mich finanziell über Wasser zu halten. Meine Eltern haben ihr ganzes Leben geackert und ihr gesamtes Geld in die schulische Ausbildung von meinen Brüdern und mir gesteckt. So war ich seit dem Studium finanziell auf mich alleine gestellt.
Gerade vor zwei Wochen habe ich meine letzte Prüfung absolviert und stehe jetzt mit einem Universitätsabschluss mit Auszeichnung in der Tasche an einem entscheidenden Punkt in meinem Leben: Ich starte jetzt ins Berufsleben«, fasste ich die Geschichte meines Lebens kurz zusammen.
»Das klingt sehr spannend«, sagte Kiri. »Welcher Bereich deines Studiums hat dich am meisten interessiert?«
Da musste ich nicht lange nachdenken: »Robotik und künstliche Intelligenz. Mein bester Freund Neill und ich haben sogar an einem Wettbewerb zum Thema ‘Mein eigener Roboter’ teilgenommen und den ersten Platz belegt. Ich erinnere mich gerne an die langen Nächte zurück, an denen wir zusammen an unserem Roboter gebaut und programmiert haben.«
Scheinbar magisch angezogen vom Wort Roboter, kam der Größere der beiden Jungs aus dem Wasser und fragte: »Kann dein Roboter auch Buchstaben schreiben?«
»Nein, leider nicht«, antwortete ich. »Wieso willst du das wissen?«
»Schade«, sagte Ninni und grinste dabei. »Wenn er Buchstaben schreiben könnte, könnte er meine Hausaufgaben machen.«
Wir mussten alle lachen. »Du musst wissen, dass Ninni gerade in der Schule Lesen und Schreiben lernt. Er ist sehr talentiert. Und er ist sehr schlau. Deswegen sucht er immer nach Möglichkeiten, wie er das banale Üben überspringen kann«, erzählte Kiri.
»Du hast erwähnt, dass du an einem entscheidenden Punkt in deinem Leben stehst«, wiederholte Kiri meine Worte. »Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wohin dich der Weg deines Lebens führen soll?«
»Ich habe zwei Möglichkeiten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und doch kann ich mich einfach nicht zwischen ihnen entscheiden. Ich will einfach keine falsche Entscheidung treffen, die ich mein Leben lang bereuen würde«, antwortete ich.
»Was für Möglichkeiten siehst du?«, fragte mich Tata.
»Während meines Studiums habe ich bereits einige Praktika bei Spitzenunternehmen in der Informationstechnologie-Branche absolviert. Und eines dieser Unternehmen hat mir nach meinem letzten Praktikum eine Festanstellung als Softwareentwickler angeboten. Für unverschämt viel Geld. Ich würde dort in meinem ersten Jahr so viel verdienen, wie meine Eltern in meiner Kindheit in zehn Jahren verdient hatten. Dort müsste ich mir mein Leben lang keine Sorgen mehr machen, wie ich meine Miete bezahlen könnte«, erzählte ich.
»Und was ist die Alternative?«, wollte Kiri wissen.
»Die zweite Wahlmöglichkeit ist das Gründen eines eigenen Unternehmens mit meinem besten Freund Neill. Wir haben die Idee, unseren Roboter weiterzuentwickeln. Wir sehen jede Menge Möglichkeiten, wofür wir unseren Roboter hernehmen können, um der Menschheit einen Dienst zu erweisen. Ich träume davon, dass unser Roboter in der Chirurgie eingesetzt wird. Dort kann er die schwierigsten Schnitte mit Leichtigkeit übernehmen. Über seine überlegene Sensorik kann er viel präziser als jeder Mensch verschiedene Gewebearten unterscheiden und weiß somit exakt, wie tief und weit ein Schnitt gehen darf, um keine Organe zu verletzen.
Das ist natürlich der Weg, der mit mehr Ungewissheit versehen ist«, endete ich.
»Ich weiß, welchen Weg ich wählen würde«, rief Ninni. »Und zwar den mit dem Roboter!«
Ich lächelte Ninni an und er und sein Bruder nahmen mich bei der Hand, um mir ihren See zu zeigen. Wir gingen zuallererst zum Wasserfall. Hinter dem Wasserfall gab es einen Weg an einer Felswand entlang, der in einer kleinen Höhle endete. Dort konnte man durch den Wasserfall hindurchsehen, wie durch einen Vorhang aus Wasser.
»Das ist unser Lieblingsplatz«, erzählte mir Lui. »Wir lieben das Rauschen des Wasserfalls.«
Das konnte ich sehr gut nachvollziehen, da der Ort wirklich traumhaft war.
»Und weißt du, was man von hier oben noch machen kann?«, fragte mich Ninni und nahm Anlauf. »Durch den Wasserfall ins Wasser springen«, rief Ninni und schon sprang er durch den Vorhang aus Wasser ins mindestens drei Meter unter uns liegende Wasserbecken.
Lui nahm mich bei der Hand und wir gingen zusammen zu Fuß runter ans Wasser. Das Wasser war türkisblau und absolut klar. Ein kleiner Bach führte aus dem Becken in den Dschungel. Im Becken selbst sahen wir bunte Fische schwimmen und gingen ins Wasser, das herrlich warm war. Die beiden Jungs spritzten mich nass und ich wehrte mich spielerisch. Ich war erstaunt, wie sehr ich die Zeit mit ihnen genoss.
Aus den Augenwinkeln sah ich Kiri und Tata am Ufer sitzen und sich unterhalten. Ihr Hund ganz selbstverständlich an ihrer Seite.
Das gemeinsame Planschen machte uns drei extrem hungrig. Deshalb zeigten mir die beiden Jungs, wie man sich im Dschungel einen Snack holen konnte: Es gab Kokosnuss à la Ninni und Lui.
Dafür kletterte Ninni geschickt wie ein Affe auf eine Kokospalme, indem er ein kurzes, zu einem Kreis zusammengebundenes Seil um seine Füße schwang und mit kurzen Sprüngen pfeilschnell die Palme hochhüpfte. Oben angekommen pflückte er ein paar Kokosnüsse und warf sie seinem Bruder zu, der sie sehr geschickt auffing.
»Wie bekommt ihr sie auf?«, wollte ich von den Jungs wissen.
»Mit dem Kopf«, sagte Lui und tippte sich an die Schläfe.
Wir gingen mit unseren Kokosnüssen auf eine kleine Anhöhe, die auf einer Seite abrupt endete. Nicht zu wissen, wie tief es an dieser Stelle herunter ging, rief meine Höhenangst auf den Plan. Ich näherte mich vorsichtig dem Abgrund und erkannte, dass es dort nur ungefähr zwei Meter nach unten ging und in felsigem Boden endete. Lui schnappte sich die erste Kokosnuss, und ließ sie in hohem Bogen über den Abgrund sausen. Unten zerschellte sie in ihre Einzelteile, die Nuss war geknackt.
Das machten wir mit all unseren Nüssen, bevor wir die Bruchstücke aufsammelten. Danach setzten wir uns mit unserer Beute wieder zu Kiri und Tata und ließen es uns alle schmecken.
»Seid ihr die einzigen Bewohner der ganzen Insel?«, wollte ich von Tata wissen.
»Nein, unser Stamm umfasst ungefähr 100 Männer, Frauen und Kinder. Die Hunde zähle ich jetzt mal nicht mit«, antwortete Tata. »Wenn du willst, stellen wir dir heute Nachmittag bereits die ersten Stammesmitglieder vor.«
»Sehr gern«, antwortete ich. »Wovon lebt ihr hier?«
»Wir leben von dem, was die Natur uns bietet. Einige von uns sind Fischer. Andere Bootsbauer, wie mein Schwager Miki. Und wieder andere sind Künstler. Manche können sogar wie Affen auf Kokospalmen klettern«, sagte Tata, biss genüsslich in ein Stück Kokosnuss und lächelte dabei liebevoll seine Söhne an. »Jeder von uns teilt, was er hat und so haben wir alle mehr als genug.«
»Diese Idee gefällt mir«, sagte ich. »In meiner Welt gibt es sehr wenige, die sehr viel besitzen. Dann sehr viele, die zumindest etwas besitzen. Und wieder viele, die kaum etwas besitzen.«
»Warum teilen diejenigen, die sehr viel besitzen, dann nicht einfach mit denen, die weniger besitzen?«, stellte Lui eine durchaus berechtigte Frage, die ich einem Kind in seinem Alter allerdings niemals zugetraut hätte. »Kinder sehen die Welt einfach aus einer völlig anderen Perspektive«, dachte ich.
»In meiner Welt ist das nicht üblich. Hier ist fast jeder nur darauf aus, seinen eigenen Reichtum zu vergrößern«, sagte ich.
»Aber was bringt es den Wenigen, wenn sie mehr haben, während andere kaum etwas besitzen?«, hakte nun Ninni ein.
»Diese beiden Kinder sind wirklich weit für ihr Alter«, dachte ich für mich. »Ich habe leider keine gute Antwort darauf«, gab ich offen zu. »In meiner Welt gibt es dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nicht, das ihr in eurem Stamm kennt. In meiner Welt heißt es, jeder für sich.«
Nach der Stärkung teilten wir uns auf: Tata machte sich mit seinen beiden Jungs und ihrem Hund auf den Weg zu ihrer Hütte, um das Mittagessen vorzubereiten. Mein Magen konnte es kaum erwarten, waren doch bereits die Kokosnüsse schon so lecker. Erst durch das Essen wurde mir bewusst, dass ich heute noch gar nichts gegessen hatte und mein Magen verlangte nach mehr.
Kiri bot an, mich mit ihrer jüngeren Schwester bekannt zu machen. Ein Angebot, das ich nicht ablehnen wollte. Und so machten wir beide uns auf den Weg.
»Wozu tendierst du bei der Entscheidung über deinen beruflichen Lebensweg?«, wollte Kiri wissen.
»Ich bin hin- und hergerissen. Während mich das Gründen unseres Startups und die Weiterentwicklung unseres Roboters brennend interessieren, habe ich doch Angst vor dem Risiko. Was ist, wenn wir mit unserer Idee scheitern?«, fragte ich.
»Darf ich dir eine Geschichte zum Thema Scheitern erzählen?«, fragte mich Kiri.
»Sehr gern«, antwortete ich neugierig.
Und Kiri erzählte mir die Geschichte von dem Gott, der die Furcht vor dem Scheitern erfand:
Vor langer Zeit lebte auf dieser Insel ein Gott. Er war der Gott des Sandes und des Meeres und ihm gehorchten die Ebbe und die Flut. Er liebte die Menschen auf dieser Insel und behütete sie gut, wenn sie auf dem Meer unterwegs waren.
Bis eines schicksalhaften Tages Piraten auf seine Insel kamen. Sie lebten davon, andere Seeleute auszurauben und ihnen ihre Fracht abzujagen. Der Gott missbilligte das und schickte die Flut, die die Boote der Seeräuber an den Felsen zerschellen ließ. Die Piraten machten sich auf, neue Boote zu bauen. Und da sie sehr geschickt mit Hammer und Säge waren, musste der Gott sich etwas einfallen lassen und das tat er auch.
Er sandte die Furcht in die Herzen der Piraten. Die Furcht davor, dass ihre Boote nicht gut genug gebaut sein würden und so den Stürmen nicht standhalten könnten. Und diese Furcht brachte die Piraten davon ab, weiter an ihren Booten zu bauen. Ohne zu wissen, ob ihre Boote jemals seetauglich gewesen wären, gaben sie es auf, aufs Meer hinauszufahren. Aus Furcht davor, dass ihre selbst gebauten Boote den Gezeiten nicht standhalten würden.
»Eine schöne Geschichte. Warum hast du mir sie erzählt?«, fragte ich Kiri.
»Was denkst du?«, fragte Kiri und grinste mich dabei an.
»Weil ich lieber kein Pirat werden sollte?«, scherzte ich.
»Niemand sollte Pirat werden. Aber was könntest du noch aus dieser Geschichte lernen?«, fragte mich Kiri.
»Du willst mir damit sagen, dass die Angst vor dem Scheitern eine Illusion ist?«, fragte ich diesmal ernsthaft und war gespannt auf Kiris Antwort.
»Richtig. Es gibt kein Scheitern. Kein Weg ist geradeaus. Es gibt immer Abzweigungen im Leben, die wir nicht vorhersehen können«, sagte Kiri und ergänzte: »Falls du dir ein paar Notizen machen willst, ich habe hier ein Notizbuch für dich.«
»Vielen Dank«, sagte ich, bestaunte das ökologisch einwandfrei gefertigte Notizbuch mitsamt Stift und setzte mich einen Moment, um mir etwas über das Scheitern zu notieren.
Es dauerte nicht lange, bis sich der dichte Dschungel lichtete und wir eine einzelne Hütte auf einer kleinen Lichtung erblickten. Das Häuschen ähnelte der Hütte, in der ich die Nacht verbracht hatte und hatte doch etwas ganz Individuelles an sich.
»Hier wohnt meine Schwester Isi«, sagte Kiri und machte eine feierliche Handbewegung. »Sie ist wirklich ein fantastischer Mensch und ich bin mir sicher, dass du sie mögen wirst.«
»Ich bin schon sehr gespannt«, antwortete ich.
Meinem Magen nach zu urteilen, und er irrte sich nur sehr selten, wenn es um Essen ging, war es ziemlich genau Mittag und ich hatte bis auf die Kokosnüsse noch nichts gegessen.
Kiri klopfte an die Tür der Hütte und rief dabei den Namen ihrer Schwester.
»Ich bin hier, Schwesterherz«, erklang es von hinter der Hütte. Wir gingen einmal um die Hütte herum und fanden Kiris Schwester in der Hängematte.
»Musst du mich immer so früh wecken?«, witzelte Kiris Schwester und aus der Hängematte schaute nur ihr Kopf heraus, da sie den Rest der Hängematte als Decke benutzte.
Kiri lachte und sagte: »Guten Morgen Isi. Ich will dir jemanden vorstellen: Isi, das ist Scott.«
»Guten Morgen Scott, es freut mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte Isi zu mir.
»Die Freude ist ganz meinerseits, Isi«, antwortete ich.
Isi räusperte sich. »Was ist denn?«, fragte ich.
»Dürfte ich wohl um etwas Privatsphäre bitten?«, fragte Isi und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Hütte.
»Aber natürlich«, antwortete ich verlegen und wandte mich ab. Isi huschte aus der Hängematte in ihre Hütte und war keine zwei Minuten später mit einem leichten Kleid aus Farnen bekleidet wieder bei uns. Sie sah wirklich fantastisch aus: Sonnengebräunte Haut, mandelbraune Augen, eine Lockenpracht, die lang auf ihren Rücken fiel und ihr Auftreten strotze nur so vor Energie.
»Wozu bist du hier?«, traf mich Isis Frage völlig unvorbereitet, während ich noch fasziniert von ihrem Anblick war.
»Was meinst du mit hier?«, fragte ich leicht überrumpelt von dieser Frage.
»Du darfst dir sehr gerne aussuchen, womit du starten möchtest: Bei meiner Hütte, auf unserer Insel oder auf der Welt - was ist dir lieber?«, fragte Isi.
»Meine Schwester ist eher der direkte Typ«, erklärte mir Kiri mit einem breiten Grinsen.
»Das wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen«, sagte ich und ergänzte: »Fangen wir mit deiner Hütte an: Deine Schwester meinte, dass ich dich unbedingt kennenlernen sollte.«
»Sehr gute Antwort«, grinste Isi. »Und vielen Dank, Schwesterherz, dass du mir diesmal unseren Besucher nicht vorenthältst.«
»Was meint sie nur damit?«, fragte ich mich, entschied aber, dass es wohl nicht so wichtig für unsere Unterhaltung war.
»Dann lass uns ein bisschen tiefer gehen: Wozu bist du auf unserer Insel?«, fragte mich Isi.
»Ich bin kopfüber in einen Fluss gefallen, hatte das Gefühl zu ertrinken und bin hier aufgewacht«, fasste ich kurz zusammen, wie ich hier gelandet war.
»Ich habe gefragt, wozu du auf dieser Insel bist, nicht wie du hierhergekommen bist. Wobei ich deine Geschichte schon ziemlich erheiternd finde«, sagte sie mit einem breiten Grinsen.
»Nicht nur hübsch, sondern auch noch schlau und zu guter Letzt auch noch frech«, dachte ich und sagte: »Den Part mit dem Ertrinken fand ich nicht ganz so lustig.«
»Mit ein wenig Abstand wird auch dir dieser Teil deiner Geschichte bald so lustig erscheinen, wie mir bereits heute. Aber zurück zu meiner Frage: Wozu bist du auf unserer Insel?«, fragte Isi.
»Diese Frage stelle ich mir auch schon die ganze Zeit«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
Kiri und Isi sahen sich ein paar Sekunden lang tief in die Augen und dann fragte mich Isi: »Scott, meine Schwester ist die Geduldige von uns beiden, ich komme immer lieber direkt zum Punkt: Steht in deinem Leben in nächster Zeit eine Veränderung an? Besucher kommen zu uns, wenn sie nicht wissen, welchen Weg sie einschlagen sollen oder wenn sie meinen, dass sie auf einem falschen Pfad im Leben unterwegs sind.«
Und mit diesem Satz und Isis ganz eigenem Charme wurde es mir auf einmal glasklar: Ich war hier, da ich nicht wusste, welchen Weg ich auf dem Pfad meines Lebens einschlagen sollte.
»Na, dann werde ich euch beide mal alleine lassen«, sagte Kiri und weg war sie. Der Gedanke, ganz allein mit Isi zu sein, bereitete mir ein klein wenig Unbehagen. »Aber sind es nicht exakt diese Situationen, vor denen wir Angst haben, die das größte Wachstumspotenzial für uns bereithalten?«, fragte ich mich noch in Gedanken, während Isis Stimme meinen inneren Monolog zerschnitt.
»Wie ist es jetzt bei dir? Stehst du an einem Scheidepunkt in deinem Leben, oder nicht?«, fragte sie mich in einem leicht ungeduldigen Tonfall.
»In der Tat. Ich habe gerade mein Studium abgeschlossen und stehe jetzt vor der Entscheidung, welche berufliche Richtung ich einschlagen möchte«, sagte ich.
»Und, wozu tendierst du?«, fragte mich Isi.
»Ich tendiere aktuell zum Weg der Sicherheit. Eine Festanstellung mit geregeltem Einkommen, festgelegten Arbeitszeiten und keinerlei Risiko. Das Gründen eines eigenen Unternehmens mit meinem besten Freund würde mich zwar von Herzen mehr reizen, aber ich habe einfach zu viel Angst vor der Ungewissheit», antwortete ich.
»Ich erzähl dir jetzt mal eine Geschichte und ich hoffe sehr, dass damit dann alles klar für dich ist«, sagte Isi und ohne auf mögliche Einwände von mir zu warten, legte sie auch schon los:
Es waren einmal zwei Brüder. Beide genossen dieselben Studien desselben Meisters und beide schlossen ihre Studien zur vollsten Zufriedenheit ihres Meisters ab. Als es aber danach daran ging, das Gelernte in die Tat umzusetzen und daraus ihren Lebensunterhalt zu verdienen, trennten sich die Wege der Brüder.
Der Erste folgte dem Ruf des Geldes: Er entschloss sich für eine Anstellung am Hofe des Königs. Er wurde fürstlich belohnt, hatte absolute Sicherheit und war versorgt bis an sein Lebensende. Einzig sein Beruf forderte ihn wenig und bereitete ihm kaum Freude.
Der zweite Bruder folgte dem Ruf seines Herzens: Er entschloss sich, seine Dienste jedem anzubieten, der eine spannende Herausforderung für ihn hatte. Die Entlohnung war zweitrangig. Für ihn gab es weder finanzielle Sicherheit, noch die Garantie, dass er jeden Monat etwas zu essen auf dem Tisch hatte. Dafür erfüllte ihn seine Arbeit und er stand jeden Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen auf und machte sich frohen Mutes an seine Arbeit.
Nach 20 Jahren trafen die beiden Brüder ihren Meister wieder und er fragte jeden von ihnen, wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war.
Der erste Bruder, immer noch in Anstellung beim König, antwortete: Äußerlich bin ich bestens versorgt, nur innerlich fühle ich mich leer. Ich habe mich für den Weg des Geldes entschieden, in der Hoffnung, dass mir materielle Sicherheit Glück und Erfüllung im Leben schenken könnte. Leider war dem nicht so. Der Gedanke, dass ich jeden Tag etwas tue, was mich nicht erfüllt, zerfrisst mich.
Der zweite Bruder aber antwortete: Ich kann dir zwar am Anfang des Monats nicht sagen, mit wie vielen Menschen ich zusammenarbeiten und wie viel ich verdienen werde, ich kann dir dafür aber sagen, dass ich jede Minute meiner Arbeit genießen werde, da ich mir selbst aussuche, mit wem und an welchen Themen ich arbeite. Meine Briefbörse mag zwar an manchen Tagen besser und an manchen Tagen schlechter gefüllt sein, mein Herz ist allerdings jeden Tag erfüllt.
»Ich kann zwar nicht behaupten, dass mit der Geschichte alles klar wäre, aber ich wusste zumindest, zu welcher Option mir Isi raten würde«, dachte ich.
»Vielen Dank für die Geschichte«, sagte ich zu Isi. »Welcher der beiden Brüder bist du?«
»Ich bin natürlich die weibliche Version des zweiten Bruders«, antwortete Isi mit einem schelmischen Grinsen.
Gerade als ich nachbohren wollte, was Isi denn genau mit ihrer Lebenszeit machte, kam ein geölter Blitz um Isis Hütte geschossen. Ein geölter, rotbrauner Blitz um genau zu sein.
»Lio«, rief Isi freudestrahlend und kraulte dem Hund die Ohren. Und wo Lio war, waren auch Tata und seine beiden Jungs nicht weit. Sie kamen ums Haus mit einer Art Ziehwagen im Anschlag, von dem es herrlich duftete. Ich sah gebratene Kartoffeln, Maisspieße und Stockbrot. Der herrliche Duft erinnerte meinen Magen daran, was gerade das Wichtigste war.
»Essenszeit«, rief Tata und wir setzten uns an einen Tisch unter Palmen und ließen es uns schmecken. Auch wenn die Speisen einfach anmuteten, so schmeckten sie einfach herrlich. »Wie die ganz einfachen Dinge doch meistens die Besten sind im Leben«, dachte ich für mich.
»Unser Gast ist noch hier, das heißt, du warst nett zu ihm, Isi?«, fragte Tata seine Schwägerin.
»Ich bin immer nett«, sagte Isi mit einem breiten Grinsen.
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«, wollte Tata von mir wissen.
»Isi hat mir ihren Rat mitgegeben, für welche berufliche Option sie sich entscheiden würde«, antwortete ich. »Wie ist deine Meinung dazu, Tata?«
Tata überlegte eine Weile und stellte mir dann folgende Frage: »Scott, was ist dir wichtig im Leben?«
Diese Frage saß. Da wollte ich gerade von ihm eine Antwort auf meine Frage nach meiner Berufswahl beantwortet haben, da kam Tata ums Eck mit so einer essenziellen Frage an mich. »Ich bin an dieser Stelle ehrlich gesagt noch auf der Suche nach dem, was mir wichtig ist«, antwortete ich.
»Lass mich anders fragen: Was möchtest du mit deiner Lebenszeit machen? Etwas, das dich erfüllt?«
»Natürlich«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. »Was für eine einfache Frage«, dachte ich.
»Bitte schön, hier hast du deine Antwort«, sagte Tata und grinste mich an.
Die Einfachheit dieser messerscharfen Logik verschlug mir glatt die Sprache.
Die restliche Essenszeit verbrachte ich in Gedanken darüber, was Tata gesagt hatte: »Was möchtest du mit deiner Lebenszeit machen? Etwas, das dich erfüllt?«
Konnte die Antwort auf meine Frage wirklich so einfach sein? Und wie kam es dann, dass laut Umfragen 80 Prozent aller Menschen einen Beruf ausübten, den sie nicht mochten? Nur des Geldes wegen? Aber konnte ich nicht auch Geld verdienen mit einer Tätigkeit, die mir Spaß machte und mich erfüllte?
Höchste Zeit, den Spieß umzudrehen und meine Gastgeber mit ein paar Fragen zu löchern. Irgendwo hatte ich einmal gelesen: »Die Qualität der Fragen an dich selbst, bestimmt die Qualität deines Lebens.« Mal sehen, ob nicht auch die Qualität der Fragen an meine Mitmenschen mir auf diesem Weg weiterhelfen konnte.
Tata alberte gerade mit seinen Söhnen herum, die immer Spaß miteinander zu haben schienen. Als die Jungs aufgegessen hatten, spielten sie mit Lio Stöckchen und alle drei tollten ausgelassen umher.
»Ich lass euch beide mal in Ruhe reden. Ich sehe deinem Gesicht an, dass du Tata ein paar tiefgehende Fragen stellen möchtest«, sagte Isi mit einem breiten Grinsen zu mir und ließ uns allein.
Tata sah mich herzlich an und wartete geduldig, bis ich die passenden Worte für meine Frage fand.
»Tata, was ist der Sinn des Lebens?«, fragte ich meinen Gastgeber.
»Du gehst aber gleich in die Vollen«, sagte Tata lachend und in keiner Weise abwertend. »Und du machst es damit genau richtig. Auf unserer Insel gibt es die Redewendung: ‘Antworten gibt es nur auf die Fragen, die du auch stellst.’ Oft sind allerdings leider die Fragen, die wir tatsächlich stellen, noch nicht einmal Absicht.«
»Klingt logisch«, dachte ich.
»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte Tata.
»Sehr gerne«, antwortete ich und war gespannt auf das, was gleich kommen sollte:
Vor langer Zeit lebte eine kluge junge Frau. Sie war wissbegierig und lernbereit. Sie las viel und stellte viele Fragen. Am meisten interessierte sie die Frage, wozu sie auf dieser Welt sei. Deswegen stellte sie jedem, den sie traf, die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Viele hatten darauf keine Antwort. Sie hatten sich noch nie mit diesem Thema beschäftigt. Sie waren so beschäftigt mit ihrem täglichen Leben, dass sie noch nie hinterfragt hatten, was der große Sinn hinter dem Ganzen war.
Es gab aber auch Ausnahmen, die ihr eine Antwort auf diese Frage gaben. Die Augen dieser Menschen leuchteten förmlich, als sie der jungen Frau vom Sinn des Lebens berichteten.
Allerdings, je mehr Antworten die kluge Frau zu hören bekam, desto verwirrter war sie. Jeder dieser Menschen erzählte ihr etwas völlig anderes. Der Sinn des Lebens des alten Mannes heute hatte nichts mit dem zu tun, was ihr die junge Frau gestern erzählt hatte. Und ihre Antwort hatte wiederum nichts mit dem zu tun, was sie am nächsten Tag als Antwort erhalten sollte.
Die junge Frau haderte mit ihrem Schicksal und wollte ihre Suche schon aufgeben, da es ihr hoffnungslos erschien.
Als sie sich gerade damit abfinden wollte, dass es den einen Sinn des Lebens gar nicht gab, traf sie auf eine sehr alte Frau, die in aller Seelenruhe auf einer Bank saß. Sie sah dieser Frau auf den ersten Blick an, dass sie das Rätsel des Lebens gelöst haben musste. Sie strahlte eine innere Ruhe und Anmut aus, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die meisten Menschen, die sie zuvor getroffen hatte, hetzten durchs Leben. Scheinbar immer auf der Suche nach etwas. Diese Frau schien einfach nur angekommen zu sein.
Die alte Frau sah ihr liebevoll in die Augen und sagte: »Die Zeit deiner äußeren Reise ist jetzt zu Ende. Du hast auf deiner Reise viele gute Antworten gesammelt, was andere Menschen zu ihrem Sinn des Lebens gemacht haben. Setz dich zu mir und beginne deine innere Reise. Nutze die Ideen als Inspiration und finde für dich heraus, was du zum Sinn deines Lebens machen möchtest. «
Die kluge junge Frau setzte sich, schloss die Augen und begann zu lächeln.
Diese Geschichte musste ich erst einmal sacken lassen. Tata schien das auch zu bemerken, grinste mich an und sagte: »Genug Tiefgang für heute. Lass uns zu den Jungs gehen und unser Leben genießen. Und heute Abend gibt es noch ein großes Fest im Dorf.«
»Sehr gut, mein Kopf kann wirklich gerade eine Auszeit gebrauchen«, sagte ich und wir machten uns auf zu den beiden Jungs. Es beeindruckte mich sehr, wie liebevoll die beiden Brüder miteinander umgingen. Auch wenn sie einmal anderer Meinung waren, schafften sie es doch immer einen guten Weg für beide zu finden. Kiris und Tatas Gelassenheit und innere Ruhe schienen sich wohl auch auf ihre Kinder übertragen zu haben.
»Jungs, unser Gast möchte etwas spielen. Wer hat eine gute Idee?«, fragte Tata seine Söhne.
»Ich, ich, ich«, riefen beide Jungs wie aus einem Mund. Ninni ging zu seinem kleinen Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Lui strahlte und sagte dann: »Lasst uns Lianenhangeln spielen!«
»Oh ja«, sagte Tata. »Das wird unseren Gast auf andere Gedanken bringen.«
Was meine Freunde von der Insel Lianenhangeln nannten, erinnerte mich sehr an einen Hindernisparcours. Die Strecke war nur mit einer Mischung aus Klettern, Geschick und Einsatz von Kraft zu meistern. Alles drei Fähigkeiten, in denen ich mich nicht wirklich weit vorne sah.
»Ich kann das nicht«, sagte ich zu meinen Gastgebern, »macht ihr ruhig und ich schaue euch dabei zu. Mir macht das nichts aus.«
»Lui, erinnerst du dich noch, als du noch nicht Fahrradfahren konntest?«, fragte Tata seinen Zweitgeborenen.
»Natürlich«, antwortete dieser, »und dann habe ich einfach so lange geübt, bis ich es konnte.«
Diese messerscharfe Logik schien mir einleuchtend zu sein. »Wann habe ich nur so grundlegende Erkenntnisse aus meiner Kindheit vergessen?«, fragte ich mich erstaunt.
»Na gut, ich bin dabei und gebe mein Bestes«, sagte ich und die drei freuten sich und klatschten mich ab.
»Mehr erwarten wir auch gar nicht von dir«, sagte Tata und lächelte mich freundlich an. Dann beugte er sich verschwörerisch zu mir herüber und flüsterte mir einen Satz ins Ohr, den ich niemals wieder vergessen sollte: »Wenn du immer dein Bestes gibst, gibt es niemals etwas zu bereuen.«
»Und los!«, gab Tata den Startschuss für seinen Erstgeborenen. Das ließ sich dieser nicht zweimal sagen und Ninni startete durch. Vom Startpunkt galt es, sich über Lianen auf Pfähle zu schwingen und Ninni tat das sehr geschickt, bis er auf einer großen Plattform aus Holz ankam. Von dort aus kletterte er über ein Seil in schwindelerregende Höhen. Gut, da ich mit Höhenangst zu kämpfen hatte, seitdem ich mich erinnern konnte, wäre schwindelerregend für andere an dieser Stelle vielleicht ein wenig übertrieben, aber es waren sicher gut und gerne drei Meter, die es bei einem Sturz in die Tiefe ginge.
Oben angekommen gab es eine Dschungelseilrutsche. Ninni schnappte sich eine Art Matte und legte sie links und rechts über das gespannte Seil der Seilrutsche, griff mit beiden Armen fest zu, zog die Beine an und weg war er. Er sauste sicher 20 Meter quer durch den Dschungel und schrie dabei vor Freude. »Was für eine unbeschwerte Kindheit«, dachte ich.
»Und jetzt du«, sagte Tata zu mir und ich merkte, wie sich mein Magen verkrampfte. Höhen waren einfach nicht mein Ding.
»Und keine Sorge, ich stelle dir einen hervorragenden Lehrer zur Seite«, grinste Tata und zeigte freudestrahlend auf Lui.
»Ich helfe dir«, sagte dieser ganz selbstverständlich und nahm mich bei der Hand. Und in der Tat: Diese kleine, herzzerreißende Geste des Jungen ließ mich meine Angst für diesen Moment vergessen, denn ich war ja jetzt nicht mehr alleine. »Let's go for it!«, dachte ich, nahm mir ein Herz und machte mich auf den Weg in meine Angst.
»Bei dem ersten Hindernis ist es wichtig, dass du den richtigen Zeitpunkt für den Absprung erwischt«, sagte Lui und machte es mir bei dem ersten Pfahl vor. »Das schaffst du«, machte er mir Mut und ich war einfach nur begeistert von der Empathie von diesem Jungen.
Wir kamen beide sicher auf der Plattform an. Da es jetzt aber ans Klettern und an meine Höhenangst ging, meldeten sich meine ursprünglichen Bedenken zurück.
»Ich weiß wirklich nicht, ob das so eine gute Idee für mich ist, da hochzuklettern. Geh du ruhig alleine, ich schau dir von hier aus zu«, sagte ich in der Hoffnung, dass sich Lui darauf einlassen würde.
»Komm schon, Glück ist eine Überwindungsprämie«, rief uns Ninni von unten zu, der gerade den Weg zurückgerannt kam.
»Was meinst du mit Überwindungsprämie?«, fragte ich, da mich dieser Begriff gerade überforderte.
»Jedes Mal, wenn du dich in einer Situation überwindest, in der du Angst hast, bekommst du danach als Prämie Glück geschenkt: Du bist stolz auf dich und du fühlst dich einfach großartig«, sagte Ninni.
Das klang zwar einleuchtend, half mir aber leider nicht mit meiner Höhenangst weiter. »Ich trau mich aber nicht!«, rief ich nach unten.
Tata schwang sich geschickt zu uns herüber, da er merkte, dass ich seelischen Beistand benötigte.
»Was könnte denn im schlimmsten anzunehmenden Fall passieren?«, fragte mich Tata.
»Ich könnte herunterfallen«, antwortete ich auf die Frage, deren Antwort mir recht offensichtlich erschien.
»Und dann?«, fragte Tata.
»Was und dann? Dann tue ich mir weh«, sagte ich.
»Aha. Und wirst du daran sterben oder dir ein Bein brechen?«, fragte mich Tata.
»In 99,9 Prozent aller Fälle nicht, da es nicht besonders hoch ist«, antwortete ich.
»Richtig. Ich lasse hier meine Jungs alleine klettern und ihre Erfahrungen machen, da es eine überschaubare Gefahr birgt. Ja, sie können sich wehtun. Sie können sich die Knie aufschürfen. Sie können auch aus ein paar Metern Höhe auf den Boden fallen. Aber ich traue ihnen das zu und nur so können sie sich weiterentwickeln. Dir traue ich das, nebenbei erwähnt, auch zu, Scott«, sagte Tata mit einem breiten Grinsen.
»Na gut, ich mach's«, antwortete ich und merkte sofort, wie ich feuchte Hände bekam.
»Wir sind alle bei dir und helfen dir, falls etwas passieren sollte. Und noch ein Tipp: Je schneller du ins Handeln kommst, desto weniger Angst wirst du haben. Zögern und Hin- und Herüberlegen gibt deiner Angst die Chance, zu wachsen«, sagte Tata.
Da ich der Meinung war, dass meine Angst schon groß genug war, machte ich mich direkt auf den Weg und kletterte das Seil hoch. Als ich oben war, feuerten mich alle drei an und Lui zeigte mir, wie ich die Matte am besten halten sollte, damit ich nicht herunterfiel.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und schwang mich auf die Seilbahn.
»Wie fühlst du dich jetzt, nachdem du deine Angst überwunden hast?«, fragte mich Ninni, als wir uns alle wieder am Start des Parcours trafen.
»Sensationell gut«, war meine Antwort und ich war sichtlich stolz auf mich, dass ich mich tatsächlich dazu durchgerungen und meine Angst überwunden hatte.
»Dann wirst du dich jetzt immer an die Überwindungsprämie erinnern«, sagte Tata lachend und schlug mir freundschaftlich auf den Rücken. »Bist du bereit für das große Fest?«
»Wenn ich ganz ehrlich bin, fühle ich mich in großen Menschenmengen unwohl. Vor allem, wenn ich niemanden kenne«, antwortete ich.
»Na, ein paar kennst du ja schon«, zwinkerte mir Tata zu.
»Ok, ich fühle mich unwohl in mir ungewohnten Umgebungen«, korrigierte ich meine Aussage.
»Hast du Lust auf eine weitere Überwindungsprämie?«, fragte mich Tata mit seinem breitesten Grinsen.
»Von dieser Perspektive aus kann man das natürlich auch sehen«, dachte ich. »Also gut, gehen wir es an«, sagte ich im Brustton der Überzeugung, bereit, ein zweites Mal über meine Grenzen hinauszuwachsen.
»Das ist genau die richtige Einstellung fürs Leben«, sagte Tata und wir machten uns auf den Weg.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis wir im Dorf angekommen waren. Das Dorf bestand aus um die 20 Hütten, die allesamt ihren ganz eigenen Charme und Charakter besaßen. Einige waren ebenerdig gebaut, andere auf Stelzen, wiederum andere bestanden aus mehreren Geschossen. Mir gefiel das Dorf auf Anhieb und die Hütten spiegelten wohl die Einzigartigkeit eines jeden Einwohners wider. »Was für ein Kontrast zu dem Einheitsbrei, den ich kenne«, dachte ich.
Nachdem ich eine ganze Zeit lang meinen Blick von den Besonderheiten der Hütten gar nicht abwenden konnte, fiel mir auf, dass ich gar keine Menschen sah. »Wo sind denn alle?«, wollte ich wissen.
»Das Fest ist bereits im Gange«, sagte Tata. »Auf unserer Insel haben wir die Gewohnheit, dass wir uns nicht mit Warten aufhalten. Wenn wir etwas machen wollen, dann legen wir los. Wenn wir Gäste erwarten und sie kommen etwas später, dann ärgern wir uns darüber nicht. Wir fangen einfach an und freuen uns dann, wenn die Gäste zu uns stoßen. Komm mit, ich zeige dir unseren Festplatz.»
Direkt hinter den letzten Hütten des Dorfes ging es eine kleine Anhöhe hinauf. Jetzt hörten wir auch Stimmen und Musik lag in der Luft, leise Trommeln und Gesang. Auch wenn ich mich oft unwohl unter Menschen fühlte, siegte hier doch meine Neugierde. Ich war gespannt, wie ein Fest auf dieser Insel wohl aussehen und wie die Inselbewohner feiern würden.
Was ich dann erblickte, raubte mir für einige Sekunden den Atem. Die Anhöhe wurde auf drei Seiten von massiven Felsen umrahmt. Oben auf dem Rand des Steinbruchs waren brennende Fackeln angebracht. Es fing langsam an zu dämmern und die Fackeln strahlten eine Ursprünglichkeit aus, die ich so noch nie zuvor gesehen hatte. Die flammende Beleuchtung war aber nur die Krönung des Ganzen.
Auf dem Plateau selbst waren Tische und Bänke und vor allem jede Menge Leute. Alle lachten und unterhielten sich. Sie waren alle wie Kiri, Tata und ihre Jungs gekleidet. Die Männer in kurzen Hosen und oft mit freiem Oberkörper. Die meisten Frauen mit einer Art Rock, je nach Lust und Laune kürzer oder länger. Es gab aber auch Frauen mit kurzen Hosen. Dazu die unterschiedlichsten luftigen Oberteile. »So würde ich mir die Ureinwohner Hawaiis vorstellen, alle strahlen eine bezaubernde Ursprünglichkeit und Natürlichkeit aus«, dachte ich.
Das ganze Ambiente sah fantastisch aus: Auf den Felsen die Fackeln, dann kamen die steilen Steinwände, am Boden Natur pur mit Blumen, Pflanzen und Farnen, die jeden botanischen Garten, den ich jemals gesehen hatte, in den Schatten stellten. Die Tische waren mit Blumen geschmückt und man sah diesen Menschen einfach an, mit wie viel Liebe und Lebensfreude sie dieses Fest vorbereitet hatten.
»Komm mit, ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte Tata und bedeutete mir ihm zu folgen.
»Das ist Nanna Nuri«, sagte Tata feierlich, als wir vor einer Frau im besten Alter stehen blieben, die gerade ausgelassen zur Musik tanzte.
Nanna Nuri unterbrach ihren Tanz und blickte mich mit so freundlichen und mitfühlenden Augen an, dass ich sie direkt anlächeln musste. Manche Menschen haben einfach das gewisse Etwas an sich, wodurch sie direkt mitbestimmen, wie andere Menschen auf sie reagieren.
»Hallo Hoa Pili Hou«, sagte Nanna Nuri. »Es ist mir eine große Freude, dich kennenzulernen.«
»Hallo Nanna Nuri, die Freude ist ganz meinerseits«, antwortete ich.
»Komm, tanz mit uns«, lud mich Nanna Nuri ein.
»Ich kann nicht tanzen«, antwortete ich.
Nanna Nuri hatte ein glockenhelles Lachen und ich kam mir in diesem Moment kein bisschen ausgelacht vor, wie ich mir sonst oft bei anderen Menschen vorkam.
»Tanzen kann man nicht nicht können. Jeder bewegt sich anders zur Musik. Jedem gefällt etwas anderes. Jeder tanzt, wie es ihm gefällt«, sagte Nanna Nuri.
»Ich kann wirklich nicht tanzen. Immer, wenn ich es versucht habe, hatte ich das Gefühl, dass die Menschen, die hinter mir stehen, mich bestimmt auslachen, weil sie merken, dass ich nicht tanzen kann«, sagte ich.
Nanna Nuri schenkte mir ihr liebevolles Lächeln und nickte verständnisvoll. »Ihr jungen Leute macht euch immer so viele Gedanken darüber, was andere Menschen wohl über euch denken. Aber weißt du was? Ihr vergesst dabei vollkommen, dass auch diese Menschen ihr eigenes Leben haben. Mit ihren eigenen Herausforderungen und ihren eigenen Unsicherheiten. Was denkst du, wie viele Menschen wohl komplett mit sich selbst, ihren Fähigkeiten, ihrem Aussehen und ihrem Charakter zufrieden sind?«, fragte mich die ältere Dame.
»Hm, sollte sie damit recht haben? Sollte ich nicht der Einzige sein, der Zweifel an sich und seinen Fähigkeiten hat?«, dachte ich für mich.
»Ich habe ein paar hervorragende Lehrmeister für dich«, strahlte mich Nanna Nuri an und ich sah, wie sie Ninni und Lui zu uns herüberwinkte. »Von Kindern können wir uns viel mehr abschauen, als wir jemals bereit wären zuzugeben«, sagte Nanna Nuri und zwinkerte mir zu.
Ninni und Lui nahmen mich bei der Hand und hüpften ausgelassen umher. Ich konnte nicht anders, als einfach mitzumachen. Ich blendete die Gedanken, was wohl andere in diesem Moment über mich denken könnten, einfach aus und war vollkommen im Hier und Jetzt. Zusammen mit diesen beiden Kindern, denen ihre Freude am Leben direkt anzusehen war.
Ich war erstaunt, wie leicht es mir doch gefallen war, als die beiden mich an die Hand genommen hatten. Alleine hätte ich mich niemals durchgerungen zu tanzen, aber mit meinen beiden Lehrmeistern war es auf einmal ganz einfach.
»Siehst du, du kannst doch tanzen«, sagte Nanna Nuri, als sie wieder auf mich zukam.
»Tanzen würde ich es nicht unbedingt nennen, aber es hat mir in der Tat viel Spaß gemacht«, antwortete ich mit einem Lächeln.
»Es spielt keine Rolle, ob du es nun tanzen nennst oder nicht. Es geht dabei einzig um die Erlaubnis, die du dir selbst gibst, Dinge zu tun oder nicht zu tun«, sagte Nanna Nuri.
Ich stellte mir die Frage, ob es da nicht noch so ein paar andere Lebensbereiche in meinem Leben gab, die ich mir selbst versagte, mit der Begründung, dass ich es nicht gut genug konnte.
»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte mich Nanna Nuri.
»Ich liebe Geschichten«, antwortete ich wahrheitsgemäß und war schon ganz gespannt auf das, was nun kommen sollte.
Und Nanna Nuri erzählte mir die Geschichte von dem Mann, der sich nicht mehr dafür interessierte, was andere wohl über ihn denken würden:
Es war einmal ein junger Mann, der sich bei allem, was er tat und bei allem, was er nicht tat, immer die Frage stellte, was wohl seine Mitmenschen von ihm halten würden. Wenn er einmal vergaß, seine Haare zu kämmen, überlegte er sich, für welch einen vergesslichen Menschen seine Mitmenschen ihn wohl halten mussten. Wenn er einmal nicht daran dachte, seine Wäsche abzuhängen, bevor es zu regnen begann, überlegte er sich, was wohl seine Nachbarn von ihm halten würden. Kam er einmal nicht rechtzeitig aus dem Haus und verpasste dadurch seinen Bus, überlegte er sich, was wohl die Menschen im Bus von ihm denken mussten.
So ging es tagein und tagaus. Jeden Tag war der junge Mann gedanklich mehr bei seinen Mitmenschen und was sie wohl über ihn denken mochten, als bei sich selbst. Sein ganzes Leben passte er an die Frage an, wie er wohl sein Leben leben sollte, damit seine Mitmenschen mit ihm zufrieden wären.
Bis eines magischen Morgens etwas anders war in seinem Leben. Als er am Morgen vergaß, seine Haare zu kämmen und in den Spiegel sah, sagte er sich: »Sieht eigentlich ganz gut aus. So gehe ich heute aus dem Haus.« Als er seinen Bus verpasste, weil er auf seinem Weg ein paar Minuten eine Katze gestreichelt hatte, dachte er sich: »Passiert. Dann nutze ich die Zeit, in der ich auf den nächsten Bus warte, einfach sinnvoll und gehe noch eine Runde spazieren.« Und als er zu guter Letzt noch am Nachmittag seine Wäsche in den Garten hängte und vergaß sie abzuhängen, bevor es zu regnen begann, sagte er zu sich: »Macht nichts, das kann jedem passieren.«
Und er merkte, wie die Last, die er sich all die Jahre selbst auf seine Schultern geladen hatte, mit einem Mal von ihm abgefallen war. Die imaginären Erwartungen, die andere Menschen angeblich an ihn hatten, waren mit einem Mal nicht mehr vorhanden. Von nun an dachte er keinen Moment mehr darüber nach, was wohl seine Mitmenschen über ihn denken mochten, sondern kümmerte sich nur noch darum, was er selbst über sich dachte.
In dieser Nacht hatte er die wenig hilfreiche und dennoch weit verbreitete menschliche Besonderheit verloren, das ganze Leben darüber nachzudenken, ob denn jeder andere mit der eigenen Lebensweise einverstanden wäre. Und die weniger verbreitete und doch so viel wertvollere Einsicht erlangt, dass es nur einen einzigen Menschen gibt, der mit seiner eigenen Lebensweise im Reinen sein muss: Er selbst.
»Und weißt du, was das Tragischste daran ist, wenn wir unser Leben nach dem ausrichten, was unsere Mitmenschen wohl über uns denken?«, fragte mich Nanna Nuri.
»Was denn?«, wollte ich wissen.
»Wir glauben immer, dass sich andere Menschen so viele Gedanken über uns machen, als hätten sie kein eigenes Leben. Dabei sind die meisten Menschen vollends mit ihrem eigenen Leben beschäftigt und kriegen nur am Rande mit, was um sie herum überhaupt geschieht. Jeder Mensch ist die Hauptfigur seines eigenen Lebens«, sagte Nanna Nuri.
»Sollte ich wohl auch zu viel meiner Zeit und Aufmerksamkeit darauf verwendet haben, was andere Menschen möglicherweise über mich denken?«, fragte ich mich. Nanna Nuris Worte machten mich nachdenklich und ich beschloss, mich ein wenig vom Fest zurückzuziehen, um mit meinen Gedanken allein zu sein.
»Hey Scott!«, hörte ich da eine Stimme, die ich heute schon einmal gehört hatte. Ich drehte mich um und sah Isi mit ihrem für sie typischen Grinsen auf den Lippen.
»Hi Isi, schön dich zu sehen«, antwortete ich, da ich mich wirklich freute, sie wiederzusehen.
»Wie gefällt dir unser kleines Fest dir zu Ehren?«, fragte Isi.
»Mir zu Ehren?«, fragte ich erstaunt.
»Tata hat es dir also gar nicht gesagt«, lachte Isi. »Das sieht ihm mal wieder ähnlich, er wollte dich bestimmt nicht in Verlegenheit bringen.«
»Wieso veranstaltet ihr für mich so ein riesiges Fest?«, wollte ich von Isi wissen.
»Bild dir darauf bloß nichts ein, das veranstalten wir für jeden Besucher aus deiner Welt«, sagte Isi.
»Besucher aus meiner Welt«, sprach ich in Gedanken nach, was Isi sagte. Anstatt aber die offensichtliche Frage zu stellen, was sie damit meinte, kam mir ein anderer, für mich viel wichtigerer Gedanke.
»Isi, wie schaffe ich es, das Leben mit so einer Leichtigkeit zu nehmen, wie du es tust?«, fragte ich.
»Du gefällst mir«, sagte Isi und grinste mich an. »Endlich mal einer, der die richtigen Fragen stellt. Ich erzähl dir mal eine Geschichte dazu.«
Und Isi begann zu erzählen: