Die Insel der Erkenntnis - Jonas Pöltl - E-Book

Die Insel der Erkenntnis E-Book

Jonas Pöltl

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Beschreibung

"Erfolg ohne Erfüllung erzeugt innere Leere." Das musste auch der 40-jährige Matt feststellen, der zwar beruflich sehr erfolgreich ist, sich aber trotzdem mit den Fragen “Ist das wirklich schon alles?” und “Sollte es nicht noch mehr in meinem Leben geben?” herumplagt. Die passenden Fragen, um die für sich richtigen Antworten zu finden, erhält Matt von dem sympathischen Inselvolk der Maoli, die zwar mit der modernen Welt nur sehr bedingt vertraut sind, es aber trotzdem schaffen Matts Welt mit ihren Fragen und Erkenntnissen zum Leben komplett auf den Kopf zu stellen.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Wie finde ich meine Bestimmung?

 

 

 

 

 

 

Für die beiden Wunder meines Lebens,

Niklas und Lukas.

 

Prolog

Hi,

 

Ich bin Matt. Vor etlichen Jahren war ich in meinem Leben an einem Tiefpunkt angekommen. Es war nicht, dass ich pleite gewesen wäre und kein Geld mehr hatte. Ganz im Gegenteil, ich verdiente sehr gut in meinem Job. Es war auch nicht, dass ein geliebter Mensch von mir gegangen wäre. Bis heute bin ich von Schicksalsschlägen glücklicherweise weitestgehend verschont geblieben. Es war vielmehr eine tiefe innere Leere in mir, gepaart mit den Fragen »Sollte es nicht noch mehr in meinem Leben geben?« und »Ist das wirklich schon alles?«

Nach einer meiner viel zu vielen 70-Stunden-Wochen im Büro, beschloss ich am Wochenende (oder besser, was davon übriggeblieben ist, mittlerweile arbeitete ich regelmäßig sechs Tage die Woche und erholte mich nur noch am Sonntag) einen Bootsausflug zu unternehmen, um endlich abschalten und in Ruhe nachdenken zu können. Aus dem zuvor wolkenlosen Himmel mit strahlendem Sonnenschein wurde allerdings plötzlich eine stürmische See, die mich und mein Boot zum Kentern brachte. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich an einem mir unbekannten Strand auf einer unbewohnten Insel. Dass ich mich mit unbewohnt selten so getäuscht hatte, sollte ich noch früh genug herausfinden. Das Volk der Maoli, das mich aufnahm und sehr gastfreundlich zu mir war, half mir mit ihrer Einstellung zum Leben einen völlig neuen Blickwinkel auf mein eigenes Dasein zu bekommen.

Was ich dabei gelernt habe und wie sich so meine Existenz von bodenloser Leere zu einem erfüllten und glücklichen Leben entwickelt hat, möchte ich dir in meiner Geschichte erzählen.

 

Und so hat alles begonnen…

Teil 1

Miami

Ich lebte bereits seit 15 Jahren in Miami. Doch während meine Wohnungen immer größer und schicker wurden, wurde die Zeit immer knapper, in der ich meine Stadt am Meer genießen konnte. Ursprünglich bin ich nach Miami gezogen, damit ich jeden Tag ans Meer kann. Damit ich dort wohne, wo andere hinkommen, um Urlaub zu machen. Dieser Grundgedanke ist leider mehr und mehr in Vergessenheit geraten, während ich damit beschäftigt war, Stufe um Stufe auf der Karriereleiter hinaufzuklettern.

Aber fangen wir von vorne an: Aufgewachsen bin ich in Mathews, Alabama. Ich bin mir sicher, dass daher auch mein Name stammt, auch wenn meine Eltern das immer noch abstreiten. Nach einer glücklichen Kindheit auf dem Land wollte ich in die große Stadt, Geld verdienen und Karriere machen. Nach meinem Abschluss an der Universität von Miami ging der Ernst des Lebens los. Ich bewarb mich bei einem Topunternehmen und wurde direkt ins Traineeprogramm aufgenommen. Ich konnte mein Glück kaum fassen und freute mich riesig. Über die Jahre hinweg arbeitete ich mich Stück für Stück in meiner Firma nach oben. Neben einem stetig wachsenden Gehalt, wurden allerdings auch immer mehr Anforderungen an mich gestellt, die mir weniger gut gefielen.

Während ich anfangs noch einen geregelten Wochenablauf mit 40 Arbeitsstunden pro Woche hatte und von Montag bis Freitag arbeitete, entwickelte sich mein Arbeitspensum immer mehr zu 50 Stunden pro Woche an fünf bis sechs Wochentagen. Nach meiner letzten Beförderung, durch die ich endlich im Topmanagement angekommen war, glich eine arbeitsintensive Woche der nächsten. Ich arbeitete sechs Tage die Woche, am siebten bereitete ich noch regelmäßig Präsentationen für die Folgewoche vor. Mein Stundenpensum stieg auf 70 Stunden und mehr pro Woche an.

Und genau nach einer solchen 70-Stunden-Woche, beschloss ich am Sonntag einen Bootsausflug zu unternehmen. Endlich wieder ans Meer in meinem Miami. Durch die Wellen und den Wind endlich wieder abschalten und den Kopf freibekommen. Denn auch wenn ich immer davon geträumt hatte, im Topmanagement zu arbeiten, war ich doch nicht glücklich, wo ich heute war. Ich besaß zwei teure Autos und bin gerade erst in ein sündhaft teures Penthouse umgezogen, konnte aber all dies zu meiner großen Überraschung nicht genießen. »Was war denn nur los mit mir? Was lief schief in meinem Leben?«

Ich machte mich also auf, mietete mir ein Boot und fuhr aufs Meer. Fernab von anderen Menschen, fernab meiner geliebten, ruhelosen Stadt Miami. Der Wetterbericht meldete strahlenden Sonnenschein und einen wolkenlosen Himmel, das Wetter hätte also besser nicht sein können für mein geplantes Unterfangen. Als ich allerdings ein gutes Stück auf dem Meer war, an einem Ort, an dem keine Menschenseele mehr zu sehen war, zogen dunkle Wolken auf. Um nach Miami zurückzufahren, war es zu spät, das Unwetter würde mich definitiv erwischen. So fuhr ich weiter aufs offene Meer hinaus und versuchte, den sich bedrohlich auftürmenden Gewitterwolken in der Flucht nach vorn zu entkommen. Zum Regen gesellte sich Sturm und meterhohe Wellen brachen über meinem kleinen Boot zusammen. Ich klammerte mich mit all meiner Kraft an die Reling, während die schäumende Gischt mich umhüllte und mir fast vollständig die Luft zum Atmen nahm.

Und dann geschah es: Eine riesige Welle raste auf mich zu und brachte mein Boot zum Kentern. Ich wurde ins Wasser geschleudert und die Wucht des Aufpralls presste mir sämtliche Luft aus meiner Lunge. Mir wurde schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.

Teil 2

Die Insel

1

Als ich zu mir kam, lag ich im Sand. Ich öffnete meine Augen und fand mich an einem wunderschönen Strand wieder. Der Sand war beinahe weiß und hauchdünn - am Strand und zwischen meinen Zähnen. Das Wasser glitzerte türkisblau und flache Wellen brandeten mit einem sanften Meeresrauschen ans Ufer. An eben jenes Ufer, an dem ich lag, völlig durchnässt und ohne die leiseste Erinnerung daran, wie ich hierhergekommen war. Panisch versuchte ich mich daran zu erinnern, wo ich war und was ich hier machte.

Dann langsam dämmerte es mir wieder: Ich war mit meinem Boot auf den Atlantik gefahren und wollte einfach nur abschalten. Nachdem ich von einem Unwetter überrascht wurde, ist mein Schiff gekentert und ich wurde ins Wasser geschleudert. Ich war auf einer unbewohnten Insel gestrandet. Unbewohnt nahm ich zumindest an, da ich nirgends auch nur den Hauch von Zivilisation entdecken konnte. Kein Hafen, kein Pier. Nur reine, unberührte Natur. Die Landschaft war so atemberaubend schön, dass mir dazu nur ein einziges Wort einfiel, das sie passend beschrieb: Paradies.

Kurz überlegte ich, ob ich den Bootsunfall wohl doch nicht überlebt hatte und nur meine Seele auf dieser Insel wandelte und ich bereits tot war. »Au, verflixt«, entkam es mir. Ein kleiner Krebs hatte mich vor lauter Übermut in den großen Zeh gezwickt. Da ich so reglos da lag, dachte er wohl, dass ich sowieso nicht mehr am Leben wäre und ich mich ganz gut als Futter eignen könnte. Da ich noch Schmerzen spürte, war ich wohl doch noch am Leben.

Von dem Unwetter war nichts mehr zu sehen. Die Sonne schien gerade so, als hätte es den Sturm nie gegeben. Auch fand ich keine Spur von meinem Boot. Kein Wrack, kein Treibgut, nicht einmal das kleinste Anzeichen, dass ich mit einem Boot hierhergekommen war. Da war ich also, gestrandet auf dieser einsamen Insel. Ohne Nahrung, ohne Wasser, nur mit der Kleidung, die ich anhatte: Shorts und T-Shirt. Immerhin schien die Sonne und die Natur um mich herum war einfach nur wunderschön.

Als ich ein Knurren vernahm, sprang ich auf. Ich drehte mich rasch einmal um mich selbst, in Erwartung ein wildes Tier abwehren zu müssen. Als weder ein Wolf, noch ein Bär zu sehen waren, bemerkte ich die Ursache des Knurrens und musste lachen: Es war mein leerer Magen. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und nach dem Stand der Sonne zu urteilen, war es nun sicher schon später Nachmittag. Und auf meinen Magen war immer Verlass. Hungrig beschloss ich die Insel zu erkunden und auf Nahrungssuche zu gehen.

2

Ich machte mich auf vom Strand in Richtung Inselinnerem. Die Natur war einfach nur atemberaubend. Nach dem reinen Sandstrand folgte ein Abschnitt, an dem vereinzelte Palmen im Sand standen und Schatten spendeten. Von der Mischung aus Sand und Palmen ging es nahtlos über in eine tropische Dschungellandschaft. Die Vegetation wurde dichter und ich hörte erste Vögel zwitschern. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ich die ersten Schritte in den Dschungel setzte. So ein Naturschauspiel hatte ich wahrlich noch nie erlebt. Gut, ich hatte meine letzten Jahre auch primär in einem Großraumbüro verbracht, aber auch die seltenen Urlaube, die ich mir gegönnt hatte, hatten mich nie an ein so schönes Fleckchen Erde geführt.

Ich sah Affen von Baum zu Baum springen. Kunterbunte Vögel zwitscherten herrliche Melodien. Doch da war auch noch irgendetwas anderes in der Melodie des Dschungels. Irgendetwas hatte sich in diesem Moment in den Tönen des Dschungels verändert. Da war ein regelmäßiges Geräusch, das ich schon einmal gehört hatte aber nicht zuordnen konnte. Ein dumpfer Ton, dann wieder Pause. Dann wieder ein Ton, dann Pause.

Es klang ganz nach... Trommeln. »Sollte diese Insel doch nicht so unbewohnt sein, wie ich zuerst angenommen hatte?«, fragte ich mich. Mit wachsender Neugier ließ ich mich von meinen Ohren leiten. Die Trommeln wurden immer lauter und lauter, bis ich aus dem dichten Dschungel heraus eine Lichtung sah. Auf dieser Lichtung befanden sich einfache Bambushütten mit Farnen auf den Dächern. Und da waren auch besagte Trommeln und an diesen Trommeln standen: Menschen. Ich war also doch nicht alleine auf dieser Insel.

Die Frauen und Mädchen waren gekleidet im Bastrock mit Blumenketten. Die Männer und Jungs trugen eine Art Shorts aus demselben Material. Für T-Shirts hatten sie in diesem Inselparadies und bei dieser Wärme wohl keine Verwendung. Die Menschen lachten und die Kinder tanzten und jagten sich gegenseitig im Spiel durch die Gegend.

Und neben den Trommeln standen Tafeln voll mit exotischen Früchten und Speisen. Meinen Magen freute dieser Anblick besonders. Es sah ganz nach einem bevorstehenden Fest aus. Irgendwie hatte ich aber das Gefühl, dass das Fest noch nicht vollständig begonnen hatte. Sie schienen noch auf irgendjemanden oder irgendetwas zu warten. Hungrig und neugierig zugleich nahm ich einen tiefen Atemzug und ging mutig aus dem Dschungel heraus auf die Trommeln zu.

3

Zwei kleine Jungs waren die Ersten, die mich entdeckten, als ich auf die Lichtung heraustrat. Sie rannten direkt zu ihren Eltern, die beide einen prächtigen Kopfschmuck trugen und vor den Festtafeln standen. Die Jungs deuteten auf mich und ich glaubte zu hören, wie sie riefen »Er ist da! Er ist da!«

»Herzlich willkommen, Hoa Pili Hou«, sagte der Mann, zu dem die Kinder gerannt waren, als er auf mich zukam. Er wirkte freundlich und lächelte mich an. »Sie sprechen meine Sprache, was für ein Glück«, dachte ich bei mir.

»Seid gegrüßt. Wo bin ich hier?«, fragte ich. »Du bist auf unserer Insel gelandet. Wir nennen sie Ka Mokupuni ʻike.« »Von dieser Insel habe ich noch nie gehört, obwohl ich öfter mit dem Boot vor Miami auf dem Meer bin«, gestand ich. »Es ist nicht so eine Art Insel, wie du sie kennst«, sagte der Mann mit einem Lächeln, dessen Bedeutung ich nicht genau deuten konnte.

»Ich bin Matt«, stellte ich mich vor. »Mich nennen sie Tata«, antwortete mein Gastgeber. »Und das ist unser Dorf«, ergänzte er und breitete seine Arme aus. »Hast du gut hergefunden?«, fragte mich Tata. »Ein Sturm hat mein Boot zum Kentern gebracht, dann war ich eine Weile bewusstlos und bin hier am Strand wieder zu mir gekommen. Wenn du das unter gut verstehst, dann ja«, antwortete ich. Dann meldete sich wieder mein Magen mit einem lauten Knurren zu Wort. Da war ja noch was.

»Tolles Festmahl, wartet ihr noch auf jemanden?«, fragte ich neugierig. »Die Hauptperson ist soeben eingetroffen«, sagte Tata. »Wo ist sie denn?«, fragte ich. »Sie steht direkt vor mir«, antwortete Tata und lachte dabei. »Ich?«, fragte ich verblüfft. »Woher wusstet ihr, dass ich heute auf eure Insel kommen würde?«

»Wusstest du nicht selbst, dass du dich auf eine Reise begeben würdest?«, fragte Tata.

Von dieser Warte aus hatte ich das noch gar nicht betrachtet. »Ich hatte so ein Gefühl, dass sich etwas ändern müsste in meinem Leben, aber wie das geschehen sollte, war mir nicht klar«, antwortete ich. »Jetzt lasst uns zusammen essen und trinken, du musst sicher hungrig sein«, sagte Tata.

»Ich habe einen Bärenhunger«, antwortete ich und wir setzten uns an die große Tafel.

4

Das Festmahl konnte sich wirklich sehen lassen: Auf dem ersten Tisch stand die reichste Auswahl an frischen und farbenfrohen Früchten, die ich jemals gesehen hatte. Neben Ananas, Bananen, Maracujas und Papayas gab es noch unzählige Früchte, deren Namen ich noch nicht einmal kannte. Sie hatten aber eins gemeinsam: Sie sahen alle sehr lecker aus und schmeckten sogar noch besser. Auf dem nächsten Tisch gab es Gemüse in gegrillter und roher Form, Salat und jede Menge exotisch anmutender Dips und Soßen. Daneben stand ein Tisch mit Fisch und Fleisch, alles kross über dem Feuer gegrillt und einfach nur köstlich duftend - da waren mein hungriger Magen und ich uns vollkommen einig. Auf dem vorletzten Tisch standen gebratene Kartoffeln, gedämpfter Reis und etliche Hirse- oder Couscous-Arten, die ich so noch nie gesehen hatte. Was ehrlich gesagt auch nicht besonders schwierig war, da ich mich doch am liebsten von Burgern mit Pommes ernährte. Der letzte Tisch war voller Getränke: Glasklares Wasser, geköpfte Kokosnüsse, und frisch gepresste Säfte, dekoriert und verziert mit kunstvoll geschnitzten Tieren aus Obst.

Ich saß mit meinen Gastgebern am Tisch im Zentrum des Fests und ließ es mir schmecken. Immerhin hatte ich gefühlt seit Tagen nichts gegessen. Wir aßen und unterhielten uns. Die Trommeln wurden leise geschlagen und die Kinder tanzten und jagten um die Tische herum, während sie zwischendurch immer wieder zu den Tischen zurückkehrten, um kurz etwas zu essen oder zu trinken. Tata stellte mir seine entzückende Frau Kiri vor, ebenfalls lernte ich ihre beiden aufgeweckten Jungs kennen, die mich als erstes entdeckt hatten. Sie hießen Ninni und Lui und waren sechs und drei Jahre alt, und ein wahrer Quell an Lebensfreude. »Wieso hatte ich mich vorher nur nie mit Kindern beschäftigt?«, schoss es mir durch den Kopf.

Nach einem ausgiebigen Mahl, das selbst meinen schwer zu beeindruckenden Magen glücklich und zufrieden stimmte, luden mich Kiri und Tata zum traditionellen Stammestanz ein. Ich war überrascht, dass wirklich jeder aus dem Dorf mitmachte. Es gab keinen, der sich absonderte und alleine blieb. Es kam dabei nicht im Geringsten auf die Tanzfähigkeiten an, was mir sehr zugute kam, denn ich bin wahrlich kein begnadeter Tänzer. Vielmehr ging es um das Zusammensein und sich ausgelassen zu bewegen. Die Kinder hatten darin besonders viel Talent. Sie rannten und sprangen und ihnen zuzusehen war einfach nur ein Moment des vollkommenen Glücks, den ich so lange nicht mehr erlebt hatte. Ich erfreute mich mit ihnen an ihrem Tanz.

Generell hatte ich den Eindruck, dass die Menschen hier eine Glücklichkeit und Zufriedenheit ausstrahlten, die mir neu waren. Wenn ich zu Hause in Miami um 6:30 Uhr in die U-Bahn stieg, um zur Arbeit zu fahren, sah ich kein fröhlich lachendes Gesicht. Ich nahm mir fest vor, das Geheimnis ihres Glücks unbedingt genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht hatte es ja einen tieferen Sinn, dass ich auf dieser Insel gelandet bin.

Nach einem langen Abend lud mich Tata in die Hütte seiner Familie ein. Ich fiel todmüde in das Bett, das mir meine Gastgeber in ihrer Hütte vorbereitet hatten. Als hätten sie gewusst, dass sie heute jemand besuchen kommen würde. »Merkwürdig«, dachte ich noch, bevor ich Sekunden später bereits tief und fest schlief.

5

Als ich nach einem erholsamen Schlaf erwachte, griff ich routinemäßig auf meinen Nachttisch, um auf meinem Handy die wichtigsten Neuigkeiten des Tages zu lesen. Überrascht von der Tatsache, dass ich weder mein Handy noch überhaupt meinen Nachttisch vorfand, dämmerte mir wieder, dass ich ja gar nicht in meinem Apartment in Miami war. Ich war immer noch auf dieser geheimnisvollen Insel, fernab der technisierten Welt. Zumindest hatte ich hervorragend geschlafen. Ich fühlte mich ausgeruht, wie lange nicht mehr und hatte das Gefühl, als könnte ich Bäume ausreißen.

Die Sonne war bereits aufgegangen, ich warf mich in meine Klamotten und begrüßte den Tag mit einem Lächeln, als ich die Hütte verließ. »Wann habe ich das letzte Mal morgens gelächelt?«, dachte ich angestrengt nach, konnte aber keine Antwort darauf finden - es musste schon ewig her gewesen sein.

Meine Gastgeber waren bereits aufgestanden und ich fand sie mit ihren beiden Kindern am Meer. Das Meer war nur 20 Meter von ihrer Hütte entfernt und die Aussicht war einfach traumhaft. In dem kristallklaren, türkisfarbenen Wasser spiegelte sich die Sonne. Zwischen Hütte und Strand standen vereinzelt Palmen und ich war mir sehr sicher, zwischen zwei dieser Palmen auch eine Hängematte zu erkennen. Diese Menschen verstanden es wirklich zu leben.

Während die beiden Jungs im Wasser planschten, saß Kiri unbewegt im Sand mit geschlossenen Augen und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Auch Tata strahlte, als er mich kommen sah und begrüßte mich wie einen alten Freund. »Du bist aufgestanden. Schön, dass du hier bist«.

»Wo immer auch hier ist«, murmelte ich vor mich hin. Lauter sagte ich: »Ihr lebt wahrlich im Paradies.« »Ja, wir haben einen wundervollen Ort für uns gefunden«, antwortete Tata. »Jeder kann für sich einen Ort finden, an dem er sich wie im Paradies fühlt.«

»Wie meinte er das nun wieder?«, fragte ich mich. Während Tata im Sand saß und seinen beiden Kindern zusah, schrieb er immer wieder Notizen in eine Art Notizbuch. Das Buch wäre in Miami vermutlich nicht ganz als State of the Art durchgegangen, doch es schien seinen Zweck zu erfüllen und das war das Einzigste, was zählte. »Was schreibst du da?«, wollte ich wissen.

»Ich habe die Angewohnheit, mir von allem, was ich für mich lerne, Notizen zu machen. Viel zu oft habe ich frühere Lehren, die mir das Leben erteilt hat, wieder vergessen. Und eine Lektion zweimal gelehrt zu bekommen, ist nicht notwendig, wenn du beim ersten Mal bereits gut genug aufpasst und Vorkehrungen triffst, dass du sie nicht wieder vergisst«, antwortete Tata. »Notierst du dir wichtige Erkenntnisse?«, fragte er mich.

»Auf der Arbeit, in der Tat. Privat bin ich ehrlich gesagt noch nie auf diese Idee gekommen«, antwortete ich. »Erachtest du dein Privatleben als nicht wichtig genug?« fragte mich Tata. »Vorrang hatte bis heute immer mein Beruf«, gab ich ehrlich zu. »Möchtest du es einmal ausprobieren? Vielleicht gefällt es dir, und du bleibst dabei« bot Tata an. »Gern«, antwortete ich.

Tata zog ein zweites Notizbuch mitsamt Stift, der locker das Gütesiegel 100% ökologisch abbaubar bekommen hätte, aus seiner Tasche und sagte: »Für dich. Damit du jede Erkenntnis festhalten kannst und sie nie wieder vergisst.« »Danke«, sagte ich und nahm das Geschenk an mich.

Wir beobachteten die Kinder beim Spielen und reflexmäßig griff meine Hand wieder in meine Hosentasche und ich schaute verblüfft aus der Wäsche, als sie mein Handy nicht fand. »Wonach suchst du?«, fragte mich Tata, dem mein überraschter Gesichtsausdruck nicht verborgen geblieben war. Tata war ein sehr aufmerksamer Beobachter, der sich mit seinen Gedanken vollkommen im Hier und Jetzt zu befinden schien.

»Normalerweise befindet sich in meiner Hosentasche immer mein Handy«, antwortete ich. Da mein Gastgeber sicherlich nicht mit der Technik der heutigen Zeit vertraut war, ergänzte ich noch: »Ein Handy ist ein technisches Gerät, mit dem ich mit Menschen über große Distanzen hinweg sprechen kann. Neben dieser Telefonierfunktion, besitzt es noch 1000 weitere Funktionen, wie etwa Nachrichten schreiben und lesen, den Wetterbericht ansehen oder mich über die Geschehnisse in der Welt informieren«, versuchte ich die Kernfunktionen kurz zusammenzufassen.

»Das war eine nette Zusammenfassung der Funktionen eines Smartphones«, lachte Tata. »Aber du musst mir diese Dinge nicht erklären. Auch wenn wir hier nicht auf dem technischen Stand deiner Welt leben, sind wir doch mehr oder weniger mit den Grundsätzen vertraut. Uns kommen regelmäßig Menschen aus deiner Welt besuchen.«

»Aus meiner Welt«, murmelte ich vor mich hin. »Wie meinte er das nun wieder?« Da er nahtlos weiterredete, blieb mir keine Zeit, diesen Gedanken zu Ende zu denken. »Aber zurück zu dir: Diese Aktivitäten, wie Nachrichten lesen oder schreiben oder dich über die aktuellen Geschehnisse in der Welt zu informieren, würdest du sie in diesem Moment lieber tun, als nur hier mit mir im Sand zu sitzen und dich mit mir am Glück meiner beiden Kinder zu erfreuen?«, fragt mich Tata.

»Nein, eigentlich nicht. Es ist allerdings so sehr zu einer Routine geworden, dass ich ständig auf mein Smartphone blicke, um nachzusehen, ob ich neue Nachrichten habe, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenke«, antwortete ich. »Macht dich diese Routine glücklich?«, wollte Tata wissen.

Ich dachte einen Augenblick nach. Diese Frage hatte ich mir in der Tat selbst noch nie gestellt. Um diese Frage, nicht nur für Tata, sondern auch für mich selbst, zu beantworten, holte ich ein wenig aus: »Wenn ich morgens in den Tag starte, sehe ich immer als Erstes auf mein Smartphone. Ich lese meine Nachrichten und informiere mich, was auf der Welt geschehen ist. Das gibt mir ein Gefühl des Überblicks und der Kontrolle, ich verpasse nichts. Über den Tag verteilt bin ich weiterhin auf Abruf für die Welt erreichbar, da ich regelmäßig meine Nachrichten lese und auch beantworte.«

»Ist das nicht sehr anstrengend, immer erreichbar zu sein?«, fragte mich Tata. »Wie schaffst du es da, dich auf den jetzigen Moment zu konzentrieren?«, legte er nach. »Momente, in denen ich völlig bei mir bin, oder auch nur bei den körperlich in einem Raum mit mir anwesenden Menschen, sind leider sehr selten geworden«, gab ich ehrlich zu.

»Du hast die Kraft in dir, diese Momente zu erschaffen und sie wieder in dein Leben zurückzuholen«, sagte Tata zu mir. «Wirklich?« fragte ich zurück. »Natürlich. Jeder Mensch bestimmt und wählt sein Verhalten selbst«, sagte Tata.

»Aber ich mache doch einfach nur das, was alle anderen auch tun«, antwortete ich etwas ungehaltener als ich es eigentlich sagen wollte. Als wäre ich jetzt daran schuld, dass ich diesen Weg beschreite. »War es deine bewusste Entscheidung, oder hast du dich eher vom Herdentrieb leiten lassen?«, fragte Tata.

Diese Frage brachte mich ins Grübeln. »Gab es einen Zeitpunkt, zu dem ich mir bewusst ausgesucht habe, so zu werden wie ich heute bin? Oder war es eine unbewusste Entscheidung, da ich dazugehören wollte? Nur wo genau eigentlich dazugehören?«

»Ich weiß es nicht«, war meine ehrliche Antwort. »Wenn du diese Entscheidung nicht bewusst getroffen hast, weil es dein eigener freier Wille war, war es wohl eine unbewusste Entscheidung. Aber sämtliche Entscheidungen und Gewohnheiten lassen sich auch durch neue Entscheidungen und neue Gewohnheiten ersetzen, die dein Leben bereichern«, sagte Tata.

»Wenn du morgens in den Tag startest, fühlst du dich dann erholt und voller Energie? Oder fühlst du dich bereits morgens unter Druck und gestresst?«, fragte Tata. »Definitiv unter Druck und gestresst«, antwortete ich. »Sobald ich morgens meine Nachrichten lese, warten schon die ersten Aufgaben auf mich. Sie verfolgen mich dann während meines kurzen Frühstücks, der morgendlichen Dusche und auch beim Zähneputzen.«

»Fühlst du dich danach so, als ob du in der Lage wärst, deinen Tag selbst zu gestalten oder reagierst du nur noch auf Einflüsse von außen?«, wollte Tata wissen. »Ich fühle mich schon fremdgesteuert, seitdem ich aufgestanden bin und mein Smartphone in der Hand hatte. Freunde und Kollegen wollen dies und das von mir und alles am liebsten sofort«, antwortete ich.

Tata lächelte. »Was gibt es da zu lachen?«, fragte ich leicht gereizt. »Diese Situation belastet mich Tag für Tag. Und du findest das komisch?« »Manchmal ist man im Leben so in einer Situation gefangen, dass man selbst den oftmals offensichtlichen Ausweg nicht sehen kann«, antwortete Tata. »Was soll das denn für ein Ausweg sein?«, fragte ich ungehalten. »Was würde passieren, wenn du dein Smartphone erst nach einem ruhigen und entspannten Morgen in die Hand nimmst? Du genießt die erste Zeit deines Tages in aller Ruhe, isst etwas, bewegst dich oder gehst an die frische Luft?«, fragte Tata.

»Und was ist mit all den Nachrichten und all den Anliegen an mich?«, wollte ich wissen. »Verschwinden sie, wenn du sie nicht sofort liest?«, fragte Tata. Diese Frage brachte mich zum Lachen und mein Ärger war auf einen Schlag verflogen. »Nein, natürlich nicht«, antwortete ich.

»Dann wären sie also auch noch da, nachdem du einen Morgen nach deinen eigenen Vorstellungen verbracht hättest?«, fragt Tata. »Natürlich«, antwortete ich. »Welchen Vorteil bringt dir deine jetzige Gewohnheit somit?«, fragte Tata. Ich dachte ein paar Sekunden nach. »Ich bin früher informiert«, wollte ich antworten, um Tata etwas entgegenzusetzen. Mir blieb die Antwort aber im Halse stecken. War es nicht eher der Fall, dass ich so bereits früher fremdgesteuert war und nur noch reagiert und nicht mehr agiert habe? Waren das nicht alles Einflüsse von außen, die mich zu ihrem Spielball machten? »Ich fühle mich oft bereits am frühen Morgen gestresst und überfordert«, gab ich offen und ehrlich zu.

»Wie wäre es dann mit einem Ändern dieser Gewohnheit?«, fragte mich Tata. »Der erste Schritt zur Besserung ist die Erkenntnis, dass etwas verbesserungswürdig ist.« Tata zeigte auf mein Notizbuch. »Möchtest du dir etwas von unserem Gespräch notieren?«, fragte er.

»Und ob«, antwortete ich, schlug das Buch auf und fing auf der ersten Seite an zu schreiben.

6

Gerade als ich mit meinen Notizen fertig geworden bin, gesellte sich Kiri zu uns. Sie strahlte eine innere Ruhe und Gelassenheit aus, die ich bis dato nur sehr selten bei jemandem gesehen hatte.

»Was hast du da gemacht?«, wollte ich von ihr wissen. »Ich habe meditiert«, antwortete Kiri. »Unsere beiden Söhne sind wirklich tolle Jungs und ich liebe sie über alles. Trotzdem gibt es Situationen, die herausfordernd sind. Ich habe für mich gelernt, dass ich solche Situationen viel einfacher meistern kann, wenn ich mit mir selbst im Einklang bin. Dieser innere Einklang hat nichts mit unseren Söhnen und auch nichts mit meinem Mann zu tun, sondern rein mit mir. Wenn ich im inneren Ungleichgewicht bin, reagiere ich in herausfordernden Situationen anders, als ich möchte.«

»Wann hast du damit begonnen?«, fragte ich Kiri. »Es gab eine Zeit, als unsere Söhne noch sehr jung waren. Lui war gerade zur Welt gekommen und Ninni war in einem Alter, indem er immer jemanden zum Spielen haben wollte. Beides gleichzeitig ging nicht immer. Wenn Lui zum Beispiel trinken wollte, durfte sich Ninni gerne zu uns gesellen und ich las beiden etwas vor. Wenn Ninni in diesem Moment aber lieber mit mir herumtollen oder fangen spielen wollte, dann ging das in diesem Moment einfach nicht, wenn ich allein zu Hause war. In dieser Zeit war ich sehr gereizt und reagierte verbal häufig barsch, was mir im Nachhinein immer sehr leidtat. Als ich wieder einmal heftig mit Ninni schimpfte, beschloss ich, dass es für mich an der Zeit war, etwas zu ändern. Ich beschloss, mich jeden Tag eine komplette Stunde mit mir selbst zu beschäftigen. Keine Familie, kein Mann, keine Kinder. Rein Zeit für mich«, erzählte Kiri.

»Und wie habt ihr das hinbekommen?«, fragte ich Kiri und Tata. Tata erzählte: »Kiri ist von diesem Tag an immer eine Stunde früher aufgestanden. In dieser Stunde hat sie weder den Haushalt gemacht, noch das Frühstück vorbereitet, sondern sie hatte Zeit für sich. Wenn die Kinder früher wach wurden, habe ich mich um sie gekümmert, damit wir Kiri nicht stören.«

»Was hast du in dieser Stunde gemacht?«, fragte ich Kiri neugierig. »Ich habe verschiedene Optionen meines idealen Morgens entwickelt«, sagte Kiri. »Wie du heute bereits gesehen hast, meditiere ich gerne. Es hilft mir dabei, mich zu fokussieren und wieder auf den jetzigen Moment zu konzentrieren. Während ich mit geschlossenen Augen im Sand sitze, gehen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich stelle mir diese Gedanken gerne als Seifenblasen vor. Mein ganzer Kopf ist also voller Seifenblasen. Ich beobachte diese Seifenblasen. Ich betrachte die Gedanken. Ich filtere dabei heraus, welche Gedanken gut für mich sind und mich zu dem Menschen machen, der ich sein möchte. Ebenso filtere ich die Gedanken heraus, die nicht zu mir passen. Diese Seifenblasen lasse ich einfach zerplatzen. Zusätzlich versuche ich viele kleine Seifenblasen zu größeren Seifenblasen zusammenzufassen. Ich überlege mir, welche Gedanken zusammenpassen und welche mich zu einem gemeinsamen Ziel führen. Diese wenigen großen Seifenblasen sind wesentlich einfacher zu verfolgen, als die viel zu vielen kleinen Seifenblasen. Und wenn ich mit der Meditation fertig bin, notiere ich mir diese großen Seifenblasen. So vergesse ich nichts Wichtiges und mein Kopf ist danach frei von Ballast. So kann ich mich danach vollends auf den neu startenden Tag konzentrieren.«

»Interessant«, sagte ich. »Den Tick mit dem Notizbuch haben wohl beide«, dachte ich bei mir. »Du hast von verschiedenen Optionen gesprochen, was machst du noch gerne, um in den Tag zu starten?« »Kiri ist ein wahres Sportass«, sagte Tata mit einem breiten Grinsen. »Gegen sie hab ich in den meisten Sportarten nicht den Hauch einer Chance.«

»Ganz so ist es auch nicht, aber ich gehe in der Tat gerne morgens schwimmen. Ich liebe die morgendliche Ruhe und das Gefühl, dass die ganze Insel noch schläft, während ich schon auf den Beinen bin. Sport hat für mich einen ähnlich meditativen Charakter wie Meditation selbst. Der zusätzliche Vorteil von Sport ist, dass sich danach nicht nur mein Kopf, sondern auch mein Körper besser fühlt. Körper und Geist bilden eine wichtige Symbiose, die es beide zu pflegen gilt«, erzählte Kiri.

Wenn ich sie so im Detail betrachtete, konnte ich ihr nur zustimmen. Sie war nicht nur geistig voll auf der Höhe, sondern man sah ihrem Körper auch an, dass sie sich gut um ihn kümmerte. »War es für dich nicht schwer, regelmäßig eine Stunde früher aufzustehen, während alle anderen noch friedlich in ihren Betten schlummerten?«, wollte ich wissen.

»Oh ja, am Anfang war das wirklich eine Qual. Aber obwohl es anfangs eine Herausforderung war, mein inneres Stachelschwein zu überwinden, merkte ich doch schnell, wie viel besser ich mich dadurch fühlte. Ich kam zurück zu meiner Familie in der Gewissheit, heute schon etwas nur für mich getan zu haben. Dadurch hatte ich viel mehr innere Ruhe und Geduld, ich war ausgeglichener und ließ mich nur noch sehr selten aus der Fassung bringen. Nach gut einem Monat war mir das so in meine tägliche Routine übergegangen, dass ich es nicht mehr in Frage stellte, warum ich so früh aufstand«, sagte Kiri.

»Inneres Stachelschwein?«, fragte ich. »Wenn ich mich recht entsinne, hat ein früherer Besucher erzählt, dass es in eurer Welt innerer Schweinehund genannt wird«, erzählte Kiri. »Da es bei uns auf der Insel so ein Tier allerdings nicht gibt, haben wir einen anderen Begriff. Gemeint ist allerdings dasselbe damit: Nicht genug Willensstärke zu besitzen, das zu tun, von dem du genau weißt, dass es das Richtige ist.«

Der Begriff gefiel mir auf Anhieb. »War es für dich leicht, eine ganze Stunde des Tages für dich selbst herzunehmen?«, wollte ich wissen. »Anfangs hatte ich ein seltsames Gefühl, eine komplette Stunde des Tages nur für mich selbst zu nutzen. Ich kam mir egoistisch dabei vor. Immerhin hatte ich zwei Kinder und einen Ehemann. Mit der Zeit wurde mir aber bewusst, dass ich durch diese eine Stunde für mich, sowohl zu einer besseren Mutter, als auch zu einer besseren Ehefrau wurde.«

Ich holte mein Notizbuch hervor und fing an zu schreiben. Als nächstes kamen Ninni und Lui auf uns zugerannt. Beide tropfnass vom Meer und mit einem breiten Lachen im Gesicht. »Wer hat Hunger?«, fragte Tata seine Familie.

7

Fünf Minuten später saßen wir alle gemeinsam am Strand mit einem leckeren Frühstück. Es gab frisch gepflückte Bananen, Papayas, Ananas und Kiri bereitete dünne Fladen zu, die mich sehr an Pancakes erinnerten und genauso köstlich schmeckten. Dazu gab es frisches Wasser und einen aus Kräutern zubereiteten Tee. Obwohl ich bereits gestern Abend einen Riesenberg an Köstlichkeiten verdrückt hatte, meldete sich mein Magen schon wieder lautstark zu Wort und ich langte kräftig zu.

»Was habt ihr am Strand gespielt, Jungs?«, fragte Tata seine beiden Söhne. Ninni hatte sich so viel von den Fladen auf einmal in den Mund gestopft, dass er nicht antworten konnte, auch wenn er es natürlich trotzdem versuchte. Da man kein Wort verstehen konnte, übernahm Lui für ihn: »Wir haben eine Sandburg gebaut, Papa!« »Mit Burgtürmen! Und Bananenbaumblätter waren die Drachen, die die Burg angegriffen haben!«, ergänzte Ninni euphorisch, nachdem er endlich wieder sprechen konnte. »Wahnsinn!«, staunte Tata und Ninni und Lui freuten sich über das Interesse von ihrem Papa.

»Worüber habt ihr beide euch am Strand unterhalten?«, fragte Kiri. »Matt hat mir von seinen Morgenroutinen erzählt«, sagte Tata. »Routinen würde ich sie nicht gerne nennen«, gab ich kleinlaut zu. »Sie haben sich mehr oder weniger einfach so in mein Leben geschlichen.« »Das passiert mit den meisten Gewohnheiten«, beruhigte mich Kiri. »Es liegt allerdings an uns, zu unterscheiden, welche Gewohnheiten uns guttun und welche nicht. Wir haben die Kraft in uns, schlechte Gewohnheiten durch neue, für uns bessere, Routinen zu ersetzen.«

»Wie schafft man das?«, fragte ich neugierig. »Der erste Schritt ist das Erkennen der Gewohnheit, die wir nicht mehr in unserem Leben haben wollen«, sagte Kiri. »Der zweite Schritt ist das Herausfinden, durch welche bessere Routine wir die jetzige Gewohnheit ersetzen möchten. Der dritte Schritt ist die Überwindung des inneren Stachelschweins.«

Ich musste lachen, da mir diese Formulierung wirklich viel besser gefiel, als der bei uns gebräuchliche Begriff des inneren Schweinehunds. »Hast du eine Gewohnheit, die du gerne loswerden würdest?«, fragte Kiri. Ich brauchte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde nachdenken: »Mein Morgen bereitet mich nicht wirklich gut auf den neuen Tag vor. Ich würde gerne energiegeladen und erholt in den Tag starten, genau wie du«, sagte ich. Dann wiederholte ich meine morgendlichen Gewohnheiten, wie ich sie Tata bereits am Strand erzählt hatte.

»Hast du manchmal das Gefühl, dass du den ganzen Tag nicht eine Sache für dich getan hast, sondern nur für andere?«, fragte mich Kiri. »Ja, das kommt ständig vor. Ich nehme mir jeden dritten Tag vor, nach Feierabend noch zum Sport zu gehen. Wenn sich mein Feierabend dann aber weiter und weiter nach hinten verschiebt, fehlt mir oft die Motivation dazu und ich lande doch daheim vor dem Fernseher«, antwortete ich. »Ich hätte da eine Idee, wie du deinem Tag eine Stunde voraus sein kannst«, sagte Kiri und grinste breit. »Kommst du von selbst darauf?«

»Ich soll also jeden Tag eine Stunde früher aufstehen und für mich selbst nutzen, genau wie du es tust?«, fragte ich. »Indem du deinen Morgen nur für dich und für niemanden anderen nutzt, kannst du sowohl entspannt in den Tag starten, als auch bereits das Gefühl genießen, etwas nur für dich getan zu haben. Nachdem du die erste Stunde des Tages ganz für dich hergenommen hast, kannst du immer noch Nachrichten lesen, oder was du früher getan hast - wenn du das für sinnvoll erachtest und es dein Energieniveau erhöht. Diese eine Stunde der vollständigen Ruhe und des Nichtvorhandenseins von äußeren Einflüssen, auf die du reagieren musst, wird dich zu einem völlig neuen Menschen machen.«

»Aber ich brauche meinen Schlaf, sonst bin ich ungenießbar«, sagte ich. »Was genau machst du an deinen Abenden?«, wollte Kiri wissen und zog eine Augenbraue nach oben. »Ich esse und dann leg ich mich auf die Couch und sehe fern, so wie alle das machen«, antwortete ich. »Und wäre es dir möglich, deine Fernsehzeit um eine Stunde zu kürzen, damit du eine Stunde früher ins Bett könntest?«, bohrte Kiri weiter an einer Stelle, die mir unangenehm war. Denn ich wusste ja selbst, dass ich meine Abende nicht sinnvoll nutzte. »Ja, das sollte klappen. Ich benutze Fernsehen um abzuschalten, was leider auch nicht wirklich gut funktioniert«, antwortete ich.

»Dann probier es doch einfach einmal aus«, sagte Kiri. Ich ließ diese Worte auf mich wirken und machte mir Notizen in mein Notizbuch.

8

Es war früher Nachmittag, als mich Tata erstmals mit zum Fischen nahm. Tata hatte ein Kanu, das groß genug für uns beide war. Es war wirklich ein Meisterwerk der Handwerkskunst und sah aus, als wäre es aus nur einem einzigen Stück Holz geschnitzt worden. Wir packten die Netze ins Boot und luden genügend Proviant ein, um nicht auf hoher See verhungern zu müssen und fuhren hinaus aufs Meer.

»Was ist es, was dich am Fischen fasziniert?«, fragte ich meinen Gastgeber. »Ich liebe das Meer«, antwortete Tata. »Und ich liebe Fisch. Ich habe mich dafür entschieden, diese beiden Interessen zu verbinden.« Wenn ich mir das türkis schimmernde Meer und die einmalige Kulisse dieses Inselparadieses so ansah, konnte ich Tata vollkommen verstehen.

»Was machst du mit deiner Zeit, was fasziniert dich im Leben?«, fragte mich Tata. Die Art und Weise, wie er diese beiden Fragen im Zusammenhang stellte, beunruhigte mich, dabei klang diese Verbindung so einleuchtend. »Um Geld zu verdienen, arbeite ich in einem großen Unternehmen als Manager. Ich sitze in Meetings und treffe strategische Entscheidungen - kurz gesagt, ich halte den Laden am Laufen. Leider sitze ich dafür den ganzen Tag im Büro. Ich kann nicht behaupten, dass meine Arbeit das ist, was mich im Leben fasziniert. Schon mit der Wahl meines Studiums habe ich mich für diesen Karrierepfad entschieden, weil man in diesem Bereich viel Geld verdienen kann.«

»Macht dir deine Arbeit Spaß?«, fragte Tata, als er gerade ein Netz auswarf und dabei eine Glückseligkeit ausstrahlte, die mir zeigte, dass er seinen Beruf liebte. »Manchmal ja, oft nein. Ich würde sagen, es ist okay, da ich viel Geld damit verdiene«, antwortete ich.

»Wofür verwendest du dein Geld?«, wollte Tata wissen. »Es gibt die essenziellen, lebensnotwendigen Dinge wie Nahrung oder auch ein Dach über dem Kopf. Dann etwas zum Anziehen und damit sind die wirklich notwendigen Dinge auch schon genannt. Viel meines monatlichen Verdienstes fließt auch in mein neues Auto, das ich mir gerade erst gekauft habe«, sagte ich.

»Du erfreust dich also an Autos?«, wollte Tata wissen und strahlte mich an. »Nein, nicht wirklich. Ein Auto ist für mich genauso gut wie jedes andere. Allerdings erwartet man von einem Mann in meiner Position, dass ich ein bestimmtes Modell einer bestimmten Automarke besitze. Jetzt habe ich zwei davon«, antwortete ich. »Wer erwartet das von dir?«, bohrte Tata nach. »Die Gesellschaft, die Norm, Freunde und Bekannte - kurz gesagt: Jeder«, gab ich etwas eingeschnappt als Antwort auf diese kinderleicht zu beantwortende Frage zurück.

»Und macht es diese Gesellschaft, Freunde und Bekannte glücklich, dass du ein Auto nach ihren Vorstellungen besitzt?«, fragte Tata. »Ich würde sagen: Ja«, antwortete ich. »Und dich selbst?«, fragte Tata. »Nein«, antwortete ich. »Findest du es nicht beunruhigend, dass du das Glück der anderen über dein eigenes Glück stellst?«, wollte Tata wissen.

Von dieser Warte aus hatte ich mein Leben noch gar nicht betrachtet. Ich war so in den starren Vorstellungen verankert, dass man diese Dinge in meiner Position eben besitzt, ganz ohne es jemals zu hinterfragen. So lief es eben einfach im Leben, was sollte ich schon groß daran ändern? Ich war dadurch Mitglied eines exklusiven Clubs geworden. Nur wollte ich wirklich zu diesem Club gehören? Oder interessierte es mich im tiefsten Inneren überhaupt nicht? »Vielleicht kann mir Tata ja weiterhelfen«, dachte ich. »Ich fühle mich damit zugehörig zu einem Club«, sagte ich. »Ich will einfach nicht ausgegrenzt werden.«

Tata nickte verständnisvoll. »Denkst du wirklich, dass dich deine Freunde ausgrenzen würden, nur weil du eben nicht ein bestimmtes Auto einer bestimmten Marke fahren würdest?«, fragte Tata. »Wenn sie tatsächlich meine Freunde sind, nein«, gestand ich. »Nur zu welchem Club sollte ich mich dann zugehörig fühlen?« »Willst du wissen, zu welchen Clubs ich gehöre?«, fragte Tata. »Unbedingt«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

»Ich bin Mitglied zweier ganz exklusiver Clubs. Im ersten Club gibt es sogar nur ein Mitglied: Mich. Es ist mein eigener Club. Hier kommt es mir darauf an, dass ich mir selbst treu bin. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, bin ich dann der Mensch, der ich sein möchte? Diese Frage muss ich für mich unbedingt mit ja beantworten, ansonsten fühle ich mich in meiner Haut nicht wohl. Der zweite Club umfasst ein paar mehr Mitglieder, wir sind insgesamt zu viert. Das ist der Club meiner Familie, der engste Kreis. Ich interessiere mich sehr dafür, dass es allen Mitgliedern meiner Familie gutgeht. Und ich lasse sie an allen wichtigen Entscheidungen teilhaben, die uns betreffen. Weitere Clubs sind für mich nicht relevant«, erzählte Tata.

Wir betrachteten das Meer und ließen uns von unserem Boot sanft über die Wellen schaukeln und genossen das einmalige Panorama schweigend. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte mich Tata nach einer Weile. »Sehr gern, wovon handelt sie?«, wollte ich wissen. Und Tata erzählte mir die Geschichte von dem Mann, den seine Freunde nicht mehr erkannten:

 

Es gab einmal einen Mann, der einem sehr geregelten Tagesablauf nachging. Die Dinge, die er tat, tat er jeden Tag, ohne sie jemals in Frage zu stellen. Er frühstückte jeden Morgen dasselbe, dann ging er ins Bad, putzte sich immer exakt genauso lange die Zähne, bevor er exakt zur selben Zeit zur Arbeit ging. An jedem Freitag traf er exakt dieselben Leute in exakt derselben Bar. Er unterhielt sich jeden Morgen mit exakt demselben Nachbarn, der exakt denselben Weg zur Arbeit hatte wie er.

Doch als dieser Mann eines Morgens erwachte, war irgendetwas anders. Es war nur so ein Gefühl, das er nicht exakt benennen konnte. Ein mulmiges Gefühl, dass heute nicht alles exakt so laufen würde, wie es all die Tage zuvor gelaufen war. Dieses Gefühl, diese Ungewissheit machte ihm Angst. Er frühstückte mit einem mulmigen Gefühl, putzte sich die Zähne mit einem mulmigen Gefühl und ging aus dem Haus mit einem mulmigen Gefühl. Als er dann, wie jeden Morgen, seinen Nachbarn begrüßte und ihn fragte, ob sie gemeinsam zur Arbeit gehen wollten, geschah es: Sein Nachbar antwortete nicht wie all die Tage zuvor »Sehr gern!«, sondern sah ihn nur verständnislos an und fragte: »Wer sind Sie?«

Der Mann aber dachte, dass sich sein Nachbar nur über ihn lustig machen wollte und versuchte es weiter: »Du kennst mich, ich bin dein Nachbar. Wir laufen jeden Tag zusammen zur Arbeit.« Der Nachbar aber antwortete: »Ich laufe schon immer allein zur Arbeit und Sie habe ich hier noch nie gesehen.« Der Mann fühlte sich immer noch auf den Arm genommen, sah aber ein, dass er mit seinem Nachbarn nicht weiterkam und lief somit erstmalig allein zur Arbeit. Aus Trotz auf der gegenüberliegenden Straßenseite als sein Nachbar, aber dennoch gingen beide exakt dieselbe Strecke.

Auf seiner Arbeit wurde es auch nicht besser. Sein Firmenausweis funktionierte nicht mehr und die freundliche Frau an der Rezeption behauptete, ihn noch nie hier gesehen zu haben. »Aber ich laufe jeden Morgen zu exakt dieser Zeit hier an Ihnen vorbei«, sagte der Mann. Die Rezeptionistin meinte nur, dass sie ihm leider nicht helfen könne.

So ging der Mann also wieder nach Hause und grübelte, wie das sein konnte. Da Freitag war, fasste er den Plan, abends seine Freunde zu fragen. Er drückte sich also den ganzen Tag zu Hause herum, bis es endlich 19 Uhr war und er sich auf den Weg zu exakt derselben Bar machte, die er jede Woche am Freitag aufsuchte. Seine Freunde saßen bereits exakt an dem Tisch, an dem sie immer saßen. Sie lachten und scherzten. Der Mann setzte sich zu ihnen. Auf einmal setzte ein betretenes Schweigen sein. »Was habt ihr denn? Lasst euch von mir nicht in eurer guten Laune stören und redet ruhig weiter«, sagte er zu seinen Freunden. »Entschuldigen Sie, aber wir würden gerne für uns bleiben«, sagte ausgerechnet sein bester Freund aus Kindheitstagen. »Wie meinst du das? Wir treffen uns doch jede Woche hier«, sagt der Mann fassungslos. »Wir kennen Sie nicht, und es wäre sehr nett, wenn Sie uns nun wieder verlassen könnten«, sagte sein bester Freund, der ihn nicht mehr zu erkennen schien.

Traurig und verwirrt ging der Mann nach Hause. »Was ist nur geschehen? Haben sich alle Menschen gegen mich verschworen? Wie kann es nur sein, dass mich niemand mehr erkennt?«, fragte sich der Mann. Der Mann beschloss früh schlafenzugehen, um über diesen Schock hinwegzukommen. Und er träumte von einer neuen Welt, die er komplett für sich entdecken konnte.

Am nächsten Morgen kam ihm eine Idee: »Wenn mich nun niemand mehr kennt, kann ich mich verhalten, wie ich möchte. Keiner stellt Anforderungen an mich, keiner kennt mich, keiner urteilt über mich.« Und so frühstückte der Mann erstmalig in seinem Leben nicht das, was er immer aß, sondern was er wollte. Er gestaltete seinen Tag, so wie er wollte. Er war zum ersten Mal in seinem Leben frei. Den darauffolgenden Sonntag nutzte er genauso nur für sich selbst und gestaltete ihn ganz frei nach seinen Wünschen.

Nach diesen ersten beiden Tagen in seinem neuen Leben, ging er wieder zu Bett und erwachte früh morgens. Wieder frühstückte er was er wollte und machte sich nach dem Zähneputzen auf den Weg. Er wollte gerade alleine zu seiner Arbeit laufen, als ihn eine bekannte Stimme ansprach: »Hallo Nachbar. Wo warst du denn letzte Woche Freitag? Ich musste ganz alleine zur Arbeit laufen und habe mir schon Sorgen um dich gemacht«, sagte sein Nachbar. »Seltsam, nun erkennt er mich also doch wieder«, dachte sich der Mann. Auch auf Arbeit funktionierte sein Firmenausweis wieder tadellos, wenn ihn auch sein Chef auf sein unentschuldigtes Fehlen letzten Freitag ansprach. Die Rezeptionistin stritt vehement ab, ihn an diesem Tag auch nur gesehen zu haben. Auch seine Freunde erkannten ihn wieder am nächsten Freitagabend.

Es war also alles wie immer, bis auf eine entscheidende Kleinigkeit: Von diesem Tag an, hatte sich der Mann von den Erwartungen der anderen Menschen gelöst. Die Zeit, in der er von niemanden erkannt wurde, hatte ihm die Augen geöffnet, dass nur er allein sein Leben gestaltet. Niemand wendete sich von ihm ab, nur weil er jetzt aß, was er wollte. Niemand urteilte über ihn, weil er jetzt tat, was er wollte.

Die Erwartungen seiner Freunde an ihn existierten nur in seinem Kopf.

 

»Diese Geschichte hat mir einmal ein Besucher aus deiner Welt erzählt«, sagte Tata. »Und mir gefällt sie so gut, dass ich sie jetzt immer weitererzähle. Verstehst du, was die Geschichte uns lehren will?« »Dass die Erwartungshaltungen anderer Menschen nur eine Vorstellung von uns selbst sind und in Wahrheit gar nicht existieren?«, fragte ich.

»Exakt. Wir machen uns viel zu viele Gedanken, was andere wohl über uns denken oder von uns halten. Dabei denken die meisten Menschen sehr wenig über andere nach, da sie Vollzeit mit sich selbst beschäftigt sind.«

Ich zückte mein Notizbuch und fing an zu schreiben.

9

»Kommen wir zurück zu meiner vorherigen Frage, ich formuliere sie ein wenig um«, sagte Tata. »Gibt es etwas, das dich im Leben schon immer fasziniert hat? Zum Beispiel aus deiner Kindheit, was du vielleicht aus den Augen verloren hast?« Ich dachte angestrengt nach. Gab es da nicht mal etwas, das ich als Kind geliebt hatte aber aus irgendwelchen Gründen aus den Augen verloren habe?

In der Tat, da war etwas: »Als Kind hatte mir mein Vater zu meinem 12. Geburtstag eine Kamera geschenkt. Sie war mein größter Schatz. Ich liebte es, die Natur zu fotografieren. Überall, wo ich hinging, hatte ich meine Kamera dabei. Mein Vater hat dann immer die Bilder für mich entwickeln lassen und ich habe mir daraus ein Album nach dem anderen gebastelt, das ich stolz jedem Besucher gezeigt habe.«

»Das klingt toll. Was ist aus dieser Leidenschaft geworden?«, fragte Tata. »Viele Jahre lang habe ich in meiner Jugend begeistert fotografiert. Dann kam nach der Schule mein Studium und ab da war ich so sehr auf die Uni und auf meinen späteren Beruf fixiert, dass ich nie wieder eine Kamera angefasst habe«, antwortete ich und wurde tatsächlich ein wenig sentimental. »Das ist sehr schade«, sagte Tata. »Es fühlt sich so an, als wäre das bereits ein anderes Leben«, sagte ich.

»Hast du dir schon Gedanken gemacht, was du einmal in deinem Ruhestand machen möchtest?«, fragte mich Tata. »Und ob«, sagte ich und meine Augen begannen zu strahlen. »Wenn ich endlich in Rente bin, möchte ich die Welt bereisen. Es gibt so viele spannende Orte, die ich alle sehen möchte, nur leider langt mir aktuell meine Zeit nicht dafür. Ich sammle bereits jetzt schon Länder und Orte, die mich interessieren.«

»Wenn du davon erzählst, bemerke ich ein Feuer in dir, das ich so noch nicht bei dir gesehen habe«, merkte Tata an. »Reisen sind das, auf was ich am meisten hinfiebere, sobald ich nicht mehr arbeiten muss«, sagte ich. »Wäre es nicht deutlich besser, wenn du bereits heute deine Träume leben würdest, als nur auf eine ferne Zukunft hinzufiebern?«, fragte mich Tata.

Ich stutzte. »Wie soll das funktionieren?«, fragte ich. »Bei uns auf der Insel gibt es ein Sprichwort: Immer wenn du nicht weißt, wie etwas geht, such dir einen Lehrer, der es dir zeigt«, sagte Tata. »Einen Lehrer. Das erinnert mich ja direkt an meine Schulzeit«, sagte ich lachend. »Bei uns ist es ganz normal, dass wir unser ganzes Leben lang Menschen in unserem Leben haben, die uns Dinge lehren, deswegen nennen wir sie die Lehrer des Lebens«, sagte Tata. »Aber weswegen ich dir das erzähle: Kennst du jemanden, der bereits das macht, was du gerne tun würdest?«

»In der Tat gibt es da einen Abenteurer, den ich noch von meiner Studienzeit kenne. Er bereist die Welt, war schon in den entferntesten Ecken und scheint dabei sehr glücklich zu sein«, sagte ich. »Wie wäre es damit, wenn du ihn zu deinem Lehrer machst?«, fragte mich Tata. »Wie mach ich das?«, wollte ich wissen. »Frag ihn einfach. Frag ihn, wie er es macht, dass er die Welt bereisen kann, ohne erst auf seinen Ruhestand warten zu müssen. Frag ihn, ob er dir Tipps für deine Reise geben kann. So lernst du schnell, ob das der richtige Weg für dich ist, oder ob du noch weitersuchen musst«, sagte Tata.

Ich zückte mein Notizbuch und fing an zu schreiben.

10

Am nächsten Tag machten wir uns bereits früh auf, da Tata mir die Insel zeigen wollte. Am frühen Morgen war es angenehm kühl und ideal für eine Wanderung. Wir packten unsere Rucksäcke voller Proviant und machten uns auf in den Dschungel. »Du hast erwähnt, dass du findest, dass wir hier im Paradies wohnen«, sagte Tata, als wir zusammen die Insel erkundeten. »Wo wohnst du?«

»Ich wohne in Miami. Dort wollte ich seit meinen Studienzeiten schon immer wohnen und jeden Tag an den Strand gehen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Und, ist es dort nicht auch paradiesisch, wenn du jeden Tag am Strand bist?«, fragte Tata. »Meinen Traum vom Strand habe ich bis zum heutigen Tag fast vollkommen aus den Augen verloren. Wie ich frisch nach Miami gezogen war, hat mich der Strand noch magisch angezogen. Egal, wie viel Zeit ich noch am Tag übrig hatte, ich war jeden Tag am Strand, und wenn es nur fünf Minuten waren. Nach einer gewissen Zeit war ich nur noch einmal pro Woche am Strand. Dann einmal im Monat. Im letzten Jahr kann ich mich gar nicht erinnern, am Strand gewesen zu sein. Ich habe meinen ursprünglichen Traum, warum ich nach Miami gezogen bin, vollkommen aus den Augen verloren«, sagte ich.

»Ist dieser Traum von damals immer noch dein Traum von heute?«, wollte Tata wissen. »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Ist dir dein Traum von früher, heute immer noch genauso wichtig wie damals?«, wiederholte Tata seine Frage mit anderen Worten. »Ja, ich wäre immer noch gerne jeden Tag am Strand, leider komme ich vor lauter Arbeit nicht dazu«, antwortete ich. »Dir ist deine Arbeit also wichtiger, als dein Traum vom Strand?«, wollte Tata wissen. »Nein, das ist es nicht. Allerdings bin ich beruflich so stark eingespannt, dass ich nach einem langen Arbeitstag keine Energie mehr habe, um noch an den Strand zu gehen«, gab ich zu. »Jeder Mensch hat pro Tag nur ein gewisses Maß an Energie«, bestätigte Tata. »Wofür er diese Energie verwendet, ist allein ihm überlassen. Allerdings gibt es Tätigkeiten, die dein Energielevel erhöhen und es gibt Tätigkeiten, die dein Energielevel verringern. Manche Beschäftigungen - oder auch zu viel von einer Beschäftigung - können dein Energielevel sogar drastisch verringern.«

Wir liefen bereits seit mindestens einer Stunde bergiges Gelände hinauf und hinunter und ich fühlte mich kein Stück energieloser als vorher. Eher im Gegenteil: Durch die Bewegung, die frische Luft und das interessante Gespräch mit Tata, fühlte ich mich lebendiger als je zuvor. »Bist du der Ansicht, dass dein Leben im Gleichgewicht ist, Matt?«, fragte mich Tata. Leben im Gleichgewicht, manchmal hatte Tata schon seltsame Ideen. »Wie genau funktioniert das, wie kann ein Leben im Gleichgewicht sein?«, fragte ich zurück. »Jeder Mensch hat verschiedene Säulen, auf denen sein Leben thront«, sagte Tata. »Das können vier Säulen sein, fünf, zehn oder auch noch mehr. Was aber alle gemeinsam haben: Wenn sich deine Säulen deutlich in der Höhe unterscheiden, steht der Thron deines Lebens wackelig. Für den Fall, dass dann eine Säule wegbricht, können die anderen Säulen den Sturz des Throns nicht verhindern. Wenn allerdings alle Säulen auf einem annähernd gleich hohen Niveau sind, können die anderen Säulen den Wegfall einer Säule kompensieren.«

»Interessante Denkweise«, sagte ich. »Und was sind die Säulen deines Lebens?« »Ich habe für mich herausgefunden, dass mein Leben auf vier Säulen steht«, erzählte Tata. »Da ist zum einen meine Frau, das Licht meines Lebens. Sie steht für die Liebe und den liebevollen Umgang mit allen Menschen im Leben. Die zweite Säule sind unsere Kinder. Ich bezeichne sie immer als die Sonnen meines Lebens. Hier geht es mir darum, sie für das Leben zu wappnen und auch darum, die Welt zu einer besseren Welt werden zu lassen, da es die Welt unserer Kinder ist, die wir ihnen hinterlassen. Säule Nummer drei ist bei mir das Fischen. Allgemein geht es hier ums Produktivsein, du kannst es auch Arbeit oder Berufung nennen. Ich bin ein Mensch, der eine Tätigkeit braucht. Ich könnte nicht den ganzen Tag faul am Strand liegen. Das kann ich mal einen halben Tag lang machen, nachdem ich eine ganze Woche hart geackert habe. Aber ich brauche im Leben eine Beschäftigung. Ich möchte etwas erschaffen. Die vierte Säule ist meine Entwicklung. Mir ist es sehr wichtig, mich und meine Persönlichkeit weiterzuentwickeln.«

»Bist du denn nicht zufrieden mit dir selbst?«, fragte ich. »Doch, ich bin der Ansicht, dass ich auf einem guten Weg bin. Ich bin mit meiner heutigen Version ganz zufrieden, ich mag mich. Gleichzeitig möchte ich mich jeden Tag ein klitzekleines Stück weiterentwickeln. Von heute auf morgen macht das keinen gravierenden Unterschied. Auch nicht von heute auf nächste Woche. Wenn ich mich aber jeden Tag noch ein bisschen verbessere, werde ich über die Monate und Jahre hinweg immer mehr zu dem Ideal von Mensch, das ich anstrebe.«

»Interessanter Aspekt. Und wie stellst du das an?«, wollte ich wissen. »Ich schreibe mir für jeden Tag auf, was ich mehr tun möchte in meinem Leben und was ich weniger tun möchte. Das mache ich am Abend vor jedem neuen Tag. Am Ende von jedem Tag überprüfe ich dann, wie gut es heute mit der Umsetzung geklappt hat, und ob ich gegebenenfalls meinen Kurs an der ein oder anderen Stelle noch ein wenig korrigieren muss.«

Ich zückte mein Notizbuch und fing an zu schreiben.

 

»Es gibt noch eine gute Nachricht für dich, Matt«, sagte Tata geheimnisvoll. »Ich liebe gute Nachrichten, dann mal raus damit«, sagte ich voller Vorfreude. »Du selbst hast es in der Hand, dein Leben zu ändern. Zu jeder Zeit kannst du dein Boot in eine neue Richtung ausrichten. Deine Vergangenheit hat dich am heutigen Tag dahin gebracht, wo du gerade bist. Wohin es weitergeht, kannst du zu jedem Zeitpunkt frei entscheiden - ebenso welcher Mensch du sein willst«, sagte Tata.

»Du willst mir also sagen, dass ich mich an jedem Tag neu erfinden kann? Heute kann ich dies sein und morgen das?«, fragte ich ungläubig. »Exakt, du hast alles in dir, um das zu sein, was du willst«, sagte Tata. »Und was ist mit meiner Familie und meinen Freunden? Sie kennen und mögen mich so, wie ich heute bin«, sagte ich. »Soll ich dir die Geschichte von dem Mann, den seine Freunde nicht mehr erkannten noch einmal erzählen? Glaubst du wirklich, dass dich deine Familie und deine Freunde weniger mögen würden, wenn du so wärst, wie du schon immer sein wolltest?«, fragte Tata. »Nein, eigentlich nicht,« antwortete ich kopfschüttelnd. »Wer wirklich mein Freund ist, soll mich so akzeptieren, wie ich bin.« »Und würdest du dich selbst nicht viel mehr mögen, wenn du so wärst, wie du immer sein wolltest?«, fragte Tata. »Absolut!«, bestätigte ich.

»Wir kennen dich seit ein paar Tagen, Matt«, sagte Tata. »In diesen Tagen haben wir dich als den Menschen kennengelernt, mit dessen Werten du dich heute identifizierst. Wir kennen deine Vergangenheit nicht. Sie spielt für uns auch keine Rolle. Deshalb richte den Blick nach vorne und definiere für dich die Punkte, die für dich wichtig im Leben sind - und lebe danach. Du hast jeden Tag die freie Entscheidung, dich zu ändern. Wenn du einmal im Leben falsch abgebogen bist, kannst du zu jeder Zeit wieder vom falschen Weg auf den richtigen zurückkommen.«

Auch das hielt ich in meinem Notizbuch fest.

11

Abends saßen wir gemütlich vor der Hütte meiner sehr fürsorglichen Gastfamilie und betrachteten den Sonnenuntergang. Das Rot der untergehenden Sonne spiegelte sich auf dem fast völlig reglosen Meer. Es war ein zauberhafter Anblick. So unglaublich schön, dass ich mir zu Hause gerne ein Bild davon an meine Wand hängen würde, da man es mit Worten kaum beschreiben konnte.

Kiri riss mich aus meinem Tagtraum. »Hast du einen ganz besonderen Menschen in deinem Leben?«, fragte sie mich frei heraus. Das war für mich ein eher unangenehmes Thema, über das ich mich nicht so gerne unterhielt. Da ich aber das Gefühl hatte, dass Kiri und Tata mir weiterhelfen wollten - und auch konnten -, beschloss ich eine Ausnahme zu machen und trotzdem darüber zu reden. »Wenn du damit fragen willst, ob ich die Liebe meines Lebens bereits gefunden habe, lautet die Antwort leider nein«, sagte ich.

»Und hast du Pläne, dies in absehbarer Zeit zu ändern?«, fragte Kiri weiter. »Absolute Priorität hatte bei mir immer die Arbeit. Ich wollte erst ausgesorgt haben, bevor ich mich um Familie und Kinder bemühe«, sagte ich. »Was meinst du mit ausgesorgt?«, fragte mich Kiri. »Ich wollte genügend Geld auf der Bank haben, dass ich gut für meine Familie sorgen kann. Dass wir in einem schönen Haus wohnen, in den Urlaub fliegen können und es uns an nichts fehlt«, zählte ich auf. »Fehlt es dir durch diese Herangehensweise aktuell an etwas im Leben?«, fragte Kiri.

Sie war gut, verdammt gut. »Mir fehlt ein Lebenspartner. Ein Mensch, mit dem ich mein Leben teilen kann. Mit dem ich abends zusammen einschlafe und neben dem ich morgens aufwache. Mit dem ich mich zusammen auf unsere Kinder freuen kann«, erzählte ich.

»Wann denkst du, dass der Zeitpunkt in deinem Leben gekommen ist, dass du die Priorität deines Lebens auf diesen Aspekt lenken solltest?«, wollte Kiri wissen. »Ich hatte immer auf die nächste Beförderung hingearbeitet. Für mich war diese eine nächste Beförderung wie der Gipfel, den ich bezwingen musste, damit ich endlich das Leben leben konnte, das ich immer leben wollte. Nur noch diese eine Beförderung, dann mache ich mich auf die Suche nach meinem Lebenspartner. Nur noch diese eine Beförderung, dann verdiene ich genügend Geld, dass ich die Welt bereisen kann. Leider war das nur eine Illusion. Nach der ersten Beförderung legte ich meinen Fokus wieder auf die nächste Beförderung, die ich anpeilte. Ich nahm mir nicht mehr Zeit für mich oder für meine Suche nach der Liebe meines Lebens. Ich bin immer noch gefangen im Hamsterrad und komme da nicht raus«, sagte ich.

»Was denkst du, wie du diesem Hamsterrad entfliehen kannst?«, wollte Kiri wissen. »Ich muss nur diesen einen Menschen kennenlernen, der mein Seelenpartner ist. Die Frau, mit der ich mein Leben teilen möchte«, sagte ich. »Bist du bereit, diesen Menschen in dein Leben zu lassen?«, fragte Kiri weiter. »Hast du Vorkehrungen getroffen, dass sich dieser Mensch in deinem Leben auch wohlfühlen kann?« »Ich spare bereits Geld, meinst du das damit?«, wollte ich wissen.

»Es handelt sich dabei nicht um materielle Dinge, die du zur Vorbereitung anhäufen musst. Es handelt sich dabei auch nicht um ein Zimmer, das du vorbereiten und herrichten musst. Es handelt sich dabei um einen Platz in deinem Leben, den du freihalten musst. Zeit, die du bereit bist mit diesem Menschen zu verbringen. Hast du aktuell in deinem Leben diese Zeit, die du der Liebe deines Lebens widmen könntest?«, fragte Kiri.