Der Traumpalast - Peter Prange - E-Book
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Der Traumpalast E-Book

Peter Prange

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Beschreibung

Großes Kino - Die Roaring Twenties im Spiegel der Ufa-Traumfabrik: der große Zeitgeschichte-Roman nach dem Erfolg von »Eine Familie in Deutschland« von Bestsellerautor Peter Prange. Berlin, Anfang der zwanziger Jahre: Ein neues Lebensgefühl bricht sich Bahn - Freiheit! Es ist die Vision von glanzvollen Stars, spektakulären Großfilmen und glitzernden Kinopalästen, die Tino, Bankier und Lebemann, an der gerade gegründeten Ufa begeistert. Er riskiert alles, um mit der deutschen Traumfabrik Hollywood Paroli zu bieten. Rahel will als Journalistin Wege gehen, die Frauen bisher verschlossen waren. Als die zwei einander begegnen, ahnen sie nicht, welche Wende ihr Leben dadurch nimmt. Denn bald stellt sich ihnen die alles entscheidende Frage: Wie weit darf Freiheit gehen? In der Politik, in der Kunst – und in der Liebe. Bestsellerautor Peter Prange ("Unsere wunderbaren Jahre") ist der große Erzähler der deutschen Geschichte. Mit seinem Roman über die Ufa-Traumfabrik lässt er das Berlin der zwanziger Jahre in faszinierenden Bildern wieder auferstehen.

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Seitenzahl: 1174

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Peter Prange

Der Traumpalast

Im Bann der Bilder

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Ufa ist ein Mythos, Deutschlands Antwort auf Hollywood, die legendäre Traumfabrik, die im Berlin der zwanziger Jahre einen neuen Menschen hervorbringt: den Filmstar. Am Tag ihrer Gründung begegnen sich Tino und Rahel. Beginnt damit der Film ihres Lebens? Während Tino als Finanzdirektor den kometenhaften Aufstieg der Ufa vorantreibt, bietet sich Rahel – unabhängig von ihm – die unverhoffte Chance auf eine Karriere als Filmschauspielerin. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Erich Pommer, dem Produzenten von Filmen wie »Dr. Caligari«, »Metropolis« oder »Der Blaue Engel«, wirken sie mit an der Entwicklung der bedeutendsten Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts. Die »Flimmeritis« wird zur Droge für Millionen von Menschen, die täglich in die Kinos strömen. Für Rahel und Tino scheint nur noch der Himmel die Grenze zu sein. Aber in einer Welt, die geprägt ist von Umsturz und Inflation, müssen sie erfahren, dass das Leben kein Kinofilm ist und nicht nach vorgegebenen Regieanweisungen verläuft. Um einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden, müssen sie ihr eigenes Drehbuch schreiben ...

 

Der Auftakt des großen Zweiteilers »Der Traumpalast«. Auf »Im Bann der Bilder« folgt im Herbst 2022 der zweite und abschließende Band, »Bilder von Liebe und Macht«.

 

Weitere Titel von Peter Prange:»Unsere wunderbaren Jahre«, »Eine Familie in Deutschland. Zeit zu hoffen, Zeit zu leben«, »Eine Familie in Deutschland. Am Ende die Hoffnung«, »Das Bernstein-Amulett«, »Himmelsdiebe«, »Die Rose der Welt«, »Ich, Maximilian, Kaiser der Welt«, »Die Philosophin«, »Die Principessa«, »Die Gärten der Frauen«, »Die Götter der Dona Gracia«, »Werte: Von Plato bis Pop – alles, was uns verbindet«;Die Website des Autors: www.peterprange.de

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Bestsellerautor Peter Prange ist der große Erzähler der deutschen Geschichte. Als Autor aus Leidenschaft gelingt es ihm, die eigene Begeisterung für seine Themen auf Leser und Zuhörer zu übertragen. Die Gesamtauflage seiner Werke beträgt weit über drei Millionen. ›Der Traumpalast‹ ist sein vierter großer Deutschland-Roman. Die Vorläufer sind Bestseller, etwa sein Roman in zwei Bänden, ›Eine Familie in Deutschland‹. ›Das Bernstein-Amulett‹ wurde erfolgreich verfilmt, der TV-Mehrteiler zu ›Unsere wunderbaren Jahre‹ begeisterte ein Millionenpublikum. Der Autor lebt mit seiner Frau in Tübingen.

Für Dich

 

sowie namentlich

 

Benjamin Benedict

 

Make the best of it!

»Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.«

Exodus 20,4

»Der Film lebt so lange, wie es im Kino dunkel ist.«

Samuel Goldwyn

Vorbemerkung

Die nachfolgende Geschichte ist, obwohl angelehnt an historische Ereignisse, frei erfunden. Rückschlüsse auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit der geschilderten Personen sollen in keiner Weise nahegelegt oder ermöglicht werden. Die einzelnen Handlungsstränge sind ebenso wie die Lebenswege der Protagonisten Erfindungen des Autors. Dies gilt insbesondere für deren Verstrickungen in die Geschichte des Nationalsozialismus und die Schilderung ihrer Privatsphäre. Alle intimen Szenen sowie die Dialoge und die Darstellung der Gefühlswelt des gesamten Romanpersonals sind reine Fiktion.

Erstes BuchIm Bann der Bilder

1917–1924

»Und ist ein Wunder vor unseren Augen …«

Psalm 118,23

PrologDas Virus

1917

1

Ach, was war das Leben doch für eine großartige Erfindung!

Bester Laune verließ Konstantin Reichenbach, dreiunddreißig Jahre jung und von Freunden wie Verwandten nur Tino genannt, seine Sieben-Zimmer-Junggesellen-Wohnung am Gendarmenmarkt und trat hinaus auf die Straße, wo ihn heller Sonnenschein empfing. Mit dem Elfenbeingriff seines Spazierstocks rückte er seinen Strohhut in die Stirn, damit das Feuermal am Haaransatz, ein unschönes Erbe seiner Vorfahren, unter der Krempe verschwand, und nachdem er die champagnerhafte Frühsommerluft mehrere Male in seine Lungen hatte strömen lassen, tauchte er in das Gewusel der hin- und hereilenden Menschen ein, um eins zu werden mit dem pulsierenden Wogen im Herzen Berlins, wo an diesem herrlichen Maienmorgen im Jahre 1917 von dem in Europa wütenden Krieg nicht das Geringste zu spüren war. Das neueste Operettencouplet vor sich hin pfeifend – »Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht« –, zwinkerte er einem hübschen Dienstmädchen zu, warf zwei auf dem Trottoir spielenden Kindern ihren Ball zurück und kläffte aus lauter Übermut eine Katze an, die tatsächlich darauf hereinfiel und sich erschrocken in die Laubkrone eines frisch erblühten Lindenbaums rettete.

Heute, so seine Hoffnung, würde sein Leben endlich wieder in jene erfreulichen Bahnen zurückkehren, die der liebe Gott oder wer auch immer sein Schicksal leitete, seit Anbeginn der Schöpfung für ihn vorgesehen hatte. Zwei Jahre war er an der Front gewesen, zwei Jahre hatte er in Schlamm und Dreck gewühlt und kaum eine Nacht in einem richtigen Bett geschlafen, zusammengepfercht mit wildfremden Menschen in kalten, feuchten Unterständen oder übelriechenden Notquartieren, während der Tod ihm bedrohlich nah auf die Pelle gerückt war. Seine halbe Kompanie war bei einem Giftgasangriff der Engländer verreckt, und bei einem Sturmtrupp auf einen Hügel, auf dem es nichts als eine leerstehende Scheune zu erobern gegeben hatte, waren Dutzende seiner Kameraden von französischen Granaten in Stücke gerissen worden. Und wenn er nachts keinen Schlaf fand, weil er die Erinnerung nicht loswerden konnte, starb sein Freund Leo Hengstenberg, mit dem er schon zur Schule gegangen war, wieder und wieder in seinen Armen, blutend wie ein abgestochenes Schwein.

Nein, im Gegensatz zu den Abertausenden Idioten, die immer noch wie im Sommer 1914 hurrabrüllend in ihr Verderben zogen, war er von diesem Wahn kuriert und hatte eingesehen, dass das Kriegshandwerk nicht sein Handwerk war – er war für dieses Leben nicht geschaffen. Doch zum Glück würde der Irrsinn für ihn jetzt ein Ende haben, er selbst hatte es an diesem Vormittag in der Hand, vom Dienst an der Front befreit zu werden. Ein für alle Mal!

Obwohl die in einer Stunde beginnende Konferenz, an deren Zustandekommen er maßgeblich beteiligt war, im Kriegsministerium stattfand, trug er Zivil. Er war heute nicht in seiner Eigenschaft als Oberleutnant des Kaiser-Alexander-Garderegiments No. 1 im III. Garde-Armee-Korps gefragt, sondern als Vertreter der familieneigenen Handels- und Kreditbank Reichenbach, die sein Großvater vor einem halben Jahrhundert in Dresden gegründet hatte. Und dank seines Talents, sich überall Freunde zu machen, sowie unter kluger Nutzung der Beziehungen, die seine Eltern bis in die höchsten Kreise von Wirtschaft, Politik und Militär unterhielten, war es ihm gelungen, eine Reihe höchst einflussreicher Herren an einem Tisch zu vereinen, die ihm hervorragend geeignet schienen, sein privates und berufliches Wohl in der von ihm erwünschten Weise zu befördern. Doch da er wusste, dass Tüchtigkeit allein niemals reicht, um ans Ziel zu gelangen, verließ er sich auch heute nicht nur auf diese, sondern suchte wie fast jeden Morgen den kleinen Blumenladen an der Ecke des Gendarmenmarkts auf, um eine Nelke zu kaufen – sein persönlicher Glücksbringer, den er sich täglich ans Revers steckte. Denn eine ordentliche Portion Glück würde er heute gewiss brauchen, damit die Dinge sich für ihn zum Guten wandten, egal, wie gründlich er alles vorbereitet hatte. Außerdem bedeutete in England, wo er vor dem Krieg bei der Londoner Baring’s Bank in die Lehre gegangen war, das Tragen einer Nelke im Knopfloch »mein Herz ist frei«. Und sein Herz war immer frei, auch wenn er drei Freundinnen auf einmal hatte.

2

Jedes Mal, wenn Rahel Rosenberg das Verlagsgebäude der »Vossischen Zeitung« in der Charlottenstraße betrat, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Dies war für sie der aufregendste Ort in ganz Berlin, ein Umschlagplatz von Nachrichten und Sensationen, die hier gehandelt wurden wie Aktien an der Börse. Schon in der Eingangshalle herrschte ein Lärm wie auf einem Jahrmarkt. Telefone klingelten, Schreibmaschinen klapperten, Stimmen riefen, und aus dem Untergrund dröhnte das Stampfen der Druckerpressen im Kellergeschoss herauf und ließ den Boden beben, während Journalisten an ihren Schreibtischen mit aufgeknöpften Kragen und hochgekrempelten Ärmeln ihre Artikel in die Tasten hämmerten. Im Minutentakt trafen hier Tatsachen und Gerüchte ein, Stimmungen und Meinungen aus aller Herren Länder und wurden in Windeseile zu Schlagzeilen verdichtet, um nur wenige Stunden später von den Zeitungsjungen auf den Straßen wieder in alle Welt hinausgerufen zu werden.

Hier wollte Rahel einmal arbeiten, als Reporterin oder Redakteurin, ja, wenn es sein musste, für den Anfang sogar als Sekretärin – Hauptsache, sie wurde Teil dieser aufregenden Welt! Seit sie zu Ostern am Wilmersdorfer Lyzeum das Abitur abgelegt hatte, hatte sie einen Kurs in Stenographie und Schreibmaschine belegt, und ausgestattet mit diesen Fertigkeiten, verfasste sie mindestens ein bis zwei Beiträge pro Woche über alle Fragen des Lebens, die ihr selbst auf den Nägeln brannten. Und wann immer ihr Vater, der am Fehrbelliner Platz eine Uniform- und Modeschneiderei betrieb, sie mit einem Botengang in die Stadt schickte, nutzte sie die Gelegenheit, um ihre Artikel in der Redaktion zu präsentieren, in der Hoffnung, eines Tages Gnade vor den Augen Arno Sumskis zu finden, damit ihr Traumberuf kein bloßer Wunschtraum blieb.

Arno Sumski, ein untersetzter Mittfünfziger mit auffallend buschigen Brauen und Bartkoteletten, war der Chef vom Dienst der »Vossischen Zeitung« und residierte, abgetrennt von den übrigen Journalisten wie ein Herrscher von seinem Volk, in einem erhöhten, gläsernen Büro inmitten der Eingangshalle. Um Eindruck auf ihn zu machen, hatte Rahel extra das braun-beige gestreifte Kostüm angezogen, das sie eigentlich gar nicht mochte, weil sie sich darin wie eine schlechte Männerkopie vorkam, und trug dazu passend sogar braune Schnürschuhe, wie die Wandervögel sie trugen. Doch die Kleidung verfehlte leider die erhoffte Wirkung. Auch heute schüttelte Sumski wieder den Kopf, als er ihre neueste Arbeitsprobe überflog: ein in mühsamer Recherche zusammengetragener Artikel über das Schicksal von Frauen, deren Männer im Krieg waren und die sich mit ihren Kindern allein und ohne Hilfe durchschlagen mussten.

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie über andere Dinge schreiben sollen, Fräulein Rosenberg?«

»Was denn für andere Dinge?«, fragte Rahel, obwohl sie die Antwort schon im Voraus wusste.

»Das Neueste aus der Mode zum Beispiel, dazu sind Sie ja von Hause aus geradezu prädestiniert. Und natürlich alles rund um die Küche. Beiträge für die Frauenseite – Kochrezepte, Schnittmuster, das Übliche eben.«

»Aber die Frauen von heute leben doch nicht hinter dem Mond! Sie wollen kein Heimchen am Herd mehr sein.«

»Ach Kindchen, ich fürchte, da ist der Wunsch der Vater des Gedankens.« Er beugte sich über seinen Schreibtisch und reichte ihr den Artikel zurück.

Rahel schaute auf die maschinengetippte Seite in seiner Hand. Wie viel Arbeit, wie viel Mühe steckte darin. Doch es war immer dasselbe.

»Das heißt also wieder – abgelehnt?«

»Hatten Sie etwas anderes erwartet?« Mit seinen wässrigen Augen erwiderte er ihren Blick.

Rahel musste schlucken. Wie oft hatten sie dieses Gespräch schon geführt.

»Bitte, Herr Sumski. Geben Sie mir eine Chance.«

Eine Weile schaute er sie ohne eine Regung in seinem roten Gesicht an. Doch als sie seinem Blick beharrlich standhielt, holte er einmal tief Luft, dann stieß er einen Seufzer aus und legte ihren Artikel zuoberst auf einen Stapel.

»Na, gut. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Wirklich?« Rahels Herz machte vor Freude einen Sprung. »Dann werden Sie meinen Beitrag also bringen?«

Das Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch enthob ihn der Antwort. So eilig, als hätte er nur darauf gewartet, nahm er den Hörer ab. »›Vossische Zeitung‹, Sumski am Apparat.« Mit der Hand gab er ihr ein Zeichen, seinen Glaskäfig zu verlassen.

Rahel wandte sich zur Tür. Doch bevor sie den Raum verließ, schaute sie noch einmal zurück. Ihr Artikel lag wirklich ganz zuoberst – so weit hatte sie es bisher noch nie geschafft!

Im Geiste spuckte sie dreimal über die Schulter auf die Seite, so wie Schauspieler es vor einer Premiere taten. Das würde ihr Glück bringen.

3

Als Tino die Tür des Blumenladens öffnete, schlug ein Strauß weißer Porzellanmaiglöckchen über dem Türrahmen an und meldete mit hellem Klingeln sein Kommen. Das Blumenmädchen, das hinter der Theke gerade ein paar Fliederzweige schnitt, blickte von ihrer Arbeit auf. Als sie ihren Kunden erkannte, lächelte sie, wie nur ein Blumenmädchen lächeln kann.

»Guten Morgen, Herr Reichenbach. Welche Farbe soll’s denn heute sein?«

»Eine gelbe, bitte, Fräulein Anna.«

»Das heißt, Sie brauchen heute eine Extraportion Glück?« Sie legte die Fliederzweige auf die Theke und trat an den Kübel mit den Nelken. Plötzlich stutzte sie. »Oh, die gelben sind leider aus.«

Tino zog scharf die Luft ein. »Wie ärgerlich! Ausgerechnet heute!«

»Es tut mir wirklich leid. Aber wenn Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit haben? Die Lieferung vom Großmarkt muss jeden Moment kommen.«

Er überlegte kurz, ob er warten sollte, doch ein Blick auf seine Rolex-Armbanduhr sagte ihm, dass dafür keine Zeit war. »Ich fürchte, das ist nicht möglich. Was haben Sie sonst im Angebot?«

Mit geübtem Griff fischte Fräulein Anna eine weiße Nelke aus dem Kübel. »Wie wär’s mit dieser? Ein wirkliches Prachtexemplar!«

Tino nickte. »Wenn schon keine gelbe, dann besser die als keine.« Er nahm den Stängel und brach ihn zwei Fingerbreit unter dem Fruchtknoten ab. Während er sich die Blüte ins Knopfloch steckte, wandte er sich zur Tür. »Setzen Sie’s wie immer auf die Rechnung, Fräulein Anna. Bis morgen.«

»Gern, Herr Reichenbach. Ihnen noch einen schönen Tag. Viel Glück!«

Wieder klingelten die Porzellanmaiglöckchen, doch ihr leises Geläut war noch nicht verklungen, da schien sich Fräulein Annas Wunsch bereits zu erfüllen. Kaum war Tino zur Tür hinaus, stieß er auf dem Trottoir mit einer jungen Frau zusammen, bei deren Anblick ihm der Atem stockte: kastanienbraune Locken, blaugrüne Augen, Sommersprossen, voller, großer Mund – und die süßeste Stupsnase der Welt.

Unwillkürlich nahm er die Nelke von seinem Revers, um sie mit gezücktem Hut und einer angedeuteten Verbeugung der fremden Schönheit zu verehren.

Doch die runzelte nur die Brauen.

»Eine Friedhofsblume – wie charmant!« Lachend schüttelte sie den Kopf. »Besten Dank, der Herr! Aber die können Sie sich für Ihre Beerdigung aufsparen!«

Überrascht von ihrer Schlagfertigkeit blickte Tino sie an. »Oh, Sie kennen sich in der Sprache der Blumen aus? Ich bin beeindruckt.« Das war er in der Tat, und nicht nur das – er war begeistert! Endlich ein weibliches Wesen, das seine Marotte verstand. Fieberhaft dachte er nach, wie er sie in ein Gespräch verwickeln könnte. »Und was, wenn ich sie gelb für Sie färbe?«

Verwundert hob sie die Brauen. »Ihre Friedhofsblume?«

»Ja, das heißt natürlich nur die Blüte, den Rest lassen wir grün.«

»Natürlich. Doch darf ich fragen, wozu die Naturverschandelung dienen soll?«

»Gelbe Nelken bringen Glück – so zuverlässig wie die Post! Wissen Sie das nicht?«

»Was für eine reizende Idee, ich bin gerührt. Nur …«, spöttisch schaute sie sich um, »… leider sehe ich hier nirgendwo ein Malergeschäft.«

Er beschloss, ihren Einwand zu ignorieren, und als hätte sie gar nichts gesagt, fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Oder wie wär’s mit rosa? Als Zeichen der Gefühle, die Sie in mir auslösen?«

Den immer noch gelüfteten Hut in der Hand, schaute er ihr so tief in die Augen, dass es ihm selbst davon heiß den Rücken runterlief. Doch statt seinen Blick zu erwidern, lachte sie nur ein zweites Mal, und auch noch doppelt so laut wie zuvor.

»Warum nicht gleich rot? Sie wissen doch – die Farbe der Liebe …« Und wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein, mein Herr, nicht um diese Tageszeit.«

Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn stehen. Es kam nur selten vor, dass es Tino die Sprache verschlug, doch jetzt war es geschehen. Mit einer Mischung aus Verblüffung und Bezauberung schaute er der Fremden nach. Was für eine Frau – tipptopp! Er durfte sie unmöglich laufen lassen, ohne ihren Namen in Erfahrung zu bringen. Ihren Namen und ihre Adresse …

Aber zu spät! Kaum setzte er sich in Bewegung, da schlug vom Turm des Französischen Doms die Glocke zur halben Stunde. Die strenge Mahnung brachte ihn wieder zu Verstand.

Warum zum Teufel hatte der liebe Gott nur die Arbeit erfunden?

Mit einem Seufzer fügte er sich, und während er sich den Hut wieder aufsetzte, eilte er zu seinem Auto, ein brandneues Audi-Cabriolet, das einen Steinwurf entfernt am Straßenrand parkte. Der Mann, auf den es bei der heutigen Konferenz mehr als auf jeden anderen ankam, hasste Unpünktlichkeit, und Tino konnte ihn nicht warten lassen, ohne seine eigenen Pläne zu gefährden. Also nahm er Anlauf und flankte über den Wagenschlag in sein Auto. Wenn er ordentlich Gas gab, würde er es gerade noch schaffen.

4

Rahel zögerte. Sollte sie sich umdrehen oder nicht? Wie immer, wenn sie sich nicht entscheiden konnte, beschloss sie, das Schicksal für sich entscheiden zu lassen. Falls in den nächsten zehn Sekunden jemand die Fleischerei gegenüber betrat, würde sie sich umdrehen. Wenn nicht, dann nicht …

Eins, zwei, drei, vier …

Ein Arbeiter mit Schirmmütze und Pfeife im Mund steuerte auf das Schlachtergeschäft zu. Rahel hielt den Atem an. Tatsächlich, der Arbeiter steckte die Pfeife in seine Lederschürze und öffnete die Tür. In derselben Sekunde drehte sie sich um – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihr Nelkenkavalier in einem offenen Auto davonbrauste. Gegen ihren Willen musste sie sich eingestehen, dass er ihr gefiel. Ein Mann, der sein Glück einer Blume anvertraute – wo hatte man so was schon mal gesehen? Außerdem schien er Humor zu haben, Humor und Selbstbewusstsein, zwei Eigenschaften, ohne die nicht mal die Gebrüder Ullstein bei ihr landen könnten, die Besitzer der »Vossischen Zeitung«. Und mit seiner blonden Tolle, die ihm etwas Verwegenes gab, den himmelblauen Augen und dem kleinen Schnäuzer auf der Oberlippe konnte man ihn unmöglich hässlich nennen, im Gegenteil – hätte er nicht dieses Feuermal auf der Stirn gehabt, wäre er ihr sogar eine Spur zu perfekt gewesen.

Als würde er wissen, dass sie ihm nachschaute, zog er im Davonfahren seinen Strohhut, um sie noch einmal zu grüßen. Doch ohne sich nach ihr umzudrehen.

Rahel schnappte nach Luft. Was bildete der Kerl sich ein? Bei allem Sinn für Humor: Das war ihr dann doch ein bisschen zu viel Selbstbewusstsein!

Auf dem Absatz machte sie kehrt. Die Eltern hatten sie ermahnt, pünktlich zu sein, zu Hause warte eine Überraschung auf sie, und bis Wilmersdorf dauerte es mit dem Pferdebus eine Ewigkeit, weil auf der Strecke Schienen für eine elektrische Straßenbahn verlegt wurden. Doch eilig hatte sie es darum nicht. Sie konnte sich denken, was für eine Überraschung das war: Der Vater wollte, dass sie sich freiwillig als Krankenschwester meldete. Sie sollte verwundete Soldaten pflegen, das war sein größter Wunsch, als patriotisches Zeichen der Familie Rosenberg, die leider ein bisschen zu jüdisch war, um als ganz und gar deutsche Familie zu gelten. Er hatte sogar schon seine Kontakte spielen lassen – Stabsarzt Dr. Recknagel war einer seiner besten Kunden. Vielleicht saß der jetzt schon mit den Eltern am Wohnzimmertisch und trank Kaffee.

An der Haltestelle traf der Pferdebus ein. Keine Zeit mehr zum Trödeln! Im Laufschritt überquerte Rahel den Platz und schaffte es gerade noch, auf die Plattform zu springen, als der Bus losfuhr. Die Kundin, der sie im Auftrag des Vaters ein Nachmittagskleid gebracht hatte, wohnte im Grunewald, und der Umweg, den sie für ihren Besuch bei der »Vossischen« genommen hatte, hatte sie fast eine Stunde gekostet. Wenn sie zu spät kam, würde es peinliche Fragen geben. Die Eltern hatten ja keine Ahnung, was sie bei ihren Botengängen in der Stadt trieb. Und das sollte nach Möglichkeit auch so bleiben.

5

Das Kriegsministerium war ein langgezogener, dreigeschossiger, finsterer Kasten am unteren Ende der Leipziger Straße, der mit seinen gleichförmigen Fensterreihen Tino stets an eine Kompanie strammstehender Soldaten erinnerte – steingewordenes Sinnbild des preußischen Kommisswesens. Von hier aus ergingen die Befehle, die erwachsene Männer zwangen, wie Kinder auf einem Spielplatz im Schlamm und Dreck zu wühlen, nur mit dem Unterschied, dass ihr Spielplatz kein Spielplatz war, sondern der Krieg, wo einem Kugeln und Granaten um die Ohren flogen – mit den bekannten Folgen. Die Aussicht, dass ausgerechnet hier seine militärische Laufbahn ein Ende nehmen würde, bereitete ihm ein geradezu diebisches Vergnügen.

Als er die Eingangshalle betrat, erwartete ihn dort bereits mit gezückter Taschenuhr der Mann, auf den es heute mehr als auf jeden anderen ankam: Emil Georg von Stauß. Mit seinen vierzig Jahren, der hohen Stirnglatze, auf der die wenigen verbliebenen Haupthaare sprossen, sah er in seinem schlichten, ganz und gar unmodernen Anzug und dem schlecht gebügelten Stehkragen aus wie ein Dorfschullehrer aus der Mark Brandenburg. Tatsächlich aber war er der Generaldirektor der Deutschen Bank und bekleidete darüber hinaus Aufsichtsratsposten in den bedeutendsten deutschen Unternehmen. Dieser Mann, für den arbeiten zu dürfen Tino einer Empfehlung seines Freundes und Regimentskameraden Erich Pommer verdankte, hatte die Macht, Schicksale zu wenden.

Jetzt klappte er den Deckel der Taschenuhr zu und steckte sie in die Westentasche.

»Mal wieder auf den letzten Drücker, Reichenbach?« Mit gerunzelter Stirn musterte er seinen Aufzug. »Sind Sie auf dem Weg in die Sommerfrische?«

Tino drückte der Garderobiere Hut und Stock in die Hand. »Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Herr Generaldirektor, aber …«

»Und was ist mit der Nelke? Wollen Sie die etwa während der Sitzung tragen?«

»Nur mit Ihrer Erlaubnis«, erwiderte Georg. »Aber glauben Sie mir«, fügte er eilig hinzu, als er die unwillige Miene seines Gegenübers sah, »die bringt uns Glück.«

Stauß schüttelte den Kopf. »Ganz wie Sie meinen, Sie sind ein erwachsener Mann. Doch apropos – hat Seine Exzellenz zugesagt?«

»Ich habe getan, was ich konnte«, antwortete Tino ausweichend. »Aber Sie wissen ja, wie eigensinnig die Herren vom Militär manchmal sind.«

»Da haben Sie ausnahmsweise recht.« Stauß rückte den Knoten seines Binders zurecht. »Dann wird es das Beste sein, wir schauen gleich nach.«

Der Konferenzraum befand sich im ersten Stock. Ein junger Leutnant führte sie die Treppe hinauf. Tino schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte. Mit Hilfe seiner Mutter, in deren Salon die einflussreichsten Leute verkehrten, hatte er den Kontakt zu General Ludendorff hergestellt, dem Ersten Generalquartiermeister und engstem Berater des Chefs der Obersten Heeresleitung Paul von Hindenburg. Dessen Adjutant hatte die Anfrage huldvoll entgegengenommen, doch eine verbindliche Zusage war nie erfolgt.

Umso größer war Tinos Erleichterung, als der Leutnant die Flügeltür zum Konferenzsaal aufstieß und Tino Seine Exzellenz erblickte. So aufrecht, als hätte er einen Stock verschluckt, saß Erich von Ludendorff – mit dem kahlen Schädel, dem Knebelbart und dem freudlosen Gesicht ein preußischer Offizier wie aus dem »Simplicissimus« – am Kopfende eines Tisches, um den herum ein Dutzend Ministerialbeamte und Militärs versammelt war, darunter an Ludendorffs Seite Major Grau, der Pressechef des Kriegsministeriums und Vertrauter des allmächtigen Ersten Generalquartiermeisters – Tinos und Stauß’ heimlicher Verbündeter, der sie mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken begrüßte.

»Gut gemacht, Reichenbach«, raunte Stauß.

Während Tino grinsend auf seine Nelke deutete, ergriff Ludendorff das Wort. In militärischer Knappheit begrüßte er die Anwesenden, dann nannte er den ersten und einzigen Tagesordnungspunkt:

»Die moralische Mobilmachung Deutschlands im großen Völkerringen mittels bewegter Bilder.« Mit erhobenen Brauen schaute er in die Runde. »Kann mir einer der Herren erklären, was ich darunter zu verstehen habe?«

6

Um in die Privatwohnung der Familie Rosenberg zu gelangen, musste man die Schneiderwerkstatt passieren, die sich auf derselben Etage des gutbürgerlichen Mietshauses am Fehrbelliner Platz befand. Das Atelier in einem so angesehenen Stadtquartier, wo lauter bessere Leute wohnten, war der ganze Stolz des Familienoberhaupts Simon Rosenberg, der, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, sich mühsam emporgearbeitet und sein Handwerk noch bei einem jüdischen Flickschneider in Breslau erlernt hatte, für einen Lohn von zwölf Pfennigen die Stunde. Mit siebzehn Jahren war er nach Berlin gezogen und hatte sich selbständig gemacht, in einem Hinterhof im Wedding. Zwei Jahrzehnte und vier Umzüge, vor allem aber unermüdlicher Fleiß sowie die tatkräftige Unterstützung seiner Frau waren nötig gewesen, um es so weit zu bringen, und noch immer arbeitete Simon Rosenberg zehn, zwölf oder gar vierzehn Stunden am Tag, um sich und seiner Familie den mühsam geschaffenen Wohlstand zu sichern und zu wahren. Doch als Rahel nun den Etagenflur entlangeilte, sah sie durch die offene Werkstatttür nur die zwei Gesellen und den Lehrling ihres Vaters, die mit untergeschlagenen Beinen nebeneinander auf dem Nähtisch hockten, als wären sie dort festgewachsen.

»Wenn du den Meister suchst …« Ohne von der Arbeit aufzuschauen, deutete Altgeselle Anton, ein kleiner, freundlicher Mann von fast siebzig Jahren mit einer Nickelbrille im runzligen Gesicht, der seit den Weddinger Zeiten schon zum Inventar der Werkstatt gehörte, mit seinem zerstochenen Daumen in Richtung Wohnung. »Der wartet im Salong auf dich. Hoher Besuch!«

Rahel schloss kurz die Augen. Der »Salong« war ein Raum voller Plüsch und Nippes, der nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder Jom Kippur geöffnet wurde, die übrigen Tage im Jahr aber in seiner kalten Pracht abgeschlossen sich selbst überlassen blieb. Wenn der Vater hier jemanden empfing, dann konnte der Grund dafür nur die angedrohte Überraschung sein. Und wenn Dr. Recknagel, von dem die Eltern vor lauter Ehrfurcht stets nur im Flüsterton sprachen, sich herbemüht hatte, würde es kaum möglich sein, sich in seiner Gegenwart dem Willen des Vaters zu widersetzen.

Was um Himmels willen konnte sie also tun, um ihrem Schicksal zu entgehen? Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, fremden Männern Bettpfannen unterzuschieben – sie hatte andere Pläne für ihr Leben!

Durch die Tür drangen schon freudig erregte Stimmen.

Rahel zählte bis dreizehn, in der unsinnigen Hoffnung, dass ihre Lieblingszahl das Unglück noch abwenden könnte, dann schlug sie die Augen auf und öffnete die Tür.

»Na, endlich, da bist du ja!«

Der Vater trug seinen besten Anzug, und die Mutter richtete einen Strauß Rosen in einer Vase. Doch wer war der Gast? Rahel musste zweimal hinschauen, um ihn zu erkennen. Nein, das war nicht Stabsarzt Dr. Recknagel, sondern Edgar Weißpfennig, seines Zeichens Rayonleiter im Kaufhaus Wertheim an der Leipziger Straße.

»Sind die nicht herrlich?«, fragte die Mutter und zeigte auf die Rosen. »Die hat unser Gast dir mitgebracht.«

Bevor Rahel begriff, was geschah, trat Edgar Weißpfennig auf sie zu und ergriff mit beiden Händen ihre Rechte.

»Mein liebes, hochverehrtes Fräulein Rosenberg. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie so ohne jede Vorbereitung überfalle, aber Ihr Herr Vater, nein, Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter, sie beide haben mich zu meiner Kühnheit ermutigt, nämlich Sie, mein liebes, hochverehrtes Fräulein Rosenberg …« Er hielt für einen Moment inne, wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat, und blinzelte mit den Augen, als hätte er einen nervösen Tick, bevor er endlich seinen Satz zu Ende sprach. »… Sie um Ihre Hand anzuhalten.«

Rahel war so entgeistert, dass sie erstarrte. Was hatte dieser Mann gesagt? Während sie seine feuchten Hände, mit denen er ihre Rechte umklammert hielt, auf der Haut spürte, wusste sie nicht, was sie erwidern sollte. Grundgütiger – die Überraschung war gelungen! Eher hätte sie damit gerechnet, dass Kaiser Wilhelm abdanken würde, als dass dieser Mann ihr einen Antrag machte … Sie kannte Edgar Weißpfennig, seit sie ein Kind war, der Vater schneiderte in seinem Auftrag gelegentlich für das Kaufhaus Wertheim. Doch bisher war der Rayonleiter für sie stets nur ein netter Onkel gewesen, er war ja mehr als doppelt so alt wie sie, ein Mann, dessen weißblondes Haar schon so stark gelichtet war, dass er es von den Rändern her in langen, albernen Strähnen quer über den Schädel kämmte, um die Glatze darunter zu verbergen.

Rahel räusperte sich, ihr Hals war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte. »Habe … habe ich richtig verstanden? Sie wollen mich – heiraten?«

Edgar Weißpfennig neigte den Kopf zur Seite, und wieder setzte das nervöse Blinzeln ein. »Ich weiß«, sagte er, »ich bin Ihrer nicht würdig – aber wollen Sie die Meine sein?«

Mit jedem Wort, das er sprach, wurde es schlimmer. Fassungslos starrte Rahel auf das elegante, seidige Einstecktuch, das seine Rockbrust zierte. War das, was sie gerade erlebte, tatsächlich wahr? Oder war dies nur ein fürchterlicher Albtraum?

Edgar Weißpfennig schien ihre Not zu ahnen, blinzelnd schaute er sie an, wobei inzwischen nicht nur seine Augen, sondern sein ganzes Gesicht in merkwürdigen Kontraktionen zu zucken begann. Fast konnte man meinen, er würde Zahnschmerzen leiden.

Mit einem Seufzer drückte er noch einmal ihre Hand, dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.

»Sie wissen nun, was Sie wissen müssen«, sagte er leise. »Ihr Jawort würde mich zum glücklichsten Mann der Welt machen. Aber was zählt mein Glück, wenn ich es nur um den Preis Ihres Unglücks erlangen könnte? Ich bin mir bewusst, es sind Welten, die uns trennen, und dabei meine ich nicht nur das Alter, sondern auch Anmut, Liebreiz, Witz – all die wunderbaren Gaben, die Sie in solcher Fülle besitzen und deren ich vollkommen entrate. Ich habe darum größtes Verständnis für Ihr Zögern, auch nimmt es mich nicht wunder, wenn mein Überfall Sie in Verlegenheit bringt und Sie das von mir so sehr ersehnte Wort nicht hier und jetzt über die Lippen zu bringen vermögen. – Nur bitte«, fügte er, fast flehentlich, hinzu, »weisen Sie mich nicht schlankerhand zurück, lassen Sie mir die Hoffnung, und sei es nur ein winzig kleiner Funke, die Hoffnung, dass Sie bereit sind, über meinen Antrag nachzudenken, das Für und Wider einer gemeinsamen Zukunft immerhin zu erwägen – mehr erwarte ich nicht für heute.« Er nickte einmal ihr, einmal den Eltern zu, dann wandte er sich zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Lassen Sie sich Zeit für Ihre Entscheidung, Fräulein Rosenberg, so viel Zeit, wie immer Sie brauchen. Doch eines verspreche ich Ihnen. Sollten Sie mich erhören, werde ich Ihnen meine ganze kleine Welt zu Füßen legen und mit allem, was ich bin und habe, danach trachten, Sie glücklich zu machen.«

7

Major Alexander Grau, ein gertenschlanker Mann um die vierzig, dessen feine, fast feminin wirkenden Gesichtszüge unter dem symmetrisch aus der Stirn gekämmten Mittelscheitel in auffallendem Kontrast zu seinem stechenden Blick und seinem martialischen Kaiser-Wilhelm-Bart standen, übernahm, wie mit Tino und Stauß besprochen, die Aufgabe, das in Frage stehende Unternehmen zu erläutern. Unter der moralischen Mobilmachung mittels bewegter Bilder, so führte er aus, sei eine völlig neue Form der Propaganda zu verstehen, eine Propaganda mit Hilfe der noch jungen Filmkunst, die sich hervorragend eigne, die nach fast drei Jahren Kampf erlahmende Kriegsbegeisterung des Volkes aufs Neue zu entfachen. Dies sei vor allem angesichts der anstehenden Rationierungsmaßnahmen in der Lebensmittelversorgung erforderlich, die die Kriegsmüdigkeit der Zivilbevölkerung nur noch verstärke, um so allen Widrigkeiten zum Trotz an der Heimatfront für den nötigen Rückhalt der im Felde liegenden Soldaten zu sorgen sowie die Bereitschaft der Untertanen zu fördern, durch Zeichnung von Kriegsanleihen ihren unverzichtbaren Beitrag zum Sieg im großen Völkerringen zu leisten.

»Die Regierungen der Entente-Mächte, insbesondere England und Frankreich, setzen diese Form der Propaganda bereits im großen Stil ein. Sie produzieren mehrere kinematographische Streifen pro Monat, in denen sie gegen die angeblichen Mörderhaufen der deutschen ›Hunnen‹ hetzen und die Unbesiegbarkeit der eigenen Truppen preisen. Mit überragendem Erfolg. Der deutsche Landser ist bei ihnen so verhasst wie nie, während englische und französische Soldaten, wo immer sie sich in der Heimat zeigen, bejubelt werden wie Schauspieler auf der Bühne. Es ist darum höchste Zeit, dass wir unseren Feinden auch auf diesem Schlachtfeld so entschlossen wie nur irgend möglich entgegentreten.« Mit sich und seinem Vortrag sichtlich zufrieden, strich Major Grau sich über den Bart. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, meine Herren.«

Während er Platz nahm, richteten sich alle Blicke auf General Ludendorff. Doch der ließ keine Reaktion erkennen, mit ernster Miene saß er da, die Mundwinkel wie immer freudlos heruntergezogen, und schwieg eine lange Weile. Tino spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Ludendorff war der starke Mann der Obersten Heeresleitung, nur wenn er das Unternehmen unterstützte, konnten seine Pläne aufgehen.

Plötzlich kam Leben in Ludendorffs Rechte, und während er mit den knochigen Fingern einen Marsch auf der Tischplatte zu trommeln begann, hellte sich seine Miene auf.

»Kriegsreklame im Kintopp? Da ist Musike drin! Zivilisten sind Kinder und wollen wie Kinder behandelt werden. Brot und Spiele, das wussten schon die alten Römer.« Er lachte einmal kurz und so trocken auf, dass es wie ein Bellen klang, dann wurde er wieder ernst. »Die Frage ist nur, wie lässt sich ein solches Unternehmen möglichst schnell und effektiv bewerkstelligen?«

Tino atmete auf. Der Damm war gebrochen! Eilig tauschte er einen Blick mit Stauß. Der hob die Hand.

»Wenn ich mich dazu äußern darf?«

Ludendorff nickte.

»Als erste Maßnahme schlage ich vor, eine Denkschrift zu verfassen, adressiert an Seine Majestät den Kaiser sowie an Reichskanzler Bethmann Hollweg und den Kriegsminister, damit die nötigen Geldmittel bereitgestellt werden. Um die Dringlichkeit der Sache zu dokumentieren, sollte ein solches Memorandum idealerweise Ihre Unterschrift tragen, Exzellenz.«

»Einverstanden. Wer ist als Verfasser vorgesehen?«

Stauß deutete auf Tino. »Oberleutnant Reichenbach.«

Ludendorff nahm das Monokel, das an einer Kordel vor seiner Ordensbrust baumelte, und klemmte es sich ins Auge. »Reichenbach von der Handels- und Kreditbank?« Er fixierte Tino mit einem kurzen, scharfen Blick. Als Tino mit einer angedeuteten Verbeugung bejahte, nickte er. »Sehr gut.« Dann wandte er sich wieder an den Chef der Deutschen Bank. »Was wird geschehen, wenn die Finanzmittel bereitstehen? Wollen Sie eine eigene Firma zur Filmfabrikation gründen?«

»Eine Firmengründung bräuchte zu viel Zeit«, erwiderte Stauß. »Um möglichst schnell handeln zu können, würde ich empfehlen, aus bereits bestehenden Firmen ein Konglomerat zu schaffen. Dabei sind Größe und Schlagkraft entscheidend!«

»Größe und Schlagkraft – ausgezeichnet!« Abermals nickte der General, um seine Zustimmung zu bekunden. »Dann wird wohl Hugenberg der erste Mann an der Spitze sein? Habe gehört, dass er bereits ein Lichtspielunternehmen betreibt.«

»Allerdings, die Deutsche Lichtspielgesellschaft, kurz Deulig genannt.«

»Außerdem ist er ein Mann von einwandfreier nationaler Gesinnung«, fuhr Ludendorff fort. »Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«

Tino biss sich auf die Lippe. Hugenberg war als Vorstandsvorsitzender der Friedrich Krupp AG in Essen einer der einflussreichsten Industriellen im Land. Doch gerade deshalb war die Beteiligung des Ruhrbarons, der neuerdings auch in anderen Gefilden als Kohle und Stahl wilderte, für Tino ein fast unlösbares Problem. Nur wenn Stauß und die Deutsche Bank in dem neu zu gründenden Unternehmen das Sagen hatten, konnte er sein Ziel erreichen, vom Kriegsdienst befreit zu werden. Wenn Hugenberg hingegen mit von der Partie war, würde alles nach seiner Pfeife tanzen. Andererseits durfte man Hugenberg nicht vor den Kopf stoßen. Die Reichenbach Bank war eine der Hausbanken des Magnaten. Im Falle seiner Ausbootung würde Tino gegen deren eigene Interessen handeln und damit Gefahr laufen, sich mit seiner Familie zu überwerfen.

Jetzt kam alles auf Stauß’ Antwort an.

»Verzeihen Sie, Exzellenz, wenn ich widerspreche«, erklärte der Chef der Deutschen Bank. »Aber eine Mitwirkung Hugenbergs halte ich nicht für opportun.«

Ludendorff riss die Augen so weit auf, dass sein Monokel aus der Augenhöhle sprang. »Aus welchem Grund? Hugenberg steht im Ruf, ein Finanzgenie zu sein!«

Tino biss sich auf die Lippe, und während sein Puls immer schneller raste, trocknete ihm der Mund aus. Doch Stauß bewahrte unerschütterlich die Ruhe.

»Ich bitte, mich nicht misszuverstehen, Exzellenz. Selbstredend ist Hugenberg ein äußerst erfolgreicher Unternehmer, und seine nationale Gesinnung steht außer Frage. Doch mit seiner kürzlich geäußerten Kritik am Reichskanzler wäre er für uns untragbar.«

»Drücken Sie sich bitte klarer aus!«

Stauß straffte sich. »Hugenberg hat Bethmann Hollweg vorgeworfen, sich bei der Sozialdemokratie lieb Kind zu machen. Aber noch schlimmer wiegt seine öffentlich getätigte Behauptung, der Reichskanzler würde nicht mehr an Deutschlands Sieg glauben. Eine solche Äußerung grenzt an Hochverrat. Deshalb bin ich der Meinung …«

»Genug«, fiel Ludendorff ihm ins Wort.

Mit einem Schlag war es so still im Raum, dass nur noch der schnaubende Atem des Generals zu hören war. Kein Zweifel, Stauß hatte Seine Exzellenz verärgert. Wie konnte ein solcher Fehler unterlaufen? Es war doch allgemein bekannt, dass Ludendorff den Kanzler nicht ausstehen konnte, er hielt Bethmann Hollweg für einen Schwächling, für einen verkappten Pazifisten.

Tino rann der Schweiß an den Achselhöhlen herunter. War damit sein schöner Plan geplatzt?

»Die Sache ist entschieden«, erklärte Ludendorff. Und nach einem Blick in die Runde fügte er hinzu: »Dann eben ohne Hugenberg!« Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Der Herr ist mir in letzter Zeit sowieso ein bisschen zu üppig geworden, da kann ein Denkzettel nicht schaden.«

Die Herren am Tisch quittierten die Bemerkung mit einem pflichtschuldigen Lachen. Tino hätte am liebsten seine Nelke geküsst, und es gelang ihm nur mit Mühe, seinen Jubel zu unterdrücken, während Ludendorff den Punkt abhakte und Stauß beauftragte, eine Liste von Unternehmen zusammenzustellen, die für das angestrebte Konglomerat in Frage kamen.

»Dann nur noch eins, meine Herren«, schloss er die Sitzung. »Die Operation unterliegt absoluter Geheimhaltung! Die Öffentlichkeit darf nicht erfahren, welche Rolle das Militär in der Sache spielt. Das Ganze muss nach außen hin rein zivilen Charakter haben. Sonst geht der Schuss nach hinten los. Also strengste Vertraulichkeit! Haben wir uns verstanden?«

Nachdem jedermann sein Einverständnis erklärt hatte, löste die Versammlung sich auf. Zusammen mit Stauß verließ Tino den Konferenzraum.

Auf der sonnenbeschienenen Straße wartete Major Grau auf sie.

»Ich hoffe, mit meinem Referat der Sache dienlich gewesen zu sein!«

»Ausgezeichnete Arbeit«, erwiderte Stauß. »Man wird Ihre Verdienste zu gegebener Zeit angemessen zu würdigen wissen.«

Die Augen des Majors blitzten kurz auf, dann nahm er Haltung an. »Habe nur meine Pflicht getan.« Er salutierte und stieg in einen Wagen, der vor dem Eingang des Kriegsministeriums wartete.

Während der Wagen sich die Leipziger Straße hinauf entfernte, drehte Stauß sich zu Tino herum.

»Ich werde noch heute mit Ihrem Regimentskommandeur sprechen und Ihre Freistellung beantragen. Es gibt viel zu tun.«

Tino schlug die Hacken so zackig zusammen, dass selbst Major Grau sich davon eine Scheibe hätte abschneiden können, und salutierte. »Ich werde meine Pflicht tun, an welche Front auch immer Sie mich stellen.«

Stauß lachte laut auf. »Hören Sie auf, den Soldaten zu spielen, Reichenbach, Sie machen sich nur lächerlich. Selbst als Offizier taugen Sie höchstens fürs Casino.« Dann wurde er wieder ernst. »Umso mehr zähle ich jetzt auf Sie. Als geborener Zivilist sind Sie der perfekte Mann für unser Unternehmen. Sie wissen, was auf dem Spiel steht.«

»Gewiss, Herr Generaldirektor. Der Sieg im großen Völkerringen.«

Stauß hob die Brauen. »Höre ich da einen ironischen Unterton?«

Tino zögerte. Dann sagte er: »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr Generaldirektor? Ganz unter uns?«

»Nur zu!«

»Glauben Sie, dass es wirklich noch möglich ist, eine Wende herbeizuführen? Oder hat vielleicht Bethmann Hollweg recht? Ich meine – kann Deutschland diesen Krieg überhaupt noch gewinnen?«

Stauß runzelte die Stirn. »Es ist in unser beider Interesse, wenn ich diese Frage nicht gehört habe.« Er machte eine kurze Pause. »Aber ganz unter uns«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort, »was auch immer in diesem Krieg noch passieren mag – ich glaube, wir tun gut daran, bereits jetzt über den Tag hinaus zu denken.«

Tino brauchte eine Weile, um zu begreifen. »Sie meinen – über das Kriegsende hinaus?«

Stauß nickte. »Und deshalb können wir Hugenberg nicht gebrauchen, unsere Interessen sind nicht dieselben. Ich hoffe, darin stimmt Ihr Herr Vater mit mir überein.«

Bei der Erinnerung an seine Familie holte Tino tief Luft. »Das hoffe ich auch.«

8

Rahel konnte sich nicht erinnern, dass es im Salon der Familie Rosenberg je Streit gegeben hatte. Wann immer man das Paradezimmer nutzte, wurde darin etwas gefeiert oder Besuch empfangen. Doch jetzt sprach der Vater hier in solcher Lautstärke auf sie ein, dass die Mutter eilig die Tür schloss, damit die Gesellen und der Lehrling in der Werkstatt nichts hörten.

»Du willst zu hoch hinaus! Kein Mann ist dir gut genug!«

»Dein Vater hat recht«, pflichtete die Mutter ihm bei. »Du bist zu eigensinnig. Immer nur deiner eigenen Nase nach. Das war schon in der Schule so. Du hattest nicht mal richtige Freundinnen.«

»Und ich weiß auch, woher sie das hat!«, fügte der Vater mit hochrotem Kopf hinzu. »Das ist das Jüdische an ihr!«

»Ach was, Simon, das sind die Bücher! Die waren ihr immer wichtiger als ihre Schulkameradinnen.«

»Das meine ich ja mit dem Jüdischen – die Bücher!«

»Seit wann hast ausgerechnet du was gegen Bücher?«, rief Rahel. »Du selbst hast mir doch das Lesen beigebracht. Da war ich noch keine fünf Jahre alt.«

»Aber nicht dafür, dass du Propagandaschriften von Flintenweibern wie dieser Rosa Luxemburg liest!«

»Rosa Luxemburg ist kein Flintenweib, sondern Jüdin wie du und ich.«

»Und wenn sie die Thora geschrieben hätte! Rosa Luxemburg ist Kommunistin! Und ich dulde nicht, dass sie meine Tochter zur Kommunistin macht! Dafür habe ich nicht mein Leben lang gearbeitet!«

In seiner Erregung versuchte der Vater, den Kragenknopf zu öffnen, doch seine Hände zitterten so sehr, dass die Mutter ihm zu Hilfe eilen musste. Trotz ihrer Rage rührte Rahel der Anblick. Die Eltern waren in allem, was sie dachten oder sagten oder taten, stets so sehr eins, dass sie im Laufe der Zeit förmlich zu einem Leib und einer Seele geworden waren. Beide klein von Wuchs, hatten sie dasselbe schlohweiße Haar, dieselben Stirnfalten, dieselben Altersflecken im Gesicht und dieselben gichtigen Hände, an denen sie einander noch immer wie ein junges Liebespaar hielten, wenn sie zusammen das Haus verließen oder einfach nur nebeneinander auf dem Sofa saßen. So wie ihre Eltern hatte Rahel sich Philemon und Baucis vorgestellt, als sie im Lateinunterricht Ovids »Metamorphosen« durchgenommen hatten: die zwei Alten, die, als Zeus sie nach ihrem größten Wunsch fragte, nur darum baten, zur selben Stunde sterben zu dürfen, damit keiner von ihnen das Grab des anderen schauen musste.

»Dein Vater hat ja nur Angst, dass du eines Tages, wenn wir nicht mehr da sind, allein zurückbleibst«, sagte die Mutter. »Ohne Mann und ohne Kinder.«

»Richtig«, pflichtete der Vater ihr bei. »Eine Frau braucht schließlich einen Ernährer. Wer soll sonst für sie sorgen?«

Die eine Bemerkung reichte, um Rahel wieder in Harnisch zu bringen. »Ich kann selber für mich sorgen! Dazu brauche ich keinen Mann! Lieber ende ich als alte Jungfer, als jemanden zu heiraten, den ihr mir aufzwingt!«

»Aber Herr Weißpfennig ist doch so ein herzensguter Mensch«, sagte die Mutter. »Und außerdem eine glänzende Partie. Du bräuchtest dein Lebtag nicht zu arbeiten!«

»Und wer weiß«, fügte der Vater hinzu, »vielleicht fällt er noch weiter die Treppe hinauf und wird eines Tages Filialleiter. Dann bekämst du sogar eigenes Personal.«

»Ich will aber kein Personal«, sagte Rahel. »Ich will arbeiten und mein eigenes Geld verdienen!«

Der Vater schüttelte den Kopf. »Arbeit schickt sich nicht für eine Tochter aus gutem Hause!«

»Was sollen sonst die Leute denken?«, ergänzte die Mutter.

»Als hätte man das nötig!«

»Nein, das haben wir Gott sei Dank hinter uns.«

Die beiden wechselten einander ab wie zwei Echos. Doch das brachte Rahel nur noch mehr auf die Palme. Obwohl sie ihre Eltern liebte, wollte sie niemals so werden wie sie – die zwei waren ja nur zusammen ein ganzer Mensch. Nein, sie wollte auf eigenen Füßen stehen! Und wenn sie dafür über Kochrezepte und Schnittmuster schreiben musste …

»Wozu habt ihr mich das Abitur machen lassen, wenn ich nicht arbeiten soll?«

»Was für eine Frage«, erwiderte der Vater. »Weil Bildung wichtig ist. Das ist jüdische Tradition.«

»Ach, jetzt auf einmal wieder doch?«

»Dreh mir nicht das Wort im Mund herum!«

»Aber was nützt mir Bildung, wenn ich sie nicht anwenden darf?«

»Bildung braucht man nicht für die Arbeit, sondern fürs Leben.«

»Damit du deinem Mann eine gute Frau sein kannst«, sagte die Mutter.

»Und deinen Kindern eine gute Mutter«, echote der Vater.

»Was für ein Unsinn!«, protestierte Rahel. »Ich will selbst entscheiden, ob ich arbeiten oder heiraten will!«

Jetzt war es die Mutter, die sie kopfschüttelnd anschaute. »Ach, Kindchen«, sagte sie, mit derselben singenden Stimme wie ihr Mann. »Was in aller Welt kann denn schöner sein als eine glückliche Ehe?«

9

Das Stadtpalais der Familie Reichenbach befand sich in der Simsonstraße, in unmittelbarer Nachbarschaft und Sichtweite zum Reichstag, in dem sich die Parteien über das Wohl und Wehe der Nation die Köpfe heiß redeten. Doch noch heftiger als im Parlament wurde an diesem späten Vormittag im Kreis der Familie Reichenbach debattiert, nachdem Tino seinen Eltern, Gustav und Constanze, sowie seinem Bruder Arnim vom Ausgang der Konferenz im Kriegsministerium berichtet hatte. Schließlich ging es um das Wohl und Wehe der familieneigenen Bank.

»Willst du uns ruinieren?«, fragte Arnim, der, obwohl zwei Jahre jünger als Tino, diesem mit den blauen Augen, dem Schnurrbart und dem Feuermal auf der Stirn zum Verwechseln ähnlich sah, nur dass er sein blondes Haar nicht wie sein Bruder zu einer Tolle frisierte, sondern es jeden Morgen mit Brillantine in militärisch straffe Form brachte. »Es ist ein katastrophaler Fehler, sich gegen Hugenberg zu stellen. Hugenberg ist der Mann der Zukunft!«

»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte die Mutter, eine trotz ihrer zweiundfünfzig Jahre immer noch sehr attraktive Frau, die ihr graumeliertes, nach wie vor üppiges Haar zu einem babylonischen Kunstwerk aufgetürmt auf dem stets hocherhobenen Haupt trug, und spielte mit der Rechten an ihrer Perlenkette. »Außerdem verkehrt Hugenberg in meinem Salon. Wie soll ich dem Mann denn wieder unter die Augen treten?« Mit dem Ausdruck größten Tadels in ihrem elfenbeinernen Gesicht schüttelte sie den Kopf. »Nein, Konstantin, dafür habe ich dir meine Kontakte nicht zur Verfügung gestellt.«

Der Vater, ein Mittfünfziger von einiger Köperfülle und etwas zu kurz geratenen Gliedmaßen, drehte sich vom Fenster herum, durch das er bislang schweigend auf den Reichstag geschaut hatte, und blickte Tino mit seinen Seehundsaugen an. »Ich fürchte, du hast dich von Stauß vor den Karren spannen lassen.«

»Vor welchen Karren, Papa?«

»Bist du so blöd oder tust du nur so?«, rief Arnim. »Den der Deutschen Bank natürlich!«

Um dem Blick seines Bruders auszuweichen, schaute Tino auf den altarähnlichen Schrein, den seine Mutter zu Ehren ihres vergötterten Vaters errichtet hatte, mit einem Ölgemälde des Verstorbenen als Prunkstück. Natürlich wusste er, was Arnim meinte. Bei der Bildung des Firmenkonglomerats, die an diesem Morgen beschlossen worden war, kollidierten die Interessen der zwei wichtigsten Industriezweige Deutschlands: auf der einen Seite Kohle und Stahl, verkörpert durch Alfred Hugenberg, der nicht nur der Friedrich Krupp AG vorstand, sondern auch dem Bergbauverein und Zechenverband der Ruhrbarone, und auf der anderen Seite Öl und Chemie, verkörpert durch Emil Georg von Stauß, der die Europäische Petroleum Union gegründet hatte, als er noch keine dreißig Jahre alt gewesen war, und seitdem als Generaldirektor der Deutschen Bank seinen ganzen Einfluss nutzte, um die Belange der deutschen Öl- und Chemiewirtschaft zu fördern. Die beiden Rivalen bekriegten sich schon seit Jahren bei der Eroberung neuer Märkte, sowohl im In- als auch im Ausland, vor allem auf dem Balkan und im Orient. Hier preschte unter Hugenbergs Führung die rheinisch-westfälische Schwerindustrie vor, um neue Rohstoffquellen zu erschließen, während die Deutsche Bank schwindelerregende Summen in den Bau der Bagdad-Bahn investierte, um dem Petroleumkartell den Weg für gewinnbringende Geschäfte zu ebnen. Wer in dem Wettbewerb am Ende die Nase vorn haben würde, das wurde nicht zuletzt auf dem Schlachtfeld der Propaganda entschieden.

Als Tino den Blick hob, sah er in das Gesicht seines Bruders. Der schaute ihn voller Verachtung an.

»Du hast deine Familie verraten. Und das nur, um dich vor dem Kriegsdienst zu drücken.«

Die Worte trafen Tino wie ein Schlag ins Gesicht. Sein Bruder hatte aus heiterem Himmel ins Schwarze getroffen, und ein paar Sekunden lange wusste er nicht, was er auf den Angriff erwidern sollte.

»Das behauptet der Richtige«, brachte er schließlich lahm hervor. »Du hast dich doch gleich bei Kriegsbeginn uk stellen lassen, um nicht an die Front zu müssen. Von so einem lasse ich mir nicht vorhalten, ich wäre …«

»Arnim hat einen Herzfehler, von Geburt an!«, unterbrach ihn die Mutter. »Untauglich für den Kriegsdienst, das haben wir amtlich!«

»Ja, mit dem Attest, das du ihm besorgt hast. Tipptopp!«

»Unterzeichnet von zwei Professoren der Charité! Also versündige dich nicht! Wir können froh sein, dass Arnim überhaupt noch lebt. – Aber du?« Sie hielt kurz inne, um Tino mit ihren stahlblauen Augen zu fixieren. »Dir habe ich meinen Namen geschenkt – einem Drückeberger! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich für dich schäme!«

10

Normalerweise herrschte in der Uniform- und Modeschneiderei Simon Rosenberg von zwölf bis zwei Uhr Mittagspause, und um Punkt Viertel nach zwölf, wenn Altgeselle Anton mit dem »Vorwärts« vom Klosett im Treppenhaus zurück auf die Etage kam, betätigte Rahel den Gong, um zum Essen zu rufen, das die Familie zusammen mit den Angestellten in der großen Küche einnahm. Doch heute verging die Zeit, ohne dass der Gong ertönte, und es wurde eins und schließlich halb zwei, und noch immer stand kein Essen auf dem Tisch.

»Du behauptest, du willst arbeiten?«, sagte der Vater. »Aber hast du dich überhaupt schon mal gefragt, in welchem Beruf? Meine Werkstatt willst du ja nicht, die ist dir ja nicht gut genug. Dabei hat Handwerk immer noch goldenen Boden, jeder junge Meister in der Innung würde sich die Finger danach lecken, und ich bräuchte nur mit dem Innungsmeister …«

»Natürlich habe ich mich das schon gefragt«, fiel Rahel ihm ins Wort, damit das leidige Thema gar nicht erst wieder hochkam. »Oder glaubst du, ich bin blöd?«

»Nicht in diesem Ton, Frolleinchen!«

Rahel dachte gar nicht daran, ihren Ton zu ändern. »Ich will Journalistin werden!«, erklärte sie noch eine Spur lauter, und warf den Kopf in den Nacken.

»Journalistin?«, wiederholte der Vater. »Nein, das ist kein Frauenberuf.«

»Und was sind deiner Meinung nach Frauenberufe?«

»Das weiß doch jedes Kind«, antwortete die Mutter. »Sekretärin, Verkäuferin …«

»Oder Telefonistin«, ergänzte der Vater. »Das ist sogar ein Beruf mit Zukunft. Bald wird es in allen größeren Städten Telefon geben.«

»Papa will auch eins für die Werkstatt anschaffen, wenn es so weit ist.« Die Mutter zwinkerte Rahel verschwörerisch zu, als verrate sie ein Geheimnis. »Dann müssen die Kunden nur noch anrufen, wenn sie eine Bestellung aufgeben wollen. Und Papa kann sie zurückrufen, sobald die Sachen fertig sind. Ist das nicht praktisch?«

Rahel musste sich beherrschen, um nicht zu explodieren. »Habe ich dafür Latein und Algebra gebüffelt? Um als Fräulein vom Amt Stecker umzustöpseln? – Nein, wenn es einen Beruf mit Zukunft gibt, dann Journalismus!«

»Woher willst du das wissen?« Der Vater lächelte sein mildes Lächeln, mit dem er Rahel schon als Kind zur Raserei gebracht hatte.

»Weil ich mich auskenne!«

»Tatsächlich, tust du das?«

»Allerdings!«, platzte sie heraus. »Ich habe schon Dutzende Zeitungsartikel geschrieben.«

Die Eltern waren so überrascht, dass sie verstummten. Während sie nach Luft schnappten, verfluchte Rahel ihre Unbeherrschtheit. Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Doch dafür war es zu spät.

Die Mutter fand als Erste die Sprache wieder. »Aber Kind, das haben wir ja gar nicht gewusst …«

»Dann wisst ihr es jetzt!«

»Und für welche Zeitung hast du die Artikel geschrieben?«, fragte der Vater.

»Für die ›Vossische‹!«

Kaum hatte sie den Namen genannt, veränderte sich seine Miene. Die »Vossische« war sein Leib- und Magenblatt, außerdem war die Familie Ullstein, der die Zeitung gehörte, in seinen Augen der lebende Beweis, wie weit Juden es in Deutschland bringen konnten – in nur zwei Generationen hatten die Ullsteins aus dem Nichts ihr Presseimperium aufgebaut, weshalb der Vater sie regelmäßig als Vorbilder pries, denen es unbedingt nachzueifern galt.

»Donnerwetter!«, sagte er. »Das ist natürlich was anderes. Wenn eine so renommierte Zeitung deine Arbeit zu schätzen weiß …« Voller Anerkennung nickte er mehrmals mit dem Kopf. »Allerdings«, fügte er dann hinzu, »warum ist mir noch kein Artikel von dir untergekommen? Ich lese die ›Vossische‹ doch jeden Tag von der ersten bis zur letzten Seite.«

Rahel spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, beschämt schlug sie die Augen nieder. »Bis jetzt ist noch keiner meiner Beiträge erschienen«, sagte sie leise.

»Ach so?«

»Aber mein neuester Artikel hat Aussichten, gedruckt zu werden.« Sie hob den Kopf und schaute ihren Vater an. »Das hat mir der Chef vom Dienst persönlich versprochen.«

Der Vater erwiderte mitleidig ihren Blick. »Hat man dir denn ein Honorar bezahlt?«

Rahel musste abermals passen und schwieg mit zusammengepressten Lippen.

Halb resigniert, halb erleichtert stieß der Vater einen Seufzer aus. »Und das nennst du Arbeit, Kind?«

11

Constanze Reichenbach kehrte ihrem Erstgeborenen den Rücken zu und strich den Ärmel ihrer graublauen Seidenbluse glatt, um erhobenen Hauptes zur Tür hinaus zu rauschen. Mit einer Mischung aus Belustigung und Fassungslosigkeit sah Tino ihr nach. Mal wieder der ganz große Auftritt, so war sie schon immer gewesen.

Während die Tür sich hinter ihr schloss, ergriff der Vater das Wort.

»Lassen wir die Moral beiseite und beschäftigen uns mit wichtigeren Dingen, schließlich geht es hier ums Geschäft.« Er klemmte den Daumen in die Westentasche, um mit den Fingern auf seinem Bauch zu trommeln, der sich in stattlicher Rundung unter dem Anzugsstoff wölbte. »Was können wir tun, um Hugenberg als Kunden zu halten?«

»Ich fürchte gar nichts«, sagte Arnim. »Es sei denn, du schmeißt Tino aus der Bank. Das könnte ihn vielleicht versöhnlich stimmen.«

»Hast du noch alle Tassen im Schrank?«

Tino wollte seinem Bruder an den Kragen. Doch der Vater hielt ihn zurück.

»In einem muss ich Arnim recht geben«, erklärte er, die Hand auf Tinos Unterarm. »Hugenberg wird dein Vorgehen als schweren Affront auffassen, anders kann es gar nicht sein. Schließlich hat sein eigener Mann, Generaldirektor Klitzsch, Anfang des Jahres in einer Rede vor dem Reichstag als Erster überhaupt die Idee aufgebracht, den Kintopp als Instrument der Auslandspropaganda zu nutzen.«

»Sehr richtig«, sagte Arnim. »Die Abgeordneten haben überhaupt nicht mehr aufgehört zu klatschen. Sogar Stresemann und seine Nationalliberalen waren wie aus dem Häuschen. Das stand in allen Zeitungen.« Herausfordernd blickte er Tino an. »Oder willst du das bestreiten?«

Tino schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Aber Hugenberg hat sich mit seiner Behauptung, der Kanzler würde die Sozis poussieren und nicht mehr an den Sieg glauben, unmöglich gemacht. Wenn wir ihn beteiligen, gibt uns die Regierung kein Geld. Und dann platzt die ganze Sache.«

»Besser, als unseren wichtigsten Kunden zu verlieren!«

»Eine Allianz mit Stauß ist für uns mehr wert als jeder Kunde. Selbst wenn er Hugenberg heißt.«

»Dass ich nicht lache!«

»Du weißt ja nicht, wovon du redest«

»Schluss mit der Streiterei!« Der Vater trat zwischen seine Söhne und wartete, bis beide sich halbwegs beruhigt hatten. Dann drehte er sich zu Tino herum. »Hast du einen Plan?«

»Allerdings.«

»Dann klär uns verdammt nochmal auf!«

Tino legte eine Kunstpause ein, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen. »Stauß ist bereit, die Handels- und Kreditbank Reichenbach an dem Unternehmen zu beteiligen. Mit zehn Prozent.«

Der Vater hob die Brauen. »Zehn Prozent von was?«

»Fünfundzwanzig Millionen. Auf diese Summe wird sich das Gründungskapital der Gesellschaft belaufen.«

»Fünfundzwanzig Millionen Reichsmark?« Der Vater pfiff durch die Zähne. »Alle Achtung! Das ist kein Pappenstiel.«

Arnim zuckte die Schultern. »Geld ist nicht alles. Hier geht es um die nationale Sache, und deren Interessen vertritt niemand so entschieden wie Hugenberg. Deshalb brauchen wir ihn, wenn wir den Krieg gewinnen wollen!«

»Wenn das deine Meinung ist, solltest du den Beruf wechseln«, erwiderte der Vater. »Die Aufgabe einer Bank ist es nicht, Kriege zu gewinnen. Ihre Aufgabe ist es, Geld zu verdienen.«

»Und dazu bietet sich hier eine wunderbare Gelegenheit«, beeilte Tino sich hinzuzufügen.

Arnim verzog angewidert das Gesicht, wie früher als Kind, wenn er vor einem Teller Spinat saß. »Mein Gott, ihr redet wie zwei Juden!«

»Was fällt dir ein?«, herrschte der Vater ihn an.

»Ich bin sicher, Mama denkt genauso«, entgegnete Arnim trotzig. »Soll ich sie holen und fragen?«

Die beiden maßen einander mit ihren Blicken, und für eine Sekunde zuckte das Feuermal auf der Stirn des Vaters. Dann aber schüttelte er den Kopf.

»Das wird nicht nötig sein.«

»Ach so?«

Tino sah den Spott in Arnims Augen, und er wusste auch, worauf sein Bruder anspielte. Über die Haltung der Mutter konnte es keinen Zweifel geben, und wenn die Eltern uneins waren, war es keineswegs ausgemacht, wer von beiden die Oberhand behielt. Doch der Vater überging die Provokation, als hätte er sie gar nicht bemerkt.

»Wenn Stauß ein so finanzstarkes Unternehmen auf die Beine stellt«, erklärte er, »spekuliert er auf das ganz große Geschäft. Wir müssten mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn wir sein Angebot ausschlagen würden.«

»Noch einmal«, sagte Arnim. »Geld ist nicht alles. Und Verrat bleibt Verrat!«

»Jetzt ist es aber genug! Halt endlich deinen gottverdammten Mund!«

Wie eine Handgranate war der Vater hochgegangen. Arnim parierte und schwieg. Doch seinem Gesicht war anzusehen, wie sehr er innerlich kochte – er konnte es auf den Tod nicht ertragen, zurechtgewiesen zu werden, das war schon als Kind so gewesen. In ohnmächtiger Wut funkelte er den Vater an, und als er beide Fäuste ballte, fürchtete Tino einen Moment tatsächlich, es käme zum Eklat. Doch wie meistens, wenn es darauf ankam, zog Arnim am Ende den Schwanz ein. Während seine Fäuste sich wieder öffneten, schnaubte er nur einmal durch die Nase, dann warf er beleidigt den Kopf in den Nacken und folgte der Mutter hinaus. Wahrscheinlich, um sich bei ihr auszuheulen.

Der Vater quittierte den Abgang mit einem Seufzer. »Ein Bankier, der kein Geld verdienen will. Was habe ich nur falsch gemacht?« Mit beiden Händen zog er seinen Rock gerade. »Wie auch immer: Es bleibt die Frage, wie wir Hugenberg ruhigstellen können.«

»Darüber habe ich bereits nachgedacht«, sagte Tino.

»Und – was ist dabei herausgekommen? Ich erkenne nicht, wie du mit Kriegspropaganda so viel Geld verdienen willst, dass wir ihm etwas Brauchbares anbieten können. Der Staat ist knapp bei Kasse. Und Hugenberg ist Kaufmann, also brauchen wir eine kaufmännische Lösung.«

Tino blickte seinem Vater bedeutungsvoll in die Augen. »Stauß meint, wir sollten in dieser Angelegenheit über den Tag hinaus denken.«

Der Vater verstand sofort. »Du meinst – über das Kriegsende hinaus?«

Tino grinste. »Sobald die Firma ihren kurzfristigen Geschäftszweck erfüllt hat, können wir Hugenberg und seiner Lichtspielgesellschaft das Feld der Propaganda getrost überlassen, um uns selbst neuen Geschäftsfeldern zuzuwenden. Das ließe sich bereits jetzt vertraglich regeln.«

»Aber warum sollte Hugenberg sich darauf einlassen?«

»Du hast es gerade selbst gesagt – weil er ein Kaufmann ist, aber nur ein Kaufmann, kein Bankier. Geld bedeutet ihm nicht alles, sondern ist für ihn lediglich Mittel zum Zweck. Und der ist die nationale Sache. Darin hat Arnim ausnahmsweise recht.«

Der Vater fuhr sich mit seiner fleischigen Hand über die Glatze, und er dachte so intensiv nach, dass sein Seehundsgesicht sich in Falten legte. Dann holte er einmal tief Luft und sagte: »Stauß ist also der Ansicht, dass dem Film die Zukunft gehört?«

Tino nickte. »Daran hat er nicht den geringsten Zweifel. Im Gegenteil. Er ist fest davon überzeugt, dass wir mit der Filmproduktion nach dem Krieg so viel Geld verdienen werden, dass uns die Taschen davon überlaufen.«

Der Vater straffte sich. »Nun gut, dann wollen wir es angehen«, sagte er. »Weißt du schon, mit welchen Firmen ihr fusionieren werdet?«

»Wir werden die Besten der Besten zusammenführen. Dafür werde ich persönlich sorgen.«

»Aber wie willst du das schaffen? Du hast doch keine Ahnung von der Branche.«

Auf die Frage hatte Tino nur gewartet. »Wozu war ich im Krieg?«, erwiderte er. »Mein Regimentskamerad Erich Pommer kennt die Branche wie seine Westentasche. Er hat mir versprochen, mich mit den richtigen Leuten zusammenzubringen.«

12

Die Zeit tat, was sie immer tut, sie verging, und indem sie verging, erneuerte sie sich. Die Tage wurden täglich länger, und während am Fehrbelliner Platz die Lindenbäume blühten und Blätter trieben, ging der Frühling allmählich in den Sommer über. Noch immer dauerte der endlose Stellungskrieg in Frankreich an, nach wie vor lagen sich die Soldaten der verfeindeten Länder in Dreck und Schlamm an der Somme gegenüber und lieferten sich regelmäßig kleine und große Scharmützel, ohne dass es zu einer Entscheidung kam, während jenseits des Atlantiks der amerikanische Präsident Millionen Dollar dafür ausgab, mit Propaganda sein Volk auf den Eintritt der USA in einen Krieg einzuschwören, von dem in Berlin, auch als die Tage wieder kürzer wurden, nur so viel zu spüren war, dass Reichskanzler Bethmann Hollweg auf Druck der Obersten Heeresleitung, die ihm mangelnde Durchsetzungskraft vorwarf, von Kaiser Wilhelm zur Abdankung genötigt wurde und der Uniform- und Modeschneider Simon Rosenberg in seiner Werkstatt am Fehrbelliner Platz fortan auf seinen zweiten Gesellen sowie den Lehrling verzichten musste, weil beide zum Waffendienst einberufen worden waren.

Auf dem Nähtisch hockte im August also nur noch Altgeselle Anton neben dem Meister zwischen den Stoffbahnen, und während die beiden mit der Arbeit kaum noch nachkamen, weil die Nachfrage nach Uniformen nach wie vor ungebrochen war, schrieb Rahel weiter ihre Artikel, ohne Auftrag und Honorar, um immer wieder dieselbe Enttäuschung zu erleben, wenn sie die »Vossische Zeitung« aufschlug und in fiebriger Erwartung die Seiten durchblätterte und ihren Namen wieder nicht darin fand. Und immer wieder erinnerten die Eltern sie ebenso leise wie nachdrücklich an den Antrag, den Edgar Weißpfennig, seines Zeichens Rayonleiter im Kaufhaus Wertheim, ihr gemacht hatte, ohne dass sie sich entschließen konnte, in diese Ehe einzuwilligen. Sie wusste, ihre Eltern meinten es gut mit ihr und wollten nur ihr Bestes. Sie war ja das ganze Glück der beiden, ein über alle Maßen verspätetes Wunschkind, das erst zur Welt gekommen war, als die schon damals betagten Eltern längst die Hoffnung aufgegeben hatten, und es brach ihr das Herz, sie zu enttäuschen.

Doch sollte sie darum auf ihr eigenes Lebensglück verzichten?