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Der Krieg um das Geborgene Land scheint vorüber. Frieden kehrt ein und die Völker festigen ihre Freundschaft, um geeint jeder Gefahr zu trotzen. Doch die Elben schmieden in ihren alten Reichen einen bedrohlichen Bund. Und im Grauen Gebirge wird ein Menschenkind aus dem Jenseitigen Land gefunden, das die Sprache der Albae spricht. Auf wundersame Weise gewinnt das Mädchen die Gunst vieler Bewohner des Geborgenen Landes, während die Zwerge dem Neuankömmling misstrauisch gegenüberstehen. Als ein übermächtiger Feind im Gebirge gesichtet wird, stellt sich heraus, dass das Mädchen ein Geheimnis hat, das die Zukunft des Volkes der Zwerge verändern wird. Wird eine letzte Schlacht geschlagen werden müssen? Und handelt es sich bei dem zurückgekehrten Tungdil tatsächlich um den legendären Helden der Axtschwinger? ... Der heiß ersehnte letzte Band macht die Bestsellerserie um »Die Zwerge« endlich komplett.
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Den Treuen, die ausharrten und auf mehr Zwerge hofften.Es war nicht umsonst.
ISBN 978-3-492-96961-1
April 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2015
© Markus Heitz 2015, vertreten durch: AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, www.ava-international.de
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»Es gibt Zwerge, die allen Ernstes glauben, die Gebirge rund um das Geborgene Land seien zu überwinden.
Wahrlich, ich sage euch: Eher werden sämtliche Tore unter dem Ansturm von mannigfachen Bestien fallen, als dass jemand einen Weg zwischen den Gipfeln hindurch findet.«
unbekannter Zwerg
»Gold. Was bedeutet schon Gold?
Wissen ist das, wonach ich trachte. Denn damit kann ich alles erschaffen, was ich möchte.
Gold erschafft nur Neid.«
Kentaira die Unbezwungeneeinstige Famula von Coïra
»Vraccas mag uns erschaffen haben, aber wie gerecht kann ein Vater sein, der einem Kind nichts Weiteres in die Wiege legt als seinen anderen vier?
Nun könntet ihr sagen: Seht ihr es denn nicht? Vraccas gab euch das Geschenk, die besten Krieger zu sein.
Darauf antworte ich: Es war nicht sein Geschenk. Es war unser Verdienst.«
Rognor SterbenshiebKanzler der Dritten
»Ich hatte einen Sohn. Auch an ihn dachte ich in Phondrasôn. Meine Suche nach ihm wird beginnen, sobald ich es vermag. Ich brauche Gewissheit nach den schier unendlichen Zyklen, in denen mein Verstand vernebelt war. Ich brauche Gewissheit über so vieles.«
Tungdil Goldhand
DAS GEBORGENE LAND
Xamtor Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne, König vom Stamm der Ersten, auch nur »die Ersten« genannt
Boïndil »Ingrimmsch« Zweiklinge aus dem Clan der Axtschwinger, König der Zweiten und Großkönig der Zwergenstämme
Boëndalin Machtschlag, sein ältester Sohn
Tungdil Goldhand, Krieger und Gelehrter vom Stamm der Dritten, Stammvater: Lorimbur
Goda Feuermut aus dem Clan der Stetemut, Kriegermaga und Ingrimmsch’ Gemahlin
Hargorin Todbringer aus dem Clan der Steinmalmer, Anführer der Schwarzen Schwadron und König der Dritten
Rognor Sterbenshieb aus dem Clan der Orkschlächter, Kanzler der Dritten
Bolîngor Klingenfänger aus dem Clan der Eisenfäuste, Zwergenkrieger
Furobil Funkenesser aus dem Clan der Feuerschlinger, Alchemist
Lorimgon Heilmacher aus dem Clan der Knochenrichter, Heiler
Frandibar Juwelengreif aus dem Clan der Goldschläger, König der Vierten
Aurogar Breithand aus dem Clan der Silbersucher
Balyndis Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger, Königin vom Stamm der Fünften
Balyndar Eisenfinger, ihr Sohn
Belogar Streithammer aus dem Clan der Brockenwälzer
Gosalyn Bergsturz aus dem Clan der Gangsucher
Girgandor Gipfelsturm aus dem Clan der Eisenpresser
Goïmbar Gemmenfinder aus dem Clan der Opalaugen
Barborín Wackerarm aus dem Clan der Schnellschläger
Beligata Hartschlag, einst aus dem Stamm der Dritten, nun eine Freie
Gordislan »der Jüngere« Sternenfaust, König von Goldhort
Balodil, albisch Carâhnios: der letzte Zhadár
Mallenia, Königin von Gauragar und Idoslân
Sha’taï, Patentochter
Rodario der Unerreichbare, König von Urgon
Isikor, König von Rân Ribastur
Astirma, Königin von Sangreîn
Coïra, Maga und Königin von Weyurn
Rodîr Bannermann, Krieger
Lot-Ionan, Magus und einstiger Ziehvater von Tungdil Goldhand
Natenian, König von Tabaîn
Raikan von Auenwald, Tabaîns Thronanwärter
Tenkil von Hoge, sein Begleiter und Krieger aus Tabaîn
Lilia, Kriegerin aus Tabaîn
Irtan, Krieger aus Tabaîn
Ketrin, Kriegerin aus Tabaîn
Cledenia, Adlige aus Tabaîn
Dirisa, Adlige aus Tabaîn
Heidor, Schankjunge aus Gauragar
Ilahín
Fiëa, seine Gemahlin
Phenîlas, Sorânïon
Ocâstia, Elbenkriegerin und Sorânïan
Ataimînas, Regent über Ti Lesinteïl und Naishïon der Elben
Nafinîas
Tehomín, Abgesandter des Naishïon
Menahîn, Abgesandter des Naishïon
Venîlahíl, Sorânïon
Chynêa, Sprecherin der Neuankömmlinge am Osttor
Semhîlas
Rahîlas
Inisëa
Vilêana, Fürstin
Carmondai, Meister in Wort und Bildnis
Aiphatòn, ehemaliger Kaiser der Albae im Geborgenen Land und Kind der Unauslöschlichen
Nodûcor, verstoßener Alb
Tsatòn nar Draigònt, Krieger
Djerůn, Leibwächter der Maga Andôkai
Narshân-Bestie: Raubtier, das in Phondrasôn und im Jenseitigen Land vorkommt
Acïjn Rhârk, Eigenbezeichnung der Acronta (zwergisch), auch Wandelnde Türme und Dorón Ashont (albisch) genannt: riesige Bestien, die andere Bestien jagen
Fin’Sao: Gestaltwandler, die nur Bestien imitieren können.
Goldfeuerwurm: drachenverwandtes Geschöpf in Wurmgestalt
Shintoìt: Bezeichnung für ein Kind der Unauslöschlichen
Botoiker: magisch begabte Menschen im Jenseitigen Land
Phondrasôn (albisch): unterirdischer Verbannungsort
Srai G’dàma: die Heilige Kaisermutter, Herrscherin der Acïjn Rhârk
Nrotai: die Erste Welle bei einem großen Kriegszug der Acïjn Rhârk; oft junge Krieger, die sich beweisen müssen.
Kân Thalay: mystisches Wort, das den Zustand des vollkommenen inneren Friedens beschreibt
Zhadár: albisches Wort für Die Unsichtbaren
Naishïon: Allherrscher, Großherrscher der Elben
Sorânïon/an: höchste/r Ermittler/in des Naishïon
Zehntner: Gewichteinheit, entspricht zweihundert Pfund
Ido: Angehörige des Herrschergeschlechts aus Idoslân
Famula/us: magisch begabter Mensch in Ausbildung
Magus/Maga: Zauberer/Zauberin
Das Geborgene Land,
Elbenreich Ti Lesinteïl
(einstiges Albaereich Dsôn Bhará),
6492. Sonnenzyklus, Frühsommer
Raikan von Auenwald zügelte sein Pferd, als der kaum noch wahrnehmbare Rand des Kraters erschien, in dem das Albaereich der verhassten Drillinge gelegen hatte. Die vierköpfige Begleiterschar des Thronanwärters von Tabaîn schloss auf, fächerte rechts und links von ihm auseinander, bevor sie anhielt. Noch in den Sätteln ließen die drei Männer und zwei Frauen, die sichtlich teure Kleidung und leichte, helle Mäntel trugen, die ungläubigen Blicke schweifen. Mit einer solchen Veränderung hatte keiner von ihnen gerechnet.
»Ich hätte jede Wette verloren.« Der hochgewachsene, dunkelhaarige Raikan gehörte einem alten Adelsgeschlecht an und galt als kommender Regent, sofern sein älterer Bruder Natenian wie versprochen aus Krankheitsgründen seine Ansprüche zurückzog. Daher lag es an ihm, die Unterredung mit den Elben zu führen, die sich nach der Befreiung von den Albae an diesem Ort niedergelassen hatten.
»Ich auch«, gab sein Freund Tenkil von Hoge verblüfft zu und legte eine Hand als Blendschutz waagrecht gegen die Stirn; mit dem Daumen strich er einige schwarze Strähnen zur Seite. Er war der Kräftigste der Truppe, die Muskeln verlangten nach vielen Ringen, um das Kettenhemd in seiner Größe zu flechten. Der Krieger hatte sich nicht von der Rüstung abbringen lassen, obwohl es sich um einen friedlichen Besuch bei Nachbarn handelte. Er schleppte auch die meisten Waffen an seinem Wehrgehänge. »Wie gelang das?«
Lilia, Ketrin und Irtan indes schwiegen, sie waren noch zu sehr mit Staunen beschäftigt.
Raikan dachte an die vergangenen Umläufe von Herbst, Winter und Frühjahr, die Heldentaten, Sterben und Siege bargen.
Welle um Welle an Kriegern war ausgerückt, um die Dsôn Aklán und die letzten Schwarzaugen im Norden des Geborgenen Landes zu vernichten. Letztlich gelang es den tapferen Streitern – unter unglaublichen Verlusten.
Danach hatte man begonnen, die Behausungen der Albae einzureißen, den Palastberg abzutragen und das Loch aufzufüllen; der Elb Ilahín und seine Gemahlin Fiëa hatten die Arbeiten überwacht.
Einen Zyklus nach dem Ende von Lot-Ionan, den Albae, des Drachen Lohasbrand und seiner Orks sowie des Kordrion kehrte im Geborgenen Land allmählich Ruhe ein. Die Throne der Menschenreiche waren besetzt, der Willkür sowohl der Einzelnen als auch der Massen wurden Riegel vorgeschoben. Recht und Ordnung hielten Einzug.
Das Königreich Tabaîn befand sich nach Raikans Empfinden auf einem guten Weg. Ein paar Fürsten und Emporkömmlinge wollten noch in die Schranken gewiesen werden, um der Kornkammer im Nordwesten des Geborgenen Landes zur inneren Beständigkeit zu verhelfen.
Mitten in den Vorbereitungen zum Kronverzicht hatte die Brüder die Einladung des Elbenpaares Ilahín und Fiëa erreicht, nach Ti Lesinteïl zu kommen.
An den Hof.
Raikan hatte nicht gewusst, dass die wenigen Elben bereits einen König gewählt hatten oder dass ihre Anzahl so rasch gestiegen war, um einen Hof zu bilden. »Reiten wir hin und bestaunen das Wunder aus der Nähe.«
Die kleine Schar lenkte ihre Pferde auf die leicht abschüssige, breite Straße.
Die einstige Tiefe des Kraters, in dem die Hauptstadt der Nord-Albae gestanden hatte, war allenfalls zu erahnen, sofern man die alten Erzählungen kannte. Die Elben hatten es geschafft, durch Aufschüttung eine meilenweite, kreisrunde Senke daraus werden zu lassen. Doch für Raikan war der dichte, üppige Wald, der sich darin erhob, das wahre Wunder.
Die Wipfel bildeten ein sattgrünes, wogendes Blättermeer, in das er und seine Begleiter eintauchten und zwischen den mehr als hundert Schritt hohen Bäumen versanken wie auf den Grund eines Meeres.
Raikan erfreute sich an dem flirrenden Lichtspiel, den vielen Farbtönen von Laub, Rinde und frischen Knospen. Der Geruch in der Luft erinnerte an Honig, an ausgefallene Gewürze und Weihrauch. Er belebte und betörte seine Sinne.
»Ich habe noch nie Bäume gesehen, die solche Blüten hervorbringen«, sagte Tenkil und klang argwöhnisch. »Oder so schnell wachsen.«
»Ich kann daran nichts Schlechtes finden, da sie das Grauen unter der lebendigen Natur verschwinden lassen.« In Raikan stellte sich ein gutes Gefühl ein, eine übergroße Zuversicht, aus der Zusammenkunft am elbischen Hof etwas Herausragendes für Tabaîn zu erreichen.
Insgeheim war er einem Pakt mit dem Elbenreich oder gar allen dreien nicht abgeneigt. Es würde Tabaîn einen Vorteil gegenüber Gauragar und Idoslân bringen.
Zwar begann eine neue Ära im Geborgenen Land, aber Raikan traute Königin Mallenia nicht. Bei aller Kampfkraft und Entschlossenheit, die sie an den Umlauf legte, störte ihn eine Sache gewaltig: ihr Verhalten, wenn es um das Zusammenleben ging. Was kann man von einer Herrscherin erwarten, die sich einem Schauspieler hingibt, der zugleich eine offene Liebschaft mit einer Maga hat?
Raikan rechnete nicht mit einem Angriff durch Mallenia, aber er hielt sie für launisch und vorschnell. Hätte er die Elben auf seiner Seite, würde das Eindruck machen, auch beim eigenen Volk. Er wollte Sicherheit für sein Land, mehr nicht.
Die Abordnung aus Tabaîn folgte der gewundenen Straße, die sich zwischen den mächtigen Stämmen dahinschlängelte.
Der lichtdurchflutete Wald umgab sie von allen Seiten. Moos und Farne wuchsen auf dem Boden, dichtes Unterholz fehlte, sodass Raikan gelegentlich Wild entdeckte, das den Reitern nachschaute. Es wusste, dass es nichts vor den Menschen zu befürchten hatte.
»Sieh nach rechts«, meldete Tenkil. »Scheint, als wären die Elben nicht ganz so gründlich gewesen.«
Raikan drehte den Kopf und erkannte die Überreste eines imposanten Standbildes aus Knochen, das unverkennbar albischen Ursprungs war.
Es wirkte wie ein gewaltiger Kriegeroberkörper, der sich aus dem Boden stemmte, um sich auf seine Feinde zu werfen. Ranken hatten sich um das schaurige Gebeinkunstwerk geschlungen und sich straff gespannt.
»Es wird nicht lange dauern, und die Gewächse zerreißen es«, schätzte Raikan und fühlte einen Schauer über den Rücken rinnen. Die Albae werden getilgt. Sie und alles, was sie erschufen.
Die fünf Reiter gelangten auf einen großen Platz, in dessen Mitte sich ein kolossaler Baum erhob, der mit seinen Ästen und Zweigen einen natürlichen Schirm über der Siedlung aufspannte. Raikan vermochte sich nicht auszumalen, wie tief die Wurzeln reichen mussten, um das Gewicht zu halten.
In lichten Schatten des Baumes erhoben sich geschätzt vier Dutzend Häuser, gänzlich aus Stein errichtet, die nach kleinen Festungen aussahen und doch genügend verspielte Elemente in sich bargen, um nicht wie verloren gegangene Bauklötze eines Riesen umherzustehen. Die behauenen Quader waren in Grüntönen sowie mit geschwungenen Ornamenten bemalt und von Pflanzen bewachsen. Sie fügten sich perfekt in die Umgebung ein.
Tenkil schien sich bereits Gedanken zu machen. »Wer die Siedlung einnehmen will, müsste sich von Haus zu Haus kämpfen.«
Raikan verübelte dem Krieger die Bemerkung nicht. Er hatte lange Zeit gegen die Feinde von Tabaîn gefochten; daher beurteilte er jeden Ort nach taktischen Maßstäben, bevor er ihn mit friedlichen Augen betrachten konnte.
Elbinnen und Elben gingen auf den befestigten Straßen umher, man warf den Neuankömmlingen freundliche Blicke zu. Raikan zählte mindestens vierzig Bewohner, die durch die Siedlung liefen. Er gab das Zeichen zum Anhalten. »Ich hörte etwas von einer Handvoll Elben, die ins Geborgene Land kamen.«
»Das sind mehr.« Tenkil atmete laut aus. »Viel mehr.«
»Aber unbewaffnet.« Raikan lächelte seinem Freund zu. »Man will uns nichts Böses.«
In der Mitte der kleinen Siedlung stand ein hundert mal hundert Schritt großes Haus, dessen geschwungenes Dach sich gut fünfzig Schritte über ihnen befand. Vier Balustraden zogen sich im Abstand zehn Schritt außen entlang.
Es war überwiegend aus Holz errichtet, die Balken kunstvoll mit Schnitzereien versehen, und zahllose weiße Lampions mit roten Runen pendelten leicht. Zwei riesige schwarze Banner hingen von ganz oben bis auf den Boden herab, die weißen Ornamente leuchteten beinahe. Sie rahmten im unteren Teil ein massives doppelflügeliges Bronzetor ein, auf dem sich noch mehr Runen befanden.
»Die Elben sind die schnellsten Baumeister, die ich jemals sah«, bekannte Tenkil, ohne es lobend zu meinen. In seinen Worten schwang sein Unglaube mit, es sei mit rechten Dingen zugegangen.
Nun reicht es mit seiner Unkerei. Raikan wollte etwas Rügendes erwidern, als der Eingang aufschwang und ein Elb in weiten, dunkelgrünen Gewändern heraustrat. Auf seinen Händen balancierte er ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und fünf Kelchen. Seine kurzen schwarzen Haare hatte er streng nach hinten gelegt, was die leicht spitz zulaufenden Ohren betonte; am Gürtel um seine schmale Hüfte trug er einen unterarmlangen Dolch.
Er näherte sich der Gruppe getragenen Schrittes.
Raikan empfand es nicht als angemessen, den Trunk aus dem Sattel heraus anzunehmen, also stieg er ab; Tenkil, Lilia, Ketrin sowie Irtan taten es ihm nach.
Ein leichter Wind zog durch das Waldmeer und ließ zahlreiche Glöckchen erklingen, die unsichtbar in den Ästen hingen. Es machte den Moment feierlich.
Der Elb deutete eine Verbeugung an, reckte das Tablett anbietend. »Willkommen, ihr Menschen aus Tabaîn. Mein Herr ist erfreut, dass ihr seine Einladung annahmt.«
»Wir haben zu danken.« Raikan und seine Truppe nahmen je einen Kelch.
Bereits der erste Schluck war köstlich: Das Wasser schmeckte rein und erfrischte mehr als alles, was der angehende König jemals zuvor getrunken hatte. Das leichte Aroma konnte er nicht zuordnen, doch es hinterließ in der Kehle eine angenehme Kühle.
Nachdem sie den Trunk zu sich genommen und die Kelche abgestellt hatten, wandte sich der Elb mit einem Lächeln um. »Folgt mir, bitte. Mein Herr erwartet euch.«
Raikan blieb auf doppelter Armlänge Abstand zu ihm und setzte sich in Bewegung. »Ketrin, du wartest bei den Pferden.«
Die blonde Frau nickte und fasste die Zügel in ihrer Hand zu einem dicken Strang zusammen.
Tenkil nickte andeutend in die Höhe. »Wächter. Neun Bogenschützen, wenn ich es richtig sehe. Sie stehen im Schatten der zweiten Balustrade.«
Alles andere hätte Raikan verwundert. »Nehmen wir einfach an, sie stünden zu unserem Schutz dort.«
Damit wurden es noch mehr Elben, die in Ti Lesinteïl lebten. Woher kamen sie?
Tenkil stieß ein raues Lachen aus. »Wie die verborgenen Späher im Wald, die auf uns zielten, als wir sie passierten?«
Raikan schwieg. Er hatte die elbischen Soldaten nicht bemerkt. Seinem Freund gelang es mit den Bemerkungen, die gute Stimmung mit Makeln zu versehen.
Sie gelangten durch das Doppeltor in eine große, schmucklose Halle, in der es durchdringend nach Weihrauch und Blüten roch. An den Wänden waren aufgemalte Schriftzeichen zu erkennen, ebenso stilisierte Landschaften mit Vögeln. Die Farben schimmerten mitunter, als wäre flüssiges Metall dünn über die Darstellungen aufgetragen worden.
Der hintere Teil der Halle war durch ein Podest und Schilfmatten erhöht, und dort saß ein beeindruckender, braunhaariger Elb auf seinen angewinkelten Unterschenkeln, was nicht bequem aussah. Sein raffiniert geschnittenes Gewand bestand aus weißem Stoff mit eingewobenen Gold- und Silberfäden. Sonnenstrahlen fielen aus drei verschiedenen Richtungen durch Öffnungen in der Decke; die Reflexionen machten den Elb zu einer Lichtgestalt. Die ringverzierten Hände lagen geöffnet auf den Oberschenkeln, die Augen waren auf die Besucher gerichtet.
Bislang hatte Raikan nur die Bekanntschaft von Ilahín und seiner Gemahlin Fiëa gemacht, und insgeheim hatte er damit gerechnet, Ilahín auf einem prunkvollen Thron vorzufinden. Die Schlichtheit der Umgebung überraschte ihn ebenso wie der fremde König.
Ihr Führer deutete eine Verbeugung an und sagte etwas auf Elbisch.
»Nutzen wir die Sprache der Menschen«, fiel ihm der Herrscher ins Wort, zum einen mit dem bekannten schmeichelnden Singsang, zum anderen mit einem ungewöhnlich harten Zungenschlag. »Es ist unhöflich. Raikan könnte annehmen, wir hätten etwas vor ihm zu verheimlichen.« Der Elb vollführte eine einladende, elegante Geste mit der Rechten, in der etwas Befehlendes lag.
Raikan nickte und setzte sich in Bewegung, da packte ihn Tenkil am Arm.
»Ich knie nicht«, raunte er; die Beschaffenheit des Raumes verstärkte seine Worte, sodass es alle Anwesenden hörten.
»Der Herrscher der Elben kniet nicht minder.«
»Er kann tun, was er möchte, aber ich beuge meine Knie allerhöchstens nach meinem letzten Atemzug. Ich habe lange genug gefochten, um vor keinem mehr …«
Es reicht! Raikan blickte ihm tadelnd ins Gesicht. »Dann warte bei den Pferden.«
Tenkils Lippen öffneten sich einen Spalt, doch er war klug genug, die Worte nicht auszusprechen. So wandte er sich auf den Fersen um und verließ die Halle.
Er war zu lange Krieger. Raikan sowie seine verbliebenen zwei Begleiter Lilia und Irtan begaben sich auf das Podest und setzten sich auf dieselbe Weise auf die Unterschenkel, in großem Abstand vor den Herrscher, den eine Aura von Macht und Selbstsicherheit umgab. Alleine der Blick aus den wachen, graugrünen Augen barg Überlegenheit.
Für die Kunst der Diplomatie war in den vergangenen Zyklen wenig Zeit gewesen, und so schwebte der junge Tabaîner auf einer Wolke der Unsicherheit; zudem war nicht überliefert, wie man sich einem elbischen Herrscher gegenüber verhielt. Ich warte ab.
Mit einem lauten metallischen Klang, der an einen Gong erinnerte, schlug das bronzene Tor zu. Es hallte nach, dann drängten sich die Töne der leisen Glöckchen durch das verebbende Echo.
Lange Zeit geschah nichts, man saß sich gegenüber, wartete ab.
Raikan musste bald ein Gähnen unterdrücken. Er fand die Stimmung im Raum dank Weihrauch und den harmonisch gestimmten Glöckchen zunehmend entspannend, obwohl das Sitzen von Herzschlag zu Herzschlag unbequemer wurde. Aber seine Aufregung legte sich.
Darauf schien der Gastgeber gewartet zu haben.
»Ich bin Ataimînas, Regent über Ti Lesinteïl und Naishïon der Elben. Wie ich sehe, sandte mir Tabaîn seinen kommenden Herrscher.« Er legte eine Hand auf Herzhöhe gegen die Brust. »Ich fühle mich geehrt.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits.« Raikan fühlte sich geschmeichelt, zugleich bemerkte er, dass seine Füße und Unterschenkel kribbelten. Es würde nicht lange dauern, und die Gliedmaßen wären dank der ungewohnten Haltung eingeschlafen. »Ihr habt hier ein Wunder vollbracht.«
Ataimînas lächelte dankend. »Maga Coïra und unsere bescheidenen Zauberkünste wirkten zusammen, damit der Schrecken begraben und vergessen wird.« Er breitete die Arme aus. »Reden wir über die Zukunft, junger König. Alles andere darf uns nicht mehr interessieren.«
Raikan stimmte zu. »Wie kann Euch Tabaîn beistehen?«
»Mit Korn.« Ataimînas legte die Hände in den Schoß, die Ringe und Steine daran funkelten. »Die Elbenreiche formieren sich neu, und da bleibt wenig Gelegenheit, Felder zu bestellen und sich dem Bauerntum hinzugeben. Die nächsten zehn Zyklen beabsichtigen wir, unseren Getreidebedarf durch das fruchtbare Tabaîn zu decken. Ich hörte, dass Eure Felder nach wie vor reiche Ähren tragen.«
Es geht gut los. Das bringt mich einem Bündnis näher. Raikan lächelte ungewollt. »Die paar Sack Roggen werden wir entbehren können.«
»Ich rede von sämtlichen Elbenreichen: Ti Âlandur, die Ti Singàlai, das Ihr Goldene Ebene nennt, und Ti Lesinteïl. Alles in allem rechnen wir mit einem Bedarf von elfhundert Zehntnern.«
Raikan hörte Lilia neben sich vor Überraschung durchatmen.
»Wie viele Münder sind zu stopfen, Regent Ataimînas?«
Der Elb schien erstaunt über die Frage. »Ich dachte, Vraccas’ Kinder hätten Euch über unseren Zuzug umfassend berichtet? Wir machen kein Geheimnis daraus.«
»Die Zwerge senden regelmäßig Botschaften an den Rat der Könige, doch das letzte Treffen liegt einen halben Zyklus zurück«, erklärte Raikan seine Unwissenheit. »Es gab viel zu tun.«
»Ich verstehe. Dann werdet Ihr lesen, dass wir aus Süden, Westen und Osten gezogen kamen, nachdem uns das Zeichen der Schöpferin erreichte, die Bedrohungen für unser Volk seien zu Ende.« Ataimînas wies zum Tor. »Dies ist nur eine Siedlung von vielen, König Raikan. Wir erstehen auf, und wir werden uns nicht von den Menschen und Zwergen abgrenzen, wie es unsere Vorgänger taten.« Der Elb richtete seinen Oberkörper auf, sein Gewand leuchtete in den Sonnenstrahlen. »Ich kenne den Ruf, den die Elben im Geborgenen Land haben, und ich fürchte: Sie hatten ihn zu Recht. Dies wird in weniger als einer Menschengeneration behoben sein.« Er zeigte auf Raikan. »Handelsbeziehungen mit Tabaîn bilden den Anfang. Wenn Ihr es möget.«
Natürlich! Raikan hielt sich mit lauten Zusagen jedoch zurück. »Ihr habt noch immer nicht gesagt, wie viele Elben zureisten.«
»Bis zum heutigen Umlauf werden es um die zehntausend sein.« Ataimînas sah die Überraschung auf den Gesichtern seiner Besucher und quittierte es mit seinem freundlichen Auflachen. »Ihr müsstet Euch sehen, junger König. Wir sind keine Eroberer. Wir kehren lediglich zurück an den Ort, an dem unsere Schöpferin uns formte. Und damit benötigen wir auch mehr Getreide.«
Die Aussicht auf dieses Geschäft und das Bündnis war verlockend. Raikan sollte jubilieren. Das Unwohlsein über diese gewaltige Menge Elben im Geborgenen Land ließ sich jedoch nicht ausblenden. Es war, als hätte Tenkil vor seinem Hinausgehen sein Misstrauen als unsichtbaren Hauch in der Halle gelassen. Das ärgerte Raikan.
»Wir stellen Euch weiteres Saatgut zur Verfügung, das Tabaîn für uns auf eigenen Feldern anbauen wird«, redete Ataimînas weiter. »Es ist Weizen von besonderer Qualität, und Ihr werdet die Flächen bewachen lassen, König Raikan. Dafür bezahle ich Euch weiteres Gold.« Er lächelte gönnerhaft. »Ich mache Euch reich.«
Anschließend legte er dar, wie hoch das Entgelt dafür sein sollte; auch den Preis für einen Zehntner Korn gab er vor.
Raikan widersprach nicht und handelte nicht. Das zu erwartende Gold lag weit über dem, was man verlangen konnte.
»Ich freue mich, den Elbenreichen helfen zu können«, erwiderte er stattdessen. Mit einem solchen Handel konnte er seine Bitte um ein Bündnis im Anschluss leichter vorbringen.
»Vergeuden wir keine Zeit.« Auf Ataimînas’ Wink hin öffnete sich eine in der Täfelung verborgene Seitentür, und zwei Elben kamen herein.
Sie trugen Pergament und Feder mit sich, der Vertrag über Lieferung und Anbau war bereits vorgefertigt. In beiderseitigem Einvernehmen wurden die Papiere um Menge und Goldbetrag ergänzt, sodann gegengezeichnet.
Raikan wusste, dass er damit einen Vorgriff auf die Königskrone seines Landes tätigte, doch die Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Es geht um Tabaîn.
»Ich bedanke mich vielmals«, sagte er zum Elb und bekam die unterschriebene Abmachung gereicht. »Darf ich die Gelegenheit nutzen, um …«
»Dann ist dieses Geschäft erledigt.« Ataimînas sah erfreut aus. »Reden wir über ein weiteres: Land.«
Nun war der junge König überrascht. »Ich verstehe nicht. Wolltet Ihr die Ackerflächen für Eure eigene Getreidesorte …«
»Dieses Elbenreich, auf dem Ihr und Eure Freunde sich befinden, wird mit den anderen beiden zusammengefügt. Wir kaufen die Erde, die dazwischenliegt.« Ataimînas langte hinter sich und nahm eine Karte, rollte sie aus. Die neuen Grenzverläufe waren bereits eingezeichnet. »Von Tabaîn hätten wir gerne das Stück, das im Norden von Âlandur liegt, bis hinauf zum Gebirgsbeginn. Dieses Gebiet liegt nicht zwischen unseren Landen, doch es würde den perfekten Abschluss bilden.«
Raikan hörte heraus, dass der Elb nicht mit Widerstand gegen die Pläne rechnete. Das muss unweigerlich zu Schwierigkeiten führen. Auf einen Schlag wurde das Elbenreich zu einem ungeeigneten Bündnispartner, der anstelle von Sicherheit eine Auseinandersetzung prophezeite. Für Raikan sah es aus, als habe er den Weg umsonst gemacht. »Ich nehme an, Ihr werdet noch vor dem Königsrat sprechen? Euer Anliegen betrifft in erster Linie Königin Mallenia.«
»So ist es. Allerdings befürchte ich Widerstand aus nichtigen Gründen. Sie ist als Doppelherrscherin gleichzeitig mit dem König von Urgon verbandelt, somit könnten drei Stimmen gegen mich sprechen.« Ataimînas musterte Raikan. »In Euch möchte ich einen Fürsprecher.«
Nun verstand der junge Mann, warum das Getreide so großzügig bezahlt wurde. »Ich muss mit meinem Bruder darüber sprechen«, suchte Raikan nach einem Ausweg, der sehr brüchig klang. »Es ist eine Entscheidung von größerer Tragweite als Getreidelieferung und -anbau.« Tenkils Unkerei scheint sich zu bewahrheiten. Der nächste Krieg lauerte, nur einen Zyklus nach der Befreiung.
Der Elb lächelte weiterhin unverbindlich, goldene und silberne Reflexionen huschten über das schöne Antlitz. »Tut das, Raikan von Auenwald. Ihr werdet ihn überzeugen können. Wer hätte nicht gerne den Naishïon zum Freund?«
Raikan erinnerte sich, dass Ataimînas den Begriff eingangs erwähnt hatte. »Verzeiht mir meine Unwissenheit, doch die letzten zweihundertfünfzig Zyklen vergingen, ohne dass man Elben sah oder gar sprach. Dieser Titel bedeutet …?«
»Übersetzen ließe es sich in Eure Sprache mit unumschränkter Herrscher.« Der Elb blieb vollkommen freundlich. »Meines Volkes. Nicht des Geborgenen Landes«, fügte er nach einer Weile mit verschmitztem Lächeln hinzu. »Um Missverständnissen vorzubeugen.«
»Natürlich.« Raikan war sehr froh, Tenkil bei den Pferden gelassen zu haben. Sein Krieger hätte sich sofort auf einen Disput eingelassen. Auf dem Nachhauseritt gibt es viel zu überlegen. Das Bündnis muss wohlbedacht sein.
»Habt Ihr von dem Kind gehört, das sie im Grauen Gebirge fanden?«, sagte Raikan, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Ihr meint das Mädchen?« Ataimînas wirkte sofort verschlossener, er reckte sich und lehnte sich leicht zurück. »Wenn Ihr mich fragt: Belogar Streithammer hätte es erschlagen sollen. Der Zwerg und ich denken das Gleiche. Ich fürchte wie er, dass sich das Kind nicht als Segen für unser aller Heimat erweisen wird.«
Das muss er mir näher erklären. Raikan setzte zu einer weiteren Frage an – da erklangen von draußen ein lauter Schrei und das Sirren von Pfeilen, gefolgt von weiteren Schreien und dem Wiehern von aufgeregten, verängstigten Pferden.
Tabaîns baldiger König sprang auf, neben ihm erhoben sich Lilia und Irtan – doch sanken sie ebenso wie er nach dem ersten Versuch auf die Schilfmatten zurück. Sie hatten wegen der vorangegangenen abgeschnürten Blutzufuhr kein Gefühl in den Beinen, von den Knien abwärts schienen sie gelähmt. Hilflos lagen sie im Saal und waren leichte Opfer.
»Tenkil!« Raikan blickte zum verschlossenen Tor, dann zum Elbenherrscher.
Aber Ataimînas saß nicht mehr an seinem Platz.
So änderten sich die Zeiten im Geborgenen Land.
Vom Helden der Albae zum Gefangenen der Herrscher und letztlich zum Schoßhündchen von Machtmenschen geworden – scheinbar.
Aber meine Zeit kommt, wird wieder kommen.
Denn das lehrte mich: die Zeit.
aufgefundene geheime Anmerkungen zu:Die Schriften der Wahrheitauf Geheiß aufgezeichnet von Carmondai
Das Geborgene Land,
Vereintes Königreich Gauragar-Idoslân, Stadt Freistein,
6492. Sonnenzyklus, Frühsommer
Wie schnell sich Dinge ändern«, murmelte Boïndil »Ingrimmsch« Zweiklinge aus dem Clan der Axtschwinger in seinen prachtvollen schwarzsilbernen Bart, den er sorgsam gekämmt hatte.
Er ritt gerüstet und bewaffnet auf einem weiß-schwarz gescheckten Pony in das Städtchen Freistein ein, in dem vor knapp zwei Zyklen ein grausames Massaker an der Bevölkerung verübt worden war. Die Albae hatten die Knochen der hiesigen Menschen als wohlgeraten betrachtet und die Leute auf dem Markplatz zusammengetrieben, ermordet und ausgebeint, um das, was sie als tauglich betrachteten, für ihr Kunstschaffen zu nutzen.
Aus der buchstäblich ausgebluteten Stadt war mit dem Ende der Schwarzaugen ein Quell des Lebens geworden, durch deren quirlige Straßen der König der Zweiten und seit nicht allzu langer Zeit auch Großkönig der Zwergenstämme gemächlich dahinzog.
Überwiegend junge Menschen hatten sich in den verlassenen Häusern niedergelassen, die Felder waren bestellt und trugen reiche Ähren, an den Bäumen gedieh bestes Obst. Ein Aufblühen nach den Dekaden des Schreckens und der Finsternis.
An diesem Ort, der für die Wandlung des Geborgenen Landes und den Aufbruch in ein neues Zeitalter stand, traf sich Ingrimmsch mit dem Rat der Könige, zu dem auch der Elb Ilahín erwartet wurde.
Ein halber Zyklus war seit dem letzten Treffen vergangen, und der Herrscher aller Kinder des Schmieds fand, es sei allerhöchste Zeit, dass eine Aussprache stattfand. Der Austausch von Nachrichten konnte das Gespräch von Angesicht zu Angesicht nicht ersetzen.
Dinge müssen gesagt werden. Am besten bei Schwarzbier. Er lenkte das Pony von der Straße in einen Toreingang, über dem die Banner aller Königreiche wehten; darüber prangte der Name Zum Heldenhof.
Klackernd trafen die Hufe auf das Kopfsteinpflaster, die Wände der im Viereck angeordneten Fachwerkgebäude warfen den Schall zurück.
Zwei Menschenkrieger standen unmittelbar hinter dem Durchlass, sahen das Siegel des Zwergs und salutierten mit ihren Speeren. Laut rief der Rechte den Namen des Neuankömmlings, damit man in den Häusern Bescheid wusste.
»Muss das sein?«, brummelte Ingrimmsch. »Was die ganzen Schlachten mit ihrem Scheppern und Krachen nicht schafften, möchtest du wohl vollbringen: Ich könnte taub werden.«
Der Soldat grinste scheu, wagte aber keine Erwiderung.
Der Zwerg hielt vor der Scheune an und rutschte aus dem Sattel, streckte sich und streichelte das Tier. »Du hast gut durchgehalten. Aber das Reiten mag ich immer noch nicht.«
Ingrimmsch hatte auf einen Tross verzichtet. Ein erfahrener Krieger wie er benötigte keinerlei Begleiter; sie hinderten ihn nur am raschen Vorwärtskommen. Der Weg aus dem Blauen Gebirge, in dem sein Königreich lag, zog sich gehörig in die Länge, aber für ein Pony und einen Gast fanden sich stets Stall und Heu sowie ein Mahl, Schwarzbier und ein Bett.
Ingrimmsch warf seinen geflochtenen schwarzsilbernen Haarzopf auf den Rücken und streckte die Hand nach dem Krähenschnabel aus, der am Sattel in der Halterung baumelte, da flog die Tür des Wirtshauses auf.
Heraus kam Rodario der Unerreichbare, der sich neuerdings mit dem Titel eines Herrschers schmücken durfte. Der Nachfahre des einst größten Mimen des Landes trug eine strahlend weiße Robe mit unzähligen bunten Stickereien, die von einem schwarzen Gürtel gehalten wurde; um seine Schultern hing ein braunes Tuch mit grünen Bergesornamenten. Sein Aristokratengesicht zierten ein Kinnbärtchen sowie ein verwegener Schnauzbart, die braunen Haare lagen in gepflegten Locken auf seinem Kopf.
»O Herrschaftlichster unter den Herrschaftlichen«, rief er übertrieben und breitete die Arme begrüßend aus. »Seht, von geringem Wuchs und doch das Herz eines Riesen, lenkt er …«
Ingrimmsch musterte ihn. »Was soll das sein, was du da am Leib herumschleppst?« Er nahm den Krähenschnabel mit einem Ruck aus der Halterung und schulterte ihn feixend, die Ringe des Kettenhemdes klingelten leise. »Ein Morgenmantel?«
»Das, du unwissender Dickkopf, ist die neuste Mode aus meinem Reich.« Rodario, König von Urgon und Liebhaber von Mallenia sowie Coïra, drehte sich einmal sehr theatralisch im Kreis, sodass die Schöße flogen. »Ich habe sie selbst entworfen.«
»Ho, schon vergessen? Du stehst nicht mehr auf der Bühne. Du sitzt auf einem echten Thron und solltest Herrscher sein, nicht spielen.« Ingrimmsch strich sich durch den Bart. »Außerdem hast du zugenommen. Sie werden die Sitzfläche vergrößern müssen.«
»Da steht sie, die Liebenswürdigkeit in Zwergengestalt.« Rodario stemmte die Hände in die Hüften und lachte. »Das nenne ich mal Austausch von Nettigkeiten!«
»Wer mich gering von Wuchs nennt, darf nicht auf Gnade hoffen.« Ingrimmsch ging auf den einstigen Mimen zu und reichte ihm die Hand. »Dennoch freut es mich, dich zu sehen, König Rodario der Erste.«
Beim Einschlagen der Finger deutete der Mann eine Verbeugung an, das Gesicht war nun frei vom Schalk. »Es ist mir eine Ehre, dich zu sehen, mein Freund, Großkönig Boïndil.«
Sie lächelten sich kurz an, dann ließen sie ihre Hände nach einem festen Druck los und gingen ins Haus.
»Seit wann hast du die Seitenhaare nicht mehr ausrasiert? Das sieht ungewohnt aus.«
»Ich hatte keine Zeit«, wiegelte Ingrimmsch ab. Er ist und bleibt ein Mime. Ich spreche sicherlich nicht über Frisuren.
Im hohen, geschmückten Gastraum, der für die Zusammenkunft des Königsrats hergerichtet war, wartete der schwarzhaarige Ilahín, gekleidet in ein ähnlich geschnittenes Gewand wie Rodario, allerdings in weniger leuchtendem Weiß und ohne Verzierungen. Der Elb machte dadurch mehr Eindruck als Urgons König, fand Ingrimmsch.
Gerüstete Wachen der verschiedenen Herrscher, erkennbar an den Abzeichen an den Harnischen, standen in den Ecken. Sie waren ausgestattet mit Kurzschilden und -schwertern; gemeinsam sicherten sie das Leben ihrer Regenten.
Der Wirt und seine Bediensteten hatten sich Mühe gegeben und sogar Blumenkränze an die Fenster gehangen. Es roch schwach nach Seifenlauge, mit der die Böden geschrubbt worden waren, darunter mischte sich ein Hauch von garendem Braten. Für Essen war gesorgt.
Ilahín nickte dem Neuankömmling zu. »Meinen Gruß, Großkönig. Wie schön, dass Ihr wohlbehalten angereist seid.«
Mallenia, wie stets in eine schwere Rüstung gehüllt, saß bereits am Tisch und studierte mehrere Blätter mit Nachrichten; sie war so vertieft in die Zeilen, dass sie Ingrimmsch nicht bemerkt hatte.
Als Rodario sie ansprechen wollte, hielt ihn der Zwerg zurück. »Es wird noch genug Zeit sein. Lass sie lesen.«
Er bekam einen Krug aus geschnitztem Stoßzahn mit Schwarzbier von einer Schankmaid gereicht und prostete in den Raum, ohne den Krähenschnabel von der Schulter zu wuchten. »Auf Vraccas und den Rat der Könige. Möge die Straße auf dem Weg nach Hause weniger staubig sein.«
Er leerte den Humpen in einem Zug und winkte sich den nächsten herbei, was Rodario mit einem breiten Grinsen kommentierte.
»Sag an, Schauspieler: Eine deiner Frauen sitzt am Tisch – wo ist die andere?«
Mallenias blonder Schopf zuckte sofort in die Höhe, ihre Lider zu schmalen Schlitzen verengt.
»Lass mich nicht annehmen, dein Verstand hätte in einer der vielen Schlachten einen Schlag abbekommen«, sprach sie mit giftigem Lächeln.
Ingrimmsch tauschte den leeren Krug gegen den vollen. »Ist es denn nicht so?«
Er sah mit großen Augen zu Ilahín. »Sag, dass ich nichts Falsches von mir gab.« Er zeigte mit dem Gefäß auf Rodario, ein wenig Schaum schwappte über den Rand. »Der hier wird sich nicht trauen. Sie hat das größere Schwert.«
Der Elb rang mit sich, unterdrückte ein Lachen.
Da wurde am Tor laut das Eintreffen der Königin Astirma von Sangreîn sowie des Königs Natenian aus Tabaîn vermeldet. Dem erklingenden vielfachen Hufschlag nach reisten beide mit großem Gefolge an.
»Wie schön! Heißen wir sie willkommen.« Rodario eilte erleichtert zur Tür und verschwand hinaus.
Kleiner Feigling. Ingrimmsch lachte in den Humpen hinein und trank vom Bier. »Damit fehlen nur noch Coïra und Isikor aus Rân Ribastur.«
Aber Ilahín schüttelte den Kopf. »Die Maga wird nicht kommen. Ich habe einen versiegelten Brief von ihr dabei, in dem ihre eigenen Worte stehen.«
»Aha«, machte der Zwerg und begab sich an den Platz, der für ihn vorgesehen war. Das Banner des Großkönigs, das von der Balustrade dahinter herabhing, kennzeichnete ihn eindeutig. Erst jetzt stellte Ingrimmsch den Krähenschnabel ab, der schwere Eisenkopf mit dem langen, gebogenen Ende prallte auf die Dielen. »Warum kommt sie nicht?«
Der Elb setzte sich neben ihn. »Sie möchte nach weiteren magischen Quellen forschen. Unsere ist versiegt, wie sie feststellte.«
Ingrimmsch hob vor Verwunderung die Brauen. »Versiegt?« Er brauchte auf den Schrecken noch einen Schluck.
Somit befand sich die einzige frei zugängliche und bekannte Quelle in seinem Reich, im Blauen Gebirge. Seine Gemahlin Goda und ihre gemeinsamen Kinder bewachten sie.
Es ging jedoch weniger um die Sicherheit als um den Umstand, dass es schwer für Coïra werden würde, rasch an Energie für ihre Zauber zu gelangen. Das mochte in Zeiten des Friedens weniger eine Rolle spielen als im Falle eines Angriffs auf das Geborgene Land.
»Es werden sich neue finden. Das war bislang stets so«, sagte Ingrimmsch, um sich und den Elb zu beruhigen.
Ilahín wirkte hingegen nicht besorgt. »Es ist uns sogar lieber so. Was lange Zeit im Einflussbereich der Albae lag, mag sich durch ihre Beeinflussung gewandelt haben. Das war auch Coïras Wunsch: eine reine, frische Quelle zu finden, angefüllt mit unberührter Energie. Sitalia wird uns eine weisen.«
»Auch wieder wahr. Hoffen wir auf deine Göttin. Vraccas kommt nicht infrage. Er mag keine Magie.«
Königin Astirma und König Natenian betraten unter der Begleitung von Rodario und zahlreichen Wachen sowie einer Handvoll Hofstaat den Innenraum.
Die Herrscherin war noch recht jung, sogar nach Menschenmaßstäben, und die braun gebrannte Haut sowie die ausgeblichenen hellen Haare verwiesen darauf, dass sie sich oft unter der Wüstensonne aufgehalten hatte. Sie trug kaum Kleidung am Leib, und gegen die Blicke lag ein halbdurchsichtiger Mantel aus gewirkter Seide darüber.
Natenian, dessen weit fallendes, ährengelbes Gewand seine gebrechliche Statur verbarg, musste geführt werden und vermochte sich trotz Stock und Fürsorge kaum auf den Beinen zu halten. Der braunhaarige Mann hustete und röchelte, zog den rechten Fuß nach, obwohl er nicht viel älter als Astirma sein konnte. Es verwunderte Ingrimmsch nicht, dass er seinen Platz auf dem Thron für seinen jüngeren, gesunden Bruder räumen wollte.
Mallenia sammelte ihre Unterlagen zusammen und nickte den Ankommenden zu, als wären sie Soldaten, die sich zu einer Angriffsbesprechung trafen. Sie hatte noch nie viel von langatmiger Etikette unter Gleichrangigen gehalten, wie sich der Zwerg entsann. Einer ihrer Vorzüge.
»Wir können anfangen. Isikor lässt ausrichten« – die Ido hob einen Brief, an dem mehrere Siegel zur Bestätigung der Echtheit baumelten –, »er könne aufgrund des Wetters nicht selbst erscheinen, schließe sich aber der Mehrheit an, sollte es zu Abstimmungen kommen. Stets zum Wohl des Geborgenen Landes.«
»Hört, hört!« Ingrimmsch machte ein glückliches Gesicht. »Das beschleunigt die Dinge. Und ein Lob dem Boten, der den Schrieb brachte. Er scheint besser mit dem Wetter klarzukommen als sein König.«
Die Herrscherinnen und Herrscher lachten.
Alle begaben sich nach kurzer Begrüßung auf ihre Plätze. Jedem wurde Wasser, Bier und Wein nachgeschenkt, der Hofstaat trat sodann in den Schatten der Balustrade zurück. Der Rat der Könige konnte seine Unterredung beginnen.
Mallenia oblag die Führung bei den Gesprächen, da sich die Versammlung in ihrem Land einfand. »So grüße ich die Herrscherinnen und Herrscher des Geborgenen Landes und erbitte zuerst im Namen aller den Beistand der Götter. Mögen sie uns schützen und Weisheit geben, um die Schwierigkeiten zum Wohle der Untertanen und Bewohner zu lösen.«
Ingrimmsch murmelte seine Zustimmung. Dagegen kann Vraccas nichts haben.
»Ilahín, du hast eine Nachricht von Coïra für uns.« Mallenia bedeutete ihm, das Siegel zu brechen und das Geschriebene vorzulesen.
Der Elb tat es und erklärte dabei für alle, dass die Maga sich auf Quellensuche begeben habe, bevor er ihre Zeilen wiedergab:
Hochgeschätzter Rat der Könige,
meine besten Grüße von einem unbekannten Ort irgendwo im Geborgenen Land, an dem ich mich sicherlich gerade befinde, wenn Ilahín meine Worte verliest.
Die Quelle hat ihre Macht verloren, und wenn ich nicht nur auf jene bei meinem werten Freund Boïndil Zweiklinge angewiesen sein möchte, muss ich losziehen und erkunden.
Vernehmt: In Weyurn werden die Geschäfte solange von Rodario geführt. Er möge in der Versammlung ebenso in meinem Namen abstimmen.
Ich bin sicher, dass mir Samusin zum Ausgleich für den Verlust der Quelle etwas Besseres senden wird. Oder es bereits tat.
Es wird nicht lange dauern, bis ich in Amt und Würden zurückkehre.
Mir liegt am Herzen, zu betonen: Ilahín und seine Gemahlin sowie die Elben behandelten mich wie eine gute Freundin.
Mögen Palandiell und Sitalia mit Euch am Tisch sitzen!
Coïra
Maga und Herrscherin von Weyurn
Natenian schloss die Augen, und jeder sah Astirma ihre Ablehnung an.
Damit konnten zwei Menschen jeden Entschluss des Königsrates verhindern – oder nach Gutdünken entscheiden. König Isikors Beschluss, der Mehrheit zu folgen, machte es komplett unmöglich, gegen Mallenia und Rodario zu stimmen.
Das kann heiter werden. Ingrimmsch hob den Krug, der fast leer war, und prostete dem Unerreichbaren zu. »Jetzt haben wir fast nur Großkönige am Tisch sitzen«, rief er gut gelaunt, und der Elb lachte auf. »Man sollte neue Titel erfinden.« Er trank aus und bekam einen vollen Krug gebracht.
Niemand ahnte, dass mehr dahintersteckte als die Trinkfreudigkeit eines scheinbar heiteren Zwergs, dem man seine direkte, unverblümte Art durchgehen ließ.
»Hier herrscht die Vernunft«, erwiderte Rodario und blickte dabei beruhigend zu Tabaîns und Sangreîns Herrschern. »Seid unbesorgt. Die Zeiten, in denen jeder nach dem Besten für sich trachtete, sind vorüber.«
Das zumindest klang königgleich. Ingrimmsch schlug mit dem Humpen auf den Tisch, um das Gesagte zu unterstreichen. »Erneut: Hört, hört!«
»Ich gehe davon aus, dass unsere Einwände stets gehört werden«, sagte Natenian kaum vernehmlich. »Und da ich gerade das Wort habe und danach wohl wegen meiner Schwächung schweigen muss: Meine Umläufe als König sind gezählt. Ich danke zugunsten meines Bruders ab, der Tabaîn länger erhalten bleiben wird als ich.« Er öffnete die Lider, die graubraunen Augen waren auf Ilahín gerichtet; die Brust hob und senkte sich, als habe er einen schnellen Lauf absolviert. »Sobald er aus Lesinteïl zurückkehrt, wird der Wechsel vollzogen. Betrachtet mich daher bitte als seinen Stellvertreter und Gesandten meines Landes.«
Mallenia klatschte als Erste, in den Beifall stimmten die Übrigen mit ein. Ingrimmsch pochte mit dem Griffende des Krähenschnabels gegen die Tischkante.
»Dann reden wir über den Zustand unseres geliebten Geborgenen Landes«, hob Mallenia an. »Dass Boïndil Zweiklinge zum Großkönig der Zwergenstämme ernannt wurde, sprach sich genügend herum.«
Ingrimmsch nickte grimmig-freundlich in die Runde. Er wollte damit jegliche Fragen verhindern.
»Woher kam der Gesinnungswechsel?«, warf Astirma zu seinem Leidwesen ein. »Hattet Ihr nicht selbst vorgeschlagen, das Amt auf zwanzig Zyklen ruhen zu lassen?«
Er seufzte innerlich. »Die Umstände«, gab er gespielt locker zurück. »Die Stämme wollten einen König, und da konnte ich mich nicht länger verweigern. Vraccas’ Wille, wenn man so möchte.«
Dass ihn die herablassende Art der Elbin Fiëa dazu getrieben hatte, ließ Ingrimmsch unerwähnt.
Er hatte an jenem Umlauf die Abrissarbeiten im Albaereich verfolgen wollen und von einem Einbruch des Erdreichs vernommen, durch den sich eine Passage an einen Ort auftat, in dem die schlimmsten Scheusale lebten: Phondrasôn.
Der Zwerg glaubte inzwischen wie nicht wenige in den Stämmen, dass Tungdil Goldhand, der wahre Großkönig der Zwerge, immer noch lebte und in Phondrasôn verschollen war.
Deswegen hatte Ingrimmsch unverzüglich einen Trupp in den eingebrochenen Krater zu einer Suchmission führen wollen, doch Fiëa hatte ihn abgewiesen. Er war seither noch überzeugter davon, dass sein Freund lebte und manchen Elben nur mit viel Vorsicht zu trauen war.
Zudem wollte Ingrimmsch die Zwerge notfalls geschlossen führen können, sollte Gefahr drohen.
Bei mehr als zehntausend zugewanderten Elben wohl nicht die schlechteste Entscheidung, die ich traf. Er behielt den Gedanken für sich. Er würde die Stimmung verderben.
Ebenso machte ihm in einsamen Momenten ein weiterer Umstand zu schaffen. Das Elixier, von dem er gekostet hatte …
Er schob auch diesen Gedanken zur Seite. Den kann ich gerade nicht brauchen.
Astirma schien sich mit der Erklärung zufriedenzugeben, sah auf den Zwerg und anschließend auf seinen Bierhumpen. Sie missbilligte sein Trinken. »Ich verstehe, dass auch die Kinder des Schmiedes einen Anführer haben möchten, der sie in der Not eint. Einen weisen.«
Ingrimmsch ging auf ihre Anmerkung nicht ein, zwinkerte ihr stattdessen zu.
»Kommen wir zu Aiphatòn«, nahm Mallenia den Faden auf. »Er befindet sich weiterhin außerhalb des Geborgenen Landes, soweit wir wissen. Er folgte einer albischen Spur, die ihn durch das Graue Gebirge führte. Das war vor gut einem Zyklus. Weiß jemand anderes zu berichten?«
Die Köpfe wurden geschüttelt, und Ingrimmsch trank wieder.
»Ich finde es erfreulich, dass er seine Aufgabe ernst nimmt.« Ilahín erhob sich. »Und auch wir arbeiten an der Tilgung der Spuren, die auf die Albae hinweisen. Mithilfe der Maga brachten wir die Natur in den einstigen Albaereichen zum Auferstehen. Ihr würdet Dsôn Bhará nicht wiedererkennen, so herrlich sieht es inzwischen aus.«
»Ihr habt ja auch genug Leute«, stimmte Ingrimmsch freundlich zu. »Habe ich es schon erwähnt? Es sind etwas mehr als zehntausend Elben in einem Zyklus ins Geborgene Land gereist, aus Süden, Westen und Osten. Unsere Torwachen ließen sie unbehelligt passieren, nachdem geprüft wurde, dass es sich nicht um verkleidete Albae handelt.«
Ein deutliches Murmeln ging durch den Rat. Damit hatte niemand gerechnet.
Ingrimmsch sah, dass Mallenias Gesicht nachdenklich wurde. Die Kriegerkönigin dachte sogleich an eine mögliche Bedrohung, und Rodario legte die Fingerspitzen zusammen, um mit seinem durchdringenden und leicht übertriebenen Blick eine Erklärung vom Elb zu erzwingen.
»Dafür sind wir den Zwergen sehr verbunden.« Ilahín ließ sich nicht lange bitten. »Mein Volk hatte in den vergangenen Zyklen und in der Geschichte des Geborgenen Landes sehr unterschiedliche Rollen …«, holte er aus – doch etwas anderes fesselte die Aufmerksamkeit des Zwergs.
Die singenden, zu wohlklingenden Worte verhallten in seinen Ohren und wurden zu einem unangenehmen Hintergrundgeräusch, während Ingrimmsch sich auf einen eintretenden Wachsoldaten konzentrierte, der das Wappen des Urgon-Reiches trug.
Im Gegensatz zu seinen Kameraden ging er kerzengerade und in vorbildlicher Haltung, was nicht so recht passen wollte. Zudem schien die Rüstung an manchen Stellen zu klein, an anderen zu weit zu sein.
Wieso trägt er einen Speer? Ingrimmsch leerte den wunderschön geschnitzten Stoßzahnbecher und wandte sich um, damit die Bediensteten ihn sahen. Dabei fiel ihm auf, dass der Wächter behutsam am Schaft umgriff; der lederne Handschuh knirschte leise.
Als wollte er sich zum Wurf vorbereiten.
Ingrimmsch sprang auf, machte einen Schritt vom Stuhl auf den Tisch und hob den Krähenschnabel. »Achtung!«
Im gleichen Moment neigte sich der Krieger nach vorne und schleuderte die Waffe in einer sehr anmutigen Bewegung. Den Ausfallschritt nutzte er, um sein Kurzschwert zu ziehen und die beiden Wächter neben ihm in einer blitzschnellen Drehung um die eigene Achse niederzustechen.
Ingrimmsch gelang das Kunststück, den heranjagenden Speer mit der gekrümmten Spitze seiner Waffe aus der Luft zu fischen und ihn gegen eine Holzsäule zu dirigieren.
Leicht zitternd blieb der Spieß stecken, der blass gewordene Elb war knapp verfehlt worden.
Jetzt standen die Herrscherinnen und Herrscher von ihren Plätzen auf, Mallenia riss ihre Klinge aus der Hülle. Sie hatten verstanden, dass es sich nicht um den Scherz eines vom Bier übermütigen Zwergs handelte.
Die Leibwachen stürmten von allen Seiten zum Angreifer, der sich ein zweites Kurzschwert von einem der niedersinkenden Toten nahm und um sich schlug.
»Ho, komm nur her! Du wirst mich nicht …« Da wurde es schlagartig finster um Ingrimmsch. Es schien, als wäre die Nacht über den Raum hereingebrochen, um sich an der Sonne zu vergehen.
Die Dunkelheit zeigte dem Zwerg, welchem bösartigen Gegner er unerwartet gegenüberstand.
»Schwarzauge!«, brüllte er und duckte sich, hielt den langen Griff des Krähenschnabels zur Deckung vor sich. Die magische Schwärze war für die Augen des Zwergs undurchdringbar. »Kämpfe im Licht, feiges Scheusal!«
Es klirrte um ihn herum. Todesschreie gellten, und unaufhörlich prallten gerüstete Leiber sowie herrenlose Waffen klirrend auf den Boden des Gastraums. Es wurde durcheinandergerufen, genagelte Sohlen rutschten und rannten umher, das Surren von verzweifelt hilflosen Klingenhieben mischte sich darunter.
Diese Kopflosigkeit kam dem albischen Attentäter zupass.
Ruhig. Ich darf nicht in den Wahn verfallen. Ingrimmsch kauerte hinter einem Schutz, lauschte in dem Chaos auf ein Geräusch, das ihn den Gegner erahnen ließ.
Er fühlte, wie die Hitze seiner heißen Lebensesse in ihm emporloderte, wie das Zhadárelixier die gefürchtete Raserei zurückbrachte und ihn in brachiales Toben verfallen lassen wollte. Jedoch gab es für Ingrimmsch in diesem Zustand weder Freund noch Feind. Das wäre verheerend für die Herrscherinnen und Herrscher des Geborgenen Landes.
Durch die Wirkung von Alkohol konnte er die Wut oftmals besänftigen, einschläfern, doch in dieser Lage gab es kaum mehr ein Halten. Dabei hatte er sie einst im Griff gehabt. Vor dieser unglückseligen Verwechselung der Trinkflaschen.
Es roch kupfermetallisch nach Blut und warmfeucht nach aufgeschlitzten Innereien.
In Ingrimmschs Vorstellung metzelte sich der Alb mit verächtlicher Miene durch die Reihen und bahnte sich den Weg zu Mächtigen. Es war die beste Gelegenheit seit einem Zyklus für einen Anschlag auf die gekrönten Häupter des Geborgenen Landes. Mallenia hätte bessere Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen.
Ein plötzlicher Luftzug streifte sein furchiges Gesicht und brachte den gekämmten Bart sacht zum Schwingen.
Ingrimmsch stellte sofort das rechte Bein raus, an dem ein Fuß hängen blieb, und ein leiser albischer Fluch erklang; gleichzeitig erhob er sich, schwang den Krähenschnabel kreisend, um den flinken Feind in den Rücken zu treffen.
Der unterarmlange Dorn streifte spürbar Widerstand, Eisen kreischte rebellierend auf. Die Spitze verhakte sich, und Ingrimmsch riss ruckartig am Griff. »Ha!« Ein heißer Funkenstoß jagte in sein Blut, doch er beherrschte sich.
Gleichzeitig kehrte das Licht in den Raum zurück. Der Treffer schien die Konzentration des Albs gestört zu haben.
Der schnaubende Großkönig sah den Rücken des Feindes, in dessen Rüstung und Fleisch ein Schnitt klaffte.
Aber der Alb taumelte nun mit blutgetränkten Schwertern auf den gebrechlichen Natenian zu.
Einholen konnte Ingrimmsch den Feind nicht – also schleuderte er den Krähenschnabel. »Ein Gruß aus der Schmiede!«
Auch Ilahín machte sich mit gezogener Waffe auf den Weg, den Assassinen zu Fall zu bringen. Von rechts flogen zwei Dolche an dem Gegner vorbei und verfehlten den Elb.
Ingrimmsch biss die Zähne zusammen, als er verstand, dass der Krähenschnabel das falsche Spitzohr erwischen würde. Oh, das wird …
Ilahín hechtete in den Alb hinein, tauchte unter dessen Schwertschlag ab und stach ihm die lange Klinge von unten durch die Achsel. Die Spitze trat oben an der Schulter wieder aus und drückte die Panzerung nach oben. Der Aufprall veränderte die Bewegungsrichtung des Meuchelmörders.
Da rauschte der Krähenschnabel heran und erwischte Ilahín mit der flachen Seite an der Hüfte.
Der Elb wurde herumgerissen und zog den Gegner mit sich.
Gemeinsam flogen sie vom Tisch und rissen zwei von Natenians Begleitern um, rumpelnd schlugen sie neben Tabaîns König auf dem Boden auf.
Mallenia wuchs schier neben ihnen empor. Ihre lange Klinge zuckte herab, begleitet von einem wütenden Schrei, in dem ihr ganzer Hass lag, und die Schneide kappte die Halswirbel vom Schädel des Attentäters, bevor der Alb erneut auf die Füße kam; singend und tief drang das Schwert in die Dielen ein und steckte fest.
»Wo ein Schwarzauge ist, kann noch eines sein.« Ingrimmsch zog seine beiden Kurzbeile, drehte sich mit abgespreizten Armen kampfbereit auf dem Tisch und hielt Ausschau nach weiteren Gegnern. Es kostete ihn Kraft, nicht in Raserei zu verfallen. Das heiße Blut rauschte in seinen Ohren, und der rote Schleier vor seinen Augen verhieß nichts Gutes.
Der Raum hatte sich in eine Schlachtkammer verwandelt.
Der Zwerg sah aufgeschlitzte und abgestochene Wachen, denen die Rüstung gegen einen solchen Gegner nichts gebracht hatte. Der Alb hatte die Schwachstellen in den Panzerungen gefunden und genutzt.
Astirmas Leibwächter lagen allesamt tot um sie herum, die hellhaarige Königin war am Hals verletzt. Sie atmete rasch, die Augen weit aufgerissen. Ihr Verstand rang damit, das Geschehene zu begreifen. Zwei blutverschmierte Zofen kümmerten sich bereits um sie. An Rodarios linkem Arm sah Ingrimmsch einen Schnitt.
Dass sich der Alb damit zufriedengegeben hatte, sprach dafür, dass Gift zum Einsatz gekommen war.
»Holt die besten Heiler«, rief Ingrimmsch und drehte sich unentwegt. Er widerstand dem Zwang, mit viel Schwung auf den Boden zu springen und sich gegen Mallenia zu werfen. »Die Klinge war bestimmt mit einem widerlichen Mittel behandelt.«
Mallenia zog das Schwert mit Anstrengung aus dem Holz und gab entsprechende Befehle.
Plötzlich erbleichte Rodario. »Bei den Göttern! Der Attentäter trug die Rüstung der urgonischen Leibwache. Ich muss nachschauen, wie es ihr geht!« Er eilte aus dem Zimmer.
»Wer ist ihr?« Ingrimmsch runzelte die Stirn. »Habe ich etwas verpasst?« Endlich wich der rote Schleier vor seinen Augen. Ein Bier. Rasch!
»Dazu wären wir später noch gekommen«, antwortete Mallenia ausweichend. »Lasst uns zunächst den Raum wechseln. Hier herrscht zu viel Tod.«
Schnell verließen sie die große Schankstube, beschützt von weiteren Wachen und einem Wald aus Schilden, um in das angrenzende kleinere Kaminzimmer zu gehen.
Der Zwerg hob seinen Krähenschnabel auf und folgte ihnen. Im Vorbeigehen nahm er sich einen Krug und stürzte das Bier hinab. Ingrimmsch bildete sich ein, ein lautes Zischen zu hören, als seine Lebensesse abgekühlt wurde.
Die Heiler kamen herbei, untersuchten die Verletzungen und verabreichten einen belebenden Trank, der gegen die Auswirkungen der üblichen Gifte der Albae wirken sollte. Verbände wurden angelegt, Wein gegen den Schrecken gereicht.
Ilahín reichte Ingrimmsch die Hand. »Ich schulde dir mein Leben, Kind des Schmiedes. Wir leben in wahren Zeiten der Freundschaft zwischen unseren Völkern, wenn ein Zwerg einen Elben vor dem Ende bewahrt.«
»Dafür hätte ich dich beinahe abgeschossen«, fügte er grinsend hinzu. »Aber du warst bei meinem Wurf nicht vorgesehen.«
»Es macht deinen Verdienst nicht geringer. Ohne dich, Großkönig, hätte mich der Speer des Albs durchbohrt.« Ilahín verbeugte sich. »Das werde ich dir niemals vergessen.«
»Setzen wir unsere Besprechung fort«, kam es über Astirmas Lippen, die immer noch starr geradeaus blickte und gegen die Furcht ankämpfte. Sie bekam von einer Zofe Wein gereicht, den sie ebenso hastig trank wie Ingrimmsch sein Schwarzbier. »Der Anschlag darf uns nicht aufhalten, sonst hätte der Alb sein Ziel im Nachhinein doch noch erreicht.«
Ingrimmsch zollte der jungen Herrscherin mit einem Nicken Respekt. »Dann bleibe ich bei meiner Frage: Wohin ist der Unerreichbare so rasch verschwunden?«
»Zu meiner Patentochter.« Mallenia setzte sich und blickte in die Runde. »Wir waren bei der Ankunft der Elben im Geborgenen Land stehen geblieben, was manchen Sorge bereiten könnte.«
»Ich denke, angesichts der Gefahr der albischen Attentäter können wir uns glücklich schätzen, sie bei uns zu haben«, sagte Astirma gefasst. »Ihr müsst Euch auf die Jagd begeben«, sprach sie zu Ilahín. »Unsere Heere sind noch nicht so weit. Ihr kennt die Schwarzaugen besser.«
Der Elb lächelte schwach. »Ich kann Euch versprechen, Königin, dass wir noch achtsamer sein werden. Aber wie jagt man Gespenster?«
»Soweit ich weiß, ist der Letzte der Zhadár ihnen auf den Fersen«, warf Ingrimmsch ein. »Er machte sich auf die Suche nach ihnen, und vergessen wir nicht, dass er bereits einige erlegte.« Er erinnerte sich an das vereitelte Attentat auf Mallenia im Winter, als sie die Stadt Aichenburg besuchte. »Er ist die beste Waffe gegen die Schwarzaugen.«
Mallenia stimmte ihm zu. »Es sind nur eine Handvoll Albae übrig geblieben. Doch welchen Schaden sie anrichten können, sahen wir. Die Sicherheitsvorkehrungen waren hoch, und trotzdem vermochten sie es, einen Mörder unter die Wachen zu schmuggeln.«
»Es ist der Preis, den wir für unsere Befreiung bezahlen mussten, und ich zahle ihn mit Freuden, wenn mein Volk nicht mehr unter der Herrschaft des Bösen steht.« Natenians angestrengtes Flüstern zog die Aufmerksamkeit auf ihn. »Sagt uns, dass die Albaereiche der Vergangenheit angehören, Ilahín.«
»Das tun sie. Wir haben den Krater von Dsôn Bhará mit Coïras Magie zu einer Senke werden lassen und mit Bäumen versehen. Ihre Wurzeln halten das Böse zurück, sodass es nicht mehr an die Oberfläche dringen kann. Âlandur ersteht ebenso neu wie Ti Singàlai, das Ihr die Goldene Ebene nennt. Sitalia rief ihre Kinder ins Geborgene Land, um es von innen zu schützen, so wie die Kinder des Schmieds es gegen außen sichern.« Er sah zu Ingrimmsch. »Eine neue Ära, mein Freund. Ein Zusammenleben ohne Argwohn.«
»Darauf erhebe ich mein Glas.« Astirma schwenkte den Kelch mit Wein, alle taten es ihr nach.
»Wo wir gerade von der neuen Ära sprechen, verrate uns doch, woher die vielen Elben aus dem Jenseitigen Land kommen«, wollte Ingrimmsch wissen. »Wieso lebten sie dort? Wie lebten sie dort?«
»Das könnt Ihr sie bald selbst fragen. Mein König wird im Rat der Könige erscheinen und seine Pläne für die Zukunft mit den Mächtigen teilen. Nicht an diesem Umlauf, doch an einem kommenden, der nicht zu weit in der Ferne liegt.«
Mallenia nickte behutsam. »Wir sind gespannt.« Immer wieder sah sie zur Tür, weil sie wohl Rodarios Rückkehr kaum erwarten konnte.
Ingrimmsch leerte seinen nächsten Humpen und hatte vergessen, der wievielte es war. Doch der Alkohol hatte das finstere Brennen erstickt. Vorerst. Er vertraute auf den eisernen Willen der Zwerge, diese Last aus eigener Kraft und mit Vraccas’ Hilfe zu überwinden. Keine Wut mehr, keinen unstillbaren Durst mehr, keine schrecklichen Träume mehr. Bis dahin benötigte er Met. Und Schwarzbier.
»Deine Patentochter, von der du gesprochen hast«, wandte er sich an Mallenia, »ist nicht zufällig das Mädchen, das in der vergessenen Siedlung des Grauen Gebirges gefunden wurde? Wie hieß sie noch gleich?«
Nun richteten sich sämtliche Augenpaare auf die blonde Ido. Über das Findelkind hörte man viel im Geborgenen Land, doch richtig bekannt war kaum etwas.
»Das Mädchen heißt Sha’taï«, antwortete Mallenia und lächelte glücklich. »Ein gutes Kind.«
Ein jeder kannte die Geschichte. Eine Gruppe bestehend aus Menschenkriegern, Zwergen und einem Elb hatten im Grauen Gebirge nach einer vergessenen Siedlung gesucht, auf die es zu aller Verwunderung Hinweise in albischen Schriften gab. Und wahrlich fand der Trupp die Überreste einer kleinen Niederlassung, in der Zwerge des fünften Stammes und Elben einst gemeinsam gelebt haben mussten.
Noch wusste Ingrimmsch nicht, was das Experiment bezweckt hatte, warum es von beiden Völkern verschwiegen worden war und erst durch einen Hinweis in albischen Schriften aufgedeckt werden musste. Die Zwerge forschten bislang vergebens in ihren Aufzeichnungen, und von den echten Fünften gab es keinen mehr, der Auskunft erteilen konnte.
Zudem entdeckte die gleiche Gruppe das kleine Mädchen, das aus dem Jenseitigen Land stammte und nur Albisch sprach. Die Zwerge weigerten sich damals, das Kind mitzunehmen, und schließlich brachten es die Menschenkrieger zu Mallenia.
Seitdem hatte man nichts mehr von Sha’taï vernommen.
»Sie lernt schnell«, erzählte Mallenia stolz. »Ich wollte sie euch präsentieren, damit sie euch von ihrer Heimat berichtet. Dort lauert eine mögliche Bedrohung für das Geborgene Land.« Sie blickte von einem Herrscher zum nächsten. »Gerade deswegen ist es gut, dass wir den Argwohn und das Trachten nach dem eigenen Vorteil überwinden.«
Ingrimmsch horchte auf. Wenn es die Sprache der Schwarzaugen beherrschte, musste es ihnen zuvor begegnet sein.
Hat der Alb deswegen zuerst die Kammer des Mädchens aufgesucht? Um es zum Schweigen zu bringen? Ihm wäre es lieber, das mysteriöse Findelkind säße eingesperrt in einem sicheren Kerker als an der Seite der Königin zweier Reiche. Er war gespannt darauf, es zu sehen und zu sprechen.
»Es gibt also noch Albae jenseits der Gebirge«, murmelte Ingrimmsch. »Ich bete zu Vraccas, dass Aiphatòn sie findet und auslöscht.« Falls nicht, werden wir gewappnet sein.
Ihm entging nicht, dass sich die blonde Ido auf die Lippen biss. Daraus folgerte er: Sie wusste mehr, als sie im Moment zugeben wollte.
»Warten wir, bis Rodario zurückkehrt, und reden solange über die schönen Dinge, die sich im Geborgenen Land zutrugen«, schlug Astirma vor, bei der der Wein wirkte. Sie schien die Schmerzen und die Geschehnisse gut verdrängen zu können. »Sie sollen nicht vergessen werden.« Die junge Königin blickte Ingrimmsch freundlich an. »Berichtet uns, Großkönig, wie es in den Gebirgen läuft.«
»Mit Vergnügen.« Er nahm einen Schluck Bier, schöpfte tief Luft und berichtete vom Aufschwung der fünf verschiedenen Zwergenreiche. Zugleich glaubte Ingrimmsch nicht daran, dass Sha’taï ein Opfer des Attentäters geworden war, sonst wäre Rodario längst aufgetaucht.
Und sein Ausbleiben fand er noch viel rätselhafter.
Das Geborgene Land,
Elbenreich Ti Lesinteïl
(einstiges Albaereich Dsôn Bhará),
6492. Sonnenzyklus, Frühsommer
Raikan von Auenwald lag am Boden des hallengroßen Raumes und vernahm knappe elbische Befehle, die von draußen gerufen wurden. Das Sirren der Pfeile hatte nicht nachgelassen. Ganz deutlich hörte er die laute Stimme seines Freundes Tenkil, der voller Verzweiflung Ketrins Namen schrie.
Wir wurden in eine Falle gelockt. Seine Beine spürte er nach wie vor nicht. Es würde dauern, bis die Blutzufuhr das taube Gefühl vertrieb, den Muskeln das Arbeiten erlaubte und er sich am Kampf beteiligen konnte. Der Elbenherrscher musste durch einen getarnten Seiteneingang entkommen sein.
»Zum Tor!«, befahl Raikan seinen beiden Begleitern und robbte madengleich über die Schilfmatte. Vor seinem inneren Auge sah er Ketrin und Tenkil aus dem Hinterhalt mit Geschossen gespickt. »Ich muss wissen, was vor sich geht.«
Sie erreichten das große Bronzetor und nutzten ihre Waffen, um es einen Spalt weit zu öffnen.
Raikan, Irtan und Lilia mussten jedoch feststellen, dass die Pfeile nicht ihren Freunden galten.
Ketrin lag am Boden, die Kleidung in Fetzen, und aus ihrem aufgebrochenen Brustkorb standen gesplitterte Knochen senkrecht aus einer tiefen Wunde. Etwas hatte sich hindurchgewühlt, um an die weichen Innereien zu gelangen.
Was geschieht hier? Raikan sah vier verunstaltete Elbenleichen auf dem Boden liegen, auch sie waren angegriffen worden.
Tenkil arbeitete sich just fluchend unter einem gestürzten, regungslosen Pferd hervor, sein Kettenhemd wies Löcher auf, als wäre es zerrissen; Blut rann aus der Schulter. Im Boden steckten unzählige Pfeile, die ihr Ziel verfehlt hatten.
Die Wächter auf der Balustrade und im Wald galten nicht uns. Raikan zog sich am Torgriff in die Höhe. Sie sicherten gegen das, was Ketrin das Leben kostete.
Aus dem Kribbeln in den Beinen wurde ein Gefühl.
Der junge König stampfte mehrmals auf, ohne die Augen vom Platz zu nehmen. Endlich vermochte er seine Füße zu spüren. Nun kann der Kampf beginnen. »Tenkil! Halte aus! Wir sind gleich bei dir!«
»Nein.« Der Krieger hatte sich von dem Kadaver befreit und blieb geduckt, zog sein Schwert und einen Dolch. »Ich komme zu euch«, gab er zurück und blickte sich um. »Was immer das ist, man darf ihm nicht im offenen Kampf begegnen.«
Tenkil hetzte los.
Raikan bemerkte Irtan und Lilia, die sich sichernd und mit gezogenen Waffen an das Bronzetor stellten. Auch ihre Beine und Füße gehorchten wieder. Wir hätten Rüstungen anlegen sollen. »Sobald er durch ist, schließt ihr es.«
Tenkil überbrückte die Entfernung mit fliegenden Schritten – als sich hinter ihm die Dunkelheit bewegte.
Schwarzeisern wie gerüstete Nacht jagte eine Kreatur heran, die an einen übergroßen gepanzerten Wolf erinnerte. Die Augen leuchteten weiß, die Ohren standen spitz in die Höhe, und als sich die lange Schnauze mit einem Fauchen öffnete, glitzerten unzählige spitze Zahnreihen.