Der unsichtbare Faden durch die Zeit - Maike Stüven - E-Book

Der unsichtbare Faden durch die Zeit E-Book

Maike Stüven

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Beschreibung

Können wir Altes, das wir in vergangenen Leben verschuldet haben, im Nachhinein korrigieren, um so die Ordnung für alle Beteiligten wiederherzustellen? Das zumindest behauptet der Magier, als Julian - geplagt von einem hartnäckig wiederkehrenden Alptraum und aufsteigenden quälenden Erinnerungen - verzweifelt nach Antworten sucht. Mit seiner Hilfe kehrt Julian ins Mittelalter zurück - indem er als Johannes inkarniert, eine schwere Schuld auf sich lud. Und schlüpft mehr und mehr in dessen Rolle - dabei immer in Gefahr, entdeckt zu werden und sein Leben zu verlieren. Doch bevor er etwas verändern kann, muss er Johannes´ Handlungen erst vollkommen verstehen. Gelingt es ihm, wird dies auch positive Auswirkungen und Veränderungen in sein eigenes Leben in der Gegenwart bringen. So taucht er ein in die fremde Welt einer Zeit, die völlig anderen Gesetzen folgt und ihn zwingt, sich auch den eigenen starken Angstgefühlen zu stellen. Hier trifft er auf Menschen, die ihm aus seiner Gegenwart vertraut sind und ihm Erkenntnisse vermitteln, die über alles hinausgehen, was bisher für ihn vorstellbar war.

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Maike Stüven

Derunsichtbare Fadendurch die Zeit

© November 2018 Maike Stüven

Umschlaggestaltung, Illustration:

Maike Stüven

Verlag: tredition GmbH

ISBN: 978-3 -7469-9030-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Wahrheit

ist immer dort verborgen,

wo wir sie am

allerwenigsten vermuten:

In uns selbst.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Traum wird real

Meine Gefühle in der Kapelle

Unheimliche Begegnung

Durch das Tor der Zeit

Wo warst Du so lange?

Mein erster Toter

Wichtige Neuigkeiten

Delirium und Wirklichkeit

Was ist zu tun?

Ungewissheit

Magdalena

Gefangen

Gute Energien

Die Liebe vergisst nicht

Die andere Seite

Eine neue Sicht

Der Lauf der Dinge

Eine klare Entscheidung

Spurlos verschwunden

Der Weg des Mutigen

Lienharts Plan

Allein unterwegs

Unliebsame Überraschungen

Sicheres Asyl

Viel zu früh

Unbewusste Verabredungen

Auf Burg Hohnstein

Vergebens, doch erfolgreich

Glück und Leid

Das wahre Gesicht

Julian oder Johannes?

Ungleicher Kampf

Freudiges Wiedersehen

Nur mit einem Auge

Abschied

Am Pranger

Seelenqualen

Im Burgfried

Die Erinnerung kehrt zurück

Dämonen der Angst

Die Kraft des Verzeihens

Die Gewalt des Bösen

Das eine nicht ohne das andere

Rückblick und Rückkehr

Ende ist Anfang

Nachwort und Dank

Wichtige Personen

Prolog

Wenn die Nacht dem Tag die Hand reicht und sie sich für diesen einen Augenblick innig miteinander verbinden, entsteht im stillen Grau der herannahenden Dämmerung eine Brücke in der Zeit. Hier bekommen Träume eine besondere Kraft, werden zur Wirklichkeit und lassen alte, verschüttete Erinnerungen lebendig werden, als ob sie gerade eben geschehen.

In diesem Moment wird so die Vergangenheit zur Gegenwart und die Zukunft wird - im Wissen um das Geschehene - neu geschrieben.

Die Zeit strich mir zärtlich über die Wange und jagte mir einen Schauder über den Rücken. Sie erinnerte mich, dass ich nicht das erste Mal hier war, sondern ein alter Bekannter, den sie jetzt, in diesem neuen Gewand, freudig begrüßte. Gleichzeitig aber spürte ich auch ihre unnachgiebige Aufforderung, mich den Dingen zu stellen und die Ordnung wiederherzustellen, die ich in der Vergangenheit durch mein Handeln aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

„Übernimm endlich die Verantwortung und kläre das! Es dient einem weitaus höheren Wohl als Dir überhaupt bewusst ist!“, mahnte sie.

Dieser eine Satz verankerte sich fest in meiner Erinnerung.

Der Traum wird real

Der Schrei weckte mich, wieder einmal. Mitten in der Nacht. Er zerriss mein Herz in zwei Hälften. Laut und qualvoll hallte ihre Stimme durch meinen Kopf und der Schauder, der jedes einzelne Haar auf meiner Haut aufrichtete, kroch schmerzhaft langsam meinen Rücken hoch bis über den Kopf und legte sich wie eine eisige Faust um meine Schläfen.

Verzweifelt wartete ich auf das Klingeln des Weckers, der mich, wie schon so oft, aus diesem Alptraum befreien konnte. Doch heute war es anders, er verweigerte mir die Gefolgschaft und schwieg: Ich war gefangen in diesem lähmenden Gefühl der Ohnmacht. Mein Atem ging flach, quälte sich durch meinen angespannten Brustkorb und gebot mir, an ihm festzuhalten. Der Schrei brach wimmernd ab, ich lauschte in die Stille hinein, die sich wie ein unheimlicher Schatten auf mich legte. Ich spürte die Angst in allen Zellen und die Bedrohung, die von dieser Stille ausging.

Mein Bewusstsein erforschte den dunklen Raum und tastete sich an der Wand entlang, die dies kalt und nackt, fast teilnahmslos mit sich geschehen ließ. Gefesselt von dem Druck im Kopf und dem Schmerz im Herzen lag ich einerseits unter der warmen, schützenden Decke, die durch ihr Alter einen muffigen Geruch angenommen hatte, während ein anderer Teil von mir unterwegs war und die Wand erkundete. Plötzlich spürte ich unter meinen Händen etwas Warmes und griff danach. Das Material war rau und roch, ebenso wie die Bettdecke, alt und verstaubt. Meine Finger fühlten die kleinen Knoten, aus denen der Wandteppich gewebt war. Vorsichtig folgte meine Hand den Knoten, die sich in meinem Innern zu einem klaren Muster zusammenfügten, bis der dick geknüpfte Rand mich wieder die Kühle der Wand spüren ließ. Ich fröstelte und blieb stehen.

Wo war ich? Was ging hier vor? War ich nun endgültig dem Reich der Fantasie verfallen, das mich schon immer zu sich gezogen hatte und so gern auf Reisen schickte?

Meine Sinne waren hellwach, mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und doch musste ich schlafen, denn ich bewegte mich nach wie vor in meinem Traum, der mich in den letzten Wochen fast jede Nacht verfolgt hatte. Warum konnte ich nichts unternehmen und einfach aussteigen und damit meine Qual beenden?

Endlich, lautes Klopfen holte mich zurück in die Wirklichkeit. Ich setzte mich im Bett kerzengerade auf, die Lehne fest im Rücken. Ein paar Sekunden verstrichen bis mir klar wurde, dass ich in einem fremden Bett lag. Richtig, Antonia wollte an diesem Wochenende mit ihren langjährigen Freunden ihren sechzigsten. Geburtstag an einem denkwürdigen Ort feiern. Und das war eben in dieser Burg, in der ich mich gerade befand. „Bist Du Ordnung?“ rief sie durch die geschlossene Tür. „Ja, danke, alles gut“. Meine Stimme war heiser. Dankbar darüber, überhaupt einen Ton hervorzubringen, brachte ich die wenigen Worte nur mühselig zusammen.

„Prima, dann schlaf weiter, wir haben erst halb fünf. Bis später beim Frühstück“.

Antonias Stimme wurde leiser. Offenbar war sie bereits wieder auf dem Weg zurück in ihr Zimmer.

Ich aber war jetzt endgültig wach. War es wirklich noch so früh? Ich spähte durch den Spalt der massigen Vorhänge, die ich gestern in der Nacht vor die großen Fenster gezogen hatte. Ja, sie hatte recht, in der Ferne begann es eben erst zu dämmern.

Mit wackeligen Beinen stand ich auf, tastete mich zum Fenster vor, zog den Vorhang zurück und starrte hinaus, direkt auf einen alten, vom Wind zerzausten Baum, der im Burghof stand. Ein Rabe saß auf einem kahlen Ast und wetzte seinen Schnabel. Plötzlich hielt er inne, hob ruckartig den kleinen schwarzen Kopf und starrte zurück, mir direkt in die Augen. Gelassen erwiderte ich seinen Blick. Er strahlte Gelassenheit aus und meine Gedanken begannen sich zu sortieren. Immer schon hatte ich Vögel sehr gemocht, besonders die stolzen und klugen, spürte eine besondere Verbindung zu diesen Geschöpfen der Luft. Als Kind glaubte ich, mit ihnen sprechen zu können, verstand ihr Verhalten, meinte, ihre Gedanken zu lesen. Als ich älter wurde, verbannte ich diese Vorstellung in die Ecke kindlicher Fantasien.

Doch jetzt war genau dieses Gefühl wieder da, noch stärker als früher, hielt sich allerdings nur für einen kurzen Moment, da es von der Intensität meines Alptraums sofort überdeckt wurde.

So tapste ich langsam zurück in mein Bett, spürte den Nachhall des Traumes immer noch als Zittern in mir, schien er doch plötzlich ein Teil meiner Wirklichkeit geworden zu sein.

Wessen Stimme war es, die ich Nacht für Nacht in den vergangenen drei Wochen in diesem Alptraum mit immer gleichem Verlauf hörte? Sie war mir unendlich vertraut, weckte in mir jedes Mal aufs Neue eine schmerzhafte Erinnerung, doch konnte ich die Stimme niemanden zuordnen.

Ich träumte nie bis zum Ende, wurde durch den Wecker vorher herausgerissen und somit bislang nicht erfahren, wie die Geschichte ausging. Bisher hatte ich es mir so erklärt, dass mein Gehirn in der Nacht den Alptraum aus sämtlichen Erlebnissen meiner allzu oft stressigen Arbeitstage zusammensetze, um das Geschehen zu verarbeiten und sich hieraus eine Gruselgeschichte bastelte, an der mein Gehirn der Einfachheit halber festhielt.

Doch heute Nacht passte diese Erklärung nicht mehr, hatte ich bereits zwei Tage Urlaub und stand nicht unter Strom und im stressigen Tagesgeschehen.

Gestern, am späten Nachmittag, war ich hier auf Burg Hohnstein angekommen und hatte den Abend mit Antonia und ihrem Lebensgefährten gemütlich am Kamin verbracht. Es gab also nichts Greifbares, warum mir auch in dieser Nacht der Alptraum überhaupt zusetzte. Ich fröstelte und zog die Decke hoch bis unters Kinn. Bevor ich wieder einschlief fiel mein Blick auf die Zimmerwand, an der ich zuvor den Wandteppich so deutlich zwischen meinen Fingern ertastet hatte. Aber er war nicht da, es gab hier im Raum keinen einzigen Wandteppich! Nur ein altes Gemälde zierte die Wand genau dort, wo ich vorhin gestanden hatte. Die Farbe des Rahmens glitzerte im fahlen Licht der Dämmerung merkwürdig bleich, schnell schloss ich die Augen, denn noch mehr Seltsames konnte ich für den Moment nicht verkraften.

Ich musste wirklich fest eingeschlafen sein, diesmal traumlos, und erwachte erst, als im Hof ein Wagen vorfuhr und eine Autotür laut zugeschlagen wurde. Mein Kopf dröhnte und ich lauschte den herzlichen Worten, mit denen Antonia ihre Gäste begrüßte.

Später beim Frühstück blieb ich zunächst für mich, war ich doch mit meinen Gedanken noch immer mit der Lösungsfindung beschäftigt. Obwohl der Kaffee duftete, die Rühreier dampften, Obst, frische Brötchen, Marmeladen, Wurst, Käse und alles andere auf dem Buffet ausgesprochen appetitlich angerichtet war, lockte mich nichts davon. Nur eine Tasse starken Kaffees konnte jetzt meine Lebensgeister stärken, nur ihn brauchte ich, um ganz wach zu werden.

Und noch immer spürte ich den Druck im Herzen, den der Schrei in mir verursacht hatte.

„Was war bei Dir heute früh denn los?“

Antonias Frage klang besorgt. „Du siehst blass aus und nicht wirklich glücklich.“

Sie setzte sich neben mich und sprach leise, während sich die vorhin angereisten Freunde angeregt miteinander unterhielten und somit von uns keinerlei Notiz nahmen.

„Du hast so laut geschrien, dass ich davon zwei Zimmer weiter wach wurde. Ich musste einfach nach Dir schauen, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.“

Ich schwieg und sah sie betroffen an. Ich hatte laut geschrien, nicht die weiblich klingende Stimme in meinem Traum?

„Ich hatte einen Alptraum“, erwiderte ich ebenso leise. „Vermutlich durch die ungewohnte Umgebung. Immerhin habe ich bisher noch nicht in so einem alten Gemäuer übernachtet, das so viele Jahrhunderte auf dem Buckel hat. Wer weiß, welche Geister hier überall unterwegs sind und mich heute Nacht gepiesackt haben.“

Ich probierte ein Lächeln, was wohl nicht sehr überzeugend herüberkam, war aber immerhin einen Versuch wert. Antonia ging nicht darauf ein.

„Möchtest Du darüber reden? Es hilft ganz gut, die unguten Gefühle loszuwerden, wenn man über sie spricht.“

Auffordernd sah sie mich an und legte liebevoll ihre angenehm warme Hand auf meine Schulter. Das war jetzt genau das Richtige, doch lehnte ich ihr Angebot höflich ab.

„Das ist wirklich lieb gemeint, vielleicht später, Antonia. Ich glaube, Du sollest Dich jetzt um die anderen kümmern, sie schauen bereits, wo Du wohl bist.“

Antonia lächelte verschmitzt, gab mir einen aufmunternden Klapps auf die Schulter und wandte sich den anderen zu.

Meine Gefühle in der Kapelle

Der zweite Becher Kaffee hatte Erfolg und holte mich ganz in die Normalität des Tages zurück. So ging ich jetzt auch zu den anderen hinüber und gab meinen einsamen Posten auf. Ich freute mich, einige von Antonias alten Weggefährten hier zu treffen, die auch ich von früher kannte. Mit Simon hatte mich vor Jahren eine wunderbare Freundschaft verbunden, die sich leider verflüchtigte, als er die Stadt verließ. Wir waren früher oft zusammen unterwegs, hatten nächtelang über die Welt philosophiert. Nicht immer waren wir gleicher Meinung gewesen, doch im Grundsatz beflügelten und begeisterten uns damals die gleichen Ideen. Meine Bewunderung für seinen Freigeist war groß, sah ich doch, wie sehr er hinter seinen Überzeugungen stand und sie auch genauso umsetzte, nicht von ihnen abrückte und lieber auf vieles verzichtete, um sich treu zu bleiben. Wir umarmten uns und tauschten das Neueste aus. Er war wirklich ein guter Freund und die Chemie zwischen uns stimmte immer noch, wie wir beide zufrieden feststellten.

Antonias jüngere Schwester Marie war auch gekommen, sie ich von jeher sehr gemocht. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, war sie zurückhaltend, eher wie eine zarte Blume, die eine liebevolle Umgebung brauchte, einen besonderen Schutz, um sich gut zu entwickeln. Gleichzeitig sah ich in ihr eine starke Persönlichkeit, die absolut in der Lage war, sich durchzusetzen. Doch ich wusste, dass sich Marie grundsätzlich eher im Schatten der älteren Schwester aufhielt. Selten trat sie daraus hervor und wenn, dann nur für einen kurzen Moment. Offenbar überließ sie ihr immer noch gern die Bühne. Und heute natürlich erst recht, da es ihre Feier war. Vielleicht gerade deshalb hatte ich für Marie so geschwärmt, da sie sich nicht in den Vordergrund drängte, sie aus der Ferne bewundert, ohne es ihr je gesagt zu haben. Meine eigenartig wehmütigen Gefühle, die mich zu ihr hingezogen hatten, waren wie eine stille Sehnsucht, die mich jedes Mal aufs Neue erfüllte, wenn ich ihr begegnete.

Und nun stand sie nach vielen Jahren wiedervor mir und musterte einen Moment lang aufmerksam mit ihren tiefblauen Augen mein Gesicht, bevor sie mich spontan umarmte.

„Ich freue mich unglaublich, Dich wiederzusehen, Julian! Du hast Dich kaum verändert!“

Ich lächelte geschmeichelt und erwiderte ihre herzliche Begrüßung. Etwas in mir war tief berührt über diesen kurzen innigen Moment der Nähe und ein feiner Duft von Lavendel stieg mir in die Nase. Das musste ihr Parfüm sein, das sie umhüllte - fast wie ein feiner Umhang. Warum mir dieser Gedanke kam, vermochte ich nicht zu sagen, es war einfach gut, ihn zu denken - an sie zu denken, abgesehen davon, dass ich den Lavendelduft einfach liebte, aber an ihr gefiel er mir ganz besonders. In dem kurzen Gespräch erfuhr ich, dass sie kinderlos geblieben war, nie geheiratet hatte und zurzeit auch allein.

„Irgendwie hat es nie so richtig gepasst“, meinte sie und zog entschuldigend die Schultern hoch. „Aber was soll´s, so ist das Leben eben! Und bei Dir? Bist Du glücklich?“

Ich schüttelte verlegen den Kopf.

„Im Moment bin ich auch wieder allein. Da geht’s mir so wie Dir.“

„Schade“, bedauernd sah sie mich an und ich spürte, dass sie es wirklich genauso meinte. „Ich habe mir immer gewünscht, dass Du glücklich bist!“

Ihre Worte verfingen sich in meiner Seele, genau wie der feine Duft. Doch bevor ich noch antworten konnte wandte sie sich ab und ging zu den anderen hinüber, die nach ihr gerufen hatten. Der Zauber unserer Begegnung war ebenso schnell verflogen, wie er entstanden war. Ich spürte ein leises Bedauern und sah ihr einen Augenblick nachdenklich nach.

Es gab noch andere, die ich unbedingt begrüßen musste und außerdem lenkte mich das auch von meinen Gefühlen ab. Einige mochte ich sehr, andere von Antonias Gästen waren mir mehr als unsympathisch, die versuchte ich zu meiden. Besonders der eine, dieser Igor, lag mir überhaupt nicht. Immer schon war er mir fremd gewesen, wirkte kalt und berechnend und ich fühlte einen Widerstand in mir, der geradezu an Feindseligkeit grenzte. Das war einfach so.

So bemühte ich mich auch jetzt, ihm aus dem Weg zu gehen, machte einen Bogen um ihn, mied jeglichen Blickkontakt. Das war im Moment die beste Strategie, die mir einfiel. Aus der Ferne beobachtete ich, dass er auch heute noch eine Brille mit starken Gläsern trug. Ich erinnerte mich, dass er auf dem linken Auge schon immer schlecht gesehen hatte und einige Operationen hinter ihm lagen. Doch irgendwie ließ mich das kalt, obwohl mir sonst die Schicksalsschläge anderer sehr zu Herzen gingen.

Ich hatte nie verstanden, was Antonia wirklich mit ihm verband, aber ich musste ja auch nicht alles verstehen. Es war nie etwas zwischen uns vorgefallen, was meine tiefe Abneigung begründete, sie war einfach da und er war mir auch heute noch zutiefst unsympathisch. Ihm mochte es ebenso ergehen, denn auch er kam nicht auf mich zu und mied mich.

Linus rannte mich mit einem gefüllten Teller voller gesunder Leckereien fast um, als er mehr auf seinen Teller konzentriert, bestrebt war, ihn sicher auf den Tisch zu befördern. Mich hatte er dabei offenbar übersehen. „Hoppla“, rief ich und fing geistesgegenwärtig den Teller auf, brachte ihn zurück in die Balance und stelle ihn sicher auf den Tisch.

„Oh, Julian, danke! Komm setz Dich zu mir und erzähle, was Du jetzt alles so treibst!“

Simon ließ sich vor seinen Teller nieder und zog mich an seine Seite. Mir blieb nichts anderes übrig, als seiner Bitte zu folgen.

Doch nicht ich berichtete von mir, sondern er von sich. Zwischen den einzelnen Bissen erzählte er, dass es ihm nach einigen Jahren des Kampfes tatsächlich gelungen war, seinen Traum von einer eigenen Praxis zu verwirklichen und inzwischen Erfolg hatte und von den Einnahmen leben konnte.

„Es ist nicht viel und reich werde ich wohl auch nicht, zumindest wohl nicht mehr in diesem Leben“, meinte er lachend, „aber ich kann meine Schulden abzahlen und für ein bescheidenes Leben reicht es allemal. Ich brauche nicht viel, bin glücklich mit dem, was ich tue und das genügt mir!“ Er schwieg, um sich einen weiteren Bissen in den Mund zu stopfen.

„Und was für eine Praxis hast Du?“, fragte ich, denn mir wollte einfach nicht einfallen, was er damals für Pläne gehabt hatte.

„Na, Du weißt doch, ich bin Heilpraktiker geworden. Habe mich doch immer schon für Pflanzen und alternative Heilmethoden interessiert. Aber Julian, Du wirst Dich doch daran erinnern!“

Sein Tonfall drückte Enttäuschung aus und ich bemühte mich, die Wogen wieder zu glätten.

„Aber klar doch, Linus, jetzt weiß ich es wieder. Was ist Dein Spezialgebiet? So wie ich Dich kenne, hast Du Dich mit Leib und Seele Deinem Traum verschrieben und setzt Dich zu Hundertprozent für Deine Patienten ein.“ Sein Gesicht hellte sich zunächst auf, dann aber schaute er mich zweifelnd an.

„Ja, das mache ich, aber übertreib mal nicht. Vielleicht sollte ich Dich mal auf frühe Demenz testen, guter Freund.“

Jetzt war es an mir, ihn betroffen anzusehen.

„War nur ein Scherz“, grinste er, „jetzt sind wir quitt. Aber im Ernst, ich habe mich all die Jahre gefragt, was aus Dir wohl geworden ist. Hast Du Deinen Traum verwirklicht und bist Schriftsteller geworden? Ich habe unter Deinem Namen kein einziges Buch gefunden als ich Dich gegoogelt habe.“

„Nein“, gab ich zu, „mein Wunsch ist ein Traum geblieben und doch beschäftige ich mich mit Worten, aber anders als gedacht. Ich arbeite in der Werbebranche als Texter, erstelle Seiten für Großkunden.“

„Aha, dann verkaufst Du den Schein, damit der Konsument Dinge kauft, die er nicht braucht, sich dabei aber wohlfühlt, weil er der Werbung glaubt, zumindest solange, bis er das Produkt getestet hat.“

„Nun ja, das ist nicht ganz so, die Produkte sind schon gut. Aber wenn Du es so sehen willst“, räumte ich ein. „Und, macht es Dich glücklich, was Du da täglich machst?“, ließ er nicht locker. Inzwischen war sein Teller vollständig geleert und er konzentrierte sich jetzt ganz auf mich.

„Jeder muss ja seine Brötchen mit irgendetwas verdienen, oder?“ gab ich etwas pampig zurück.

„Aber das, was Du tust sollte doch einen Sinn für Dich ergeben, etwas sein, womit Du Dein Leben bereicherst. Warum schreibst Du nicht nebenbei Dein Buch und tust damit das, was Dir wirklich am Herzen liegt?“

Offenbar hatte er sich mit diesem Thema ganz auf mich eingeschossen.

„Betrachtest Du mich jetzt als Deinen Patienten, den es zu therapieren und zu coachen gilt?“

„Ach, Julian, das ist nicht so gemeint. Aber ich sehe doch, dass Dir etwas fehlt, Du irgendwie unzufrieden bist. Denk doch einfach mal darüber nach, ja?“

Er legte mir die Hand auf den Arm und klopfte ihn leicht.

„Ja, ich werde darüber nachdenken“, antwortete ich versöhnlich, stand auf und versuchte ihm so zu entkommen. Sicher meinte er es gut, aber seine Fragen wurden mir einfach zuviel. Ich war nicht bereit, jetzt über den Sinn meines Lebens nachzudenken. Das hatte ich bereits die letzten Jahre über ausführlich getan. Außerdem musste ich mich auch erstmal um die Lösung meines Alptraumes kümmern.

Mit großem Interesse schloss ich mich nach dem ausgedehnten Brunch dem Rundgang durch die Burg an.

Ein älterer Mann, dessen grauer Haarkranz eine beeindruckende Glatze umrahmte, offenbar der Mann, der hier als Butler agierte, dem Stil der Burg angemessen altmodisch gekleidet, führte die Gruppe von zwanzig Gästen durch die verschiedenen Räumlichkeiten der beeindruckend großen Burganlage.

Da ich allein gekommen war, meine Freundin hatte sich erst vor kurzem von mir getrennt, was ich noch nicht ganz verarbeitet hatte, folgte ich der Gruppe als letzter. Wir waren bereits durch einige Flure gelaufen und ich stellte fest, dass den meisten Räumen eine Auffrischung durchaus gutgetan hätte. Die Seidentapeten lösten sich an den Wänden, der Putz bröckelte hier und da und einige Fenster schlossen nicht mehr richtig. Die Unterhaltung eines solch großen Objektes war sicher enorm hoch und nicht leicht zu finanzieren. Die Vermietung an Menschen wie Antonia, die diesen Ort für besondere Gelegenheiten wählten, mochte ein Grund sein, zu Geld zu kommen, vermutete ich.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als wir einen beeindruckend großen Saal betraten. Erstarrt blieb ich stehen. Links von mir erkannte ich den Wandbehang wieder, den ich in meinem Traum so dicht vor Augen gehabt hatte. Es gab ihn wirklich, er war real!

Mir standen die Haare zu Berge. Wie von einem Magneten gezogen ging ich durch den großen Raum direkt auf die Wand zu, konnte meinen Blick nicht von dem Wandteppich abwenden und wie von selbst fuhren meine Finger immer wieder über die Knoten. Der muffige Geruch war sofort wieder in meiner Nase und der leicht verdickte Saum war genauso, wie ich ihn in der Dunkelheit gefühlt hatte. Es gab keinen Zweifel, ich musste heute Nacht hier gewesen sein!

Plötzlich stand Antonia neben mir und betrachtete mich prüfend von der Seite.

„Nun sag schon, was los ist, ich sehe doch, dass es Dir nicht gut geht. Du bist ganz blass um die Nase.“ Diesmal klang ihre Stimme leicht gereizt. „So kenne ich Dich überhaupt nicht. Gefällt es Dir hier nicht oder hast Du einfach nur schlechte Laune? Brauchst Du vielleicht eine Kopfschmerztablette nach gestern Abend?“

Ihre Fragen prasselten auf mich ein.

„Nein“, presste ich abwehrend hervor. „Ich brauche nichts, habe keine Kopfschmerzen. Ich war schon mal hier, heute Nacht. Doch das kann eigentlich nicht sein.“ „Nein, junger Mann, das kann wahrhaftig nicht sein, das ist unmöglich, dieser Raum ist immer verschlossen. Es gibt nur einen einzigen Schlüssel und den trage ich ständig bei mir.“

Der grauhaarige Butler hielt ein Schlüsselbund hoch und deutete mit der anderen Hand darauf. „Es gibt nur diesen einen. Und die Tür war fest verschlossen, bis ich sie eben gerade aufschloss. Das bilden Sie sich ein! In der Tat, Sie müssen sich irren.“

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er mich misstrauisch. Antonia sah zwischen uns hin und her. Bevor ich etwas sagen konnte, zog sie mich von ihm weg, nickte dem Butler freundlich zu und antwortete an meiner Stelle: „Sicher handelt es sich hier nur um eine Verwechslung. In dieser Burg gibt so viele Räume, da kann es bei der Anzahl schon passieren, dass man als Gast schnell durcheinanderkommt. Lassen Sie uns doch die interessante Führung fortsetzen. Wir sind alle sehr gespannt, was uns noch alles in diesen Mauern erwartet.“

Sie lächelte ihn charmant an.

Sie versteht es immer noch, die Männer zu beeindrucken, schoss es mir durch den Kopf. Selbst mit ihren bald 60 Jahren hatte sie nicht verlernt.

„Sie sprachen doch von einer Burgkappelle, die möchte ich unbedingt sehen. Ich habe von der ganz besonderen Atmosphäre gelesen, die sie so einzigartig macht.“

Ihre Worte machten Eindruck auf den Butler, er lächelte geschmeichelt, so dass er mich augenblicklich vergaß und links liegen ließ und die Führung fortsetzte. Antonia folgte ihm, hängte sich bei mir ein und zog mich mit.

Gemeinsam überquerten wir den Hof. In der frischen Luft atmete ich befreit durch und blinzelte in die Sonne. Die Wärme auf den Wangen tat mir gut und erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir während des Rundgangs in der Burg geworden war. Sanft zupfte Antonia an meinem Ärmel. Offenbar hatte sie sich fest vorgenommen, sich meiner in besonderer Weise anzunehmen. Mein Verhalten musste ihr auch seltsam vorkommen, verstand ich mich ja gerade selbst nicht mehr.

„Komm, lass uns auch hineingehen, wir sind die letzten.“

Sie zeigte auf den Eingang der kleinen Kapelle, die sich rechts im Innenhof neben der hohen Verteidigungsmauer der Burg befand. Ruckartig blieb ich stehen, so dass Antonia neben mir stolperte.

„Oh“, rief sie überrascht, darum bemüht, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

„Nun sag endlich, was mit Dir los ist!“, raunzte sie mich an.

Ich hörte sie nicht, denn plötzlich verschwamm alles vor meinem Blick und Tränen schossen mir in die Augen. Ich schniefte hörbar und fuhr mit der Hand über meine linke Wange, um sie fortzuwischen. Der Schmerz aus meinem Traum holte mich wieder ein und legte sich als dunkle Wolke um mein Herz. Die Tränen rannen mir die Wangen herab, ohne dass ich es verhindern konnte und ich ließ sie einfach laufen.

„Lass uns hineingehen!“ Mehr brachte ich nicht hervor. Antonia nickte, sagte nichts zu meinem Gefühlsausbruch und steuerte mit mir am Arm auf den doppelten Rundbogen der Kapelle zu, dessen rechte Tür geöffnet war.

Eine stille, dämmrige Kühle umfing uns als wir eintraten. Aufmerksam sah ich mich um und drehte mich langsam um die eigene Achse. Antonia hatte mich losgelassen und ging auf den Altar zu, hinter dem eine Mariengestalt den gekreuzigten Christus hielt. Der Kopf war gesenkt, den Blick hatte sie allein auf den Sohn gerichtet. Dem Steinmetz war die Gestaltung beider Figuren in ihrer Klarheit und Stärke meisterlich gelungen. Sie beeindruckten mich sehr.

Die Atmosphäre in der Kapelle war so unglaublich vertraut, ich fühlte mich augenblicklich geborgen und empfand einen gewissen Trost. Der Schmerz in meinem Herzen wurde weniger. Ich seufzte, denn das Wechselbad meiner Gefühle zehrte heftig an mir.

In den Wänden und auf dem Boden waren Grabplatten eingelassen. Die ehemaligen adeligen Burgbesitzer hatten wohl hier ihre letzte Ruhe gefunden. Das gemeine Volk war hier nicht willkommen, die Kapelle war allein der hohen Familie vorbehalten. Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf und ich wusste das mit absoluter Sicherheit!

Möglich war, dass dies Teil meines Allgemeinwissens war und in allen Burganlagen gleich verfahren wurde, ich es früher irgendwo gelesen hatte und mich jetzt nur daran erinnerte. Doch eine Stimme in mir widersprach, ich hatte es selbst miterlebt und wusste irgendwo tief in meinem Bewusstsein, dass der Zugang zu dieser Kapelle für Menschen niederer Herkunft in einer bestimmten Zeit untersagt und mit dem Tode bestraft worden war, sollte jemand das festgeschriebene Gesetz willentlich übertreten haben.

Das liegt lange zurück, beruhigte ich mich und fröstelte unwillkürlich. Doch kam ich nicht von dem Gedanken los, wusste plötzlich, dass viele Unglückliche vor der Schwelle dieser Kapelle eines gewaltsamen Todes gestorben waren!

Ich wandte mich einer in der Wand eingelassenen Grabplatte zu, um mein Unwohlsein abzuschütteln und betrachtete die Inschrift, konnte aber nicht alles entschlüsseln, da einige Buchstaben verwittert oder herausgekratzt waren. Meine Finger fuhren fast zärtlich über die Zahlen: MCCXXXVII. Ich versuchte die römischen Zahlen ins arabische zu übersetzen und kam auf 1237, das Jahr, indem diese Person hier gestorben sein musste. Somit waren es nur dreiundzwanzig Jahre Leben, die diesem Menschen hier vergönnt gewesen waren.

„Magdalena hieß sie“, sagte der Butler mit leiser Stimme plötzlich neben mir. „Sie hieß Magdalena. Es wird erzählt, dass sie sich für ihren Geliebten opferte und während sie von Feindeshand starb, er mit dem Kind, dass sie ihm geboren hatte, entkam. Aber das ist nicht bewiesen, es gibt darüber keine Aufzeichnungen. Ist aber eine schöne Geschichte von Liebe und Treue.“ Kaum hatte er die Worte gesagt, war mein Schmerz augenblicklich wieder da. Ich wusste, dass es der Wahrheit entsprach. Bis auf einen Punkt stimmte alles, Magdalena hatte ihren Geliebten heimlich geheiratet, ansonsten war es genau so gewesen. Sie starb, um ihrem Mann und Kind das Leben zu retten. Doch ich schwieg, biss mir auf die Lippen, um nicht ein weiteres Mal sein Misstrauen auf mich zu ziehen. Den Stempel, ein seltsamer Kauz zu sein, hatte er mir sicher schon im großen Saal verpasst.

Da ich nicht auf seine Ausführungen einging, wandte sich der Butler ab, ließ mich in Ruhe und ging zu einem anderen Besucher hinüber, um mit seinen hilfreichen Erklärungen die Geschichte der Burg erlebbar zu machen.

Liebevoll betrachtete ich die Grabplatte vor mir und mein Herz begann unruhig zu schlagen. Und plötzlich wusste ich, es war Magdalenas Stimme, die ich Nacht für Nacht gehört hatte. Sie hatte qualvoll geschrien!

Ihre Stimme schien mir so vertraut, dass sich mein Herz erneut in ihrer Qual verlor. Selbst jetzt, wo ich sie überhaupt nicht hörte und nur auf ihr Grab starrte, spürte ich ihr Leid, welches sie vor dem Tod erlebt haben musste.

Ich streckte zögernd die Finger aus, berührte mit der Handfläche die kühle Steinplatte und hielt mich an ihr fest. Meine Gefühle überwältigten mich und ich keuchte laut als mich ein Schwindelgefühl befiel. Nach ein paar sehr intensiven Augenblicken gelangt es mir schließlich, mich zu sammeln, ich richtete mich auf und verließ rasch die Kapelle.

Das gleißende Sonnenlicht half mir, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und ich setzte mich auf eine niedrige zerfallene Mauer, die eine kleine, verwilderte Fläche umrandete.

Das ist der ehemalige Kräutergarten der Burg, schoss es mir durch den Kopf. Besondere Heilpflanzen wurden hier gezogen. Das Bild, das sich vor meinem inneren Auge ausbreitete, zeigte mir sorgfältig angelegte Reihen kleiner Beete mit verschiedenen, intensiv duftenden Kräutern und Pflanzen: Eine Reihe purpurner Fingerhut wuchs neben gedrungenen Wolldisteln. In der Reihe dahinter hatten orange-gelbe Ringelblumen ihren Platz gefunden und bildeten einen guten Kontrast zum violett blühenden Lavendel. Blauer Rittersporn ragte zwischen Färberwaid und grüner Kresse empor. Rosmarin und Petersilie, Thymian und in weißer Blüte stehender Bärlauch, dessen strenger Geruch mich an Knoblauch erinnerte, nahm ich wahr. Auch die Stockrosen sah ich vor mir, wie sie sich in weißen, rosa und dunkelroten Blüten an die kleine Mauer lehnten und sich leise im aufkommenden Wind wiegten.

Welche Pracht, dachte ich mit geschlossenen Augen, atmete tief ein und verlor mich im Duft dieser Erinnerung. Ich liebte Lavendel, wenn man ihn zwischen den Fingern zerrieb und sein Duft an der Haut haften blieb. Die Sonne, die mein Gesicht berührte, hatte eine beruhigende Wirkung auf meine aufgewühlten Gefühle. Ich hatte den intensiven Blütenduft in der Nase, sah die sorgsam gepflegten Beete der Kräuter- und Heilpflanzen vor mir – es war ein wunderbar friedlicher und tröstlicher Augenblick.

Die anderen kamen aus der Kapelle und holten mich in die Gegenwart zurück. Doch in welche? Ich vermochte nicht zu unterscheiden, welche für mich gerade die realere war, denn die Gefühle, die mich bei dem Duft der Kräuter durchströmten, waren so intensiv und gegenwärtig, dass ich mich dort - wo auch immer es war - lebendiger fühlte als hier, bei den anderen Gästen. Antonia kam auf mich zu.

„Es ist so schön und irgendwie tief berührend“

Ich wusste, dass sie das Innere der Kapelle meinte und nickte zustimmend.

„Ja, eine ganz besondere Stimmung - tröstlich und aufwühlend zugleich.“

Diesmal war sie es, die mir zustimmte.

„Die Burg Hohnstein macht etwas mit Dir“, meinte sie ruhig. Das war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. „Und diese Kapelle hat eine ganz besondere Wirkung - übrigens auch auf mich. Irgendetwas zieht mich einfach an. Aber ich weiß nicht warum. Ein eigenartiges Gefühl von Frieden und tiefem Leid.

Hier müssen viele ums Leben gekommen sein. Sie wurden erstochen, einfach hingerichtet, weil sie das Gesetz übertraten, dabei wollten sie doch nur in ihrer Not Trost und Frieden in der Kapelle finden, so wie die anderen auch“, brach es plötzlich aus ihr hervor. Überrascht schaute ich auf. Was wusste sie? Spürte sie auch, was ich wahrnahm? Es war keine Kunst zu vermuten, dass Menschen in einer Burg auch zu Tode kamen, doch zeigte ihr Finger direkt auf die Stelle vor der Kapelle! Sie hatte recht. Ich sah sie alle vor mir in ihrem Blut liegen und konnte zusehen, wie sie langsam ihr Leben aushauchten. Acht Männer und Frauen waren es, die versucht hatten, in die Kapelle einzudringen, um dort in ihrer Verzweiflung Gott um Hilfe anzuflehen. Doch gab es kein Pardon, sie durften nicht hinein und bezahlten dafür mit ihrem Leben. Ihre toten Körper hatte man später einfach zur Seite gezogen und dort liegengelassen, damit die Herrschaft nicht über sie hinwegsteigen musste und von den Fliegen belästigt wurden, die sich in der beginnenden Hitze des Tages schon bald über sie hermachen würden.

Woher wusste ich das alles? Spielte mir meine Fantasie aufgrund meiner aufgewühlten Gefühle wieder einen Streich, versuchte sich mein Gehirn Dinge zusammenzureimen, damit ich nicht verrückt wurde? Die eisige Faust der Nacht legte sich erneut um meinen Kopf und der Schmerz bohrte sich mit feinen, langen Nadeln in meine Schläfen.

„Ich lege mich ein wenig hin, ich glaube, es wird mir gerade etwas zuviel. Ich hatte die letzten Wochen einfach jede Menge um die Ohren,“ setze ich erklärend hinzu, damit Antonia sich keine Sorgen um mich machte. Schließlich feierte sie morgen ihren Geburtstag und sollte sich darauf freuen und sich nicht um einen alten, etwas aus der Bahn geworfenen Freund kümmern müssen.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand ich auf und entfernte mich von der Kapelle, die in mir so viele beunruhigende Bilder hervorgerufen hatte.

Eines wusste ich mit Bestimmtheit, sobald ich wieder fit und stabiler war, musste ich unbedingt noch einmal hierherkommen und in die Kapelle hineingehen. Doch heute sicher nicht mehr. Ich brauchte Ruhe und Abstand von allem.

So bemerkte ich auch nicht, dass Antonia mir noch lange nachdenklich hinterherschaute und etwas vor sich hinmurmelte, was mir vielleicht aus meiner verwirrten Gemütslage herausgeholfen hätte.

Unheimliche Begegnung

Ich verschlief den gesamten Nachmittag und bekam im Außen überhaupt nichts mit, auch das Abendessen ging an mir vorüber, ohne dass ich wach wurde. Antonias Verständnis empfand ich als sehr angenehm, ließ sie mir doch die Zeit, alles zu verarbeiten, wohl wissend, dass es dies der beste Weg für mich war. Im Schlaf fand ich die notwendige Entspannung und mein Geist fand endlich Ruhe.

Als ich erwachte, waren alle Tagesgeräusche längst verstummt und die Nacht hatte sich über die Burg gelegt. Nur in der Ferne vernahm ich leises Lachen und Gemurmel. So wie am Abend zuvor mit mir, würde Antonia jetzt sicher mit ihren Freunden gemütlich zusammen im Kaminzimmer am Feuer sitzen, die gemeinsame Zeit genießen, um mit ihnen in ihren Geburtstag hinein zu feiern. Im Moment hatte ich kein Verlangen, mich zu ihnen zu setzen und beschloss, nochmals in die Kapelle zu gehen, diesmal allein, um mir zu beweisen, dass meine Eingebungen dort nur die Folge meines Alptraums waren, ich mir alles nur eingebildet hatte und es dort tatsächlich überhaupt nichts Beunruhigendes gab. Mein Verstand hatte damit wieder die Führung übernommen und meine Gefühle waren bereit, sich ihm unterzuordnen, die Bilder als Fantasie abzutun, um sie anschließend wieder erfolgreich zu vergessen.

Entschlossen stand ich auf, knipste die kleine Nachttischlampe an und bemerkte einen handgeschriebenen Zettel mit Antonias Schrift, den sie dort, während ich fest schlief, wohl für mich hingelegt haben musste: „Wenn Du ausgeschlafen hast findest Du in der Küche einen Teller mit einigen guten Dingen zur Stärkung. Ich habe mich daran erinnert, was Du gerne isst. Wir sitzen im Kaminzimmer und warten auf Dich. Ich würde mit Dir gern um Mitternacht auf mein neues Jahrzehnt anstoßen. Bitte komm einfach dazu, A.“

Antonias verständnisvolle und fürsorgliche Art berührte mich, sie hatte ich schon immer so an ihr gemocht. Sie besaß ein großes Einfühlungsvermögen. Obwohl es ihr Geburtstagswochenende war, das sie sicher von langer Hand vorbereitet haben musste, um diese für sie besondere Zeit mit ihren Freunden zu teilen, war sie doch bereit, auf mich zu verzichten. Sie war eben eine wirkliche Freundin!

Ich zog mich warm an und machte mich auf den Weg zur Kapelle. Als ich den Innenhof betrat, war ich froh, meine dicke Jacke zu tragen, denn die Temperaturen waren für Anfang Mai noch sehr kühl. In diesem Jahr ließ sich der Frühling mehr Zeit als die Jahre davor. Etwas verloren stand ich in der Dunkelheit, nachdem ich die Eingangshalle der Burg durchquert und die altertümlich hohe Tür fest hinter mir geschlossen hatte. Der muffige Geruch der Burg war verflogen, sobald ich mich im Freien befand.

Wo genau lag noch die Kapelle? Musste ich links oder rechts über den Burghof gehen? Wie von selbst setzten sich meine Füße in Bewegung und fanden zielsicher den Weg, so dass ich jetzt direkt vor dem Rundbogen der Kapelle stand und den Türgriff herunterdrückte.

Ich zögerte kurz. Durfte ich die Kapelle überhaupt betreten? Oder war es mir, dem einfachen Mann, bei Todesstrafe verboten?

Quatsch, wir sind doch nicht mehr im Mittelalter, wies ich mich zurecht. Diese Zeit ist doch längst Vergangenheit!

Leise öffnete ich die Tür und trat ein. Sofort umhüllte mich wieder ein Gefühl tröstlicher Geborgenheit! Ich holte tief Luft und lauschte in die Stille. Nichts rührte sich, ich war allein. Vorsichtig tastete ich mich in den Raum hinein und stieß mit einem Bein gegen einen der Stühle. Der gab ein kratzendes Geräusch von sich, als ich ihn einige Zentimeter über den Steinboden zur Seite schob. Das Geräusch ließ mich erstarrten und ich verharrte an meinem Platz.

Unmittelbar vor mir bewegte sich etwas, ohne dass ich es sehen konnte. Fröstelnd zog ich die Jacke fester um meine Schultern, als ob sie mich vor dem Unheimlichen schützen könnte.

„Ist da jemand?“ In der dunklen Stille erschrak ich über meine eigene Stimme. Es blieb still und doch war ich nicht allein, ich verspürte eine unerklärliche Präsens und zwar direkt neben mir. Meine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen, so dass sie vor lauter Anstrengung tränten.

Hör auf damit, fange gar erst wieder mit dieser Spinnerei an, ermahnte mich mein Verstand. Hier ist niemand, Du bist vollkommen allein!

So musste es sein. Langsam tastete ich mich zu Magdalenas Grabplatte vor und fühlte, so wie am Mittag, wieder das Relief unter meinen Fingern!

Ein Gefühl unendlicher Traurigkeit durchlief meinen Körper und ich schniefte laut.

„Weine nicht um mich, es geht mir gut, dort, wo ich jetzt bin! Dich trifft keine Schuld.“

Die Stimme war kaum zu verstehen und doch waren die Worte so klar und deutlich, als ob sie jemand direkt in mein Herz gelegt hätte.

Also war doch jemand hier!

Erschrocken fuhr ich herum. Vor dem dunklen Hintergrund zeichnete sich eine sanft leuchtende, nur in den Umrissen sichtbare, durchscheinende Gestalt ab.

„Wer bist Du?“ Meine Stimme zitterte und mein Herz raste vor Aufregung.

„Das weißt Du, erinnere Dich!“

Die Stimme war so zärtlich, als ob sie mir sanft über die Wange strich. In mir erzeugte der Klang eine schmerzlich-erinnernde Sehnsucht. In diesem Augenblick wurde mir deutlich, dass ich diese Sehnsucht bereits mein gesamtes Leben in mir trug.

„Magdalena?“, flüsterte ich.

Sie nickte und ich fühlte, mehr als ich in der Dunkelheit sehen konnte, ihr liebevolles Lächeln.

„Ich muss jetzt gehen, aber wir werden uns wiedersehen.“

Das Vibrieren um die zarte Gestalt löste sich auf. Ich war wieder allein, sie ließ mich zurück in einer schwarzen, lastenden Dunkelheit.

Meine Worte: „Nein, bleib“, kamen zu spät, sie war bereits verschwunden, oder - sollte ich lieber sagen, sie hatte sich vor meinen Augen aufgelöst? Das genau war exakt die richtige Beschreibung dafür.

Ich schluckte schwer. In meiner Brust brannte die Sehnsucht, noch einmal ihre Stimme zu hören! Gleichzeitig aber wurde noch etwas anderes in mir wach, ich wusste plötzlich, dass ich es war, der für ihren frühen Tod verantwortlich war.

Die Erkenntnis traf wie mich ein Donnerschlag. Fluchtartig verließ ich die Kapelle. Ich konnte nicht länger hierbleiben an diesem Ort des Gebetes, an dem niemand hingehörte, der sich eine so große Schuld auf die Schultern geladen hatte!

Ich stöhnte. Mein Verstand vermochte dieser Entwicklung nicht weiter zu folgen und protestierte laut. Das ist doch der Wahnsinn! Was läuft hier für eine Schmierenkomödie? Bist Du noch zu retten? Diese Frau ist bereits mehrere Jahrhunderte tot und Du willst schuld an ihrem Tod sein?

Ich raufte mir die Haare und rannte unruhig auf dem Vorplatz auf und ab. Das hier war kein Alptraum mehr und es gab auch keinen Wecker, der mich gleich aus dieser Situation befreien würde. Irgendwie war ich in diese abstruse, unheilvolle Geschichte hineingeraten, schien in ihr eine Rolle zu spielen! Aber welche?

„Hallo Freund, beruhige Dich. Ich kann Dir helfen!“ Erschrocken blieb ich stehen und entdeckte ihn, den Mann mit dem dunklen Umhang, der bis zum Boden herabreichte. Er stand mir plötzlich gegenüber, wie aus dem Nichts war er aufgetaucht.

„Wer bist Du?“, stotterte ich und wich zur Vorsicht lieber zwei Schritte zurück.

„Man nennt mich den Magier. Hab keine Angst. Ich bin nicht gekommen um Dir zu schaden, sondern um Dir zu helfen.“

Trotz dieser Worte blieb ich auf der Hut und traute ihm nicht. Vor lauter vor Anspannung hatte ich die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten geballt.

Für einen Moment gaben die Wolken am Himmel den Mond frei. In seinem fahlen Licht erkannte ich, dass die Augen des Mannes weißlich schimmerten. Entsetzt starrte ich ihn an, er war ganz offensichtlich blind!

Der Magier musste spüren, wie ich sehr ihn anstarrte, denn er merkte ruhig an:

„Ja, Julian, Du hast es richtig erkannt, aus Deiner Sicht bin ich tatsächlich blind. Aber das spielt keine Rolle, ich kann Dir trotzdem helfen!“

„Woher weißt Du, wie ich heiße?“ Meine Stimme zitterte.

„Ach, Du hattest viele Namen. Und heute gehst Du eben als Julian durchs Leben. Aber um Dir das mitzuteilen, bin ich nicht hier. Es gibt andere, wichtigere Gründe.

Du hast so viele Fragen, die so lange schon auf die richtige Antwort warten. Doch wirst Du sie hier nicht finden. Julian, Du musst zurückgehen in jene Zeit, in der alles begann. Dort ist tatsächlich durch Dich etwas gehörig durcheinandergeraten. Dort wirst Du auch Dich selbst im heute besser verstehen. Nur wenn Du zurückgehst hast Du die Möglichkeit, die Dinge zu verändern, an denen Du so schwer trägst, kannst sie so wieder ins Gleichgewicht bringen. Diese Schuld trägst Du bereits seit Jahrhunderten mit Dir herum. Sie belastet Dich, seitdem Du sie erzeugt hast. Und jetzt, da sie in diesem Leben wieder in Dein Bewusstsein getreten ist, könntest Du mit Deiner heutigen Moral daran zerbrechen, wenn Du nicht zurückkehrst, um die Ordnung wiederherzustellen.“

Der Magier schwieg und gab mir kurz die Gelegenheit, darüber nachzudenken, bevor er fortfuhr:

„Ich kann Deine nächste Frage hinter Deiner Stirn erkennen. Du möchtest wissen, wer ich wirklich bin. Denn das, was ich Dir gerade berichte, erscheint Dir so unwirklich, dass es aus Deiner Sicht nicht einmal einen Platz in den Fantasy Büchern finden würde, die Du so gerne liest.

Ich sage es Dir: Ich bin ein Magier der alten Zeit und berate Dich, seitdem Du hier auf der Erde bist. Also aus Deiner heutigen Sicht seit Ewigkeiten.“

Seine Worte legten sich wie ein weicher Mantel um meine Schultern und fühlten sich auf besondere Weise richtig an. Mein Verstand hatte sich längst beleidigt in die hinterste Ecke meines Kopfes zurückgezogen und überließ das Handeln jetzt allein meiner Intuition - und die bejahte jedes einzelne seiner Worte!

„Aber…. wie soll das denn funktionieren? Das ist unmöglich! Ich kann doch nicht ganz einfach in eine andere Zeit hineinspazieren, als ob ich eine Straße überquere und schon bin ich da. Und ich weiß auch nicht, ob ich das überhaupt will. Das muss ich mir erst noch mal genaustens überlegen.“

Die Angst packte mich. Sie war meine alte Bekannte, die mich so lange ich denke konnte, gern und immer in ganz besonders kniffligen Situationen und Herausforderungen gelähmt und ferngesteuert hatte. So auch jetzt, sie hatte mich fest im Griff und ein Teil von mir schaute sich bereits unter ihrer Führung nach einer geeigneten Fluchtmöglichkeit um.

„Es kann Dir nicht gelingen, Julian, Dir selbst zu entkommen. Auch wenn Du jetzt gehst und meine Hilfe nicht annimmst - und das ist Deine freie Entscheidung - wird der Alptraum wiederkommen und Dir keine Ruhe lassen. Es ist Dein Gewissen, das Dir den Weg vorgibt.“ Ich schluckte mühsam, wieso konnte dieser Mann meine Gedanken lesen und so genau wissen, was in mir vorging?

„Julian, ich kenne Dich. Jedes einzelne Gefühl von Dir ist mir vertraut, jeder Gedanke und das nicht erst seitdem wir uns wiederbegegnet sind. Tief in Deiner Erinnerung ist alles bewahrt!

Doch jetzt schau erstmal zurück in dieses Leben: Bist Du jemals wirklich glücklich gewesen?“

Ich schluckte erneut. Warum sprach er gerade jetzt meinen wunden Punkt an?

„Glücklich warst Du immer nur für eine kurze Zeit. Jedes Mal wurdest Du wieder verlassen, keine Frau ist geblieben, egal, wie groß die Gefühle waren und zu welchen Zugeständnissen Du auch bereit warst. Oder Du hast Dich getrennt. Wirklich gepasst hat es nie.“

Er schwieg und widerwillig musste ich zustimmen.

„Hast Du Dich jemals gefragt, warum das so ist? Du bist ein attraktiver, einfühlsamer und intelligenter Mann. Warum also will Dich keine Frau länger an ihrer Seite haben? Dabei wünschst Du Dir sehnlichst eine Partnerin, mit der Du zusammenbleiben kannst, Dein Leben teilen, die Zukunft planen. Du wolltest immer Kinder, eine Familie, ein ganz normales Leben führen. Warum wohl ist Dein Herzenswunsch nicht in Erfüllung gegangen?

Das, Julian, hat mit Deiner älteren Vergangenheit zu tun. Um die Zusammenhänge vollständig zu begreifen musst Du wissen, dass ein Fluch an Dir hängt.“

„Ein Fluch – gibt es sowas überhaupt?“, fragte ich unsicher.

„Aber ja doch. Ein Fluch und zwar einer, der recht stark ist.“

„Gut, dann löse ihn doch bitte gleich auf. Wenn Du so viel über mich weißt, dann weißt Du sicher auch, wie das zu machen ist.“

„Das kann ich nicht, nur Du selbst bist dazu in der Lage. Ein Fluch ist wie ein Spinnennetz. Hast Du Dich auf der einen Seite befreit, hängst Du mit der anderen Seite noch fester drin. Oder, um es in Deiner heutigen Sprache zu sagen, ist er wie ein Kaugummi, der sich in Deiner Kleidung verfilzt und wenn Du ihn an einer Stelle mühsam herausgelöst hast, sich woanders bei Dir wieder verfängt und kleben bleibt. Den wirst Du nicht so einfach los.

Es gibt nur einen Weg, um Dich von diesem Fluch zu befreien. Dafür musst Du zu den Ursachen zurückkehren, die Dein Leben heute bestimmen.“

„… und sie verändern?“

„Ja, genau, jetzt hast Du verstanden, was ich meine!“ „Und… - wenn ich das wirklich mache, wie gefährlich ist das? Komme ich anschließend wieder sicher zurück in dieses Leben?“

Da war sie wieder, meine große Angst, die mir diese Frage diktierte.

„Julian, Du musst endlich lernen, Dir selbst zu vertrauen. Nur wenn Du das tust, kannst Du die Veränderung herbeiführen.

Du befindest Dich jetzt an dem Ort, an dem Du Dir einst die Schuld auf die Schultern geladen hast.“

„Hier ist das geschehen, an diesem Ort?“

„Ja!“

Ein heißes Gefühl der Scham durchströmte mich.

Sein Ja - bebte durch meinen Körper - ein einziges Wort vermochte es, mir meine Schuld nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen! Die eigene Schuld anzuerkennen war das eine und wog an sich schon schwer, sie aber von anderen mit dieser Nachdrücklichkeit bestätigt zu bekommen, vertiefte sie noch um einiges. Das Wort lag tonnenschwer auf meiner Brust. „Warum habe ich das überhaupt getan?“, flüsterte ich nach einer Weile und zitterte am ganzen Körper. Meine Zähne schlugen gegeneinander und ich konnte nichts dagegen unternehmen.

„Es lag an Deiner Angst, sie war im entscheidenden Augenblick stärker als Deine Liebe.

Du hast in verschiedenen Leben mehrmals versucht, Dich von der lähmenden Angst zu befreien, doch ist es Dir bislang nicht gelungen. Deshalb stehst Du heute hier, um Dich der Angst und der Schuld nochmals bewusst zu stellen! Bist Du bereit?“

„Ich würde gerne darüber noch eine Nacht schlafen, mir alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und erstmal verstehen, was heute alles passiert ist. Morgen werde ich es Dir dann ganz sicher sagen können“, antwortete ich schnell.

„Nein, Julian, das geht nicht. Nur jetzt, zu dieser Stunde, wenn die Nacht dem Tag die Hand reicht und sie sich für diesen einen Augenblick innig miteinander verbinden, entsteht in der herannahenden Morgendämmerung die Brücke in Deine Vergangenheit.“

Der Magier schien mich nicht zu hören, als ich leise einwarf: „Aber ich kann doch nicht so einfach gehen…?“

Geduldig wiederholte er seine Frage:

„ Bist Du bereit?“

„.… komme ich denn wieder zurück?“

Die Angst in mir war wieder aktiv und verstärkte meinen Widerstand. Ich musste ihm die Frage unbedingt ein zweites Mal stellen in der Hoffnung, er gäbe mir doch noch die Garantie für meine sichere Rückkehr. „Das liegt allein an Dir“, antwortete der Magier geduldig. „Wenn es Dir gelingt, die Ordnung wiederherzustellen, die durch Dein Handeln aus dem Gleichgewicht geraten ist, so kannst Du die Schuld und damit auch Dich selbst von der Angst erlösen. Gelingt es Dir nicht, so bleibst Du in der Vergangenheit verschollen. Aber das ist nicht besonders tragisch, denn dann hat Dir Dein gegenwärtiges Leben auch nicht mehr viel zu bieten.“ Ich atmete tief durch. Was sagte er da? Es wäre nicht tragisch? Was maßte sich dieser vermeintliche Magier an, so etwas zu behaupten? Natürlich war es tragisch und zwar hochgradig. Immerhin ging es um mein Leben!

Meine Empörung wurde aber schnell von einem unbehaglichen Gefühl abgelöst. Was wäre, wenn ich tatsächlich versagte? Zutiefst beunruhigt über diese Vorstellung spürte ich kalten Angstschweiß in meinem Nacken aufsteigen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten läge ich jetzt in meinem warmen, weichen Bett, die Decke bis ans Gesicht gezogen und könnte mich verkriechen, all diesen Merkwürdigkeiten einfach den Rücken kehren.

Der Magier kam jetzt auf mich zu und blickte mir mit seinen blinden Augen direkt ins Gesicht. Obgleich er nichts sehen konnte, hatte ich das Gefühl, dass er mir mitten ins Herz blickte.

„Julian, die Zeit ist gekommen, Du musst jetzt die Entscheidung treffen!“

„Aber morgen gibt es doch wieder die gleiche Konstellation, auch dann wird die Nacht dem Tag wieder die Hand reichen …“, warf ich ein.

Mein Widerspruch bewirkte das genaue Gegenteil, er stand jetzt so nahe bei mir, dass er jetzt nur noch eine Nasenlänge von mir entfernt war. Ich konnte seinen Atem spüren. Warum gab er mir nicht die Bedenkzeit, gewährte mir keinen Aufschub? Seine kraftvolle, wenn auch unheimliche Nähe schien die richtige Antwort geradezu aus mir herausziehen zu wollen.

„Julian, es ist nicht das erste Mal, dass Du mich um diesen Aufschub bittest. In jedem Leben, in dem ich Dir sie einmal gewähren durfte, hast Du die Flucht ergriffen und gute Gründe gefunden, Dich den Ursachen nicht zu stellen, um die Ordnung zum Wohle aller wiederherzustellen.

Es stimmt, die Brücke bildet sich in jeder Nacht neu, aber nicht jeder hat das Recht, sie nach eigenem Gutdünken zu überqueren.

Nur in dieser einzigen Nacht-Morgenkonstellation sind die Voraussetzungen für Dich gegeben. Denn heute sind alle, die damals eine entscheidende Rolle spielten, hier auf der Burg zusammengekommen. Antonia wird nur einmal sechzig Jahre in diesem Leben und wird im nächsten Jahr ganz sicher hier nicht wieder mit allen feiern. Also entscheide Dich jetzt.“

Ich starrte in sein zerfurchtes Gesicht, in der sich jede eingegrabene Linie im ersten Grau der einsetzenden Dämmerung überdeutlich abzeichnete. Das Leben hatte ihn nicht verschont, jede Linie schien eine eigene Geschichte zu erzählen. Und gerade gab es nichts Wichtigeres für mich, als sie einzeln genauestens zu studieren. Durch eine leichte Drehung des Kopfes ließ der Magier meine Betrachtung nicht länger zu und ich gab mich geschlagen:

„Also gut, Magier, ich bin bereit!

Aber eines noch, wie komme ich zu dem Ursprung, als alles begann? - Und was muss ich dafür überhaupt tun?“

„Vertraue mir, so wie Du es schon immer getan hast und folge mir. Die Zeit wird knapp, wir dürfen keine einzige Sekunde mehr verlieren.“

Der lange dunkle Umhang wehte um ihn herum und bauschte sich leicht, als er sich rasch umdrehte und zielsicher, als ob er bestens sehen konnte, mit schnellen Schritten davoneilte. Er warte nicht darauf, dass ich ihm folgen würde. Aber ich musste es tun, hatte ich ihm doch gerade mein Wort gegeben.

Mein ganzes Sein hängte sich wie ein Magnet an ihn. Es war wie ein Sog, es gab jetzt nichts anderes mehr, als ihm zu folgen.

Und plötzlich erkannte ich mit schlafwandlerischer Sicherheit, dass es nie eine andere Entscheidung gegeben hatte, nur die, die ich soeben getroffen hatte. Diese Sicherheit verlieh mir die Kraft zu vertrauen.

Entschlossen und mit festen Schritten folgte ich dem Magier, der immer schneller wurde und auf ein ganz bestimmtes Ziel zuzustreben schien.

Durch das Tor der Zeit

Der Magier blieb so abrupt stehen, so dass ich beinahe in ihn hineinlief. Wie angewurzelt stand er da und starrte mit blinden Augen, den Kopf langsam hin und her drehend, in das heller werdende Grau der einsetzenden Dämmerung. Ich beobachtete ihn fasziniert. Trotz seiner Blindheit schien er genauestens zu wissen, was im Außen vor sich ging und wonach er suchte.

Ich erkannte, dass wir nun direkt hinter der Kapelle standen, nur wenig von der beeindruckend hohen Burgmauer entfernt. Dicke Steinbrocken waren geschickt zu der Mauer zusammengefügt worden und hatten allen Angriffen von Menschen und Witterung bis heute erfolgreich getrotzt. Nur hin und wieder war es einer Pflanze gelungen, sich in einer Steinecke dieses gewaltigen Mauerwerks zu verwurzeln und heranzuwachsen. Hier, an diesen einsamen Platz, verirrte sich wohl kaum ein Tourist, denn um uns herum wucherten die Pflanzen und hatten diesen Platz zurückerobert.

„Hier ist es“, murmelte der Magier und unterbrach meine Betrachtungen. Ich schenkte ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit und sah erstaunt, wie durch seine kleine Handbewegung direkt vor uns in der Mauer ein dunkles, kleines Tor sichtbar wurde, auf das er sofort zustrebte. Sofort folgte ich ihm nach. Er legte beide Hände auf das verwitterte Holz, das schmale Tor öffnete sich knarrend und gab den Blick auf einen schmalen Gang frei, der in die Dunkelheit führte.

Der Magier trat über die Schwelle und sagte bestimmend:

„Komm, aber verliere auf gar keinen Fall den Anschluss. Das könnte für Dich gefährlich werden.“

Wir gingen in die Dunkelheit hinein, die uns sogleich verschluckte. Ich musste aufpassen, dass ich mir nicht den Kopf anstieß und folgte ihm daher in gebückter Haltung. Alles hier roch nach modriger Feuchtigkeit, die Luft war abgestanden, als ob schon lange keiner mehr hier gewesen war. Ich musste mich sehr konzentrieren, um nicht ihn nicht zu verlieren, denn der Magier verschmolz immer mehr mit der Dunkelheit.

Hier würde mir mein Augenlicht nichts nützen, ich musste mich allein auf meine Intuition verlassen, damit ich ihn nicht verlor oder stolperte. Der Boden war uneben und hin und wieder auch so feucht, dass ich achtgeben musste, nicht auszurutschen.

Ich wusste, wir gingen durch die Zeit zurück, um Magdalena zu finden. Der Gedanke an sie gab mir Mut und ich hörte auf, mir all die Gefahren vorzustellen, die mich vermutlich noch erwarteten.

In der Dunkelheit verlor ich jegliches Zeitgefühl. Mein einziges Bestreben bestand darin, dem Magier zu folgen und nicht zu fallen. Sobald ich unsicher wurde, streckte ich beide Arme aus und berührte links und rechts die feuchten Wände, damit ich nicht hinfiel. Wie nur war es diesem ungewöhnlichen Mann möglich, sich so geschickt vorwärts zu bewegen? Er ging mit einer sicheren Leichtigkeit vor mir, als ob er den Gang schon tausendmal durchquert hatte

Der Weg führte uns immer tiefer hinab, denn ich spürte die leichte Neigung unter meinen Sohlen. Endlos lang erschien mir die Strecke und nach meinem Gefühl mussten wir bereits mehrere Stunden hier unten sein.

Nur sehr langsam weitete sich der schmale Gang und ich musste mich jetzt entscheiden, ob ich mich an der linken oder rechten Wandseite orientieren wollte. Plötzlich huschte etwas ganz nah an meinem Gesicht vorbei. Erschrocken blieb ich stehen.

„Was war das?“, rief ich dem Magier hinterher und wischte mir den Ekel vom Gesicht.

„Stör Dich nicht an ihnen. Das sind unerlöste Seelen, die in der Zeit umherirren. Sie können Dir nichts tun, solange Du in innerer Zuversicht bleibst!“

„…unerlöste Seelen?“, wiederholte ich fassungslos, gab es die wirklich?

Schon wieder schwirrte etwas an mir vorüber. Diesmal mussten es gleich mehrere sein, denn ich vernahm ein leises Wispern, das wie raschelnde trockene Blätter klang, durch die der Wind fuhr.

„Komm, bleib nicht stehen, es ist gefährlich, hier zu verweilen. Folge mir nach!“

Das war eindeutig ein Befehl und duldete keinen Widerspruch. Sofort setzte ich mich wieder in Bewegung und eilte hinterher. Auf keinen Fall durfte ich den Anschluss verlieren.

Wieder schienen Stunden vergangen zu sein und ich spürte meine Beine kaum noch. Die muffige, feuchte Luft erschwerte zusätzlich das Atmen und ich spürte die Anstrengung inzwischen überall im Körper.

„Wie lange noch?“ Ich war erschöpft und meine Stimme klang kläglich. „Ich kann nicht mehr!“

„Das Meiste ist geschafft, wir sind bald da, Du musst nur noch kurz durchhalten.

Gib acht, Julian!“

Sein lauter Schrei riss mich aus meinem Selbstmitleid. Er klang nach Gefahr und die Warnung war mehr als deutlich. Instinktiv duckte ich mich, doch es war zu spät. Irgendetwas krallte sich bereits in meinem Nacken fest. Ich glaubte einzelne Finger zu spüren, die ihren Griff immer weiter verstärkten. Und plötzlich fühlte ich, wie sie sich in mich hineinbohrten und immer tiefer in mich eindrangen: Durch meinen Nacken direkt in meine Brust! Ein stechender Schmerz durchzuckte mich, ein heftiges Schwindelgefühl warf mich zu Boden. Während ich wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte wurde mir schwarz vor Augen. Dann verlor ich das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, kniete der Magier hinter mir und hielt meinen Kopf in seinen beiden Händen. Eine wohlige Wärme durchströmte mich und langsam öffnete ich die Augen.

„Alles in Ordnung?“ Seine Frage war besorgt.

Ich nickte mühsam, der Schmerz in meinem Nacken brannte wie Feuer.

„Ja, es geht wieder, danke!“

Ich setzte mich vorsichtig auf, fühlte noch einmal eine leichte Übelkeit, die aber sofort verflog, als ich wieder klar bei mir war. Auch der Schmerz im Nacken ließ nach.

„Was war das gerade?“

Der Magier lächelte in der Dunkelheit und ich bemerkte plötzlich erstaunt, dass ich offenbar gerade eine besondere Form der Wahrnehmung entwickelte: Ich konnte „sehen“, obwohl alles um mich herum in pechschwarze Dunkelheit getaucht war. Es musste eine besondere Art des Sehens sein, die ganz offenbar über eine innere Ebene lief, denn sein Lächeln nahm ich mit meinem inneren Auge wahr!

„Ja, so ist es, Julian. Deine inneren Sinne schärfen sich. Was ist gerade mit Dir passiert? Zwischen Zeit und Raum, also genau hier, wo wir beide uns gerade befinden, halten sich oft unerlöste Seelen auf. Sie sind nach ihrem Tod nicht ins Licht zurückgekehrt, wo sie eigentlich hingehörten, sondern sind auf der Erde geblieben. Das kann tausend unterschiedliche Gründe haben. In ihrer Verwirrung geistern sie überall umher - bevorzugt hier - und versuchen ihren Zustand zu verändern, indem sie sich an Lebende hängen, um auf der Erde wieder an allem aktiv teilnehmen zu können. Ohne einen eigenen menschlichen Körper ist ihnen dies ja nicht möglich. Also suchen sie sich einen menschlichen Wirt, um das mal so auszudrücken und dringen in ihn ein. Dort beginnen sie, in seinem Körper ihre Ideen, unerfüllten Träume und ihre Handlungen auszuleben. Der Wirt selbst verliert so langsam an Kraft und verändert sich. Er wird also benutzt und zunehmend fremdbestimmt. Oft bemerkt er diese Veränderung, so wie Du, indem ihn plötzlich etwas durchfährt, wie ein großer Schmerz, eine Kälte, ein Schwindel, Müdigkeit oder es zeigt sich als Konzentrationsverlust, oft bemerkt er es aber auch nicht. Nur diejenigen, die darum wissen, werden ihre Veränderungen richtig zu deuten wissen. Die anderen sind dem hilflos ausgeliefert, leben oft jahrelang mit solch einer Seele und wundern sich, dass sie sich innerlich immer mehr von sich selbst entfernen, sich also selbst fremd werden.

Darüber hinaus kann es sein, dass sie von unerklärlichen Gefühlen getrieben werden oder zeigen körperliche Symptome, dessen Ursache kein Arzt finden kann. Denn sie sind ja körperlich gesund, spüren aber überdeutlich die Gefühle oder Beschwerden der fremden Seele. Das kann mitunter ein Martyrium für die Betroffenen sein. Diese Menschen müssen jemanden finden, der ihnen hilft, ihren Zustand zu erkennen und der in der Lage ist, sie von der Besetzung zu befreien.“ „Und … ich hatte so eine unerlöste Seele bei mir?“

Allein diese Vorstellung, dass jemand auf diese Weise in mich eingedrungen und von mir Besitz ergriffen hatte, war entsetzlich. Ich holte tief Luft.

„Aber nun ist sie wieder weg? Ich fühle mich jetzt wieder ganz normal“, meine Stimme zitterte leicht, als erwartete ich, dass er meine Frage verneinte.

„Ja, ich habe sie aus Dir herausgelöst. Du bist wieder frei.“

„Aber wie konnte das überhaupt passieren?“