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1349: In einer Zeit, in der die Welt aus den Fugen gerät, die Pest wütet und es keine Antworten gibt für das entsetzliche Sterben, müssen Schuldige gefunden werden. Und wer eignet sich besser als die Andersgläubigen, die Juden? Sie sind verantwortlich für das Elend von Straßburg, sie müssen brennen, um der Wut auf der Straße Genüge zu tun. Wer kann da noch unterscheiden, was Wahrheit, was Lüge ist? Wem gelingt es, Mensch zu bleiben und wer verstrickt sich im Wahn falscher Vorstellungen und verliert sich in abgrundtiefem Hass? In diesem Strudel von Chaos, Krankheit, Tod und tiefster Verwirrung gerät Ida - eine junge Magd - zwischen die Fronten. In dieser Gefahr greift sie nach einer Hand, die bereit ist, sie in größter Not festzuhalten und ihr beizustehen. Auch dann, wenn diese aus einer anderen Zeit zu kommen scheint und sich in keiner Weise erklären lässt!
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Seitenzahl: 683
Veröffentlichungsjahr: 2024
Maike Stüven
Die unsichtbare Seite der Erinnerungen
© 1. Auflage 2024, Maike Stüven
Umschlaggestaltung, Illustration:
Andreas Dorn, Maike Stüven
Verlag: tredition GmbH
ISBN: 978-3-384-38718-9
Printed in Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ein tiefer Blick ins Innere befreit uns von äußeren Begrenzungen und Pflichten. Hier werden wir die Welt entdecken, die klug und weise in uns existiert.
Erfahrungen, Visionen, alte Wissensschätze werden sich offenbaren, sobald wir der unsichtbaren Seite unserer Erinnerungen erlauben, in uns wieder sichtbar zu werden.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Ratlosigkeit
Flammentod
Verzweiflung und Hoffnung
Seelenverbindungen
Schwer heilende Wunden
Enge Gassen
Ein einziges Ärgernis
Verwirrung mit neuen Erkenntnissen
Sanfte Gefühle
Neue Herausforderungen
Das Schicksal entscheidet anders
In einer anderen Ebene
Falsches Spiel
Die Zusammenhänge verstehen
Intensive Pflege
Die Hand Gottes
Unsichtbare Erinnerungen
Scham und Schuld
Eine rettende Idee
Die Hölle des schlechten Gewissens
Pures Entsetzen
Parallelgeschehen
Rivalen
Mittendrin
Rachegefühle
Raue Wirklichkeit
Hilfe und Verständnis
Die Entscheidung
Eins und doch getrennt
Überraschende Wende
Mutlosigkeit oder Zuversicht?
Wahn und Wirklichkeit
Im Sog falscher Vorstellungen
Die Fäden laufen zusammen
Ein Lichtblick
Die gleiche Richtung des Strangs
Todesangst
Die Rache richtet sich selbst
Im Albtraum gefangen
Es wird leichter
Noch ist es nicht vorbei
Inneres Zwiegespräch
Davongekommen
Ein glückliches Ja
Gut und Böse nebeneinander
Geschick und Geduld
Verborgenes kommt ans Licht
Trotzige Verlobung
Treue und Gier
In großer Gefahr
Das Gesetz bestimmt die Regeln
Das Böse vergisst nicht
Zurück in der Hölle
Die Dinge verändern sich
Familie ist das Wichtigste
Gemeinschaft macht stark
Die Macht des dunklen Bösen
Gespräch mit der Zukunft
Ein Leben für viele andere
Neuanfang
Nachwort und Dank
Wichtige Personen
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Wichtige Personen
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Prolog
Das Leben bietet euch vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen, allerdings müsst ihr sie auch erkennen und nutzen. Wer wartet, dass das Leben zu ihm kommt, der irrt. Jeder muss von sich aus ins Leben gehen, ihm die Hand reichen und bereit sein, es mit allem anzunehmen, was es anzubieten hat!
Ich zögere und fragte vorsichtig:
Ja sagen zu allem? Auch zu Schmerz, Einsamkeit, Frust, Abschied, Hoffnungslosigkeit und Leid?
Ja, Julian, auch dazu! Nur wer bereit ist, das Leben in seiner Gänze zu akzeptieren - auch die Schattenseiten – wird sich entwickeln. Sie sind das eigentliche Potenzial. Betrachte die Schatten als Lehrer und Du wirst erkennen, wie wertvoll sie sind! Nur die Dunkelheit führt Dich zum Zentrum des Lichtes.
Der Lebensplan hat zwei Ebenen, die äußere und die innere. Sie spiegeln einander - je klarer die innere Sicht, desto besser verstehst Du das Außen! Und umgekehrt: Alles, was im Außen geschieht, hat eine unmittelbare Wirkung auf die Herzebene. Nur wer beide Seiten kennt, findet in die eigene Balance!
Der Magier schwieg, bevor er hinzufügte: Maries und Deine Aufgabe besteht darin, auch anderen dabei zu helfen, Innen und Außen zusammenzubringen, um aus beiden Ebenen eine werden zu lassen.
Wenn das gelingt, werden auch sie Zugang zu der unsichtbaren Seite ihrer Erinnerungen finden!
Ratlosigkeit
Kaum hatte Marie die Haustür hinter sich geschlossen, den Mantel über den Garderobenhaken geworfen, kam sie ins Wohnzimmer und setzte sich zu mir aufs Sofa. Das war ungewöhnlich, zog sie es ansonsten vor, sich zunächst in die Küche zu setzen, ihre Post zu öffnen, um auf diese Weise ihren Arbeitstag hinter sich zu lassen, bevor sie sich zu mir gesellte.
Daher musste etwas Außergewöhnliches geschehen sein. Sie reagierte nicht auf meine fragenden Blicke, sondern starrte gedankenverloren aus dem Fenster. So schenkte ich ihr schweigend den Tee ein. Nach einer Weile nahm sie den Becher zwischen ihre Hände, pustete über die dampfende Oberfläche, um ihn dann schluckweise trinken zu können. Jetzt war sie offenbar bereit, die Neuigkeiten mit mir zu teilen, denn sie sah mich an.
„Stell Dir vor Julian, was mir passiert ist. Heute war ich wieder in der Pause in meinem Lieblingscafé. Doch kaum saß ich an meinem Tisch am Fenster und hatte bestellt, bemerkte ich eine junge Frau, die mich von gegenüber unentwegt anstarrte. Wenn wir uns in die Augen sahen, wandte sie sich ab, tat, als ob sich unsere Blicke nur zufällig trafen und schaute sofort gleichgültig über mich hinweg. Doch sobald ich mich wieder auf meinen Kaffee konzentrierte, spürte ich ihre Blicke erneut.
Schließlich wurde es mir zu bunt. Ich beugte mich zu ihr herüber und fragte freundlich: Kennen wir uns?
Sie wirkte unsicher und meinte verlegen: Ich weiß nicht recht, aber Sie kommen mir irgendwie so vertraut vor. Verzeihen Sie, dass ich Sie so unverhohlen anstarre, das ist eigentlich überhaupt nicht meine Art. Aber ich kann nicht anders, als Sie immer wieder zu betrachten.
Ihre Ehrlichkeit weckte meine Neugierde und ich lud sie zu mir an den Tisch ein. Keine zwei Sekunden später saß sie mir bereits gegenüber.
Und plötzlich fühlte ich es auch: Da war etwas zwischen uns, eine besondere Nähe, etwas seltsam Vertrautes, ein unsichtbares Band, das nicht erklärbar war. Doch auch ich war sicher, dass wir uns nicht kannten, uns noch nie zuvor begegnet waren.
Kannst Du mir sagen, was das zu bedeuten hat, Julian? Vielleicht erinnert sie mich an jemanden, und ich übertrage dieses Gefühl auf sie?“
Marie wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach weiter, während ich ihr aufmerksam zuhörte.
„Schließlich war ich es, die meine Augen nicht mehr von ihr abwenden konnte. Wir kamen ins Gespräch und sie erzählte mir von sich. Merkwürdig war, je länger ich ihr zuhörte, desto mehr fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Und noch etwas Ungewöhnliches fiel mir auf: Sie hat auf dem rechten Daumen eine kleine Verdickung, eine Art Narbe. Die bemerkte ich, weil sie jedes Mal, wenn sie nervös wurde, mit dem Zeigefinger darüber rieb.
Plötzlich stellte ich erschrocken fest, ich hatte meine Pause bereits um fünfzehn Minuten überzogen! Ich verabschiedete mich sofort, aber bevor ich das Café verließ, zog es mich noch einmal an den Tisch zurück.
Falls Sie mich anrufen wollen, hier ist meine Telefonnummer, sagte ich zu ihr.
Hastig schrieb ich ihr unsere Festnetznummer auf die Rückseite einer Lebensmittelquittung, die ich in der Eile in meiner Jackentasche fand, drückte sie ihr in die Hand und lief hinaus.
Den Nachmittag über bekam ich sie nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder dachte ich an sie und konnte mich kaum konzentrieren. Glaubst Du, sie ruft an?“ Aufgeregt nahm Marie einen weiteren Schluck aus ihrem Teebecher.
„Bestimmt wird sie das tun, denn ihr liegt etwas an Dir“, antwortete ich nachdenklich.
„Woher willst Du das wissen, Julian?“
„Warum hätte sie sich sonst so lange mit Dir unterhalten sollen?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
„Vielleicht fällt Dir doch ein, wo Du sie schon einmal getroffen hast. Manchmal braucht es einfach Zeit, bis die Erinnerung etwas frei gibt“, fuhr ich fort.
„Nein, wohl eher nicht. Ich kenne sie nicht und habe sie bislang nirgendwo getroffen“, entgegnete Marie nachdrücklich.
Wenn sie diesen Tonfall anschlug, wusste ich, dass es besser war, ihre Aussage nicht infrage zu stellen. Sie erinnerte mich dann an die energische Art Magdalenas, der einzigen Tochter des Burgherrn Albrecht von Hohnstein, der man in keinem Fall widersprechen durfte. So schwieg ich und deutete nur ein Nicken an.
„Und wie heißt die junge Frau?“
„Iris Schauenburg.“
Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„Nein, den Namen habe ich noch nie zuvor gehört“, bedauerte ich. „Schade. Es hätte ja sein können, dass mir zu ihr etwas einfällt.“
Damit ließen wir das Thema um die junge Frau erst mal fallen und verbrachten den restlichen Abend in Ruhe. Marie war derzeit sehr eingespannt, da das Modehaus, in dem sie seit gut einem Jahr arbeitete, in wenigen Wochen eine neue Kollektion herausbringen würde, für die sie verantwortlich war.
Sie legte sich früh schlafen, während ich wach blieb und mir unser Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Wenn die Begegnung mit Iris Schauenburg Marie derart bewegte, so musste mehr dahinterstecken. Ich hatte gelernt, dass Begegnungen dieser Art nie zufällig waren, doch fiel mir keine schlüssige Erklärung ein. So konnten wir nur abzuwarten, was sich daraus entwickelte. Ich war davon überzeugt, dass Iris Marie anrufen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Zwei Tage später wachte Marie mitten in der Nacht auf und rüttelte mich so lange, bis ich verschlafen blinzelte. „Was ist los, Marie?“, knurrte ich verärgert, denn der Zeiger des Weckers stand gerade Mal auf halb drei. Sie hatte mich mitten aus einem Traum geholt!
„Julian, verzeih bitte. Aber ich habe von Magdalena und Johannes geträumt. Und es war so real, als ob ich selbst dabei gewesen wäre.“
Augenblicklich war ich hellwach. Marie kannte unser gemeinsames Leben als Magdalena und Johannes nur aus meinen Erzählungen. Sie selbst hatte sich bisher nicht an die Geschehnisse im Mittelalter erinnern können. Wenn sie sich nun im Traum darin wiederfand, hatte das bestimmt eine tiefere Bedeutung!
„Was genau hast Du gesehen?“, fragte ich versöhnlich. Sie räusperte sich, bevor sie leise antwortete: „Magdalena stand auf einem Marktplatz. Ihre Arme steckten bis zu den Schultern in einer Art Querholz, sie konnte sich keinen Millimeter bewegen.“
„Du meinst einen Pranger?“
„Ja, etwas dieser Art muss es wohl gewesen sein. Ich fühlte, wie sehr sie unter der Mittagshitze litt. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Doch niemand schien Interesse an ihr zu haben. Es ging ihr verdammt schlecht!“
Gespannt hörte ich zu. Dieses Detail hatte ich Marie nie erzählt!
„Und was geschah dann?“
„Plötzlich schob sich ein anderes Bild davor und ich sah Johannes, wie er ein weinendes Baby im Arm wiegte. Aber er konnte das Kind nicht beruhigen. Er stand unter Bäumen. Ich denke, er war irgendwo im Wald.
„Das Mädchen heißt Isabella“, erwiderte ich und tauchte selbst in das alte Geschehen ein. Ich fühlte mich augenblicklich wieder eins mit meinem früheren Ich Johannes. Und ich spürte seine Verzweiflung.
Kurz zuvor war Magdalena Ignatius von Bruckberg in die Hände gefallen, der sich der Burg ihres Vaters bemächtigt und sie im Haus ihrer Freundin und Vertrauten Alinea gefangen genommen hatte. Nur im letzten Moment war Johannes die Flucht mit dem Baby geglückt.
„Ignatius erniedrigt Magdalena, indem er sie drei Tage öffentlich auf dem Marktplatz am Pranger zur Schau stellt. Er nimmt Rache, weil sie ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht und gedemütigt hat und ihre Unterwerfung verweigert. So versucht er, ihren Willen zu brechen.“
Ich bemerkte nicht, dass ich in der Gegenwart gesprochen hatte. Das wurde mir erst bewusst, als Marie es betonte.
„Warum sagst Du sie ist, statt sie war seine Tochter Isabella? Sie lebten doch im Mittelalter und das ist schon ein ganzes Weilchen her!“
Marie setzte sich auf und knipste die kleine Lampe an, die auf ihrer Bettseite stand.
„Das weiß ich nicht, es kam mir einfach über die Lippen.“ „Hhm“, erwiderte sie und starrte an die gegenüberliegende Wand, während ich mich ebenfalls aufsetzte und den Rücken an die Bettkante lehnte. An Schlaf war vorerst nicht mehr zu denken.
„Warum träume ich ausgerechnet davon? Und weshalb ist alles so real? Hat das vielleicht mit Iris Schauenburg zu tun?“
Das war durchaus denkbar. Einen Zusammenhang würde es sicher geben.
Gut eine Woche später klingelte das Telefon. Marie war noch nicht von der Arbeit zurück. Ich wartete auf mein nächstes Projekt, dessen Vertragsabschluss kurz bevorstand, aber von der Chefetage noch nicht unterzeichnet worden war. Das würde erst morgen oder übermorgen der Fall sein. Indem ich früher nach Hause ging, reduzierte ich meine vielen Überstunden.
Als ich den Anruf annahm und die Stimme hörte, stockte mir der Atem. Ich bekam kein einziges Wort heraus.
„Hallo? Sind Sie noch dran?“
Die ungeduldige Frage unterbrach meinen verwirrten Zustand und ich stotterte verlegen: „Ja, natürlich, ich bin noch da. Sie… sind… Iris… Schauenburg?“
„Aber ja doch, das habe ich gerade gesagt!“
„Meine Frau ist noch nicht von der Arbeit zurück. Können Sie später wieder anrufen?“
„Ja, das werde ich tun.“
Ein leises Knacken in der Leitung verriet, dass sie unser kurzes Gespräch beendet hatte.
Ich starrte den Hörer an, als ob er mir meine Reaktion erklären könne und legte ihn erst nach einer Weile zurück auf die Ladestation.
Ich musste mich setzen und sortieren. Ihre Stimme hatte etwas in mir ausgelöst – mir einen schmerzhaften Stich versetzt, der mich mitten ins Herz traf. Was hatte das zu bedeuten? Wer war sie?
„Warum hast Du Dir ihre Nummer nicht geben lassen?“, fragte Marie unwirsch, kaum, dass sie zurück war und ich ihr von dem Anruf erzählte.
„Ich war völlig durcheinander“, erwiderte ich leise. „Die Stimme war so vertraut, und doch weiß ich nicht, weshalb. Ich grüble darüber nach, aber es will mir einfach nicht einfallen.“
Meine Antwort schien Marie zu besänftigen.
„Schon gut. So bist Du also genauso ratlos wie ich. Dann müssen wir uns eben gedulden, bis sie wieder anruft.“
Ich nickte und wir warteten, dass das Telefon erneut klingelte. Als es soweit war, griff Marie augenblicklich zum Hörer. In ihrer Antwort lag Enttäuschung. Offenbar war es nicht Iris Schauenburg. Sie verströstete ihre Freundin auf den nächsten Abend, denn sie wollte die Leitung für Iris freihalten.
Die Zeit verstrich quälend langsam. Um uns abzulenken, fragte ich Marie nach ihrer Arbeit und sie erzählte mir von dem Stress, in dem sie gerade steckte.
Flammentod
Die Menge johlte laut, als die ersten Flammen knisternd und zischend aus dem über Nacht feucht gewordenen Holz nach oben züngelten. Als der erste Rauch aufstieg, zerrte die junge Frau wild an den Stricken, mit denen sie auf dem Scheiterhaufen an den Holzpfahl gebunden war. Ihre Schreie gellten qualvoll über die Insel, während die Flammen ihre nackten Füße erreichten und gierig nach ihnen leckten.
Ida stand eng gedrängt mitten in der Menge, nur drei Reihen von den Männern entfernt, die die Massen versuchten zurückzudrängen, sobald diese, einer Welle gleich, nach vorne schwappten, um dem schrecklichen Schauspiel möglichst nahe zu sein. Obgleich sie hin und her geschoben wurde, hielt Ida den Blick starr auf den Scheiterhaufen gerichtet.
Der Schmerz hämmerte gegen ihre Schläfen - wieder einmal! Hoffentlich wurde ihr nicht wieder schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein. Heute war es einfach zu gefährlich, konnte sie sich doch nicht in eine Ecke verkriechen und dort abwarten, bis sie wieder zu sich kam und wieder klar geradeaus sehen konnte.
Sie atmete tief in den Bauch und flüsterte zweimal hintereinander das Vaterunser, damit Gott sie erhörte und vor einem erneuten Anfall verschonte! Sie fand kein anderes passendes Wort, das diesen Zustand, wenn er sie heimsuchte, besser beschrieb.
Heute war ihr Gott gnädig gestimmt. Ida spürte, wie sich der pochende Schmerz langsam aus ihren Schläfen löste und schließlich vollständig verschwand. Dankbar schaute sie zu den Wolken hoch, bevor ihre Blicke zwischen den vielen Köpfen hindurch zurück zum Scheiterhaufen wanderten.
Lange konnte sie den Anblick allerdings nicht ertragen und schloss die Augen. Sie versetzte sich zurück in den gestrigen Tag, um den Qualen, die Ruth in den Flammen ertragen musste, für einen kurzen Moment zu entkommen.
Bereits lange vor der Morgendämmerung war sie aufgestanden. Ein Gefühl drohenden Unheils hatte sie geweckt und ließ sich auch nicht mehr vertreiben, so dass sie sämtliche Arbeiten und Botengänge nur fahrig ausführte, womit sie sich über den Tag verteilt mehrere Schimpftiraden von der dicken Bertha eingehandelt hatte.
Im Laufe des Vormittags schnappte sie immer wieder Gesprächsfetzen auf. Sie bemühte sich, ihnen die Wahrheit zu entlocken, um sie so von den Gerüchten zu trennen, die überall umherschwirrten. Doch es gelang ihr nicht, gab es doch niemanden, der ihr glaubwürdig versichern konnte, was an allem dran war.
Gestern war der wöchentliche Waschtag unten am Rheinufer gewesen. Um sich endlich Gewissheit zu verschaffen, ließ sie am Nachmittag, als der größte Teil der Arbeit erledigt war, die brummige Bertha mit dem Wäscheberg allein zurück, schlug einen weiten Bogen um die anderen Wäscherinnen, um deren strafenden Blicken zu entgehen und schlich sich heimlich davon.
Jetzt sollte ihr zugutekommen, dass sie vor wenigen Tagen auf einem ihrer abendlichen Streifzüge ein kleines altes Holzboot hinter einem der zahlreichen Holzstapel entdeckt hatte. Ob das Boot noch seinen Zweck erfüllte, musste sich noch erweisen. Es gab nur diese eine Möglichkeit, um ungesehen auf die Insel zu gelangen.
Nur so konnte sie die Wachsoldaten umgehen, die seit einigen Tagen die Holzbrücke bewachten, die vom Ufer der Stadt aus auf die schmale, vorgelagerte Insel führte. Ohne triftigen Grund würden ihr die Männer sicher das Betreten der Insel nicht gestatten!
Was hätte sie auch für einen Grund angeben können? Dass sie in Erfahrung bringen musste, welches von den vielen Gerüchten stimmte? Ob wirklich Scheiterhaufen für die errichtet wurden, die für den schwarzen Tod verantwortlich waren und für diese Tat brennen sollten?
Im besten Fall wäre sie ausgelacht und vertrieben worden, im schlechtesten hätte man sie gefangen genommen und einer Mitschuld angeklagt.
So hatte sie mit aller Kraft das kleine Boot über den steinigen Sand ins Wasser gezogen, das einzige Holz ergriffen, das wohl als Paddel diente und war mühevoll nach drüben auf die kleine Insel gelangt.
Der Rhein war unruhig gewesen und hatte das Boot gefährlich hin- und her geschaukelt. Ida hatte sich verboten, angstvoll auf die Wasseroberfläche zu starren. Sie war bemüht gewesen, ausschließlich das Boot auszubalancieren und es mit dem alten Holzpaddel gleichmäßig durchs trübe Grau des Flusses zu treiben. Im Nachhinein dankte sie Gott, dass das Holz unter ihren Füßen kein Wasser gezogen hatte. Da sie nicht schwimmen konnte, wäre sie verloren gewesen. Es hätte sich kaum jemand die Mühe gemacht, ein junges Ding aus dem Rhein zu ziehen, schon gar nicht, wenn es sich um eine Dienstmagd handelte, die kaum einen Wert besaß.
Doch das Glück war ihr hold. Keiner der sonst so geschäftigen Lastenkähne war ihr in die Quere gekommen, während sie die Fahrrinne durchquerte.
Ein harter Stoß in den Rücken holte Ida jäh zurück in die grausame Gegenwart. Die Menschen wurden unruhig. Jeder suchte nach dem besten Platz, da keiner auch nur einen Augenblick dieses schaurigen Schauspiels versäumen wollte.
Sie spürte die erwartungsvolle Spannung mit jeder Faser ihres Körpers. Offenbar lenkte das Schauspiel die Menschen für kurze Zeit von ihren eigenen Ängsten ab. Und es war nur gerecht, wenn jetzt eine dreckige Jüdin zur Strafe für all das durchstandene Leid dem Feuertod übergeben wurde!
Ida verteidigte ihren Platz und ließ sich nicht abdrängen. Als die Menge sich schließlich beruhigte, versank sie erneut in ihre Gedanken.
Es war ihr gelungen, die Insel sicher zu erreichen. Mit einem Seil um den knorrigen Baumstamm, der vor ihr aus dem Wasser ragte, befestigte sie das Boot, damit es nicht abtrieb. Die letzten Meter watete sie durchs seichte Wasser zum Ufer. Dafür nahm sie die nassen Strümpfe und Schuhe in Kauf, während sie den Saum ihres langen Rockes anhob.
Gebückt hinter dem verzweigten Astwerk eines Busches, starrte sie auf die kleine Anhöhe gegenüber, wo einige Männer einen großen Haufen alter Stämme und Astwerk auf einem großen Granitblock aufstapelten.
So erwies sich das Gerücht als bittere Wahrheit: Hier wurde eindeutig ein Scheiterhaufen errichtet!
Da war es wieder, dieses mulmige Gefühl, das sie den ganzen Tag nicht losgelassen hatte. Es legte sich wie eine Last direkt auf ihr Herz - sollte das Gerücht wirklich stimmen und hier tatsächlich eine Jüdin brennen?
Ida ließ sich ins sandige Gras sinken und schloss seufzend die Augen, als ein schrecklicher Verdacht in ihr hochkam. Wer war es, der hier brennen sollte? Vielleicht ihre Freundin? Würde sie hier ihr Ende finden, für etwas bestraft werden, das sie niemals hätte tun können?
Seit Tagen hatte sie Ruth nicht mehr gesehen. Die Tür des kleinen Hauses im Judenviertel blieb fest verschlossen, ebenso wie die Fensterläden, was mehr als ungewöhnlich war. Weder Ruth noch ihr Vater oder Bruder zeigten sich, obgleich sie mehrmals dort gewesen war und laut gegen die Tür geklopft hatte.
Schließlich war ein Nachbar gekommen, hatte sie verstohlen zur Seite gezogen und ihr ins Ohr geraunt:
„Besser, Du verschwindest von hier, Mädchen, und komm´ ja nicht wieder. Die Ruth wurde vor zwei Tagen von Wachsoldaten mitgenommen. Ich befürchte, sie wurde verhaftet, denn sie kam nicht zurück. Dieses Viertel ist für Nichtjuden längst nicht mehr sicher. Also sieh zu, dass Du auf der Stelle gehst.“
Den letzten Satz murmelte er, so dass Ida ihn kaum verstand. Er hatte sie grob von sich gestoßen und war verschwunden, hatte sie einfach stehengelassen.
Nach kurzem Zögern war Ida seinem Rat gefolgt, nicht aber, ohne nochmals ratlos einen Blick auf die verschlossene Tür zu werfen.
Sollten Ruth und die anderen Juden wirklich schuld sein, dass der schwarze Tod seit mehreren Wochen in der Stadt wütete? Die Bewohner rücksichtslos heimsuchte, bis sie nach wenigen Tagen jämmerlich starben?
Ida kannte die Familie ihrer Freundin gut. Es waren brave Bürger von Straßburg. Als Arzt versorgte Isaac die Kranken. Seine Tochter ging ihm dabei zur Hand, während sein Sohn Aris das Zimmermannshandwerk erlernte, und seinen Vater an freien Tagen ebenfalls unterstützte.
Ida packte eine ohnmächtige Wut. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, wäre zu den Männern herübergerannt, hätte ihnen die trockenen Stämme und das Gestrüpp aus den Händen gerissen und ihnen befohlen, den Haufen augenblicklich wieder abzutragen. Doch das war eine abwegige Idee. Mit leeren Blicken verfolgte sie, wie der Scheiterhaufen immer weiter in die Höhe wuchs.
Schließlich seufzte sie ergeben, gab ihren Posten auf und schlich zum Boot zurück. Sie musste sich beeilen, um den Fluss noch rechtzeitig zu überqueren, bevor es dafür zu dunkel wurde. Verbissen paddelte sie gegen die starke Strömung an. Sie durfte nicht zu weit von der Stelle entfernt ankommen, von der sie aufgebrochen war, musste sie doch heute noch unbedingt die Wäsche im Hof zum Trocknen aufhängen. Auf keinen Fall durfte sie Bertha noch mehr erzürnen.
Viel zu oft war sie in den letzten Tagen ihren Pflichten ferngeblieben, um nach Ruth zu suchen. Sie durfte Berthas Gutmütigkeit nicht überstrapazieren. Schon deshalb nicht, weil sie morgen wieder auf die Insel gelangen musste, um herauszufinden, ob sich ihr quälender Verdacht bestätigte.
Und heute stand sie nun erneut auf der Insel, diesmal allerdings mitten in einer dicht gedrängten Menschenmenge. Ida seufzte, öffnete die tränenden Augen und spähte zwischen den Soldatenrücken hindurch auf den Scheiterhaufen. Ruth war schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und heute den Flammen übergeben worden. Daran ließ sich nichts, aber auch wirklich gar nichts ändern! So sehr sie sich das auch wünschte!
Zumindest in den letzten schweren Momenten wollte sie ihrer Freundin so nah sein, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.
Ida erinnerte sich an den Moment, als sie sich versprachen, füreinander einzustehen! Das Versprechen hatten sie sich schon nach wenigen Tagen gegeben, nachdem sie sich auf dem Marktplatz über den Weg gelaufen waren. Das war nun fast vier Jahre her. Damals wussten sie nicht, dass das Schicksal andere Ziele verfolgte und Ida ihr Versprechen Ruth gegenüber nicht würde einhalten können!
Erneut wurde sie heftig gestoßen. Nun konnte sie sich nicht länger mehr in den Erinnerungen verlieren, sich dem schrecklichen Geschehen entziehen, jeden Moment erlebte sie qualvoll mit. Das Feuer loderte nicht nur um Ruths Füße den Körper hoch, sondern fraß sich gleichzeitig auch in Idas Herz, als ob sie es selbst war, die auf dem Scheiterhaufen stand und brannte! Ruths entsetzlichen Schreie stachen wie Messerstiche mitten in ihr Herz! Sie spürte nicht, wie die johlende Menge sie hin und her schob und diverse Füße auf ihre dünnen Stoffschuhe traten. Doch als ihr der Geruch des brennenden Fleisches in die Nase stieg, hielt sie es nicht länger aus.
Mit den Fäusten boxte sie sich den Weg durch die Menge, die sie nur durchließ, weil sie sich mit Gewalt den Platz verschaffte, um sich bis zur Brücke durchzuschlagen.
Die Straßburger Bürger fühlten sich offenbar in ihrem Vergnügen gestört, denn sie schimpften lautstark und spuckten sie an. Doch es half alles nichts, Ida musste diesem Grauen entkommen.
Mit jedem weiteren Schritt spürte sie, wie die Kraft in ihren Beinen nachließ. Mit letzter Kraft erreichte sie den Brückenpfosten, hielt sich keuchend an ihm fest und übergab sich, bevor sie vor den Füßen eines Wachsoldaten zusammensank.
Die Ohnmacht ersparte ihr Ruths letzten Moment. Noch einmal waren ihre Schreie zu hören, bevor ihre Stimme für immer schwieg. Nur das Knistern des Holzes verriet noch, dass in den Flammen ein Mensch gerade sein Leben verloren hatte.
Plötzlich ertönte ein lauter Knall. Der Granit inmitten der Feuersglut zerbrach in zwei Hälften. Auf ihn war die Delinquentin mit nackten Füßen gestellt worden, damit sie für alle möglichst lange sichtbar blieb.
Eine gespenstische Stille breitete sich aus. Minutenlang waren nur das Knacken der verkohlenden Holzreste und das Summen der heißen Glut zu vernehmen. Erst als die ersten Schneeflocken vom kalten Februarhimmel langsam zu Boden sanken, begann sich die Menge langsam zu zerstreuen. Das Schauspiel war beendet. Die Insel würde nun nichts Aufregendes mehr bieten.
Achtlos stießen die Menschen das bewusstlose Mädchen zur Seite. Jeder hatte es plötzlich sehr eilig, wollte als erster über die Brücke zum Festland gelangen. Schließlich erbarmte sich ein Mann, hob Ida behutsam auf und legte sie abseits ins sandige Gras.
***
Entsetzt riss Iris die Augen auf. Im gleichen Moment zog sie die Hand von dem schwarzen Granitblock, als ob sie sich an ihm verbrannt hätte. Nur um nicht zu fallen, hatte sie sich kurz an ihm festgehalten.
Sie ahnte nicht, dass dieser in zwei Teile gespaltene Block seit etlichen Jahrhunderten im Volksmund als Hexenstein bezeichnet wurde.
Was sich soeben vor ihrem geistigen Auge abgespielt hatte, raubte ihr den Atem. Nur langsam löste sich der Druck auf ihrer Brust. Die Bilder hatten sie ungefragt überflutet, sie in eine Fantasiewelt katapultiert, mitten hinein in ein Szenario, das nicht schlimmer hätte sein können.
Vor nicht einmal zwei Stunden war sie noch entspannt durch das kleine, von Ehrenamtlichen liebevoll eingerichtete Museum geschlendert und hatte sich interessiert mit der Straßburger Stadtgeschichte auseinandergesetzt. Und plötzlich war sie selbst mitten in etwas hineingeraten, dessen Grauen ihr die Sprache verschlug. Was war geschehen? Und wie war so etwas möglich?
Als das Schwindelgefühl nachließ, welches sie bei dem Gedanken an den Scheiterhaufen überwältigt hatte, schüttelte sie verwirrt den Kopf, als ob sie so die entsetzlichen Bilder loswerden konnte.
Henning, der ein paar Schritte hinter ihr zurückgeblieben war, stand plötzlich neben ihr und griff nach ihrem Arm. Iris zuckte erschrocken zusammen, meinte sie doch den eisernen Griff des Schergen zu spüren, der sie ebenso wie Ruth ins Verderben ziehen wollte. Sie drehte sich um sich selbst und entzog sich geschickt seinem Griff.
„Was ist los, Iris? Geht´s Dir nicht gut? Ich bin´s doch, Henning! Du starrst mit aufgerissen Augen ins Leere, als ob Du etwas Schreckliches wahrnimmst, was ich nicht sehen kann.“
Henning schwieg und wartete ungeduldig auf ihre Antwort.
Abwehrend schüttelte Iris den Kopf und trat einen Schritt zurück: „Ach, es geht schon wieder“, murmelte sie.
Sie nahm sich zusammen und sah Henning beruhigend an. Erstmal musste sie selbst begreifen, was vor sich gegangen war. Ihr Freund würde kaum verstehen, was sie erlebt hatte. Sie wusste im Voraus, er würde sie belächeln, behaupten, sie hätte sich zu lange im Museum aufgehalten, ihre Fantasie sei mit ihr durchgegangen.
Eine innere Stimme mahnte sie, das Erlebte für sich zu behalten und absolutes Stillschweigen zu bewahren. Das verlieh dem Geschehen trotz aller Schrecken etwas Geheimnisvolles.
Als Henning sie immer noch fragend ansah, fügte sie schnell hinzu: „Ach, ich bin nur über einen Ast gestolpert. Gut, dass dieser riesige Stein hier liegt. Ich konnte mich an ihm festhalten und mein Gleichgewicht wiederfinden. Damit ist mir ein aufgeschrammtes Knie erspart geblieben.“
Iris versuchte ein Lächeln, das ihr aber nur halbwegs gelang.
Henning nickte, ihre Antwort beruhigte ihn. Das misslungene Lächeln schien er nicht zu bemerken.
„Dann war es wirklich ein glücklicher Zufall, dass Du ausgerechnet hier gestolpert bist. Ist sonst alles in Ordnung mit Dir?“
Iris´ Blick saugte sich an dem Spalt fest, der die beiden Teile des großen, rußgeschwärzten Steines voneinander trennte. Diese beiden Hälften wirkten bedrohlich, sobald sie das Entsetzen in sich zuließ.
Henning wartete ihre Antwort nicht ab, sondern zeigte auf einen etwas kleineren Stein, der ungefähr zwei Meter entfernt von dem großen Gespaltenen lag: „Sieh mal, da liegt noch einer. Und dort hinten ist noch einer. Hast Du herausgefunden, warum sie allesamt schwarz sind? Ich denke nicht, dass das ihre ursprüngliche Farbe war. Irgendetwas muss hier geschehen sein.
Ich muss zugeben, dass ich hier noch nie in diesem Naturreservat war, auf der l'Île-du-Rohrschollen, obwohl ich doch öfter in Straßburg bin.
Viel Zeit, mir die Umgebung und die Stadt anzusehen, gab es bislang ja auch nicht. Immer ging es nur um Geschäftliches“, setzte er bedauernd hinzu. „Deshalb bin ich froh, dass wir das Wochenende jetzt gemeinsam hier verbringen und uns genauer umschauen können“, fuhr er zufrieden fort.
Iris nickte nur. Noch immer war ihr nicht nach einer Unterhaltung zumute. Gedankenverloren folgte sie Henning auf dem schmalen Weg, der sie kreuz und quer über die kleine Insel führte, bevor sie über die schmale Brücke zurück ans andere Rheinufer wechselten.
Im angrenzenden Viertel setzten sie sich in eines der zahlreichen kleinen Cafés, um den Nachmittag ausklingen zu lassen.
Dieses eine Mal war Iris sogar dankbar, dass Henning sich nach der Bestellung sofort in sein Handy vertiefte, um sich über die neuesten Entwicklungen auf dem Börsenmarkt zu informieren, bevor er seinen Arbeitstag beendete.
So bot sich ihr eine Gelegenheit, ihren Gedanken weiter nachzuhängen.
Erst vor gut einer Woche hatte Henning gefragt, ob sie ihn auf diese Geschäftsreise begleiten wolle, da er diesmal dafür fünf Tage einplanen musste. Freudig hatte sie zugestimmt. Straßburg war unbedingt einen Besuch wert.
Tagsüber war sie allein durch die Stadt gelaufen, hatte sich an den engen, mittelalterlichen kleinen Häusern erfreut, die sich in engen Gassen aneinander lehnten und sich zwischendurch ans Rheinufer gesetzt, um ihre Blicke über den Fluss schweifen zu lassen.
Die Straßburger waren ihr gegenüber recht offen. Einer ihrer Hinweise war dieses kleine Museum gewesen, das versteckt in einer der vielen kleinen Gassen lag. Den gesamten Vormittag hatte sie hier verbracht, war in die Stadtgeschichte eingetaucht und hatte fast die Zeit vergessen.
Die Besichtigung der kleinen Insel gehörte ebenfalls zum Programm. Nach den letzten regnerischen Tagen bot sich heute bei Sonnenschein dazu die beste Gelegenheit. Es war nicht schwer gewesen, Henning nach seinem letzten Termin zu diesem Ausflug zu überreden, sollte doch laut Reiseführer der Blick von der Insel aus über den Rhein auf die Stadt grandios sein!
Ihre Gedanken kehrten zu dem gespaltenen Stein zurück. Vermutlich hatte es keinerlei Bedeutung, dass sie ausgerechnet ganz in seiner Nähe gestolpert war. Genauso gut hätte es ihr auch irgendwo anders passieren können.
Ausgerechnet hier hatte es keinen Trampelpfad gegeben, als ob man diesen Ort gern sich selbst überließ. War es vielleicht doch kein Zufall, dass sie ausgerechnet hier gestolpert war und sich an dem Stein festgehalten hatte?
Was wäre wohl geschehen, wenn sie einen der kleineren Steine berührt hätte? Wäre es genauso abgelaufen und hätte sie die gleichen Bilder gesehen, wie bei diesem großen Stein?
Iris sah auf und lächelte. Welch merkwürdigen Gedanken sie doch nachhing. Es wurde Zeit, dass sie sich wieder auf die Wirklichkeit konzentrierte, um sich nicht noch tiefer in diesen verrückten Ideen zu verlieren! Vielleicht lag es wirklich daran, dass sie sich im Museum zu intensiv in die Schautafeln vertieft hatte. Fast wörtlich war ihr im Gedächtnis hängen geblieben, dass im Zusammenhang mit der verheerenden Pest am 14. Februar des Jahres 1349 eines der ersten und größten Pogrome in Straßburg seinen Anfang nahm! Und später, im Lauf des Valentinstagmassakers, mehrere Hundert (andere Quellen sprachen sogar von bis zu 3000) Straßburger Juden öffentlich verbrannt und die restlichen Überlebenden aus der Stadt verjagt worden waren.
Bis in diese Einzelheiten hatte Iris die Stadtgeschichte nicht gekannt. Es erschütterte sie erneut tief. Offenbar brauchte die Menschheitsgeschichte immer wieder Schuldige für unerklärliche Geschehnisse. Irgendwer musste schließlich für all das Leiden verantwortlich gemacht werden, damit man besser mit dem eigenen Schicksal zurechtkam.
Die schon damals unbeliebten Juden boten sich damit geradezu an. Sie allein trugen die Schuld daran, dass der schwarze Tod, wie die Pest auch genannt wurde, so verheerend in der Stadt wütete!
Iris biss die Zähne fest aufeinander, bis der Schmerz bis ins Kiefergelenk zog. Erst als sie den Druck im Kopf wahrnahm, entspannte sie sich wieder.
Sie griff nach ihrer Kuchengabel und zerlegte grimmig ihren Apfelkuchen.
Als Henning sein Handy auf den Tisch legte, hatte sie sich längst wieder beruhigt. Sie lächelte: „Na, alles erledigt? Bist Du jetzt frei für unser Wochenende?“
Henning nickte und grinste ebenfalls. Dieser sympathische Gesichtsausdruck hatte sie von Anfang an fasziniert und fegte nun den Rest ihrer Anspannung hinweg.
Sein Lächeln war es, das sie geradezu magisch anzog, als sie ihm das erste Mal auf einer Party begegnet war. Und dieses jungenhafte Grinsen liebte sie immer noch, obwohl es oft nicht einfach zwischen ihnen war, kam sie doch nach seiner Arbeit immer erst an zweiter Stelle.
Wie oft hatte sie zurückstecken müssen, wenn er wieder mal kurzfristig ihre Verabredung absagte, weil ihm ein dringender Geschäftstermin dazwischengekommen war! Sie seufzte unhörbar, als sie an all diese verpassten und enttäuschenden Momente zurückdachte, durch die sie hindurchgegangen war. Ebenso schnell verbannte sie diese Erinnerungen wieder, sollte doch dieses Wochenende ab jetzt ihnen allein gehören. Enttäuschte Gefühle hatten da keinen Platz!
Henning grinste immer noch, als er erwiderte: „Ja, bis Montag ist alles erledigt. Ich schalte mein Handy aus und werde es erst wieder anstellen, wenn die neue Woche beginnt. Ab jetzt gehört die Zeit uns!“
Er hob die linke Hand und legte sie mit einer übertriebenen Geste auf seine Brust.
Iris lachte amüsiert und beschloss, keinen einzigen Gedanken mehr an die Schrecken zu verschwenden. Diese zwei Tage waren ein Versprechen und das wollte sie unbedingt für sich nutzen!
Verzweiflung und Hoffnung
Als Ida wach wurde, spürte sie sofort den pochenden Schmerz in ihrem Kopf. Minutenlang rieb sie sich die Schläfen. Sie zwang sich, langsam die Augen zu öffnen und mehrmals tief durchzuatmen. Erneut musste sie würgen, da der scharfe Brandgeruch immer noch in der Luft hing.
Mühsam setzte sie sich auf, kroch auf allen vieren zum Brückenpfosten und zog sich an ihm hoch. Es brauchte eine Weile, bevor sie sicher stand, ihn loslassen und sich umsehen konnte. Bereits am frühen Morgen hatten die Wachsoldaten ihre Posten an der Brücke aufgegeben. Auch von der Menschenmenge war nichts mehr zu sehen. Sie war allein.
Wie spät mochte es sein? Die Sonne stand bereits tief am Horizont, nicht mehr lang und es war vollkommen dunkel. Ida spähte umher, bei jeder Drehung schoss ihr der Schmerz wieder durch den Kopf. So bewegte sie sich äußerst vorsichtig, um auch der aufkommenden Übelkeit zu entkommen, die sich bei jeder Bewegung einstellte.
Sollte sie versuchen, noch einmal zum Scheiterhaufen zurückzukehren oder besser sofort in die Stadt zurücklaufen? Bertha dürfte längst die Arbeiten erledigt haben, die heute eigentlich die ihrigen gewesen wären! In jedem Fall würde sie mit einer Standpauke oder mit einer Bestrafung rechnen müssen. Sie durfte ihre Anstellung als Magd einfach nicht verlieren.
Ohne diese würde sie die Stadt verlassen und aufs Land zurückkehren müssen. Wieder auf ihren Vater zu treffen, musste sie unbedingt vermeiden. Er würde sie hart bestrafen. Er wäre außer sich vor Wut, wenn sie beichtete, kein Geld mehr nach Hause zu bringen, weil sie durch eigenes Verschulden die Anstellung in Straßburg verloren hatte.
Seit die Mutter gestorben war, war er stets schlecht gelaunt und leicht reizbar. Und der Alkohol, der zu seinem täglichen Begleiter geworden war, verstärkte seine Launen.
Idas Gedanken wanderten weiter zu ihrer jüngeren Schwester Paula, der die Versorgung der beiden kleineren Brüder zugefallen war, seitdem sie das Dorf verlassen hatte und in die Stadt gegangen war. Auf ihr lastete nun die gesamte Verantwortung für die beiden Brüder, den stets wütenden Vater und den Haushalt. Und Ida musste ihren Verdienst zur Ernährung der Familie abgeben. Darauf konnten ihre Geschwister keinesfalls verzichten. Die ewig hungrigen Brüder würden verhungern, wenn sie nicht für sie sorgte. Ihr selbst blieb nur ein magerer Rest.
Vom Vater war seit dem Tod der Mutter nichts mehr zu erwarten. Er ließ seine Launen an seinen Kindern aus und nahm Idas Verdienst an sich, um sich im Wirtshaus volllaufen zu lassen, wenn Paula nicht schneller war und das Geld rechtzeitig vor ihm in Sicherheit brachte. Dass seine Kinder seinetwegen hungerten, war ihm egal. Täglich versank er im Selbstmitleid und war immer noch wütend, dass seine Frau einfach gestorben war und ihn mit den Kindern allein gelassen hatte!
Ida seufzte und schob die Gedanken an die Familie beiseite. Dafür war nicht der richtige Augenblick. Sie musste sich entscheiden, ob sie in die Stadt zurückkehrte oder sich nochmals zum Scheiterhaufen wagte.
Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und entschied sich für den Weg zum Scheiterhaufen, genau dorthin, wo ihre Freundin gestorben war.
Auf dem Pfad über die Insel fiel ihr der Dreck auf, der überall herumlag - achtlos hingeworfene Abfälle, abgenagte Knochen und Brotreste, die Hinterlassenschaften menschlicher Ausscheidungen, wie nach einem großen Fest. Ida vermied, darüber nachzudenken. Lieber ging sie auf den gewaltigen Aschehaufen zu, in dem immer noch rotglühende Glutnester leise knackten und summende Geräusche von sich gaben.
Vorsichtig trat sie näher, darauf bedacht, der Hitze nicht zu nahe zu kommen, um sich nicht Hände, Haare oder das Gesicht zu versengen.
Langsam ließ sie ihre Blicke über den Aschehaufen wandern. War das alles, was von Ruth übrig geblieben war? Ihre Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Sie wusste nicht, ob die Ursache dafür ihr Schmerz um alles Verlorene war oder die ohnmächtige Wut, die in diesem Moment von ihr Besitz ergriff - vermutlich war es beides. Die Gefühle überwältigten sie. Sie schrie sie laut heraus. Nichts war mehr so wie vor drei Tagen, als sie noch darauf hoffen konnte, dass es sich lediglich um wirre Gerüchte handelte und die Wahrheit eine andere war.
Ida wünschte, dass sich die Welt anhalten und einfach zurückdrehen ließ. Doch das Rad der Geschichte würde sich unaufhörlich weiterdrehen. Sie würde daran nichts ändern können!
Lohnte es überhaupt, ohne ihre einzige Freundin in Straßburg zu bleiben? Die Leere, die sie plötzlich übermannte, verwandelte ihre aufgewühlten Gefühle in Gleichgültigkeit. Hätte es nicht die jüngeren Geschwister gegeben, für die sie den Unterhalt verdienen musste, wäre sie ohne zu zögern auf den Aschehaufen gestiegen, um Ruth nachzufolgen!
Erschrocken zuckte sie zusammen, als ganz in ihrer Nähe ein Ast knackte. Sofort ließ sie sich ins hohe Gras sinken und spähte aus der Deckung heraus mit zusammengekniffenen Augen umher. Ihre Tränen blinzelte sie rasch weg, um wieder scharf sehen zu können.
Da war es wieder, dieses knackende Geräusch. War sie doch nicht ganz allein auf der Insel zurückgeblieben?
„Was machst Du denn hier, Ida?“
Die kindliche Stimme erkannte sie sofort. Sie atmete auf, spürte aber im gleichen Moment wieder die Übelkeit im Magen und den bohrenden Kopfschmerz, als sie erleichtert aufsprang. Doch sie ließ sich davon nicht aufhalten und warf Hermann einen gestrengen Blick zu, als er plötzlich direkt vor ihr stand. Er war so groß, dass er sie fast um einen Kopf überragte.
„Und Du? Was machst Du hier? Darfst Du überhaupt hier sein?“, entgegnete sie. Ihr Ton war wohl etwas zu hart, denn Hermanns Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen, bevor er weinerlich antwortete:
„Aber ich habe doch nichts Böses getan, Ida!“
„Schon gut, ich habe es nicht so gemeint.“
Ida hob die Hand und strich ihm versöhnlich über den Arm.
Hermann war in seiner Entwicklung etwas zurückgeblieben, ansonsten ein wirklich gutmütiger und anständiger Kerl, wenn man ihn freundlich behandelte und ihn so nahm, wie er war.
Wie oft hatte Ida die Straßenkinder vertrieben, wenn sie ihm übel mitspielten oder mit ´dummer August´ aufzogen. Oft überhörte er ihre Häme, wenn sie ihn allerdings allzu sehr reizten, fuhr er aus der Haut. Er wurde so wütend, dass er vergaß, wie viel älter er war und bewarf die Kinder mit allem, was er von der Straße aufhob. Er ließ nicht von ihnen ab, bis sie vor ihm flohen und sich vor ihm in die hintersten Winkel verkrochen. Für die Straßenkinder war es nur eine Mutprobe, aber für Hermann jedes Mal aufs Neue eine Katastrophe.
Einmal konnte Ida gerade noch im allerletzten Augenblick verhindern, dass er einen dieser frechen Bengel schlichtweg erwürgte. Er hatte den Jungen einfach nicht mehr losgelassen. Er wollte dem Kerl einen gehörigen Schrecken einjagen, damit er ihn endlich in Ruhe ließ.
Nur ihr zuliebe und mit allergrößter Überredung war es Ida schließlich gelungen, den röchelnden Jungen wieder frei zu bekommen. Hermann war ein großer, ungelenker junger Erwachsener, aber mit dem Gemüt eines Kindes, der seine eigenen Kräfte nicht einzuschätzen vermochte.
Seit dieser Zeit waren sie Freunde geworden. Hermann hatte nie begriffen, dass Ida ihn vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Hätte er den Jungen erwürgt, wäre er dafür gehängt worden. Auch dann, wenn es sich nur um einen dieser lästigen, nutzlosen Straßenjungen handelte.
Seitdem hatte Ida stets ein Auge auf ihn, wenn sie bemerkte, dass die Kinder es wieder einmal zu arg mit ihm trieben.
Hermann arbeitete in der gleichen Gasse, nicht weit von ihr entfernt, in einer der vielen kleinen Backstuben. Tagein tagaus schleppte er die schweren Mehlsäcke von den Karren in den Hinterhof. Er beschwerte sich nie über die harte Arbeit, die keiner gern übernahm, da sie auf Dauer jeden Rücken kaputt machte. Ihm schien es weniger Mühe als anderen zu bereiten, wenn er sich mit geübtem Schwung die Säcke auf die muskulösen Schultern wuchtete.
Ein einziges Mal nur hatte Ida ihn schlafend auf dem harten Holzboden in der Mehlkammer vorgefunden, als sie von seinem Meister in die hintere Backstube geschickt wurde. Dort lag er lediglich bedeckt mit einer löchrigen Decke, die viel zu kurz für seinen langen Körper war, unter dem Kopf nur einen kleinen Fetzen eines schmutzigen Leinenlappens, um nicht direkt mit dem Gesicht den staubigen Boden zu berühren. Immer noch spürte Ida den schmerzhaften Stich im Herzen, als sie ihn so entdeckt hatte.
Das Kissen, das sie daraufhin heimlich aus den Resten der verschlissenen Kleidung ihrer Herrschaft für ihn nähte, wurde zu seinem allergrößten Schatz. Niemals zuvor im Leben war Hermann mit etwas so Kostbarem und Nützlichem beschenkt worden!
Hermann hatte nun ebenfalls ein wachsames Auge auf Ida. Wenn er mitbekam, dass einer dieser jungen Kerle ihr auflauerte oder ihr auf einem der Botengänge zu nahe kam, um ihr ein unsittliches Angebot zu machen, brauchte er sich nur drohend neben ihr aufzurichten und die Burschen suchten das Weite.
Als Hermann jetzt seinen Arm unter ihrer Hand wegzog, bemerkte Ida, dass sie noch immer vor dem Aschehaufen standen.
„Also, Hermann, was suchst Du hier?“, wiederholte sie ihre Frage, diesmal jedoch deutlich sanfter.
„Ich wollte nachsehen, wo diese Frau geblieben ist.“
Hermanns große Augen mit dem kindlichen Ausdruck sahen sie fragend an: „Das durfte ich doch? Weißt Du denn, wo sie hingegangen ist?“
Ida biss die Zähne so lange fest zusammen, bis sie knirschten. Hatte Hermann denn nicht begriffen, dass Ruth tot war?
„Sie wurde verbrannt und zwar hier. Sie kommt nicht zurück!“, erwiderte sie tonlos.
„Nein, das stimmt nicht, Ida, ich habe sie doch gerade erst dort gesehen!“
Er zeigte hinter den Aschehaufen auf einen Busch.
„Dort hat sie gestanden!“
Ein leiser Hoffnungsschimmer stieg in Ida auf: Was wäre, wenn Hermann Ruth tatsächlich gesehen hatte und sie wirklich noch am Leben war? Doch - das war völlig unmöglich. Ihre einzige Freundin war hier zu Tode gekommen. Das wusste sie leider nur zu gut! Hermann musste sich geirrt haben. Ihre Freundin kam nicht zurück!
„Du hast Dich getäuscht, Ruth ist tot, Hermann. Mausetot.“
„Sie heißt Ruth?“
Er überhörte alles andere, so sehr beschäftigte ihn der Name. „Ist sie auch so nett wie Du, Ida?“
„Sie war meine beste und einzige Freundin, Hermann!“
Im nächsten Moment bereute sie ihre Wortwahl, denn sie stellte fest, wie betroffen Hermann dreinschaute.
Man konnte ihm seine Gefühle jederzeit im Gesicht ablesen. Womit hatte sie ihn verletzt? Seine Antwort brachte ihr Klarheit.
„Wenn Du sagst, diese Ruth war Deine beste und einzige Freundin, wer bin dann ich für Dich, Ida?“
Jetzt verstand sie, womit sie ihn verletzt hatte und schaute ihm beschämt in die Augen. Mit Hermann musste man äußerst behutsam umgehen. Das fiel ihr heute nicht ganz so leicht wie sonst. Doch er musste nicht auch unter diesen schrecklichen Ereignissen leiden.
„Ach, Hermann, natürlich bist auch Du mein Freund. Weißt Du, Du bist der beste Mann, den ich mir als Freund vorstellen kann! Und Ruth war die beste Frau, die wie eine Schwester für mich war.“
Sofort erhellten sich seine Gesichtszüge und sein erleichtertes Lachen zeigte eine Reihe schlecht gepflegter Zähne.
Plötzlich streckte er Ida die geschlossene Hand hin.
„Wenn das so ist, Ida, dann will ich Dir etwas schenken. Schau, das habe ich vorhin hier gefunden!“
Er öffnete die Faust und hielt ihr die flache Hand hin.
Ida traute ihren Augen kaum. Sie ließ sich ihr kurzes Erschrecken nicht anmerken. Hermann würde es nicht verstehen, wenn sie ihm erklärte, was er in der Hand hielt. Es war ein Stück aus Ruths Kette, die sie ständig um den Hals getragen hatte und die man ihr wohl auf dem Weg zum Scheiterhaufen vom Hals gerissen haben musste.
Ohne eine Miene zu verziehen nahm Ida Hermanns Geschenk entgegen.
„Oh, das ist wunderschön, Hermann, und bestimmt etwas ganz Besonderes. Danke, dass Du es mir schenkst! Willst Du mir zeigen, wo Du es gefunden hast?“
Hermann nickte und lief eilfertig auf die Stelle zu, wo er das Bruchstück entdeckt hatte.
Sie suchten gemeinsam und tatsächlich fand Ida ein weiteres Kettenglied im sandigen Boden. Es glitzerte im Staub, als die Sonne hervorkam. Sie hob es auf und rieb den Schmutz ab mit Daumen und Zeigefinger. Plötzlich durchfuhr sie ein scharfer Schmerz, als das raue Metall der Bruchkante ihr tief in den rechten Daumen schnitt. „Autsch“, schrie sie auf.
Mit einem Sprung war Hermann neben ihr, bereit, sie gegen jeden zu verteidigen.
„Alles halb so schlimm, ich habe mich nur geschnitten, Hermann“, meinte sie beruhigend, nahm den Daumen in den Mund und sog das Blut aus der Wunde, bevor es vor ihr in den Sand tropfte.
„Halb so schlimm? Zeig her, Ida. Ich tröste Dich. Gleich ist alles wieder gut.“
Er summte ein Kinderlied, umarmte sie und wiegte sie hin und her. Ida war tief berührt von seiner kindlichen Fürsorge und lehnte sich gegen seine breite Brust. Was andere auch immer über seinen etwas zu klein geratenen Verstand sagen mochten, Hermann besaß ein viel größeres Herz als jene zusammen, die etwas Schlechtes über ihn in die Welt hinaus posaunten!
Aus dem Gefühl großer Zuneigung beschloss sie, Hermann ihr Kettenbruchstück zu überlassen. So bekam jeder das Fundstück des anderen. Ruth hätte es gewiss gefallen, wenn sie Hermann damit eine Freude bereitete.
So legte sie ihm behutsam ihr Bruchstück in die Hand:
„Du hast mir Deines gegeben und ich schenke Dir meines“, erklärte sie feierlich. „Aber achte darauf, dass Du Dich nicht daran verletzt, so wie ich eben, Hermann. Ab heute werden sie die Zeichen unserer besonderen Freundschaft sein.“
Sie trat einen Schritt zurück und schaute zu ihm hinauf. Dieser große Kerl mit den wirren, lockig blonden Haaren ließ sich auf die Knie sinken und schluchzte vor Freude.
Das war nun schon das zweite Geschenk, das Ida ihm machte.
Heute war eben doch ein besonderer Tag. Sein Kummer, den Ida ihm vorhin mit ihren Worten über ihre Freundschaft zugefügt hatte, verflog. Nach wie vor war Ida der beste Mensch, den er kannte und er war stolz auf ihre Freundschaft!
„Ich passe gut darauf auf, Ida. Diese scharfe Kante werde ich wegmachen, denn ich weiß, wie das geht. Du sollst Dich nie wieder daran verletzen“, versprach er feierlich. Ida lächelte.
Auf schreckliche Weise hatte sie ihre einzige Freundin verloren. Doch sie war es auch, die ihr in diesem Moment durch zwei Kettenglieder Trost schenkte und so ihre Freundschaft zu Hermann auf geheimnisvolle Weise stärkte!
Irgendwie war Ruth noch immer in ihrer Nähe, da war sich Ida sicher. Ihre Freundin schien ihr Versprechen zu halten - vielleicht behielt Hermann doch Recht, wenn er behauptete, Ruth vorhin noch gesehen zu haben?
Die Sonne leuchtete im Abendrot am Horizont. Es wurde Zeit, die Insel zu verlassen und ans andere Ufer in ihre kleine Gasse zurückzukehren.
„Komm, Hermann, lass uns gehen. Auf uns beide wartet heute noch ein Berg Arbeit. Die macht sich schließlich nicht von allein!“, mahnte sie.
Ida ergriff seine Hand, die ihr vorkam wie eine große Pranke, sich aber sofort warm um ihre kleinere schmiegte. Seine Wärme tat ihr gut, bemerkte sie doch plötzlich, wie kalt ihr geworden war, während die Sonne jetzt rasch hinter dem Horizont versank.
Es war ja auch erst der zweite Monat des Jahres 1349, in dem es abends, sobald die Sonne verschwand, noch sehr kalt war. Erst in ein bis zwei Monaten würde die Wärme vom Tage auch am Abend noch zu spüren sein.
Seelenverbindungen
Wir warteten vergeblich. Iris rief nicht mehr an. Nach endlosem Warten legte sich Marie schließlich frustriert ins Bett. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. So konnte auch ich nicht schlafen. Irgendwann schaltete ich das Licht wieder an und fragte: „Soll ich Dir einen Becher Tee machen? Wenn Du keine Ruhe findest, wäre es vielleicht besser, Du stehst auf und tust etwas, das Dich von dem Kopfkino befreit, und versuchst es später noch mal?“
Marie nickte, setzte sich auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und zog die Decke bis hoch ans Kinn, während ich mit nackten Füßen in die Küche tapste. Als das Wasser endlich kochte, war ich noch immer dabei, mir Gedanken zu machen. Weshalb hatte Iris nicht mehr angerufen? Vielleicht war ihr etwas Wichtiges dazwischen gekommen?
Ich ärgerte mich über mich selbst. Hätte ich mir doch nur ihre Telefonnummer geben lassen! Da ihr Anruf als unbekannt auf meinem Display erschienen war, konnte ich im Nachhinein ihre Nummer nicht mehr herausfinden. Ich war schuld, dass Marie Iris nicht zurückrufen konnte! Ich goss das kochende Wasser auf die Lavendelblüten und brachte Marie den dampfenden Tee. Auf diese Weise konnte ich mich bei ihr für die Nachlässigkeit entschuldigen, indem ich auf meinen Schlaf verzichtete und sie umsorgte.
Ihr schien der gleiche Gedanke durch den Kopf zu gehen, denn sie lächelte dankbar, als ich ihr den Becher reichte: „Es tut gut, Dich an meiner Seite zu wissen, Julian. Danke für den Tee. Entschuldige, dass ich so unruhig bin. Ich hoffe, dass ich nach dem Tee einschlafen werde - und Du dann auch.“
Ich setzte mich auf die Bettseite und sah ihr an, dass ihre Gedanken weiter um Iris kreisten.
Das war das Besondere an unserer Beziehung, unser achtsamer Umgang miteinander. Wir konnten über alles sprechen, auch dann, wenn es unangenehm oder schwierig wurde. Wir gestanden uns gegenseitig unsere Fehler ein und waren bereit, gute Lösungen für unser Zusammenleben zu finden. Wussten wir doch beide, wie wichtig es war, sich vorbehaltlos aufeinander verlassen zu können und getroffene Absprachen einzuhalten.
Während Marie längst eingeschlafen war, hing ich weiter in meinen Gedanken fest. Wie viele Jahre hatte ich allein gelebt nach etlichen gescheiterten und meist nur kurzen Beziehungen. Jede Trennung hatte mich enttäuschter zurückgelassen, so dass ich letztlich nicht mehr glaubte, dass Männer und Frauen überhaupt zusammenpassten.
Längst hatte ich mich mit meinem Singleleben arrangiert und meine Träume begraben, eines Tages eine gute Beziehung und Kinder zu haben. Ich hatte aus der Not eine Tugend gemacht, indem ich mir einredete, es wäre sowieso leichter, allein durchs Leben zu gehen. Beziehungen brachten nur Probleme mit sich und auf die konnte ich gut und gern verzichten.
Bis, ja, bis ich Marie begegnete - oder sollte ich lieber sagen, wiederbegegnete? Von Anfang an war von ihr eine starke Anziehung ausgegangen, die ich im Rückblick als magisch bezeichnen würde.
Ich hatte mich nicht getraut, es ihr zu sagen, behielt es lieber für mich, wich ihr aus und schaute mich anderweitig um, obwohl ich sie nie vergaß.
Unser Wiedersehen auf Burg Hohnstein, als ihre Schwester dort ihren sechzigsten Geburtstag feierte und Marie mir überraschend über den Weg lief, traf mich wie ein Blitz, doch dieses Wiedersehen meinte ich nicht.
Vielmehr dachte ich an ein viele Jahrhunderte zurückliegendes Ereignis. Eines, das über den normalen Verstand weit hinausging, unmöglich schien und aus Sicht des Rationalen absolut unbegreiflich war, wenn man es nicht aus einer anderen Perspektive betrachtete! Nach vielen inneren Kämpfen und Widerständen war ich bereit, mich dieser Sichtweise zu öffnen, um zu verstehen, was sich dahinter verbarg.