Der Ursprung der Welt - Ulrich Tukur - E-Book

Der Ursprung der Welt E-Book

Ulrich Tukur

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Beschreibung

Ulrich Tukurs Roman »Der Ursprung der Welt« führt uns in eine bedrängend nahe Zukunft. Es ist nicht mehr die Welt von Paul Goullet: Er, der alte Bücher und Bilder liebt, die Schönheit, den Traum und die Phantasie, findet sich in einer Zeit, in der in Deutschland das Chaos herrscht. Um dem zu entkommen, reist er nach Paris, aber auch Frankreich hat sich in einen Überwachungsstaat verwandelt. Bei seinen Spaziergängen durch die Stadt stößt Goullet plötzlich auf etwas Unerhörtes: ein altes Photoalbum, dessen Bilder offenbar ihn selbst zeigen, inmitten eleganter Damen und Herren aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Fasziniert setzt er sich auf die Fährte seines Doppelgängers und folgt ihr nach Südfrankreich. Verstörende Visionen und Traumbilder beginnen ihn zu verfolgen, immer wieder scheint er die Zeit zu wechseln und sich in den Mann aus dem Photoalbum zu verwandeln. Und die Hinweise mehren sich, dass dieser ein furchtbares Geheimnis hat.

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Seitenzahl: 321

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Ulrich Tukur

Der Ursprung der Welt

Roman

FISCHER E-Books

Gewidmet dem Andenken an meinen liebenswerten Patenonkel Paul Göz, Richter und Dichter in Stuttgart (1878–1964), der unter dem Pseudonym Paul Goullet Lyrik veröffentlichte, die niemand mehr liest.

Träume und reale Eindrücke sind eng miteinander verwoben. Der Traum ist kein abseitiger Spuk, sondern die eigentliche Wirklichkeit. Still umfängt er unser Leben, und wir sinken ganz und gar in ihn zurück, wenn wir sterben.

Angesichts der rapiden Zerstörung unserer poetischen Spielgründe, die in den geheimnisvollen Wäldern, den lichtverlorenen Ebenen und schattigen Tälern liegen, scheint mir die Beschwörung des Traums essentieller denn je.

Es gibt Menschen, die im Leben einen Auftrag zu erfüllen haben. Dafür werden sie geboren. Manche schrecken vor dieser Aufgabe zurück, andere erkennen sie erst gar nicht, und einige wenige stellen sich ihr.

Goullet wachte auf, ohne dass der Wecker geklingelt hätte.

Etwas Licht fiel durch die geschlossenen Fensterläden seines Hotelzimmers. Eine Weile starrte er in den dämmrigen Raum, dann wanderte sein Blick ziellos und noch von Müdigkeit umschattet über die mit Stuck verzierte Zimmerdecke und blieb an einem altertümlichen Messingleuchter hängen. Er betrachtete ihn einen Augenblick und fand ihn schön. Als er auf die Uhr sah, war es kurz vor acht.

Von draußen drang das leise Geräusch vorbeifahrender Autos zu ihm hinauf in den dritten Stock. Autos, die durch Pfützen fuhren. Es schien zu regnen.

Goullet stand auf, ging ins Bad und zog sich an. Bevor er sein Zimmer verließ, warf er einen prüfenden Blick auf seinen Schnurrbart im Spiegel neben der Tür. Er hatte sich ihn erst vor kurzem stehen lassen.

Wenig später saß er im Frühstücksraum des Hotels, der in einem engen Gewölbe des Souterrains untergebracht war. Er war der einzige Gast und wurde von einer jungen maghrebinischen Angestellten bedient. Er unterhielt sich etwas mit ihr, sie tat ihm leid, denn er wusste, wie schwer es diese Menschen hier im Augenblick hatten. Er aß ein frisches, noch warmes Baguette, das er mit gesalzener normannischer Butter bestrich und mit Ziegenkäse belegte. Der französische Kaffee war wie immer schrecklich, er schmeckte bitter und etwas säuerlich. Nach ein paar Schlucken ließ er ihn stehen.

An der Rezeption lieh er sich einen Regenschirm und trat hinaus auf die Rue Saint-Séverin, bog links in die Rue du Petit Pont, die er bis zum Quai de Montebello entlangspazierte. An der Straßenecke blieb er stehen, erblickte rechter Hand die mächtige Kathedrale der Notre-Dame de Paris und die Seine, die grau und gleichgültig unter den steinernen Brücken dahinfloss. Ein paar Schritte entfernt sah er eine Bank, die zwischen einer Litfaßsäule und einem von Nässe tropfenden Rhododendron stand. Er ging hin, wischte das Regenwasser von der Sitzfläche und ließ sich für einen Augenblick nieder.

Seit zwei Tagen hielt er sich nun in Paris auf. Er war gekommen, weil er die Stadt nicht kannte und es als Makel empfand, nie hier gewesen zu sein, und weil er ein Gemälde sehen wollte, dessen Abdruck er vor Jahren in einem Schrank seines Großvaters entdeckt und das ihn nicht mehr losgelassen hatte. Vor allem aber wollte er fort von zu Hause.

 

In seiner Heimat hatte sich das Leben fundamental geändert, Unruhen und Gewaltausbrüche waren an der Tagesordnung, in letzter Zeit ging es in den Städten besonders schlimm zu, es herrschte die giftige Atmosphäre der Hysterie und des Hasses, die ihm, der eher unauffällig und beobachtend durchs Leben trieb, verwirrte und mit Schrecken erfüllte. Schon vor dem baltisch-russischen Konflikt und dem Zusammenbruch der Türkei und dem dortigen Bürgerkrieg, den die Ermordung des türkischen Präsidenten ausgelöst hatte, war sein Land Ziel einer gewaltigen Immigration verzweifelter Menschen aus aller Herren Länder geworden, die sich kaum mehr in die bestehenden Verhältnisse einfügten. Es hatte sich nach jahrelangen Herumstreitereien und hilflosen Versuchen überforderter Politiker, diesem Umstand ordnende Strukturen zu verleihen, selbst aufgegeben und war in einen Zustand von Erschöpfung und Fatalismus gesunken, der politischen Abenteurern und Extremisten ausreichend Raum gab, den letzten Rest gesellschaftlichen Zusammenhalts zu zerstören.

In Frankreich hatte vier Jahre zuvor eine nationalistische Koalition die Macht an sich gerissen und aus einem kriselnden, von korrupten Eliten beherrschten und religiösen Fanatikern tyrannisierten Land einen Staat geformt, in dem Polizei, Militär und Geheimdienste scheinbar alles fest im Griff hatten und eine Ruhe herrschte, die ans Unheimliche grenzte. Das normale Leben lief weiter, als wäre nichts geschehen, die Museen, Theater, Kinos und Kaufhäuser waren geöffnet, und die Menschen gingen in die Cafés und Restaurants. Goullet hatte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, die Straßen seien einigermaßen sicher und es könne ihm nichts geschehen. Es war zum Lachen, aber hundert Jahre zuvor hatte es sich zwischen beiden Ländern genau umgekehrt verhalten. Trotzdem war nichts Beruhigendes daran, und die Welt um ihn herum schien ihm noch unwirklicher als sonst, denn die Ruhe, die herrschte, war trügerisch. Etwas Blutrotes und Gefährliches brodelte darunter.

Vor zwei Tagen war der Hochgeschwindigkeitszug, der ihn nach Paris bringen sollte, gleich hinter der Grenze angehalten und von französischen Sicherheitskräften durchsucht worden. Etwa ein Dutzend Passagiere, meist nordafrikanischen Aussehens, hatte man abgeführt und auf dem Perron zusammengetrieben, wo sie völlig verängstigt beieinanderstanden. Goullet konnte sehen, wie sie von bewaffneten Männern abgeführt wurden und am Ende des nebeligen Bahnsteigs verschwanden. Als er die Augen seiner Mitreisenden suchte, fand er sie nicht. Sie blickten zu Boden oder hielten sich tief in ihrer Cyberwelt versteckt.

Bei Reims wiederholte sich das Gleiche keine zwei Stunden später noch einmal. Diesmal kontrollierte ihn ein junger Soldat, verglich die Daten seines Passes mit einer unsichtbaren Leitstelle und sah Goullet lange und misstrauisch an, bevor er ihm sein Dokument mit einem Nicken wieder aushändigte. Es war alles in Ordnung.

 

Nichts war in Ordnung. Goullet, der mit Vornamen Paul hieß, aber immer mit seinem Nachnamen gerufen wurde, verstand die Welt weniger denn je. Er faltete seinen Schirm zusammen, steckte ihn zwischen die Holzleisten der Parkbank und schlug den Mantelkragen hoch. Es war kalt, aber es regnete kaum noch, und der Wetterbericht, der im Hotel auslag, hatte sogar sonnige Abschnitte im weiteren Verlauf des Tages angekündigt. Vielleicht würde er heute in den Louvre gehen und sich drei oder vier Bilder aussuchen, in denen er sich wegträumen konnte. Es war seine Art von Befreiung, der sanfte Eintritt in eine phantastische Welt und die Möglichkeit, den magischen Stillstand eines Gemäldes zu überwinden und es für sich in Bewegung zu setzen. Das geheimnisvolle Leben, das er darin fand, wundersame Geschichten, die sich immer weitererzählten und ihn forttrugen, bis alle Schwere von seiner Seele genommen war und sich das einstellte, was dem Wort Glück am nächsten kam.

Er könnte aber auch gleich das Musée d’Orsay besuchen, sagte er sich, um das Bild zu sehen, dessentwegen er auch nach Paris gekommen war. Gustave Courbet hatte es 1866 gemalt und »Der Ursprung der Welt« genannt. Es zeigte den nackten Torso einer Frau und im Zentrum ihre Vagina.

 

Paul Goullet war als einziges Kind einer angesehenen Stuttgarter Familie aufgewachsen, die mit einigem Stolz auf ihre hugenottische Vergangenheit blickte. Nach dem Tod seines Vaters Richard, eines emeritierten, knochendürren Mathematikprofessors der Tübinger Universität, der wunderbar Klavier spielen konnte, zu dem er aber nie eine wirkliche Beziehung fand, war ihm ein ansehnliches Erbe zugefallen. An seine Mutter konnte er sich nur dunkel und mit Mühe erinnern; sie starb, als er noch keine sieben Jahre zählte.

Lange konnte er nicht verstehen, warum es sie nicht mehr gab. Die Leere, die ihr Tod in seiner Kinderseele hinterlassen hatte, war wie ein riesiger, unbehauster Raum, in dem er sich fortan bewegte und dem er nie mehr wirklich entkam. Ihren Körper aber hatte er nicht vergessen, den weißen Leib, die glatte Haut und ihren warmen, milchigen Geruch. Bis sie starb, hatte er in ihrem Bett geschlafen, und ihr Körper war allgegenwärtig, er war schön und fest, und später träumte er nachts oft davon. Aber ihr Gesicht hatte sein Gedächtnis ausgelöscht, und so sehr er sich anstrengte, auch nur einen Teil zurückzuholen – es schien für immer verloren. Es war keine Trauer, die er darüber empfand, es war Wut.

 

An die Stelle seiner Mutter trat wenig später die unverheiratete Halbschwester seines Vaters, ein seltsam verhuschtes Wesen mit Namen Elsbeth, das sich anfangs rührend um ihn gekümmert und später mehr und mehr zurückgezogen hatte. Am Ende schien es, als sei sie Teil der schweren Möbel und Bücherschränke geworden und hinter den unzähligen Bildern verschwunden, die die Wände seines Elternhauses zierten. Es waren Ölgemälde und Pastelle, die sein Großvater Rudolf in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts angefertigt hatte und in leuchtenden Farben Landschaften und Menschen der südfranzösischen Küste zeigten. Über diesen Großvater wusste er nicht viel, und obwohl nur wenig, ja fast nie über ihn gesprochen wurde, war er doch allgegenwärtig.

Alles in diesem dunklen Haus schien mit ihm auf geheimnisvolle Weise verknüpft, und Goullet hatte schon früh das Gefühl, dass sich hinter diesem Menschen, der kurz nach seiner Geburt und im hohen Alter verstorben war, etwas Ungeheuerliches verbarg.

Sein Arbeitszimmer im ersten Stock gab es immer noch. Die Eichenholztür mit den kassettenartigen Vertiefungen, die sich gleich links neben dem Treppenabsatz befand, war verschlossen und so düster und abweisend, dass er nicht wagte, sich dahinter etwas vorzustellen. Er wusste von Elsbeth, dass sein Großvater Oberverwaltungsgerichtsrat in Stuttgart und sehr angesehen gewesen war, aber schon Mitte der 1960er Jahre seinen Beruf aufgegeben hatte, um in den Vorruhestand zu gehen. Die Gründe hatte sie ihm nie gesagt, und wenn sie von ihm sprach, dann nur in Abwesenheit ihres Bruders Richard, seines Vaters, und sie tat es so vorsichtig, als hätte sie Angst, dabei ertappt und bestraft zu werden.

Meist zog sie ihn in das Kaminzimmer mit dem alten Flügel, das hinaus auf die Terrasse führte und nur selten betreten wurde. Die Geschichten, die er dort vernahm, waren seltsam und verwirrend, und er hatte immer das Gefühl, als wollte sie ihm eigentlich etwas anderes erzählen. Auf sein wiederholtes, hartnäckiges Nachfragen, warum kein Bild oder Photo seiner Mutter im ganzen Haus existierte, hatte sie ihm schließlich zu verstehen gegeben, dass ihr Bruder, sein Vater, es so gewünscht hätte. Er hatte jede Erinnerung an sie auslöschen wollen, weil sie in Sünde gegangen sei. Goullet war darüber zutiefst beunruhigt, denn er wusste nicht, was sie meinte, und wieder und wieder fragte er nach, bis sie ihn endlich wissen ließ, dass sich seine Mutter im Alter von fünfundvierzig Jahren mit Schlaftabletten das Leben genommen hatte.

 

Als er nach der Beerdigung seines Vaters durch alle Hinterlassenschaften, Akten und Dokumente ging, entdeckte er ein amtliches Schriftstück, dem er entnahm, dass die Goullets ihn im Alter von drei Monaten von einer nicht benannten Person adoptiert hatten. Der Umstand, nicht das leibliche Kind seiner Eltern zu sein und also niemandem anzugehören, erschreckte ihn nicht sonderlich, sondern bestätigte ihm nur, was er schon immer geahnt hatte. Goullet war seinen Eltern weder äußerlich noch in seiner Seele ähnlich; dunkel wie ein Süditaliener, besaß er ein gut geschnittenes, schmales Gesicht, eine edle, schön geschwungene Nase und Haupthaar von geradezu unwirklichem Schwarz.

Sein südländisches Aussehen und die dunklen, etwas verhangenen Augen signalisierten Leidenschaft, in die sich ein Schuss Melancholie mischte, und standen in heftigem Widerspruch zur Mittigkeit seines Temperaments, das die bürgerlich schwäbische Welt, in der er groß geworden war, in ihm ausgeprägt hatte.

Es war ihm selbst ein Rätsel, dass er kein großes Bedürfnis empfand, sich Klarheit über seine Herkunft zu verschaffen. Sein Vater war tot, er hatte nie geredet, und das war es dann auch.

Goullet verspürte in sich eine seltsame Bindungslosigkeit und offenkundige Unfähigkeit, aus allem, was er erlebte, ein klares, deutliches Gefühl zu beziehen, und es erstaunte ihn und tat ihm bisweilen auch weh, aber da ihm all das Teil seiner Persönlichkeit schien, akzeptierte er es schließlich und lebte damit. Es war ja nicht, dass er nichts fühlte, er konnte sich freuen und ausgelassen sein, er empfand auch so etwas wie Wut und Mitleid, aber doch gleichzeitig auch immer eine gewisse Entfernung zu allen seelischen Affekten, ganz so, als sortierte eine Art Filter in ihm aus, was seine Seele überfordern oder auch nur in den geringsten emotionalen Aufruhr versetzen könnte.

Wann genau er aus dem Inneren der Dinge, dem Kern der Empfindungen herausgetreten war, konnte er nicht sagen. Es muss ein schleichender Vorgang gewesen sein, der schon bald nach dem Tod seiner Mutter eingesetzt und ihn unmerklich an eine kühle, nüchterne Peripherie geführt hatte und darüber hinaus an einen Ort, der ihn irgendwie teilnahmslos und wie von Ferne auf das blicken ließ, was uns sonst mit Haut und Haaren auffrisst: das Leben.

Es erschien ihm wie ein wildes Getümmel, das hinter einer Glaswand stattfand, interessant und kurios, aber ohne Sinn und Substanz, ein Theaterstück, in dem grell geschminkte Darsteller unter idiotischen Verrenkungen ihm etwas vorspielten, das er gar nicht sehen wollte.

Menschen kamen ihm entweder todtraurig oder abgrundtief lächerlich vor, und er selbst bildete vor sich keine Ausnahme. Seine Entrücktheit versteckte sich jedoch geschickt hinter einer einnehmenden Freundlichkeit und zeigte mitunter erstaunliche Risse und Ungereimtheiten, ganz so, als wäre auch das Innere nur Fassade, die in ihrer letzten Schicht einen Kern verbarg, der nicht zu verstehen oder vielleicht auch gar nicht vorhanden war.

 

Die Wolken hingen immer noch tief und bleischwer über der Stadt, aber es hatte aufgehört zu regnen. Goullet stand auf, überquerte die Straße und lief rechts den Quai de Montebello entlang flussaufwärts. Es waren nur wenig Menschen unterwegs, hin und wieder zeigten sich patrouillierende Sicherheitskräfte und Polizeiautos, die über das nass glänzende Straßenpflaster heulten. Es war Sonntag, und das Wetter lud nicht gerade zum Spazierengehen ein.

Er überlegte, ob er umdrehen und ins Musée d’Orsay gehen sollte, als er an einem der wenigen offenen Bücherstände der Bouquinisten vorbeikam, die seit jeher ihren Handel an den Quais der Seine betreiben.

Ein älterer Mann mit langem Haar, das in Strähnen unter einer beigen Schirmmütze hervorhing, einem struppigen Schnurrbart und einer erloschenen Pfeife im Mund war gerade dabei, den letzten seiner blaugrünen Holzkästen aufzuschließen. Dann setzte er sich auf einen kleinen Schemel und strich seinen von der Feuchtigkeit zerknitterten Lodenmantel glatt.

Als Goullet sich der Auslage näherte, blickte er ihm gerade ins Gesicht und musterte ihn, als wolle er sich klar darüber werden, ob dieser morgendliche Kunde, der erste übrigens an diesem grauen, verregneten Tag, seiner bibliophilen Schätze auch würdig sei.

Wie traurig seine Augen sind, dachte Goullet, er ist einer dieser eigenwillig verrutschten Gestalten, die alte Bücher lieben, deren Zauber sich nur noch ihm und einigen wenigen Menschen erschließt und die kaum zu verkaufen sind, weil sie niemand mehr schätzt. Sicher wird er sich nicht einmal von ihnen trennen wollen, aber von irgendetwas muss er ja doch leben.

Goullet grüßte und kassierte den Ansatz eines Lächelns und ein paar mürrische Worte, die unverständlich waren. Er lächelte vorsichtig zurück, dann ließ er seinen Blick über die zahlreichen Bücherrücken schweifen, die liebevoll platziert in den Regalen der Boîtes standen, alte Ausgaben mit schwarz- und goldgeprägten Namen berühmter Autoren wie Balzac, Lamartine, Musset, Zola, Hugo und solchen, von denen er noch nie gehört hatte. Daneben standen Kunstbücher, hingen Kalender, lagen historische Zeitungen und Künstlerkarten längst vergessener Granden der Pariser Bühnen und des französischen Films. Er stöberte in einer Kiste mit graphischen Arbeiten, die in Schutzfolien steckten und zog eine kolorierte Federzeichnung von Pascin hervor, die ein nächtliches Gelage in einem Pariser Café Ende des 19. Jahrhunderts zeigte, dann eine Radierung von Daumier (er fragte sich, ob es Originale oder nur Kopien waren) und stieß plötzlich auf ein hübsch verziertes, in rostrotes Leder gebundenes Photoalbum, das sich aus irgendeinem Grunde in die Gesellschaft dieser erlauchten Blätter und Kunstdrucke geschlichen hatte. In der rechten oberen Ecke waren zwei goldene Lettern eingestanzt: PG. Es waren die Initialen seines Namens.

Vorsichtig nahm er das Album in die Hand und schlug es auf.

Gleich auf der ersten Seite steckte die schwarzweiße Photographie eines Mannes in einem am oberen Rand rundgebogenen Passepartout. Er trug eine Kreissäge als Kopfbedeckung, ein Herrenstrohhut, wie er Anfang des 20. Jahrhunderts Mode war, einen tadellosen, eleganten Anzug und lehnte sich lässig an ein Holzgeländer. Sein Blick war auf einen Punkt gerichtet, der sich irgendwo rechts hinter dem Photographen befand.

Goullet starrte das vergilbte Portrait an, ungläubig, fasziniert. Als er begriff, dass er sich nicht täuschte, überkam ihn ein namenloser Schrecken, und sein Herz fing an heftig zu schlagen. Dieser Mensch, der da vor über einem Jahrhundert für einen unbekannten Photographen posiert hatte, daran bestand kein Zweifel, war er selbst: Paul Goullet. PG.

Fieberhaft überschlug er nun Seite um Seite und fand sich in immer neuen Haltungen und Positionen, allein auf einer Brücke stehend, beim Billardspiel, auf eine Wiese hingelagert, umgeben von ihm unbekannten Personen, vor Gebäuden und Automobilen und in Landschaften, von denen er nicht sagen konnte, wo sie sich befanden.

Trotz der morgendlichen Kälte brach ihm der Schweiß aus. Er ließ das rote Album sinken und hob den Kopf. Die Kathedrale vor ihm, deren Steinfassade sich vom Grau des Himmels leuchtend abhob, sah er nicht, er blickte in seine eigene, innere Welt und fühlte, dass der Kokon, in den er über Jahre eingesponnen und von allem abgesondert lebte, plötzlich aufzubrechen schien.

Das Album kostete dreißig Francs (Frankreich war drei Jahre zuvor zu seiner alten Währung zurückgekehrt). Goullet zahlte den Betrag, ohne den Versuch zu unternehmen, den Preis zu drücken. Er dachte auch nicht mehr an seinen Besuch im Musée d’Orsay und ging geradewegs zurück ins Hotel. Er war viel zu aufgeregt, sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigen. Sein Pariser Aufenthalt hatte plötzlich eine Bedeutung gewonnen, die sich anschickte, sein Leben völlig auf den Kopf zu stellen. Das Album schien ihm ein Wink des Schicksals, und er fühlte eine Entschlossenheit, ihm zu folgen, die ihn erstaunte, ja mit Stolz erfüllte. Fünfunddreißig Jahre hatte er nicht gewusst, was er mit sich anfangen sollte, und nun stand er, wie es ihm schien, an einem Wendepunkt.

Goullet legte das Album auf den kleinen Schreibtisch seines Hotelzimmers und ging ins Bad. Lange blickte er sich im Spiegel an, und plötzlich glaubte er in das Gesicht eines anderen Menschen zu sehen, eines Menschen, der ihm zum Verwechseln ähnlich war. Hätte er – Goullet – in diesem Augenblick seinen Kopf auf die Seite gelegt, wäre der, der ihn durchs Spiegelglas hindurch unverwandt anstarrte, womöglich in seiner Stellung verharrt, ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Er tat es nicht, denn er hatte Angst, dass genau das geschehen würde. Ihn überkam ein merkwürdiger Schwindel, und er musste sich am Waschbecken festhalten. Er schloss die Augen, beugte sich hinab, tastete nach dem Wasserhahn und öffnete ihn. Röchelnd trat das Wasser aus, er befeuchtete sein erhitztes Gesicht und ging, ohne noch einen Blick auf sich zu werfen, zurück ins Zimmer. Dort nahm er die Photographien aus ihren Passepartouts, um nach Anhaltspunkten auf den Rückseiten zu suchen. Aber er fand nichts. Es hatte sich niemand die Mühe gemacht, festzuhalten, wer auf dem Bild zu sehen oder wo es aufgenommen worden war. Er wollte schon aufgeben, als er auf einem Photo, das PGbeim Billardspiel zeigte, in der umseitigen rechten oberen Ecke, winzig klein und kaum leserlich, ein Datum entdeckte: 24.3.1928.

Vom Portier des Hotels ließ er sich eine Lupe aufs Zimmer bringen und unterzog noch einmal alle Bilder einer eingehenden Überprüfung. Tatsächlich fand sich auf der Rückseite einer zweiten Photographie, die PG, auf einer Treppe sitzend, abbildete, der Name »Banyuls«, ein Ort, von dem er nicht wusste, wo er lag. Irgendwo im Süden des Landes vermutlich.

 

Goullet seufzte und fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen. Wirre Gedanken und Bilder schossen ihm durch den Kopf. Eine Landschaft mit Palmen und Zypressen, wie er sie von den Gemälden seines Großvaters kannte, Gebirgshänge, an denen der Wein üppig emporwuchs, dann sah er sich durch eine schwach erleuchtete, nächtliche Gasse eilen, eine Haustür ging auf, und eine Frau trat heraus, überschüttet vom gelben Licht einer nahen Gaslaterne. Sie warf eine Zigarettenkippe aufs Straßenpflaster und zog ihn in einen dunklen Eingang, in dem fünf reglose Gestalten in schwarzen Mänteln standen und ihn ängstlich, aber auch erwartungsvoll anblickten. Am Boden lagen Koffer und Rucksäcke. Er lief an ihnen vorbei und öffnete rechts eine schmale Tür, hinter der sich ein fensterloser Raum auftat. Er hatte eine merkwürdige, dreieckige Form. Von der Decke baumelte eine matt glimmende Glühbirne. Er blickte in das Gesicht einer Frau, sie schien zu weinen, dann sah sie zu Boden, und er löschte das Licht.

Als er die Tür schloss, befand er sich plötzlich wieder in der Küche des elterlichen Hauses in Stuttgart. Ein regnerischer, windiger Herbstnachmittag vor über fünfundzwanzig Jahren. Er war gerade zehn Jahre alt geworden. Der Vater und Tante Elsbeth hatten in der Stadt zu tun, er saß an einer Schularbeit, mit der er nicht recht vorankam. Im Büro des Vaters schlug ein offenes Fenster dumpf und unregelmäßig gegen den Rahmen. Er ging hinüber, um es zu schließen, und als er sich wieder umdrehte, stand er vor dem großen Schreibtisch seines Vaters. Es war ein modernes Möbelstück, nicht unelegant, aber es passte nicht zur übrigen Einrichtung des Hauses, die seit bald hundert Jahren keine wesentliche Veränderung erfahren hatte. Ohne es wirklich beabsichtigt zu haben, trat er an den Schreibtisch heran und begann die Schubladen aufzuziehen. Er fand alles Mögliche darin, Stifte und andere Schreibutensilien, Brillen, Dosen, Dokumente, Geräte, deren Sinn und Nutzen er nicht verstand, sogar einen Rasierpinsel und eine kleine Schüttelmadonna, und in der letzten Schublade Schreibpapier und Umschläge verschiedener Größen. Er hob sie etwas an und erblickte zuunterst am Boden einen fleckig angelaufenen Schlüssel mit Bart und einem Anhänger, auf dem »Vater« stand. Er nahm ihn in die Hand, horchte ins Haus hinein und stieg mit klopfendem Herzen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Der Schlüssel passte.

Mit der linken Schulter drückte er die sperrige Tür auf. Es war ein pechschwarzes Loch, in das er sah, dem ein unangenehmer, modriger Geruch entströmte. Nach einigem Suchen ertastete er rechts von der Tür einen Lichtschalter und drehte ihn an. An der Zimmerdecke flammte eine Glühbirne in einer Schale aus marmoriertem Glas auf und warf ein fahles Licht auf ein paar Möbel, die sich erschrocken an die Wände drückten: ein Biedermeierschreibtisch, ein schmaler Aktenschrank mit Rollverschluss und ein großer Bücherschrank, dessen Glastüren rückseitig mit blassen, gerafften Stoffgardinen versehen waren. Im Schatten daneben, auf einer Kommode mit hübschen Intarsien und schadhaften Messingbeschlägen, stand ein kleines, an die Wand gelehntes Ölgemälde, das ihm sofort auffiel.

Es zeigte eine malerisch verfallene Steinhütte, die sich in eine mit vielerlei südländischen Pflanzen bewachsene Felsspalte schmiegte. Neben der schweren Holztür mit einem Eisenring war eine Art Wegkapelle oder Altar mit dem Relief einer sitzenden Madonna in die Mauer eingelassen. Ihr Kopf fehlte, und nur der Hals war zu sehen, der sich wie eine offene Wunde dem Betrachter entgegenreckte.

Auf der anderen Seite des Zimmers standen ein dunkelgrün bezogenes Empiresofa und daneben eine Stehlampe, deren Schirm mit fernöstlichen Motiven dekoriert war.

Über dem Sofa hingen zwei gerahmte schwarzweiße Photoportraits; ein Frauenkopf neben dem eines Mannes mit schmalem, kantigem Gesicht und kurz geschnittenen Haaren, der den Jungen mit einem neugierigen, ja fast amüsierten Blick so fixierte, dass er sich sofort durchschaut und ertappt fühlte. Die Augen hinter der ovalen Schildpattbrille besaßen aber auch etwas verstörend Ironisches, und er hätte schwören können, dass sie sich bewegten, sich schlossen und blitzschnell wieder öffneten und jeden seiner Schritte im Zimmer verfolgten.

Es war sein Großvater Rudolf, das wusste er. Tante Elsbeth, die ihren Familiensinn gegenüber ihrem verhärteten Bruder nie wirklich zur Geltung bringen konnte, Hüterin der Photoalben, Familienbücher und anderer Erinnerungsstücke, hatte ihm hin und wieder Bilder aus jenen fernen Tagen gezeigt, als die Goullets noch eine Familie waren, die diesen Namen verdiente.

Die blonde, etwas mollige Frau mittleren Alters, deren Bild rechts von dem seines Großvaters hing, trug eine kuriose Frisur mit hochtoupierten, von einer Schleife zusammengehaltenen Haaren und musste seine Großmutter sein. Er erinnerte auch sie aus einem der Photoalben.

An der Stirnseite des Zimmers, neben dem geschlossenen und mit einer Holzplatte zugenagelten Fenster, befand sich ein weiteres Portraitphoto, das seine Aufmerksamkeit erregte.

Das Gesicht der jungen Frau war ihm gänzlich unbekannt. Es hatte etwas Südländisches und war ausnehmend hübsch; ihre Augen strahlten hell und lebendig, sie lachte, und die Zähne, die sie dabei entblößte, waren weiß und makellos. Ihre Nase war der seines Vaters verblüffend ähnlich, lang, mit schmalem Rücken und einer leichten Krümmung, keine Hakennase, eine gute Nase, eine mit Charakter. Das kurzgeschnittene, schwarze Haar fiel ihr keck ins Gesicht, und es kam ihm so vor, als wäre sie gar nicht vergangen und aufgehoben in einer alten Photographie, sondern blickte ihm leibhaftig und wie durch ein geöffnetes Fenster in die Augen und würde ihn schon in der nächsten Sekunde mit heller Stimme zu sich rufen. Er hätte zu gern gewusst, wer sie war; die Photographie schien allerdings um einiges älter als die seiner Großmutter.

Als er wieder auf das Bild des Großvaters sah, fiel ihm plötzlich auf, dass sich der Ausdruck seines Gesichts verändert hatte, die sanfte Ironie war einer Schärfe und Boshaftigkeit gewichen, die ihn erschreckte. All das war seltsam und verwirrend, und weil er unten im Haus ein Geräusch gehört zu haben glaubte, entschloss er sich zu gehen. Da fiel sein Blick auf den Aktenschrank, über dem ein großes Hirschgeweih hing. Der Schlüssel steckte, nach kurzem Zögern ging er hin und drehte ihn um. Polternd rauschte der Rollladen nach unten und gab den Blick frei auf etwa ein Dutzend Fächer, die vollgestopft waren mit Zetteln, Dokumenten und Papieren aller Art. Ganz unten, in einem Hohlraum, lag eine schwarze, abgenutzte Aktentasche. Als er sie herausnahm, entdeckte er zwei Initialen, die über dem Messingverschluss in das Leder gepresst waren: WB. Er öffnete die Tasche und fand darin ein dickes Manuskript, dessen Seiten über und über mit Korrekturen versehen waren. Irgendetwas Wissenschaftliches. Er steckte sie zurück, zog eine der oberen Schubladen heraus und blickte auf einen Stapel mit Bleistiftzeichnungen und Skizzen, Köpfe von Männern, einige kahlgeschoren und voller Blessuren. Ansatzweise waren offene Hemdkragen zu sehen oder ein Drillich, wie ihn Menschen in Gefängnissen trugen.

Ein Portrait fiel ihm besonders auf und verstörte ihn. Es zeigte einen schwarzhaarigen, jungen Mann, dem man offensichtlich ein Auge ausgeschlagen hatte, während das andere blutunterlaufen und voller Hass auf den Betrachter blickte. Das Seltsamste war der Leberfleck über der rechten Augenbraue. So einen hatte er auch, an der gleichen Stelle und in exakt der gleichen Form.

Als Nächstes hielt er eine alte, an den Rändern eingerissene schwarzweiße Photographie in der Hand, die einen Mann abbildete, der aufrecht dastand und herausfordernd in die Kamera grinste. Er hatte schwarzes Haar, einen dunklen Fleck auf der Stirn und schien dem Menschen auf der Bleistiftzeichnung sehr ähnlich. Neben ihm saß eine Frau auf einem Stuhl und blickte mit halb geöffneten Augen stumpf und schläfrig vor sich hin. Mit seiner rechten hatte sie der Mann am Genick gepackt, um zu verhindern, dass sie nach vorne kippte.

Die Ähnlichkeit mit der jungen Frau, deren Bild an der Wand neben dem Fenster hing, fiel ihm sofort auf. Sie hatte dieselben Gesichtszüge, und auch die Frisur war identisch. Das Photo schien leicht überbelichtet und besaß etwas Künstliches. Vielleicht war es mit einem Blitzlicht aufgenommen worden.

Im Fach darunter lagen Kunstdrucke von Gemälden alter Meister, die er nicht kannte. Er nahm ein paar der schönen, kolorierten Blätter an sich und erblickte plötzlich zuoberst des liegengebliebenen Stapels eine farbige Postkarte mit dem Torso einer nackten Frau, deren gespreizte, weiße Schenkel sich ihm entgegenstreckten und seinen Blick auf ein schwarzes Dreieck in der Bildmitte zogen, auf eine üppig behaarte Scham, die sich zu einem dunkelrötlichen Spalt öffnete, einem Schlund, der ihn anblinzelte und zu verschlingen drohte.

Er nahm die Karte in die Hand. Der Leib mit der hellbronzefarbenen Haut und den blauen, mäandernden Äderchen hatte keinen Kopf und keine Füße, und er starrte lange darauf, bis sich in der Traumtiefe seiner Erinnerung etwas löste und langsam in sein Bewusstsein stieg. Die Gewissheit nämlich, dass es der Körper seiner toten Mutter war, den er da vor sich hatte.

Ihn überkam eine Hitzewallung und gleichzeitig eine Glückseligkeit, die wie eine riesige Welle alles überflutete, bis sich seine ungeheure Anspannung in einer Art körperlicher Explosion löste, die ihn fast zu Boden warf. Er spürte zu seinem Entsetzen, dass seine Hose nass geworden war.

Auf einmal waren Schritte auf der Treppe zu hören. Blitzschnell schob er sich die Postkarte mit dem nackten Frauentorso unters Hemd. Die anderen Blätter warf er zurück in die Schublade. Kaum hatte er den Rollschrank geschlossen, flog die Tür auf, hinter die er in seiner Panik gesprungen war, und der Vater trat in den Raum. An die Ohrfeige, die er ihm verabreichte, nachdem er ihn hinter der Tür hervorgezogen hatte, erinnerte sich Goullet bis auf den heutigen Tag. Es war das erste und einzige Mal, dass ihn sein Vater berührt hatte, und es lag eine derartige Gewalt darin, als wollte er ihre stumme und körperlose Beziehung mit einem einzigen Schlag überwinden, einem Schlag, in dem alle unterlassenen Schläge und Berührungen aufgingen.

 

Goullet schreckte hoch, es hatte an die Zimmertür geklopft. Ein junges Mädchen, am Hals und im Gesicht von Narben entstellt, unter denen die Reste schlecht entfernter Tätowierungen hervorschienen, steckte den Kopf herein und fragte, ob sie die Minibar aufstocken solle. Als er verneinte, nickte sie ihm zu, schloss die Tür und entfernte sich auf dem Flur. Goullet war erschrocken über ihren Anblick und musste sofort an den obskuren Anti-Tribalismus-Erlass denken, den die französische Regierung vor einiger Zeit verfügt hatte, nach dem sichtbare Tätowierungen und andere Manipulationen des Körpers streng verboten und strafbar waren. Betroffen davon war auch die Anbringung von Graffiti in öffentlichen Räumen.

Goullet wandte sich wieder den auf dem Schreibtisch liegenden Photographien zu. Noch immer hielt er die Lupe und das kleine Bild in der Hand. Als er es erneut umdrehte, um es noch einmal genauer zu betrachten, stockte er. Er hielt das Glas dichter über das Profil des Mannes, dem er aufs Haar glich, und entdeckte in der Vergrößerung über der rechten Augenbraue den Leberfleck, den auch er genau an dieser Stelle besaß. Er sprang auf, rannte zurück ins Badezimmer, und noch bevor er die Toilette erreicht hatte, erbrach er sich.

Wenig später saß er bleich und schweißnass auf dem Rande der Badewanne und starrte auf die beigen Kacheln an der Wand ihm gegenüber. Er war völlig verwirrt, aber immerhin wusste er nun, dass sein unbekannter Vorläufer sich vor über einhundert Jahren an einem Ort namens Banyuls aufgehalten hatte.

Schon am nächsten Vormittag verließ er das Hotel und machte sich auf den Weg zum Gare de Lyon, um die Spur aufzunehmen, die zu verfolgen das Schicksal ihm auferlegt hatte.

 

Über Perpignan entlud sich ein heftiges Gewitter, als Goullet an einem Spätnachmittag Ende April dort eintraf. Bis Montpellier war die Fahrt ereignislos verlaufen, dann war er umgestiegen und hatte den Zug Richtung Barcelona genommen. Ihm fiel auf, dass die Menschen kaum miteinander sprachen, es herrschte eine merkwürdige Stille, die so gar nicht zum heiteren Licht des Frühlings und der sprichwörtlichen Lebendigkeit der Südfranzosen passte. Der Zug war nicht voll besetzt, und so saß er allein und schaute hinaus auf die vorbeifliegenden Dörfer und Kleinstädte und eine zersiedelte Landschaft, die immer südlicher wurde und schon die Nähe des Mittelmeeres in sich trug. Der Frühling war hier viel weiter fortgeschritten als im nördlichen Paris; Bäume und Pflanzen blühten, und die Natur stand in üppigem Grün und würde erst wieder unter der Glut der Sommersonne ermatten, bis sie der Herbst dann einer letzten Verzauberung zuführte.

Hinter Narbonne bemerkte Goullet eine Frau mittleren Alters in unauffälliger Kleidung, die im Gang zwischen den Sitzreihen hin- und herlief. Immer wieder blieb sie stehen und blickte sich um, als würde sie verfolgt. Dann ließ sie sich für einen Augenblick irgendwo nieder, sprang aber gleich darauf wieder auf, um fluchtartig den Waggon zu verlassen. Wenig später kehrte sie zurück und setzte sich Goullet schräg gegenüber. Er sah, dass sie versuchte, ihn anzulächeln und Kontakt mit ihm aufzunehmen. Was war mit ihr los, und warum hatte sie sich nicht auf einen der anderen leeren Plätze gesetzt? Er wagte nicht, sie anzusprechen, und so nahm er ein Buch aus seinem Koffer und begann zu lesen. Sie wandte ihr Gesicht ab und starrte aus dem Fenster, und ihre Augen waren dunkel und unruhig. Über den Hügeln und Bergen, die den Horizont im Westen säumten, waren schwarze Wolken aufgezogen, die ein schweres Unwetter anzukündigen schienen.

Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper der Frau, und sie richtete sich gerade auf. Goullet ließ sein Buch sinken. Sie sah ihm direkt in die Augen und öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas sagen. Einen Moment lang verharrte sie in dieser Stellung, atmete dann aber nur heftig aus und sank wieder kraftlos in ihren Sitz zurück. Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Vous ne vous sentez pas bien, Madame? Puis-je vous aider?« Goullet hatte sie angesprochen, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte.

Sie richtete sich wieder auf, legte blitzschnell ihren Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit der linken Hand an die Decke des Abteils, als wollte sie ihm mitteilen, dass von dort Gefahr drohe und er schweigen solle. Dann schob sie den Ärmel ihres grauen Pullovers hinauf und zeigte auf eine Narbe am Oberarm, unter der sich kaum sichtbar ein kleines, dunkles Viereck abzeichnete. Wieder legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen.

In diesem Augenblick begann es draußen zu regnen, und innerhalb kürzester Zeit schüttete es, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet, und ein Sturm brach los, der die schweren Regentropfen gegen die Scheiben des fahrenden Zuges peitschte, bis die vorbeitreibende Welt hinter dicken Schlieren herabwallenden Wassers verschwand. Es wurde stockdunkel, und im fahlen Licht des Abteils wirkten die wenigen Fahrgäste wie Gespenster, die sich ängstlich in ihre Sitze drückten. Irgendwann drosselte der Zug seine Geschwindigkeit, und ein Blitz zerriss die künstliche Nacht, dem ein greller, ohrenbetäubender Donner folgte. Wie eine Bombe, die es in tausend Stücke zerreißt, dachte Goullet erschrocken. Dann erblickte er auf einmal die Lichter von Perpignan, und bald darauf schob sich ein regennasser Bahnsteig ins Viereck des Zugfensters, auf dem sich Dutzende von Polizisten und bewaffnete Uniformierte mit ihren Hunden spiegelten. Sie schienen den ganzen Bahnhof abgeriegelt zu haben.

Das Gesicht der Frau ihm gegenüber war kreideweiß geworden. Hektisch zog sie ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb etwas, dann drückte sie ihm den Zettel und ein dünnes, unbeschriftetes Kuvert in die Hand. »Gott segne Sie, Monsieur!« Sie küsste ihn auf die Wange und hastete den Gang hinunter zum Ausgang.

Der Zug hatte angehalten, Goullet stand auf. Er fühlte sich elend, und sein Herz schlug rasend schnell. Laute Rufe und verzweifelte Schreie, wie sie Menschen in großer Not von sich geben, drangen vom Perron ins Innere des Abteils.

Schnell warf er einen Blick auf den Zettel in seiner Hand: »Bitte bringen Sie diesen Brief nach Port-Vendres, 2, Rue Victor Hugo, gegenüber dem Platz mit dem großen Obelisken. Der Zug fährt nach Portbou. Es ist nur eine kurze Strecke. Gott sei mir gnädig. Gott schütze Sie. Danke! Vernichten Sie dieses Schreiben.«

Port-Vendres, Rue Victor Hugo 2; er wiederholte die Adresse dreimal, dann zerriss er den Zettel, verstreute die Schnipsel unter den Sitzen und schob sich das Kuvert in die Unterhose.

Es regnete und stürmte immer noch, als er mit seinem Koffer den Zug verließ und sofort von drei bewaffneten Männern umringt wurde. Sie forderten ihn auf mitzukommen. Sie liefen eine Treppe am Ende des Bahnsteigs hinunter und gelangten in eine Unterführung, in der überall Gruppen von Personen standen, die festgehalten und kontrolliert wurden. Er blickte um sich, konnte aber die Frau, die ihm den Brief gegeben hatte, nicht entdecken. Schließlich erreichte er mit seinen Bewachern die Bahnhofshalle (dass sie ihm irgendwie bekannt vorkam, die rundgebogenen Fenster unterhalb der Decke, die ganze Struktur des Raumes, daran erinnerte er sich erst später) und wurde in einen langen Flur geleitet, an dessen Ende sich eine Tür befand, durch die er in einen grell erleuchteten, schlauchförmigen Raum gestoßen wurde. Die Wände waren kahl, nur hinter einem langen Tisch aus blitzendem Stahl, über dessen gläserne Oberfläche oszillierende Bilder und Symbole huschten, hing ein großes Portrait des Staatspräsidenten und darüber die Worte: LA FRANCE RESSURGIT. PURETÉ. DIGNITÉ. HONNEUR.

Hinter dem Tisch saß ein Beamter in blauer Uniform und manipulierte den riesigen Monitor vor sich mit knappen, schwebenden Bewegungen seiner Hand. Nach kurzer Befragung über Sinn und Zweck seines Aufenthaltes behielt der Beamte Goullets Pass und Koffer ein und forderte ihn auf, vor der Tür zu warten.

Goullet hatte sich inzwischen etwas beruhigt, immerhin war er nicht leibesvisitiert oder durch einen Scanner geschickt worden, und auch der Ton, in dem die Befragung stattfand, war moderat, ja fast höflich gewesen.

Jetzt stand er draußen im Flur und beobachtete ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen verschiedenster Herkunft. Viele schwarze und arabisch aussehende Personen waren darunter; niemand von ihnen begehrte auf, ihr Temperament schien seltsam erloschen.

Die drei Uniformierten, die ihn am Bahnsteig abgeholt hatten, standen etwas abseits, behielten ihn aber ständig im Auge. Sie rauchten. An den Wänden hingen Aschenbecher aus Blech, und Goullet wunderte sich, dass das Rauchen hier erlaubt war, obwohl das Land doch nur so vor Einschränkungen und Verboten strotzte. Er fragte einen der drei Uniformierten nach einer Zigarette, er hatte schon lange nicht mehr geraucht, aber jetzt war ihm auf einmal danach. Er wollte sich spüren, sich weh tun und fühlen, ob er überhaupt noch vorhanden oder schon unversehens Teil einer virtuellen Welt geworden war, die ihn wie ein menschliches Hologramm durch künstliche Räume jagte, von besessenen Programmierern ausgedacht und von Mächten gesteuert, die sich jeglicher Deutung und Kontrolle entzogen.

Er hatte sich schon während seiner Kindheit und Schulzeit nicht zu sehr in diese Welt hineinziehen lassen, instinktiv spürte er, dass sie ihm nicht guttat; er war nicht bereit, seine Autonomie für den schnellen und bequemen Zugang zu Daten aller Art aufzugeben und die permanente Manipulation durch Informationsflüsse zu akzeptieren, die am Ende nur den einen Sinn und Zweck hatte, die Abhängigkeit der Menschen zu potenzieren und sie seelisch und finanziell auszuräumen. Er hatte auch nie begreifen können, warum sie diesen Totalitarismus hinnahmen und sich willfährig einem System unterwarfen, das ihnen nichts weniger als die eigene Würde nahm.