Der verlorene Mann - Heidi Fischer - E-Book

Der verlorene Mann E-Book

Heidi Fischer

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Beschreibung

2:45 Uhr am Morgen. Elisabeth Wagners Telefon reißt sie aus dem Schlaf. "I'm really sorry, but your husband got lost", tönt es vom anderen Ende der rauschenden Leitung. Husband? Verschlafen begreift sie, dass ihr Ehemann Norbert gemeint sein muss, dessen Liebe sie schon länger verloren hat. Der mehr auf Reisen, als zu Hause ist. Und der jetzt auch noch ein Kind von seiner neuen Partnerin erwartet. Gerade ist er mit Discover Nepal-Tours im Himalaya unterwegs. "Got lost, what does that mean?" Notgedrungen muss sich Elisabeth auf Spurensuche begeben und reist in den Himalayastaat, der durch ein Erdbeben im April 2015 in weiten Teilen zerstört wurde – eine unbequeme Reise, die unfreiwillig beginnt und auf der sie sich in den Fußstapfen ihres Mannes fast zu verlieren glaubt. In einem buddhistischen Kloster findet sie seine letzten schriftlichen Aufzeichnungen, entdeckt darin eine völlig neue Seite seines Wesens und beginnt, auch Heidi Fischer ihr eigenes Leben zu hinterfragen.

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Das Buch

Die Liebe ihres Mannes Norbert hat Elisabeth Wagner schon länger verloren. Er war immer mehr auf Reisen, als zu Hause in Erding.

Als Norbert auf einer Trekkingtour in Nepal verschwindet, muss sich Elisabeth notgedrungen auf Spurensuche begeben und reist in den Himalayastaat, der durch ein Erdbeben im April 2015 in weiten Teilen zerstört wurde – eine unbequeme Reise, die unfreiwillig beginnt und auf der sie sich in den Fußstapfen ihres Mannes fast zu verlieren glaubt.

In einem buddhistischen Kloster findet sie seine letzten schriftlichen Aufzeichnungen, entdeckt darin eine völlig neue Seite seines Wesens und beginnt, auch ihr eigenes Leben zu hinterfragen.

Die Autorin

Heidi Fischer wurde 1954 in Oberfranken geboren, lebte einige Jahre in München, um dann mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern wieder nach Coburg zurückzukehren. Sie arbeitete als Lehrerin, Mutter und Hausfrau und schreibt seit vielen Jahren Gedichte und Kurzgeschichten. Ihre Arbeiten wurden in unterschiedlichen Anthologien und der Literaturzeitschrift Wortlaut veröffentlicht.

Bisher bei Der Kleine Buch Verlag erschienen: Laufmaschen im Strickstrumpf (2013) und Wer später stirbt ist länger alt (2015).

HEIDI FISCHER

DER VERLORENE MANN

ROMAN

DER KLEINE BUCH VERLAG

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2016 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement, Lektorat, Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Beatrice Hildebrand

Korrektorat: Eva Preuss, Karlsruhe

Umschlagabbildung: © Horst Fischer

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

eISBN: 978-3-7650-2115-2

Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:

ISBN: 978-3-7650-9117-9

http://www.derkleinebuchverlag.de

http://www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

Unser ganzes Dasein ist flüchtig wie Wolken im Herbst; Geburt und Tod der Wesen erscheinen wie Bewegungen im Tanz. Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel, es rauscht vorbei wie ein Sturzbach den Berg hinab.Buddha

August 2015

Abschiedsstimmung

Mönchsmantras* wie Bienensummen Blick auf nebelverhangene Bergketten und ein Totenmonument. Nebel, der sich nicht aufgelöst hat während des Tages, vermischt mit Rauch von verbranntem Plastik

Geflügelte Tage neigen sich dem Ende zu ungewiss deren Wiederholbarkeit ungewiss wie die Reinkarnation des Lama Jeshe*

Das Lächeln in den Augen der Arya Tara* ist schwer deutbar für den Zweifler in mir klingt ein Klageruf des Raben oder der Eule

»I´m really sorry, but your husband got lost.«

»Husband. Ehemann? The husband of whom?« Elisabeth Wagner war für einen Moment so verwirrt, dass sie überhaupt nicht mehr klar denken konnte. »Verloren gegangen. Was soll das heißen?« Sie merkte nicht, dass sie vor lauter Nichtverstehen wieder ins Deutsche gewechselt war. Aus dem Hörer an ihrem Ohr knatterte es. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung war verstummt. Nach ein paar Sekunden wiederholte Elisabeth auf Englisch: »Got lost, what does that mean?«

Zwei Uhr fünfundvierzig war es genau. Sie hatte auf ihre Armbanduhr geschaut und sich verschlafen gewundert, wer so spät, oder besser gesagt so früh anrufen könnte. Das Telefonat war ihr vielleicht auch wegen der Uhrzeit so unrealistisch vorgekommen. Sie war vor dem Fernseher eingeschlafen, gerade lief ein französischer Film mit deutschen Untertiteln. Vor ihr stand ein Glas Mineralwasser und ein Teller mit appetitlich aufgeschnittenen Äpfeln aus ihrem Garten, die an der Oberfläche schon leicht bräunlich angelaufen waren, weil sie seit Stunden darauf warteten, gegessen zu werden.

Aus dem ersten Schlaf gerissen zu hören, dass der Ehemann verloren gegangen ist, würde wohl bei den meisten Menschen panische Reaktionen auslösen. Elisabeth reagierte mit einem Schweißausbruch. Hitze, die wie eine Flamme durch ihren Körper schoss und sie in feuchte Hilflosigkeit tauchte. Normalerweise lag Elisabeth um diese Uhrzeit längst im Bett. Aber seit einigen Monaten wurde sie von Schlafstörungen und Hitzewallungen während der Nacht heimgesucht. Typisch für ihr Alter, hatten ihr die Frauenärztin und einige ihrer Freundinnen versichert. Sie versuchte es locker zu sehen, doch in den dunkler werdenden Spätsommernächten überfiel sie manchmal leichte Panik, zögerte sie das Schlafengehen bewusst hinaus, wollte sie nicht allein unter der Bettdecke liegen und der Willkür ihres älter werdenden Körpers ausgeliefert sein.

Die Stimme aus dem Telefonhörer hatte sich zuerst erkundigt: »Do I talk to Elisabeth Wagner, the wife of Norbert Wagner?«

Elisabeth hatte den Fernseher auf stumm geschaltet. »Wer will das wissen?« Sie war vorsichtig mit genauen Angaben am Telefon. Viel zu oft versuchten dubiose Firmen, ihr seltsame Werbeangebote aufzuschwatzen. Die Uhrzeit hätte zu einem unseriösen Anruf gepasst.

»He got lost«, wiederholte die Frau. Offensichtlich war ihr Englisch auf einige wenige Wörter begrenzt. Es rauschte in der Leitung und war für Sekunden, die sich ins Unendlich dehnten, ruhig wie an einem windstillen Tag am Meer.

»He didn´t come back«, ertönte dann wieder die Stimme. Ob die Frau am anderen Ende auch dieses Rauschen hörte? Elisabeth sah Norbert, ihren Mann, irgendwo zwischen Strand und Wellen einsam umherirren. Aber das Bild war so falsch, dass sie beinahe laut gelacht hätte. Nepal lag garantiert nicht am Meer und ihr Mann würde niemals freiwillig Urlaub am Strand machen. Er war unterwegs auf Trekkingtour im Himalaya.

Dass ihr Exmann sich in Nepal aufhielt, wusste sie von ihrer Tochter Lena. Elisabeth bezeichnete ihren Ehemann immer als Exmann, auch wenn die Ehe niemals offiziell durch einen Richterspruch aufgelöst worden war. Ihre Tochter traf sich regelmäßig mit ihrem Vater. Von Norbert selbst hatte Elisabeth schon seit Monaten nichts mehr gehört. Sie lebten seit vier Jahren getrennt, ihre Wege hatten seitdem in vollkommen unterschiedliche Richtungen geführt.

Sie versuchte sich wieder auf die eben gehörten Worte zu konzentrieren. Konnte man in einer Trekkinggruppe verlorengehen? Bei einem Mann wie Norbert schwer vorstellbar. Und warum wurde sie darüber informiert und nicht Sara Westermeier, seine Lebenspartnerin?

»How long is he missed?« Sie suchte in ihren übermüdeten Hirnwindungen mühsam nach den richtigen Vokabeln.

»Already for three days. Sorry, but we couldn’ t find your telephone number earlier.« Die Stimme klang schuldbewusst. Elisabeth hörte im Rauschen des Meeres ein nervöses Husten, dann wurde die Verbindung unterbrochen. Die Nummer der Anruferin war nicht auf dem Display erschienen.

In ihrem Kopf breitete sich fassungslose Leere aus. Sie wusste später nicht, wie lang dieser Zustand angedauert hatte, aber als sie den Hörer auflegte, hatte der Vorspann zu einem Krimi begonnen. Der französische Spielfilm war unbemerkt zu Ende gegangen. Auf dem Bildschirm lag eine tote Frau mit starrem Blick im feuchten Gras. Im Hintergrund zeigte eine sorglose Frühlingslandschaft, dass dies ein ungewöhnlich friedlicher Ort für das Auffinden einer nackten Leiche sein musste. Elisabeth schaltete den Fernseher aus, aber diese Momentaufnahme brannte sich in ihr Gedächtnis ein und würde später stets auftauchen, wenn sie an die Mitteilung von Norberts Verschwinden denken musste.

Discover Nepal-Tours, hatte sich die Stimme gemeldet. Die Reiseagentur musste ihren Sitz in Nepal haben. Anders ließ sich die Zeit des Anrufs nicht erklären. Elisabeth glaubte zu wissen, dass der Zeitunterschied zu Deutschland ungefähr fünf Stunden betrug, genau konnte sie sich nicht erinnern. Norbert, ihr Ehemann, weihte sie schon längst nicht mehr in seine Reisepläne ein, aber sie hätte auch gar nichts darüber wissen wollen. Seit er sie verlassen hatte, wollte sie überhaupt nichts mehr von ihm wissen. Zumindest nicht von ihm direkt. Über ihre Tochter Lena informierte sie sich manchmal, was er gerade plante oder tat. Dass er wieder einmal in Nepal unterwegs war, in diesem Land, das er als seine zweite Heimat betrachtete, wusste sie. Lena hatte sich furchtbar aufgeregt, dass ihr Vater so kurz nach dem Erdbeben in eine Region fahren wollte, die noch immer als hoch gefährdet eingestuft wurde. Viele Teile des Landes waren verwüstet und er hatte sich ausgerechnet auch noch das Gebiet des Epizentrums der Katastrophe ausgesucht.

Norbert hatte die Bedenken seiner Tochter genauso weggewischt wie die Sorge seiner Geliebten. Er war sich sicher, dass sein Vorhaben ungefährlich war und wollte unbedingt selbst Hilfsgüter in die Region bringen. Mit mehreren Koffern Übergepäck brach er auf; die Bitten von Sara und Lena, doch noch ein paar Monate zu warten, konnten ihn nicht umstimmen.

Was war geschehen? Wie konnte jemand in einer Reisegruppe verlorengehen? Oder war er gar nicht in einer größeren Gruppe gereist? Norbert hatte schon oft über eine Agentur gebucht und war dann trotzdem mit zwei oder drei Trägern allein losgezogen.

Sie wählte seine Handynummer, die noch immer in ihrer Telefonliste gespeichert war. Nichts. Kein Empfang. Oder die Nummer war nicht mehr aktuell. Während seiner vorherigen Trekkingtouren war ihr Mann auch selten erreichbar gewesen. In den Bergen des Himalaya war das keine Besonderheit. Aber dieser erfolglose Versuch verlieh seiner Unerreichbarkeit neue Bedeutung.

In den nächsten Stunden begab sie sich auf Spurensuche. Sie durchforstete seine alten Ordner, die noch immer sorgfältig aufgereiht in seinem Arbeitszimmer neben dem Computer standen. Er hatte seine Reisen nach Jahren geordnet; bis 2010 waren es jährlich zwei bis drei dicke Ordner. Danach gab es keine mehr. Im Januar 2011 war er ausgezogen. Die alten Akten hatte er zurückgelassen. »Du kannst sie entsorgen, ich brauche sie nicht mehr«, hatte er gesagt. Sie hatte es auf später verschoben.

Das Arbeitszimmer blieb in Elisabeths Denken immer sein Arbeitszimmer. Er hatte in den folgenden Jahren nie Anstalten gemacht, dieses Büro zu räumen. Als könnte er sich damit den Anspruch erhalten wieder zurückzukommen. Norbert neigte dazu, sich selbst zu belügen oder zumindest weigerte er sich beharrlich, Tatsachen zu schaffen.

In einem der Ordner fand sie die Adresse und Telefonnummer des Reisebüros mit Sitz in Kathmandu. Allerdings konnte sie dort nur auf den Anrufbeantworter sprechen. Sie wurde von einer freundlichen Stimme in englischer Sprache darauf hingewiesen, dass das Reisebüro Discover Nepal-Tours leider nicht ständig besetzt sei. Mittlerweile zeigte das Zifferblatt ihrer Uhr vier Uhr dreißig.

Elisabeth wusste, dass ihre Tochter dort im vergangenen Jahr ebenfalls eine Reise gebucht hatte. Sie würde ihr weiterhelfen können. Doch zu dieser Uhrzeit konnte sie nicht anrufen und würde bis zum Morgen ausharren müssen.

Ohne eine Minute Schlaf verbrachte sie die Wartezeit mit viel zu vielen Tassen Kaffee, einer halben Packung Zigaretten und einer Tafel Halbbitterschokolade. Sie hatte unbeschreibliche Gelüste auf Nougatschokolade, aber ihre Suche in den Vorratsregalen blieb vergeblich. Gähnende, selbstauferlegte Leere, bis auf eine angebrochene Packung Halbbitterschokolade, die sie eigentlich gar nicht mochte.

Als sie Lena um acht Uhr morgens am Telefon erreichte, war diese trotz der frühen Stunde wie immer im Stress. Sie hatte schon am Computer gesessen und gearbeitet. Zwischen ihren Worten hörte sie Lenas Baby brabbeln und glucksen, dann zärtliches Gemurmel ihrer Tochter.

»Was meinst du mit ›verloren gegangen‹?«, fragte sie. Genau wie Elisabeth wusste sie nichts Konkretes damit anzufangen.

»Ich rufe später Sara Westermeier an«, sagte sie nach kurzem Zögern zu Elisabeth, »sie wird auf jeden Fall wissen, wen wir kontaktieren müssen, um eine vernünftige Auskunft zu bekommen. Jetzt ist sie sicher gerade auf dem Weg zur Arbeit. Sie würde sich nur unnötig aufregen.«

Sara Westermeier war Norberts Kollegin im Reise-und-Abenteuer-Verlag, für den er seit Jahren Reportagen schrieb. Und sie war seine Lebensgefährtin. Die beiden hatten in den vergangenen vier Jahren viele Fahrten gemeinsam unternommen und waren auch ein paar Mal zusammen in Nepal unterwegs gewesen. Sie unternahm mit ihm die Reisen, die Elisabeth immer abgelehnt hatte, war ihm vielleicht genau die Partnerin geworden, die er sich wünschte.

Sara war diesmal nicht mitgefahren, weil sie im siebten Monat schwanger war. Elisabeth erfuhr davon erst vor ein paar Wochen. Sie verdaute die Tatsache, dass ihr Exmann noch einmal Vater werden würde, bis heute nicht. Nach ihrer eigenen zweiten Schwangerschaft, die mit einem Abgang endete, lehnte er es rigoros ab, noch ein weiteres Kind mit ihr zu bekommen. Und jetzt, nachdem er gerade Großvater geworden war, machte er dieser Frau ein Kind. Elisabeth war konsterniert. Ihre Tochter, selbst gerade erst Mutter geworden, reagierte ebenfalls ziemlich betreten. Ihre Verteidigungsrede für den Vater fiel mühsam und lahm aus, kein flammendes Plädoyer, wie sonst üblich, wenn Elisabeth sein Tun kritisierte.

Elisabeth und Sara hatten keinen Kontakt zueinander, sie vermieden jedes Zusammentreffen. Die Beiden trennte zu viel, um sich zu tolerieren: Die Liebe zum selben Mann, fünfzehn Jahre Altersunterschied und unterschiedliche Lebenseinstellungen. Am meisten verübelte Elisabeth der Jüngeren, dass sie es geschafft hatte, Norbert wieder glücklich aussehen zu lassen. In den tristen letzten Jahren ihres gemeinsamen Ehelebens war es ihr, trotz mehrfacher Versuche, nicht mehr gelungen, ihn auch nur einmal zum Lachen zu bringen. Als Elisabeth ihn zum ersten Mal an Saras Seite erlebte – es war auf der Geburtstagsfeier von Freunden –, versprühte er so viel Daseinsfreude, dass sie vor Wut schon um zehn Uhr nach Hause gegangen war. Seitdem vermied sie Zusammentreffen und erkundigte sich schon im Vorfeld, ob die Beiden auch eingeladen waren. Aber Sara würde wissen, wo er sich gerade aufhielt und diesen lächerlichen Irrtum des Verlorengehens aufklären.

Als Elisabeth das Gespräch mit ihrer Tochter beendet hatte und den Hörer auflegte, hatte sie sich wieder soweit beruhigt, dass sie erst einmal unter die Dusche ging und sich sorgfältig zurechtmachte. Sie hasste es, den Tag nicht nur unausgeschlafen, sondern auch ungepflegt zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt dachte sie noch, alles würde sich aufklären und könnte höchstens ein lächerliches Missverständnis sein. Verlieren konnte man Gegenstände, Erinnerungen oder Gefühle. Aber ganz sicher nicht einen Mann, der schon seit vielen Jahren exotische Länder bereiste, ohne jemals in Schwierigkeiten geraten zu sein.

Einige Stunden später gab es jedoch eine andere Gewissheit. Um elf Uhr klingelten zwei Polizisten an ihrer Tür. Sie wussten nicht, dass sie bereits einen Anruf aus Nepal erhalten hatte und waren beauftragt, Elisabeth Wagner schonend mitzuteilen, dass ihr Ehemann verschwunden war. Sie hatten am Vortag einen Anruf der nepalesischen Botschaft erhalten mit der Bitte, die nächsten Angehörigen in Deutschland zu benachrichtigen. Norbert Wagner galt offiziell als vermisst. Aber dieses Vermisst oder Verloren war nur eine Umschreibung für Tod. Die Umstände seines Verschwindens waren nicht eindeutig zu klären, da er allein unterwegs gewesen war. Natürlich hatte er ein paar Träger und einen Führer angeheuert, aber er hatte sich keiner Reisegruppe angeschlossen, sondern wanderte allein auf dem Rundweg um den Manaslu.

Er verließ das Zeltlager seiner Ein-Mann-Trekkinggruppe am Morgen. »Ich will ein paar Aufnahmen machen, wenn die ersten Sonnenstrahlen in die Schlucht fallen«, sagte er zu einem Deutschen, der ebenfalls so zeitig unterwegs war. Sie hatten sich am Vortag auf ihrer Wegstrecke getroffen und ihr Lager am Abend nebeneinander aufgeschlagen. Norbert wolle den am Vortag gegangenen Pfad ein Stück weiterlaufen, fotografieren und dann wieder zurück sein, bevor es Zeit wurde, zur geplanten Tagesetappe aufzubrechen, hatte er noch hinzugefügt.

»So früh?«, brummte der andere schlaftrunken und schüttelte den Kopf. Er war auf dem Weg zum Toilettenzelt und hatte nur die schnelle Rückkehr in seinen warmen Schlafsack im Sinn. Sie befanden sich immerhin schon auf über 2000 Metern Höhe und in den Morgenstunden war es empfindlich kalt.

»Du bist ein Langschläfer! Der frühe Vogel fängt den Wurm. Außerdem habe ich verdammt schlecht geschlafen diese Nacht. Ich muss meinen Kopf freilaufen.«

»Der frühe Vogel kann mich mal.«

Das war die letzte Unterhaltung, die Norbert Wagner führte. Sie war wenig aufschlussreich. Nichts, was auf sein Verschwinden hingedeutet hätte.

Niemand machte sich Sorgen um ihn, denn seine angeheuerten Träger wussten, dass er ein versierter Bergwanderer war. Erst als die Zelte abgebaut und sorgfältig verpackt waren und alle abmarschbereit mit ihren Rucksäcken auf dem Rücken warteten, schickte man einen Sherpa* auf den Weg, um nach ihm zu suchen. Dieser kam nach einer Stunde ergebnislos zurück. Von Norbert fehlte jede Spur.

Seine Begleitmannschaft und Männer aus dem Dorf schwärmten aus und durchforsteten jeden Winkel des Gebietes, in dem er fotografieren wollte. Eine Mütze, die vielleicht ihm gehörte, hing an einem der dornigen Sträucher, die den Weg säumten. Sie war wohl dorthin geweht worden und hatte sich im Gestrüpp verfangen. Ansonsten fand der Suchtrupp keinen weiteren Hinweis.

Erst gegen Abend entdeckte ein Junge aus dem Dorf, der nach einer verirrten Ziege suchte, tief unten in der Schlucht, wo die Wassermassen des Budhi Gandaki* tobten, etwas Rotes, von dem sie annahmen, dass es Norbert Wagners Anorak sein könnte. Hinunterzusteigen und nachzuschauen, ob sie mit der Vermutung recht haben könnten, war völlig aussichtslos, das Gelände war an dieser Stelle viel zu steil und unwegsam. Die Menschen hatten – gerade am Ende der herbstlichen Regenzeit – großen Respekt vor dem reißenden Strom und seiner tödlichen Gefräßigkeit. Die Bewohner dieser unwirtlichen Gegend hatten sich noch nicht von den Schrecken des Erdbebens erholt, das viele ihrer Häuser vor ein paar Monaten zerstört hatte. In fast allen Familien waren Tote zu beklagen, viele Alte und Kinder waren in diesen Mittagsstunden, in denen sich die Naturkatastrophe ereignete, gestorben. Niemand wollte wegen eines Touristen weitere Leben aufs Spiel setzen. Aber der Fund bestätigte zumindest die Befürchtungen, die sie schon gehabt hatten.

Norbert Wagner wurde als verloren gemeldet, die Träger machten sich auf den Rückweg nach Kathmandu. Ihre größte Sorge galt der Bezahlung, denn sie hatten Familien zu ernähren, die auf ihr mageres Gehalt als Träger angewiesen waren. So früh im Jahr, bevor die Regenzeit zu Ende ging, war es selten, dass sie Arbeit fanden. Und in diesem Jahr, in dem die Erde Nepals noch immer nicht zur Ruhe gekommen war, wagten sich nur wenige Touristen ins Land. Die Männer hatten geglaubt, besonders vom Glück begünstigt zu sein, als Norbert Wagner sie angeheuert hatte. Jetzt mussten sie versuchen, über die Reiseagentur Discover Nepal-Tours wenigstens einen Teil des Lohnes ausgezahlt zu bekommen. Nach ihren bisherigen Erfahrungen standen die Chancen dafür schlecht. Es gab keinen Arbeitsvertrag, der ihre Rechte absicherte, und wenn es schlecht lief, würde man ihnen die Schuld am Absturz des Ausländers geben.

Keiner von ihnen dachte zu diesem Zeitpunkt daran, Norbert Wagners Familie in Deutschland über das Unglück zu unterrichten. Erst drei Tage später erhielt Elisabeth Wagner den Anruf, der sie an das Rauschen des Meeres erinnerte und ihr geruhsames Leben durcheinanderbrachte. Auch wenn sie mit Norbert schon seit Jahren nicht mehr zusammengelebt hatte, war sie seine legitime Ehefrau. Sie hatten sich nicht scheiden lassen, hatten sich nur in gegenseitigem Einvernehmen nach mehr als zwanzig Ehejahren für getrennte Wohnungen und getrennte Leben entschieden. Sein Tod verband zumindest ihr Leben wieder mit seinem Sterben.

Zwei Dinge wollten Elisabeth in den Tagen und Wochen danach nicht aus dem Kopf gehen: Zum einen, dass Norbert nur mit ein paar Trägern auf Trekkingtour ging, also ohne eine Gruppe. Auch wenn er Lebensmittel und Kleidung mitgenommen hatte, um sie in dieser entlegenen Gebirgsregion an Bedürftige zu verteilen oder wenn er glaubte, selbst Hilfe in einem der von der Außenwelt so gut wie abgeschnittenen Dörfer leisten zu können, warum um alles in der Welt war er nicht mit einer gut organisierten Mannschaft und einem professionellen Führer aufgebrochen? Zwar hatte sie ihren Mann, solange sie zusammenlebten, als abenteuerfreudigen Menschen gekannt, als jemanden, der sich gern auf ein Wagnis einließ, aber nicht als einen Menschen, der leichtsinnig sein Leben aufs Spiel setzte. Was hatte ihn bewogen, allein zu einer vierzehntägigen Wandertour aufzubrechen? Auf Wegen, die durch das Erdbeben und nachfolgende Erdrutsche schwer zugänglich und keineswegs einfach zu bewältigen waren. Und zum anderen konnte sie nicht glauben, dass er vor Beginn seiner Wanderung drei Wochen in einem buddhistischen Kloster verbracht hatte. Sie bezweifelte es, bis Sara Westermeier ihr überzeugend versicherte, dass er bereits mehrmals Gast in diesem Kloster gewesen sei und diesen Ort als seine zweite Heimat bezeichnete. Was hatte ihren Mann, der jede Form von Religion als Selbsttäuschung ansah, dazu bewogen, einen Teil seines Urlaubs mit Meditieren zu verbringen?

Elisabeth diskutierte diese Umstände lang und ausgiebig mit ihrer Tochter und im engen Kreis der besten Freundinnen, aber sie konnten zu keinem befriedigenden Ergebnis kommen.

»Papa war ständig auf der Suche nach dem Sinn des Lebens«, behauptete Lena und brachte damit ihre Mutter zum Grübeln, warum ihr dies in den Jahren ihrer Ehe nie wirklich bewusst geworden war. Und ihre beste Freundin Silvia fasste die Endlosdebatten darüber mit der Feststellung zusammen: »Norbert hat schon immer anders getickt als wir alle. Mein Mann würde eher auf Geburtstagsgeschenke verzichten und dafür Geld an Hilfsorganisationen spenden, als auch nur in Erwägung zu ziehen, Urlaub in einem der ärmsten Länder der Welt zu machen. Und ich selbst bekomme schon Albträume, wenn ich nur daran denke, dass ich nachts aufwachen würde und mein Bett wackelt oder die Wände um mich herum brechen zusammen. Natürlich sollte für die Erdbebenopfer gespendet werden, aber gleich selbst hinfahren ist wirklich ein bisschen übertrieben.«

»Please sign the declaration.« Der junge Mann reichte Elisabeth Wagner ein DIN A4-Blatt und deutete auf die Zeile rechts unten, wo ihre Unterschrift erwartet wurde. Er trug ein rostrotes buddhistisches Mönchsgewand, eine dunkelgetönte Brille, die ihm ständig von der Nase rutschte, und an den Füßen ausgetretene, schwarze Badeschlappen aus Plastik mit pinkfarbenem Aufdruck I like Miami Beach. Die kurzgeschorenen Haare lagen wie eine schwarze Kappe auf seinem runden Kopf. Er war gut genährt, ohne dick zu sein, und hatte das gesunde Aussehen eines jungen Mannes, der in seiner Freizeit Sport treibt oder sich zum Arbeiten im Freien aufhält.

Unter einem buddhistischen Mönch hatte sich Elisabeth immer einen asketischen Intellektuellen vorgestellt, der in Meditationen versunken seinen Alltag verbrachte. Diese Vorstellung musste sie schon bei ihrer Ankunft revidieren. Eine Gruppe von sechs jungen Männern in rostroten Gewändern stand am Eingangstor. Sie sahen, bis auf die Brille, alle ähnlich aus wie der jetzt vor ihr Stehende. Sogar die Badelatschen waren identisch – vermutlich die Sachspende eines amerikanischen Sportherstellers. Unter den rostroten Gewändern lugten bedruckte T-Shirts hervor, die wohl ebenfalls aus Spenden stammten. Live bio und Love me tender konnte sie im Vorbeigehen entziffern. Das uneinheitliche Aussehen der Kleidung war offensichtlich der mageren Finanzlage des Klosters geschuldet.

Ihre Unterhaltung klang fröhlich, sie lachten ausgelassen und klatschten sich gegenseitig auf die Oberarme, wohl als Zeichen des Einverständnisses oder der Freude. Sie wirkten nicht anders als eine Clique von Jugendlichen, die sich in München in der Fußgängerzone oder am Marienplatz trafen und gut gelaunt Belanglosigkeiten austauschten. Als Elisabeth die Tür des Taxis öffnete, wurde ihr ein freundliches Tashi delek* entgegengerufen, ein Willkommensgruß auf Tibetisch. Dann widmeten sie sich wieder ihrer Unterhaltung.

Die Rezeption des buddhistischen Klosters Karuna entsprach mehr Elisabeths Vorstellungen von einem Hotel, als denen eines Klosters. Sie hatte düstere, schlichte Räume erwartet und war von der hellen, modernen Einrichtung überrascht. Zumindest die Ausstattung im Empfangsbereich entsprach ihren europäisch geprägten Vorstellungen von einem angenehmen Urlaubsaufenthalt, alles andere, was sie bisher von Nepal gesehen hatte, war eher deprimierend gewesen. Das Lächeln des Mönches, der an der Rezeption arbeitete und ihre Daten im Computer abrief, war freundlich wie das der jungen Mönche am Eingang. Er strahlte für sein Alter – Elisabeth schätzte ihn auf höchstens dreißig Jahre – eine ungewöhnliche Autorität aus. Noch einmal deutete er mit Nachdruck auf die Stelle, an der sie unterschreiben sollte.

Während meines Aufenthaltes verpflichte ich mich, folgende Klosterregeln einzuhalten:

Keine Tötung

Kein Diebstahl

Keine Lügen

Kein sexuelles Verhalten

Keine Einnahme von bewusstseinsverändernden Substanzen (Drogen, Alkohol, Tabak)

Respektieren Sie die Mönche und ihre Gelübde und lenken Sie sie nicht von ihren Studien ab.

Bitte tragen Sie keine freizügige Kleidung wie durchsichtige Blusen, kurze Shorts oder Miniröcke.

Das Verwenden von Handys und Smartphones ist nicht verboten, aber wir bitten Sie, diese nur bei äußerster Wichtigkeit zu nutzen.

Elisabeth Wagner hasste es, sich einengen zu lassen. Wollten sie hier im Kloster wirklich von ihr eine Unterschrift unter dieses Dokument? Glaubte hier einer, sie könnte mit freizügiger Kleidung einen Mönch von seinen Studien ablenken? Verschwommen sah sie ihr Spiegelbild in den Scheiben des geschlossenen Fensters, sah eine mittelgroße, leicht füllige Frau mit kurzgeschnittenen, weiß gesträhnten Haaren, die leicht nach vorn gebeugt und schwankend vor Müdigkeit nichts anderes im Sinn hatte, als endlich ihr Zimmer zu beziehen und sich auszuruhen von den Strapazen dieser nicht enden wollenden Reise. Sie spürte eine Hitzewoge in sich aufsteigen und hoffte, dass sie nicht gleich wieder klatschnass geschwitzt und mit hochrotem Kopf dastehen würde. Immer genau zum falschen Zeitpunkt überfielen sie diese seltsamen Anwandlungen, ihr Körper machte sich offensichtlich einen Spaß daraus, sie in aller Öffentlichkeit im Stich zu lassen. Sie wischte sich mit dem Halstuch Schweißperlen von der Stirn und versuchte, tief und ruhig in den Bauch zu atmen.

Ihre Freundin Silvia hatte sie für verrückt erklärt, dass sie sich überhaupt auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, und im Moment konnte sie auch keine vernünftige Erklärung dafür finden. Sie sehnte sich nach Hause, nach vertrauter Umgebung und einem Menschen, mit dem sie die exotischen Eindrücke besprechen konnte, die seit Stunden auf sie einstürmten.

Vor einer Viertelstunde war sie im Kloster Karuna, auf einem Berg hoch über Kathmandu, angekommen. In dem Kloster, das ihr Exmann als den friedlichsten Ort der Welt beschrieben hatte, und in dem er sich anscheinend wohler gefühlt hatte als in ihrem gemeinsamen Haus in Erding und wahrscheinlich auch wohler als in der hübschen Zweizimmerwohnung in Schwabing, die er mit Sara Westermeier bewohnte.

Dass deren Wohnung gemütlich war, wusste sie erst seit ein paar Wochen. Das Regeln von Formalitäten und die Besprechung dieser unwirklichen Situation, in der sie gemeinsam gefangen waren, hatte mehrere Treffen mit der Lebensgefährtin ihres verschwundenen Mannes unumgänglich gemacht und Elisabeth war es lieber gewesen, in Saras Wohnung zu kommen, als diese in ihr eigenes Haus einzuladen. Eine Art Schutzreaktion, als könne sie damit die neue Partnerin ihres Mannes aus dem eigenen Leben ausschließen.

Auf seinen wochenlangen Reisen durch die Berge des Himalaya hatte Norbert in den vergangenen Jahren immer ein paar Tage Station im Kloster Karuna gemacht, hatte diesen Ort als seine zweite Heimat bezeichnet.

Nach einer abenteuerlichen Schlaglöcherfahrt über die staubigsten Straßen, die Elisabeth in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte, war auch sie froh, in die Abgeschiedenheit des Klosters eintauchen zu können. Kathmandu machte den Eindruck einer riesigen Baustelle. Überall waren die Menschen damit beschäftigt, wieder aufzubauen, was das Erdbeben am 25. April 2015 zerstört hatte. An diesem Tag und durch die Nachbeben, die das Land in den Tagen und Wochen darauf erschüttert hatten, waren über eine halbe Million Häuser zerstört worden. Neuntausend Menschen waren durch diese Katastrophe ums Leben gekommen und viele tausend Menschen lagen noch immer mit schweren Verletzungen in überfüllten Krankenhäusern.

Der prächtige Bau des Klosters Karuna, der auf einem Bergrücken hoch über der Stadt thronte und schon von weitem sichtbar war, erinnerte an eine uneinnehmbare Festung. Dennoch gab es auch hier in vielen Wänden Risse, mussten einige der Gebäude abgerissen werden, weil sie einsturzgefährdet waren. Trotz dieser Schäden wirkte das Kloster wie ein abgeschottetes Paradies, umgeben von einem Meer aus Armut. Es erinnerte Elisabeth an die Prachtbauten der katholischen Kirche, die auch oft durch ihren exponierten Sitz imponierten. Sie musste bei dem Anblick an Vierzehnheiligen und Kloster Banz denken. Zwei christliche Kirchen, die sie erst im Sommer auf einer Fahrradtour durch das Maintal besichtigt hatte. Auch sie standen alles überragend und weit sichtbar über den Siedlungen, sollten durch ihren Prunk auf die Größe Gottes und der Kirche hinweisen. Vielleicht waren sie ein Zeichen der Verehrung, auf jeden Fall aber eine Machtdemonstration.

Draußen vor den Toren des buddhistischen Klosters gab es enge, holprige Straßen voller bunt gekleideter Menschen, die sich zu Fuß, auf rostigen Fahrrädern, in abenteuerlich aussehenden Rikschas oder total überfüllten Bussen fortbewegten. Viele der Einheimischen trugen einen Mundschutz oder hielten sich Tücher vor das Gesicht wegen der atemberaubend schlechten Luft und dem Staub, der alles in einem diffusen Licht erscheinen ließ, obwohl am Himmel keine Wolken zu sehen waren und die Temperaturen in der Mittagszeit um die dreißig Grad betrugen. Über allem lag ein Gestank aus Abgasen, Fäulnis und Exkrementen, der die Augen tränen und die Nasen laufen ließ, zum Husten reizte und schon nach wenigen Minuten Kopfschmerzen verursachte.

Niemals hätte Elisabeth geglaubt, sich einmal in Nepal wiederzufinden, mit zwei viel zu schweren Koffern, nach zwanzig Stunden Reisezeit, in diesem Land, dass sie immer abgelehnt hatte und dem sie auch in diesem Moment nichts abgewinnen konnte. Nepal hatte ihr den Ehemann entfremdet, vielleicht sogar geraubt, lange bevor er in den Bergen verloren gegangen war.

Noch immer begriff sie nicht, warum ihre Tochter sie zu dieser Reise überredet hatte. Warum war es Lena so wichtig?

Glaubte sie wirklich, es gäbe hier Spuren ihres Vaters zu verfolgen? Welchen Zugang zu Norbert sollte sie hier noch entdecken, wo sie doch in den vergangenen Jahren keinen Weg mehr zu ihm gefunden hatte? Als würde mit dem Besuch dieses Landes etwas ungeschehen oder rückgängig gemacht werden können. Ausgerechnet Nepal, das so gar nicht ihren Urlaubserwartungen entsprach und auch nie entsprochen hatte. Sie hatte sich stets erfolgreich gegen das Mitkommen gewehrt, hatte ihren Ehemann immer allein in seine Bergabenteuer ziehen lassen. Und er war damit einverstanden gewesen, hatte diese Alleingänge geliebt, auch wenn er oft versucht hatte, sie zum Mitkommen zu überreden. Aber jeder Ort, der weiter entfernt von München lag als der Gardasee, war für Elisabeth schon immer inakzeptabel. Sie hasste es, weite Strecken im Auto zu fahren und hatte Angst vor dem Fliegen. Deshalb waren weder Neapel noch Nepal Reiseziele, die sie ins Auge fasste.

Am liebsten war sie zu Hause. Das gemütliche Bauernhaus am Rand von Erding mit dem gepflegten Garten voller Nutzbeete und Rosensträucher, dazu Nachbarn, die sie seit fast dreißig Jahren kannte und schätzte. Mit ihrer Freundin Silvia, die nur zwei Straßen weiter wohnte, traf sie sich mehrmals die Woche. Sie tauschten Kochrezepte aus, verarbeiteten gemeinsam die Früchte ihres Gartens zu Kompott und Marmelade und suchten nach Lösungen, wenn ihre Blumen nicht so gediehen, wie sie es sich wünschten. Aber sie waren auch füreinander da, als ihre Kinder mit Mumps und Scharlach fieberten und nicht in die Schule gehen durften. Sie hörten sich gegenseitig zu, wenn ihre Ehemänner keine Zeit oder kein Verständnis für die täglichen Kümmernisse hatten. Stundenlang putzten sie gemeinsam, als ein Wasserrohrbruch Silvias Keller unter Wasser setzte, und stundenlang lauerten sie reglos vor einer Lebendtierfalle, als sich eine Maus hinter Elisabeths Küchenzeile verirrte. Es waren keine großartigen Erlebnisse, die sie zusammenschweißten, sondern das Meistern ihres Alltags.

Die Liste war lang und trug dazu bei, dass sich zwischen ihnen eine enge Freundschaft entwickelte. Die meisten Widrigkeiten und Freuden der letzten Jahre hatte Elisabeth mit Silvia geteilt, sie zu Rate gezogen und oft auch auf sie gehört. Zuletzt zeichneten sie gemeinsam einen Plan, wie sie die Rasenfläche hinter ihrem Haus für Nele gestalten könnten. Im nächsten Frühjahr wollte Elisabeth unter dem Apfelbaum einen Sandkasten aufstellen und in die starken Äste des Birnbaums eine Schaukel hängen. Das Jauchzen und Lachen ihrer Enkeltochter beim Spielen würde den Garten mit noch mehr Leben füllen.

Elisabeth war glücklich und zufrieden am Rande der kleinen Stadt, wo sie ihre Wurzeln hatte und sich geborgen fühlte. Weite Reisen brauchte sie nicht, um ihr Leben zu bereichern. Viel wichtiger war ihr das Zusammensitzen mit Menschen, die sie gut kannte, wenn möglich auf der Terrasse im Freien, mit Blick auf ihre Blumenbeete oder in der kühlen Jahreszeit in ihrem Wintergarten, der zumindest gefühlt den Sommer verlängerte und ihr das Gefühl mediterraner Leichtigkeit gab. Außerdem missfiel ihr der Gedanke, auf die heimische Küche verzichten zu müssen. Das Gemüse aus dem eigenen Garten oder selbstgesuchte Pilze zu verarbeiten, war für Elisabeth ein reines Vergnügen.

Darum erfüllte sie schon allein die Vorstellung, in den nächsten Tagen auf Gedeih und Verderb einer exotischen Klosterküche ausgeliefert zu sein, mit Unbehagen. Warum hatte sie sich nur von ihrer Tochter zu dieser Reise überreden lassen?

»Kannst du nicht einmal den Kopf aus deinem behaglichen Schneckenhaus rausstrecken und dich auf etwas einlassen, dass nicht bis ins letzte Detail planbar ist?«, hatte Lena sie provoziert.

»Ich liebe dieses Schneckenhaus und lebe sehr gemütlich darin«, hatte sie geantwortet und dafür einen Blick geerntet, der vor Verachtung triefte.

»Du merkst nicht einmal, wie langweilig dein Leben ist.« Lena hatte sie mit dieser Bemerkung absichtlich verletzt. Wie so oft.

Elisabeth seufzte. Eigentlich war sie nicht hier, um ihren Mann wiederzufinden, sondern um ihre Tochter zufriedenzustellen. Oder vielleicht doch, weil sie herausfinden wollte, ob ihre schon so lang verlorengegangene Liebe zu ihm wirklich an diesem Land zerbrochen war? Oder war sie auch ihrem Mann einfach nur zu langweilig geworden? Immer öfter hatte sie sich in letzter Zeit diese Frage gestellt. Wohl auch, weil sie ihr Leben selbst mehr und mehr als eintönig empfand. Sie gestand es sich zwar nur selten ein, aber insgeheim gab sie ihrer Tochter recht.

Es waren jetzt genau zwei Monate vergangen seit ihrem fünfzigsten Geburtstag. Niemals hätte sie geglaubt, in der zweiten Lebenshälfte in eines der ärmsten Länder der Welt zu fliegen. Es war ihr immer unverständlich, dass es Menschen gab, die umgeben von Krankheit und Armut entspannt Urlaub machen konnten. Nicht, dass sie das Elend, das in vielen Ländern der Erde herrschte, ignorierte und meinte, es ginge sie nichts an. Sie gehörte zu den Menschen, die sich täglich durch das Hören von Nachrichten im Fernsehen und durch das Lesen der Tageszeitung über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen informierte. Im Freundeskreis diskutierte sie oft und ausgiebig, was getan werden könnte, um die Welt gerechter zu gestalten. Der Verbleib Griechenlands in der Eurozone, die Krisenherde im Nahen Osten, der Vormarsch der selbsternannten Gotteskrieger im Irak, Terroranschläge in Europa und der Flüchtlingsstrom in die EU waren in den vergangenen Wochen ständiges Gesprächsthema bei Treffen mit ihren Freunden, bescherten ihr zusätzlich zur Abneigung gegen lange Flugreisen Angst vor den Bedrohungen in fremder Umgebung. Gleich nach dem verheerenden Erdbeben spendete sie einen hohen Betrag an eine Organisation, die sofort Ärzte nach Nepal geschickt hatte, um Hilfe zu leisten. Ein paar Wochen lang wurde immer wieder über Nachbeben in den Medien berichtet, verbunden mit der Nennung von Spendenadressen. Aber im Laufe des Sommers hörte man nichts mehr davon. Die Zeitungen wandten sich wieder anderen Themen zu. Anhaltende Bahnstreiks und eine Hitzewelle im August erregten die Gemüter. Im Herbst waren die täglichen Nachrichten von der ungeheuerlichen Flüchtlingswelle und den damit verbundenen Hilfsmaßnahmen bestimmt. Deutschland und seine Bewohner waren mit der Beschaffung von Wohnraum und Lebensmitteln für tausende Menschen beschäftigt, die dringend Hilfe benötigten. Die fast neuntausend Toten und viele tausend Verletzte im weit entfernten Nepal gerieten in Vergessenheit. Wenn Elisabeth versuchte, das Gesprächsthema bei ihren Freunden darauf zu lenken, bemerkte sie in letzter Zeit, dass deren Mienen Ungeduld oder Langeweile verrieten. Sie ging ihnen fast ein bisschen auf die Nerven damit. Sie wusste selbst nicht genau, warum dieses Land sie nicht mehr loslassen wollte.

Jetzt, Anfang Oktober, erntete sie normalerweise das Lauchgemüse in ihrem Garten. Wie schön wäre es, die letzten Tomaten vor dem ersten Frost zu retten, vielleicht mit dem Umgraben der Beete zu beginnen und leuchtend rote Äpfel von den Bäumen zu pflücken, um sie im Keller für den Winter einzulagern. Der Oktober war ihr immer schon einer der liebsten Gartenmonate gewesen, zeigte er doch noch einmal die ganze Schönheit der Natur. Die Reise nach Nepal raubte ihr in diesem Jahr auch noch die Freuden der Erntezeit. Fast drei lange Wochen, in denen ihr Garten nur notdürftig von der Nachbarin versorgt wurde. Leider war auch Silvia vor Elisabeths Abreise nicht verfügbar, um alle Widrigkeiten ausführlich zu besprechen. Ihre auf Mallorca lebende Tochter brauchte sie dringend zum Babysitten, da diese ihr drittes Kind erwartete und in den letzten Schwangerschaftswochen stark unter Wassereinlagerungen litt, die sie dazu zwangen, sich viel auszuruhen und die Beine hochzulegen. Natürlich flog die Freundin sofort hin, da sie sowohl ihre Tochter als auch die Enkelkinder vergötterte. Auch für Elisabeth war ihre kleine Enkeltochter Nele das größte Glück. Sie war, wie die meisten Großmütter, vollkommen verrückt nach diesem winzigen Wesen, das ihrer eigenen Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war und sie jeden Tag mehr entzückte. Vielleicht würde der kleine Wicht bei ihrer Rückkehr schon krabbeln können und sie versäumte einen wichtigen Entwicklungsschritt.

Ob Norbert ebenso begeistert von seiner Enkelin war, wusste Elisabeth nicht, dazu hatten sie zu wenig Kontakt. Sie hätte Lena danach fragen können. Aber die Gespräche mit ihrer Tochter waren schwierig, hörte sie doch aus ihren Sätzen viel zu oft Vorwürfe gegen den geliebten Vater heraus. Die flammende Verteidigung Norberts mündete meist in einen Streit. Sie wussten beide, dass Themen, die Norbert betrafen, einem Minenfeld ähnelten und besser nicht angeschnitten werden sollten.

Norbert hielt sich oft im Kloster Karuna auf, wenn er seine Trekkingtouren beendet hatte. Bei seiner letzten Tour reiste er drei Wochen vor Beginn der Wanderung nach Karuna. »Ich will mich im Kloster akklimatisieren. Und gedanklich rauskommen aus dem Alltagstrott und den Problemen zu Hause«, erklärte er Lena und Sara. Dass Letztere nicht mitkommen konnte, weil sie schwanger war, hinderte ihn nicht an der weiten Reise. Sara traf es schwer, dass er sie und ihre Schwangerschaft als Problem sah.

Die drei Frauen in seinem Leben verstanden alle nicht, warum er seinen Alltag in Deutschland so drückend empfand. Denn offensichtlich war er nicht nur von Elisabeths Lebensstil gelangweilt, sondern auch von Saras. Elisabeth wurde von dieser Tatsache überrascht. Sara fand klare Worte, auch Lena gegenüber nahm sie kein Blatt vor den Mund.

»Er war familienuntauglich«, formulierte sie es, »immer auf der Flucht vor Verantwortung.« Als Lena ihr widersprechen wollte, ergänzte sie: »Wann war er denn da, wenn du ihn gebraucht hast?« Daraufhin schwiegen sie alle drei betreten.

Warum konnte Norbert in seiner Heimat und in seinen Beziehungen nicht zufrieden sein? Elisabeth hatte das nie verstanden. Sie war in München geboren und hatte gerne dort gelebt. Das wunderschöne alte Bauernhaus in Erding, nur dreißig Kilometer von München entfernt, hatten sie zur Hochzeit von ihren Eltern geschenkt bekommen. Es lag ruhig, fast schon ländlich anmutend, aber mit Anschluss an die S-Bahn. Wenn sie wollten, konnten sie in einer Dreiviertelstunde am Marienplatz sein, konnten ins Kino und Theater gehen oder am Viktualienmarkt Gemüse und Obst einkaufen. War ihnen mehr nach Ruhe und Beschaulichkeit, hatten sie die Wahl zwischen Spritztouren in die Berge oder Wanderungen entlang der Isar.

Ihr Garten hinter dem Haus war von Anfang an der Bereich, den Elisabeth am meisten liebte. Sie plante schon im Frühling den Anbau der Beete und die Fruchtfolge, legte Vorkulturen an und pflanzte im April und Mai mit Begeisterung und Sorgfalt die zarten Pflänzchen ins Freie. Vielfach versuchte sie, Norberts Blick für die Schönheiten der heimischen Natur zu schärfen. Er bestätigte ihre enthusiastischen Ansichten, jedoch oftmals mit einem abwesenden Gesichtsausdruck, als vergliche er die vor ihm liegenden Dinge mit seinen Eindrücken aus fremden Welten.

Elisabeth verglich auf der Fahrt zum Kloster ihr gepflegtes Wohnviertel mit den heruntergekommenen Häusern Kathmandus und spürte tiefe Dankbarkeit, in Deutschland geboren worden zu sein und ohne eigenes Zutun wohlbehütet leben zu dürfen. Sie wusste den Luxus und die Sicherheit sehr zu schätzen und konnte keinen Grund finden, dieses Leben tauschen zu wollen.

»Wenn du die Wege gehst, die Papa gegangen ist, wirst du ihn besser verstehen. Du hast noch einiges aufzuarbeiten«, hatte Lena zu Elisabeth gesagt, als sie sich doch entschieden hatte, den Sprung zu wagen und nach Nepal zu reisen. Sie behauptete oft, dass ihre Mutter unter der Trennung litt, auch wenn Elisabeth im Stillen glaubte, dass sie damit ihren eigenen unverdauten Umgang mit der Trennung der Eltern meinte. Als Elisabeth sie zweifelnd anschaute, fügte sie hinzu: »Außerdem bist du ihm schuldig herauszufinden, was auf dieser Tour passiert ist. Vielleicht hat sich Papa ja wirklich mit dieser Wanderung unnötig in Gefahr gebracht, aber im Kloster bist du garantiert in Sicherheit. Dort wird dir nichts passieren. Du musst nur einmal über den Schatten deiner Bequemlichkeit springen.« Niemand konnte Elisabeth so gut Schuldgefühle einimpfen wie ihre Tochter. Sie hatte einen unglaublichen Sensor dafür, womit sie ihre Mutter an den empfindlichsten Stellen treffen konnte.

Ihre Tochter war selbst schon zweimal im Himalaya unterwegs gewesen und hatte immer einen ganz besonderen Draht zu ihrem Vater gehabt. Sie nahm ihn stets in Schutz, verteidigte seine Reisen, verstand seine Zuneigung zu einer anderen Frau, die mehr auf ihn einging, und schob die Schuld an der Trennung ausschließlich ihrer Mutter zu. Lena wäre am liebsten selbst nach Nepal gefahren, um zu sehen, was ihrem Vater dort widerfahren war.

Lena war Elisabeth in den letzten Jahren oft genauso fremd wie ihr Ehemann. Gott sei Dank protestierte Neles Kinderarzt energisch gegen eine Reise, weil er es absolut unpassend fand, dass eine Mutter mit ihrem sieben Monate alten Kleinkind in ein Land flog, in dem hygienisch und medizinisch Niedrigniveau herrschte. Diese junge Frau, die einmal ihr heißgeliebtes Baby war, wurde Elisabeth immer unvertrauter, manchmal war es richtig unheimlich, wie breit die Kluft geworden war, die sie voneinander trennte. Lenas Wesensart hätte Elisabeth bei Menschen, die sie nicht liebte, als peinlich beschrieben. Allein deren Art sich zu kleiden war voll und ganz auf Provokation ausgerichtet: Knallenge Leggins oder Pluderhosen, darüber weite, schreiend bunte Blusen oder Kleider wie Zelte, wildgemustert und aus unterschiedlichen Stoffen gemixt. Wenn andere Leute dicke Winterstiefel trugen, verunsicherte Lena ihre Umgebung mit nackten Füßen in Ballerinas, und im Hochsommer konnte es sein, dass es ihr einfiel, Häkelmützen und Schals aus Südamerika zu tragen, um auf die schwierige Situation der Inkas in Peru aufmerksam zu machen. Andrerseits verdiente sie ihr Geld mit Werbedesign. Schrille, verlogene Versprechen, die nie hielten, was sie erzählten. In dieser seltsamen Welt der Kontraste, die sie lebte, wandelte sie fröhlich und hemmungslos. Sie redete wie ein Wasserfall, lachte viel und laut. Ihr Lachen war von einer Art, die einer ihrer Freunde einmal als sensationell beklemmend beschrieben hatte, so wie ein Heuschnupfengeplagter niest, ohne aufhören zu können. Es glich einem Vulkanausbruch: unvorhersehbar, überwältigend und aus heiterem Himmel ausbrechend. Für Elisabeths Geschmack lachte sie zu viel und zu affektiert, aber wer konnte schon ernsthaft etwas gegen ein Lachen vorbringen, ohne als miesepetrig oder pessimistisch zu gelten? Zumal Norbert früher immer in Lenas Lachen mit eingestimmt, es als ansteckend empfunden hatte.

Auch wie Lena mit ihrem Baby umging, fand Elisabeth unpassend. Überallhin schleppte sie Nele mit. Tagsüber war sie zwar in der Obhut einer Kindertagesstätte, aber am Abend wurde sie in ihrer Kindertrage mit auf Partys genommen, schlief im Sommer auf Gartenfesten in Hängematten unter Kastanienbäumen und verbrachte viele Abende auf dem Arm ihrer Mutter, wenn diese in Diskussionsrunden oder bei Festen von Freunden kein Ende fand. Nele war ein geduldiges Kind, das wenig schrie und sich in all der Hektik wohlzufühlen schien. Aber Elisabeth wünschte sich für ihr Enkelkind mehr Kontinuität. Wenn sie Lena darauf ansprach und ihr anbot, die Betreuung mit zu übernehmen, fühlte sich ihre Tochter gegängelt und reagierte beleidigt. Sie schafften es beide nicht, einen normalen Ton in ihre Beziehung zu bringen. Wie eine Mauer standen unausgesprochene Vorwürfe zwischen ihnen.

Norbert liebte seine Tochter immer ohne Vorbehalte. Nie kümmerte er sich viel um sie, aber wenn er da war, akzeptierte er alles, was sie tat, ohne ein Wort der Kritik. Immer war er stolz auf sie, nie hinterfragte er, was sie tat. Vielleicht liebte Lena ihn deshalb auch so bedingungslos? Viel inniger als ihre Mutter, deren Anwesenheit immer selbstverständlich war.

Elisabeth war oft eifersüchtig auf diese Vater-Tochter-Liebe. Auch deshalb fuhr sie nach Nepal. Weil sie ihrer Tochter beweisen wollte, dass sie ihren Mann nicht im Stich gelassen hatte, dass sie keine Mitschuld an seinem Tod trug. Sie wagte es nicht, Nein zu diesem Flug nach Nepal zu sagen, aber sie war sich sicher, dass sie niemals in den unwegsamen Bergen herumstiefeln würde, in denen er sich so wohl gefühlt hatte. Der Aufenthalt im Kloster Karuna war Zugeständnis genug. Deshalb war sie auch sofort einverstanden, als Sara beschloss, ebenfalls mitzukommen. Nach ihrer Fehlgeburt wollte sie sich unbedingt selbst auf die Suche nach Norbert machen. Ihr waren die Berge des Himalaya von früheren Reisen vertraut, sie wollte dort nach seinen Spuren suchen.

Elisabeth erhob keine Einwände dagegen, auch wenn es ihr unangenehm war, mit Norberts Freundin im selben Flugzeug zu sitzen, ihre Anwesenheit ertragen zu müssen und sie nicht, wie sonst so oft, einfach zu ignorieren.