Tod der Schmetterlingsfrau - Heidi Fischer - E-Book

Tod der Schmetterlingsfrau E-Book

Heidi Fischer

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Beschreibung

Marina Bergenbaum ist verzweifelt, als sie vom Tod ihrer Tochter auf Mallorca erfährt. Erst kurz zuvor hat sie eine Postkarte von ihr bekommen, die davon erzählt, dass sie auf der Baleareninsel ihr Glück gefunden hat. Der von der Polizei angenommenen Suizid-Theorie kann sie keinen Glauben schenken. Begleitet von Schuldgefühlen wegen des geringen Kontaktes zu ihr, fliegt sie nach Mallorca und besucht alle Orte, die Roberta wichtig waren, befragt deren Freunde und Bekannte und versucht herauszufinden, was zu ihrem Tod führte. Verwirrende Liebesbriefe, ein Einbruch und ungeklärte Salmonellenvergiftungen in Gourmet-Restaurants halten sie in Atem. Gleichzeitig wird sie gezwungen, ihre menschenscheue Zurückgezogenheit aufzugeben und die Hilfe anderer anzunehmen. Der Roman führt den Leser bei den Ermittlungen nicht nur an idyllische und besuchenswerte Orte der Trauminsel, sondern das Buch enthält im Anhang auch leckere mallorquinische Rezepte.

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Seitenzahl: 321

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Das Buch

Marina Bergenbaum ist verzweifelt, als sie vom Tod ihrer Tochter auf Mallorca erfährt. Erst kurz zuvor hat sie eine Postkarte von ihr bekommen, die davon erzählt, dass sie auf der Baleareninsel ihr Glück gefunden hat. Der von der Polizei angenommenen Suizid-Theorie kann sie keinen Glauben schenken.

Begleitet von Schuldgefühlen wegen des geringen Kontaktes zu ihr, fliegt sie nach Mallorca und besucht alle Orte, die Roberta wichtig waren, befragt deren Freunde und Bekannte und versucht herauszufinden, was zu ihrem Tod führte.

Verwirrende Liebesbriefe, ein Einbruch und ungeklärte Salmonellenvergiftungen in Gourmet-Restaurants halten sie in Atem. Gleichzeitig wird sie gezwungen, ihre menschenscheue Zurückgezogenheit aufzugeben und die Hilfe anderer anzunehmen.

Die Autorin

Heidi Fischer wurde 1954 in Oberfranken geboren, lebte einige Jahre in München, um dann mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern wieder nach Coburg zurückzukehren. Sie arbeitete als Lehrerin, Mutter und Hausfrau und schreibt seit vielen Jahren Gedichte und Kurzgeschichten. Ihre Arbeiten wurden in unterschiedlichen Anthologien und der Literaturzeitschrift Wortlaut veröffentlicht.

Seit ihre jüngste Tochter den Wohnsitz nach Mallorca verlegt hat, ist Heidi Fischer ein Fan der Insel und verbringt mehrere Wochen im Jahr auf der Balearen-Insel.

Bisher erschienen beim Lauinger Verlag | Der Kleine Buch Verlag, Laufmaschen im Strickstrumpf (2013), Wer später stirbt ist länger alt (2015) und Der verlorene Mann (2016).

HEIDI FISCHER

TOD DERSCHMETTER LINGSFRAU

MALLORCA KRIMI

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Lauinger Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement, Umschlaggestaltung, Bildbearbeitung, Satz & Layout: Sonia Lauinger

Korrektorat: Vanessa Gantner, Julia Horn, Karlsruhe

Umschlagabbildung: © stocksnap, Photographer: Boris Smokrovic

Im Satz: Butterfly Landing © Clip arts

Foto Seite 250/251: Heidi Fischer, Fotos Rezepte: pixaby

Druck: Bookpress, Polen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-9128-5

Dieser Titel erscheint auch als E-Book:

ISBN: 978-3-7650-9129-2

http://www.derkleinebuchverlag.de

http://www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag

Manchmal schreibe ichin Gedanken Flügel inden Wind – und fliege

Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREIßIG

EINUNDDREIßIG

MALLORQUINISCHE REZEPTE

PIMIENTOS DE PADRÓN

ALBÓNDIGAS

CHAMPIGNONS

SOBRASADA

AIOLI

PFLAUMEN

FRITTIERTE SARDINEN

PA AMB OLI

FEIGEN MIT SERRANO

TORTILLA MIT CHORIZO

ORANGENTARTE

MANDELKUCHEN

ZITRONENKUCHEN

NACHWORT

Eine aufgeregte Schar von Touristen hatte sich in der idyllischen Bucht von Deià gesammelt. Stimmengewirr in Englisch, Deutsch und Spanisch brummte wie ein aufgeregter Bienenschwarm durch die sonnenwarme Bucht. Polizisten hatten den Bereich des steinigen Strandes abgegrenzt, wo die zugedeckte Leiche gekrümmt am Boden lag. Dahinter standen Menschen zuhauf mit Handy und Fotoapparat im Anschlag. Neugierig vertrieben sie sich die Zeit mit Mutmaßungen über die Todesursache. Erste Journalisten interviewten die dem Tatort am nächsten Stehenden hinter dem weiß-roten Absperrband. Was sie über die Tote wüssten und wer sie gefunden hätte, wollten sie wissen. Feststehende Tatsachen und wilde Spekulationen mischten sich zu einem Brei, der an die Medien weitergegeben wurde.

Die mittlerweile brütende Mittagshitze des frühen Sommers machte es den ermittelnden Beamten nicht einfacher. Es war der zweite Juni und für die Jahreszeit unglaublich heiß.

»Die ist sicher selbst gesprungen! Oder abgestürzt! Da war doch niemand um die Uhrzeit. Typischer Leichtsinn, wahrscheinlich hat sie zu weit am Abgrund gestanden und ist weggerutscht. Vielleicht ist ihr schlecht geworden und sie ist gefallen. So jung! Was sie wohl um diese Uhrzeit hier wollte?«

Alle hatten eine Vermutung, niemand wusste Genaues. Den ungefähren Todeszeitpunkt hatte der Gerichtsmediziner vorsichtig zwischen sechs und sieben Uhr morgens geschätzt.

»Caramba. Qué mierda!«, brummte Comisario José Maria Casas in übelster Laune vor sich hin. Was so viel wie: »Zum Teufel!« oder »So ein Mist!« hieß.

Als er die wenigen Fakten zusammenfügte, die bekannt waren, kam er zu dem Schluss: »Wir sollten nicht so tun, als hätten wir hier einen Tatort. Sieht absolut nicht nach Fremdverschulden aus. Die Touristen sind jetzt schon ganz verrückt. Wir wollen hier gar nicht an einen Mord denken, geschweige denn davon reden.«

Die Cala de Deià ist in den Sommermonaten ein beliebtes Ausflugsziel. Schon zu Beginn der Mandelblüte Ende Februar oder Anfang März wird das steinige Meeresufer vom Unrat befreit, der im Winter angeschwemmt wurde. Einige Zeit später öffnen die beiden Restaurants und die ersten Sonnenanbeter bevölkern den malerischen Flecken, der laut renommierter Reiseführer als wahres Kleinod gilt und zu den schönsten Orten Mallorcas zählt.

»Wer ist die Frau eigentlich?«, fragte einer der Einsatzleute vom Rettungsdienst.

»Eine Bedienung aus dem ›Sole Sóller‹ unten am Hafen in Sóller. Sie war oft morgens früh unterwegs, wanderte oder saß am Meer und zeichnete in ihren Skizzenblock. Immer war sie unterwegs, wenn es die Frau ist, die wir vermuten.« Der Polizist schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen, um zu verdeutlichen, was er von Menschen hielt, die schon vor Morgengrauen in der Natur unterwegs waren.

Dann ergänzte er: »Ihre Mitbewohnerin hat sie heute Morgen als vermisst gemeldet, als sie um neun Uhr nicht wieder zu Hause war und nicht an ihr Handy ging. Sie hatten beide ihren freien Tag und wollten gemeinsam frühstücken gehen.« »Hübsche Frau! Aber ziemlich leichtsinnig, hier ganz allein rumzulaufen. Hatte sie denn ein Handy dabei?«

»Wir haben keins gefunden.«

Der erste Badegast, ein deutscher Urlauber, hatte den leblosen Körper der jungen Frau hinter einem Felsblock, der oft zum Sonnen genutzt wurde, entdeckt und ein Bild des blutigen Kopfes mit dem eingedrückten Auge auf der rechten Gesichtshälfte per Smartphone an die Polizei geschickt. Vorher hatte er die Leiche noch so zurechtgelegt, dass alles fotogener aussah. Der Mann erlangte dadurch eine gewisse Internetberühmtheit, weil er ein Selfie von sich und der Toten auf seine Facebook-Seite stellte. Als wäre es eine Heldentat, einen leblosen Menschen am Strand zu finden. Die Polizei konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, wie die Frau gefallen war. Die Angaben des Mannes waren unpräzise und die Schimpftirade des Comisario über so viel Dummheit verstärkte seine Unsicherheit bezüglich des Auffindens der Leiche noch um ein Vielfaches. »Burro« und »idiota« waren noch die nettesten Ausdrücke, die er gebrauchte.

Comisario Casas hasste die allgegenwärtige Präsenz moderner Medien, ganz besonders die Erfindung des Smartphones. Mit seinen nicht besonders gelenkigen Fingern brauchte er ewig, bis seine Meldungen per WhatsApp eingetippt waren und ständig vergaß er seinen Nachrichten-Eingang zu überprüfen. Seine Vorgesetzte im Präsidium hatte ihn schon mehrfach ermahnt, gewissenhafter zu arbeiten. Dabei war er ein äußerst genauer Beamter, nur eben ein Vertreter der alten Generation, der seine Ausbildung an der Schreibmaschine und mit einem Festnetztelefon begonnen hatte.

Bis zum Eintreffen des ersten Streifenwagens hatten weitere Neugierige, vielleicht auch hilfsbereite Touristen, alle Spuren, die Aufschluss über den Ablauf des Unfalls hätten geben können, vernichtet. Ein streunender junger Hund verrichtete pietätlos sein Geschäft genau neben der Toten, bevor er einen kleinen Schmetterling entdeckte, der in Richtung der gelb blühenden Ginsterbüsche oberhalb der Felsen flog, und diesem hinterherjagte. Der Polizeifotograf trat in den stinkenden Haufen, als er Bilder der Verletzungen aufnehmen wollte. Noch tagelang roch sein Turnschuh nach Hundekot und seine ohnehin schon heftige Abneigung gegen herrenlose Straßenköter bekam neue Nahrung.

Für die Tote Roberta Bergenbaum interessierte sich sehr schnell niemand mehr. Schon drei Tage später war ihr Bild wieder aus den Medien verschwunden, was eigentlich verwunderlich war, denn das mallorquinische Fernsehen und auch die Mallorca-Zeitung liebten es, Selbstmorde, die sehr wahrscheinlich aus Liebeskummer begangen worden waren, genüsslich auszuschlachten. Aber der Tourismusdirektor selbst war diskret mit der Bitte an die Medien herangetreten, doch möglichst wenig über den Fall zu berichten. Mallorca galt als einer der wenigen Orte auf der Welt, die man sicher und bedenkenlos bereisen konnte. Die Insel war ein Platz, an dem die Welt noch in Ordnung schien und alle Menschen unbeschwert lebten. Dieses Image wollte man sich doch nicht verderben! Es gelang ihm nicht oft, die Presse auf seine Seite zu ziehen, aber in diesem Fall hatten die Journalisten ein Einsehen oder sie versprachen sich keine wesentlich höhere Auflagensteigerung von einer ausführlichen Berichterstattung. Wie auch immer, Roberta Bergenbaum geriet sehr schnell in Vergessenheit.

Sie war als Saisonarbeiterin auf die Insel gekommen und hatte gerade mal drei Monate in dem Restaurant am Hafen gearbeitet. Flink und freundlich wurde sie von den Mitarbeitern beschrieben, aber viel wusste man nicht von ihr. Niemand brachte sie mit Waldemar Bergenbaum, dem vor vier Jahren verstorbenen Schauspieler in Verbindung und keinen interessierte, mit wem sie ihre Freizeit verbrachte. Junge Frauen, die im Gastgewerbe jobbten, gab es massenhaft auf der Insel.

Dass sie besonders gerne idyllische Motive am Meer zeichnete, war der Grund, dass sie sich so früh oberhalb der Cala Deià aufgehalten hatte. Das weiche Blau des Meeres einzufangen hatte es ihr vielleicht angetan oder die verträumte Einsamkeit des Ortes, bevor Badegäste wie ein Bienenschwarm einfielen. Sie war von zu Hause aus im Morgengrauen losgegangen und auf dem Wanderweg nach Deià gelaufen, der entlang der Küste verlief. Auf dem letzten Stück war sie dann hinunter in die Bucht gestürzt. Dieser Pfad war nicht ungefährlich, da er an einigen Stellen ungesichert war. Ausdrücklich wiesen Schilder darauf hin, dass nur geübte Wanderer ihn gehen sollten.

Dass sie sich manchmal spät abends ausnehmend chic gemacht hatte, um sich in Palma oder Portals Nous mit ihrem Freund oder einer Freundin zu treffen, war auch nichts Ungewöhnliches. Ihre Mitbewohnerin konnte nicht viel über sie beisteuern. Am Anfang hoffte die Polizei noch, irgendein Zeuge würde sich bei ihnen melden und wenigstens ein bisschen Licht in das Dunkel der Ermittlungen bringen, aber als nach einer Woche kein Anruf eingegangen war, ruhte die Akte. Es gab viele andere Tatorte auf der überfüllten Ferieninsel, die die volle Aufmerksamkeit der Behörden beanspruchten. Das verzerrte Gesicht der jungen Frau, das vom Aufprall auf den Steinen zerschmettert war, geriet bald in Vergessenheit.

Die Polizei fand am Fundort der Leiche keine Spuren von Fremdeinwirkung und entschied, dass es sich entweder um einen Selbstmord oder um ein tödliches Missgeschick gehandelt haben musste. Vielleicht war die junge Frau unvorsichtigerweise bis an den Rand der Klippe gelaufen, hatte auf dem Meer etwas Interessantes entdeckt und nicht auf den Verlauf des schmalen Pfades geachtet.

Eine weitere Vermutung war natürlich auch, dass sie eventuell ihr Handy verloren hatte. Vielleicht war es ihr über die Klippen hinuntergefallen und sie hatte versucht, es wieder zu finden. Oder sie hatte probiert, von unten die felsige Wand hinaufzuklettern und war abgerutscht. Beide Variationen waren möglich. Die Steilküste hatte durchaus ihre Tücken und ein Fehltritt konnte tödliche Folgen haben.

Ihr Handy musste jedenfalls ins Meer gefallen sein, denn es ließ sich nicht orten und wurde auch nicht gefunden. Nur ein prall gefüllter Skizzenblock und ein Mäppchen mit Stiften lagen neben einem Felsen oben am Wanderweg. Dieser Fund bestätigte die Theorie, dass es sich um einen bedauerlichen Unfall handeln könnte. Aber das Bild von einem ertrinkenden Mädchen und eine Sprechblase darüber, in der »Help!« stand, deutete die Polizeipsychologin als mögliche Ankündigung eines Suizids. Der Fall blieb unklar. Nur Fremdeinwirkung schlossen die Beamten mit ziemlicher Sicherheit aus.

Marina Bergenbaum lebte ein ruhiges, fast schon kontaktarmes Leben. Bei ihren Nachbarn galt sie als unzugänglich, manche hielten sie für ungastlich, weil sie kaum jemanden zu sich nach Hause einlud und auch nicht an den zweimal im Jahr stattfindenden Straßenfesten teilnahm.

Nach ihrer Scheidung vor fünf Jahren war sie in eine fränkische Kleinstadt gezogen, übersetzte langweilige, aber gut bezahlte Texte für ein wissenschaftliches Fachblatt vom Spanischen ins Deutsche und versuchte sich in der verbleibenden Zeit am Schreiben von Gedichten und Kriminalromanen, die nur selten einen abnehmenden Verlag fanden. Ihre Krimis wurden zwar lobend in einigen Literaturzeitschriften erwähnt, aber der Verkauf ging schleppend. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass sie nur ungern Lesungen abhielt und gegenüber der Presse nicht durch Freundlichkeit glänzte. Von ihrem Tick, sich unter Anspannung oder Stress ständig mit beiden Händen durch die Haare fahren zu müssen und sich Oberschenkel und Unterarme zu zerkratzen, bis diese rot und wund waren, erzählte sie niemandem. Öffentlichkeitsarbeit war für sie auch aus diesem Grund ein rotes Tuch und ihre Abneigung dagegen für die Verlage ein weiterer Punkt, ihre Manuskripte abzulehnen. Aber sie kam finanziell über die Runden.

Mit ihrer Tochter hatte sie schon seit ein paar Jahren nur noch wenig Kontakt. Genau genommen seit ihrer Scheidung von Waldemar Bergenbaum, dem Vater von Roberta. Bei seiner Beerdigung hatten sie sich das letzte Mal getroffen, aber nur ein paar wütende und vorwurfsvolle Sätze ausgetauscht. Zu mehr war Roberta nicht bereit gewesen. Sie war nach der Trauerfeier sofort wieder abgereist. Ihrer Mutter hatte sie die Trennung von ihrem Vater nie verziehen. Und sie gab ihr die Schuld an seinem frühen Tod. Marina hätte ihm das Rauchen abgewöhnen müssen, hätte ihn zur Vorsorgeuntersuchung schicken sollen. Auch ihr Mangel an Liebe ihm gegenüber wäre ein Auslöser für seine Erkrankung gewesen, sagte sie voller Zorn und übermäßiger Trauer.

»Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Lass mich einfach in Ruhe!«

Das waren ihre letzten Worte, bevor sie ging.

Gib ihr Zeit, sie wird wieder einen Weg zu dir zurückfinden, sagte sich Marina.

Immer mal wieder hatte Marina Bergenbaum in Erwägung gezogen, ihre Tochter anzurufen oder ihr einen Brief zu schreiben und das Scheitern ihrer Ehe zu erklären, doch wie das eben so ist, sie hatte es nie getan. Dass Roberta nicht mehr in ihrem Beruf als Sozialpädagogin arbeitete, wusste Marina, aber dass sie in einem Restaurant auf Mallorca als Bedienung gejobbt hatte, war ihr neu. Sie erfuhr es erst, als sie die amtliche Nachricht über Robertas Tod erhielt. Diese wurde von einem Polizeibeamten überbracht, der schwitzend und schlecht gelaunt an ihrer Tür klingelte. Sie hatte nicht den leisesten Hauch einer Vorahnung, was ihn zu ihr führen könnte, als sie ihm öffnete. Drei Wochen vorher hatte sie sich noch über eine erste Postkarte gefreut. Eine kurze Nachricht, die ihr die Hoffnung gab, dass sich ihr Verhältnis wieder normalisieren könnte. Roberta hatte geschrieben:

Mallorca ist MEINE Insel! Ich habe meinen Platz zum Leben gefunden und bin glücklich!!!

Hast Du nicht Lust, nach Sóller zu kommen?

Bobby

Neben ihrer Unterschrift flatterte ein winziger blauer Falter, den sie mit Buntstiften dorthin gemalt hatte.

Auf der Vorderseite war der Rote Blitz zu sehen, die alte Holzeisenbahn, die mehrmals täglich von Palma nach Sóller fuhr und zu den Touristenattraktionen der Insel gehörte. Die Nachricht war typisch für ihre Tochter. Kurz und lebensfroh. Die Karte war mit einer ziemlich unleserlichen Adressangabe versehen, die Marina nicht entziffern konnte. Sofort versuchte sie Roberta telefonisch zu erreichen, aber die Handynummer war nicht mehr gültig. Deshalb heftete sie die Postkarte an das leere Notizbrett neben der Eingangstür und freute sich im Vorbeigehen, dass Roberta sie nicht ganz vergessen hatte.

Irgendwann wird sich unser Verhältnis wieder normalisieren. Zeit heilt alle Wunden, dachte sie. Und sie wartete ungeduldig auf eine nächste Nachricht, die eine leserliche Adressangabe enthalten würde.

So wie die meisten Mütter vertraute sie darauf, dass sich die Beziehung zu ihrer Tochter wieder einrenken würde. Sie dachte nicht im Traum daran, dass es dazu vielleicht zu spät sein könnte.

Die Nachricht vom Tod der einzigen Tochter traf sie hart. Stundenlang saß sie in ihrem verwilderten Garten unter dem Kastanienbaum, der gerade erste Fruchtansätze gebildet hatte und dessen Blätter in einem hellen frühsommerlichen Grün leuchteten. Erst war sie wie gelähmt vor Schmerz, dann heulte sie wie ein Schlosshund, laut und trostlos. Ihre Hände arbeiteten sich durch Haare, Oberschenkel und Unterarme und hinterließen blutige Spuren.

»Du hast ein schlechtes Gewissen. Mit echter Trauer hat das nichts zu tun! Sie war doch nie wichtig für dich.«

Das waren die Worte ihres Lebensabschnittsgefährten. Er war Schauspieler am örtlichen Provinztheater und forderte Aufmerksamkeit für sich selbst, nicht für verstorbene Familienmitglieder seiner Geliebten, die er nicht einmal kannte. Seine unsensiblen Worte rissen Marina aus der Lethargie, die sie, gemeinsam mit den Tränen, wegzuschwemmen drohte.

Sie kümmerte sich um die rasche Überführung der Leiche ihrer Tochter nach Deutschland, informierte die Freundinnen und Freunde Robertas von früher, telefonierte mit den Verwandten, die zur Beerdigung kommen sollten und suchte Sarg, Blumenschmuck und Grabstein aus. Dann organisierte sie eine Trauerfeier, von der sie glaubte, dass sie Roberta zugesagt hätte. Viel Ahnung hatte sie nicht mehr von den Vorlieben und Träumen ihrer Tochter. Deshalb orientierte sie sich am Geschmack, den diese in der Zeit gehabt hatte, als sie noch mit ihr redete, ließ einen befreundeten Gitarristen den Bob Dylan-Song »Blowing in the wind« spielen und trug selbst das Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse vor.

Es wurde ziemlich trostlos. Sie verhaspelte sich dreimal beim Aufsagen der Verse und niemand verstand etwas, weil sie viel zu leise sprach und immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Aber es war immer Robertas Lieblingsgedicht gewesen.

Bei der anschließenden Zusammenkunft nach der Trauerfeier in einem Café am Marktplatz war Marina betrunken, bevor die letzten Gäste ihren Kaffee serviert bekommen hatten. Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war.

In ihrem Inneren herrschte kalte Leere. Als hätte sie mit Robertas Tod eine dicke Eisschicht eingehüllt, die, wenn sie schmelzen sollte, eine graue Geröllhalde zum Vorschein bringen müsste.

Am nächsten Morgen setzte sie ihren Geliebten vor die Tür. Marina wusste schon länger nicht mehr, warum sie mit ihm zusammenlebte. Sie beendete die Affäre so emotionslos, dass es von ihrer Seite aus an Unverschämtheit grenzte. Sie weigerte sich, seine Betroffenheit zur Kenntnis zu nehmen. Die neue Kälte in ihrem Inneren half ihr dabei.

Am gleichen Abend buchte sie einen Flug von Nürnberg nach Palma de Mallorca für den folgenden Tag, packte wahllos einige Kleidungsstücke in einen kleinen Koffer und bat die Nachbarin, Post und Zeitungen aus dem Briefkasten zu nehmen.

Sie wollte auf der Ferieninsel Mallorca auf Spurensuche gehen, wollte sehen, wie ihre Tochter gelebt hatte und eine Antwort darauf finden, warum sie so plötzlich gestorben war. Alle Fragen in ihrem Kopf schrien nach Antworten. Und sie wünschte sich sehnlich, dass die Antworten, die sie finden würde, nicht neue Fragen aufwarfen.

Für Motorradfahrer gehört die Straße entlang der Westküste von Andratx nach Sóller zu den schönsten auf Mallorca. Herrliche Kurven, wunderbare Ausblicke entlang der Steilküste, vorbei an idyllischen Bergdörfern und kleinen Gehöften. Nur wenige Kilometer hinter Andratx erklimmt die Straße den Coll de Sa Gran Mola und man hat einen unglaublichen Blick auf die Serra dés Pinotells. Fährt man nur ein paar Kilometer weiter, bietet sich eine atemberaubende Aussicht auf das endlos erscheinende Meer und die Steilküste. Es gibt ein Ausflugsrestaurant, auf dessen Terrasse sich in den Sommermonaten viele Touristen tummeln, um die Szenerie bei einem kühlen Drink oder einem Imbiss zu genießen.

Luciano Mancini, der auf seiner schweren Maschine diese Strecke entlangraste, hatte keinen Blick für die Schönheiten der Landschaft. Er konnte sich keine Zeit nehmen, seine Gedanken eilten voraus zu seinem Zielort, den er nie erreichen sollte. Er wollte Gewissheit haben, glaubte, auf einer heißen Spur zu sein, um die unbegreiflichen Vorkommnisse der vergangenen Wochen aufzuklären. Der Anruf hatte ihn wie elektrisiert, er lief emotional auf Hochtouren.

Hinter Estellencs, einem altertümlichen kleinen Ort mit alten Sandsteinhäusern und engen Gassen, wurde die Fahrbahn schmaler und die steilen Felswände traten dicht an die Straße.

Als er mit viel zu hoher Geschwindigkeit um eine der Kurven fuhr, sah er zwar den Felsbrocken auf der Fahrbahn liegen, aber rechtzeitig abzubremsen gelang ihm nicht mehr. Er versuchte auf die Gegenfahrbahn auszuweichen und verlor dabei die Kontrolle über sein Motorrad. Wie betrunken schlingerte er von einer Straßenseite zur anderen und wurde mit voller Wucht gegen die rechte Steinmauer, die die Straße begrenzte, geschleudert. Reglos blieb er liegen.

Nur wenige Minuten später erreichte ein englischer Tourist mit seinem Mietauto den Unfallort. Glücklicherweise war der Mann ein eher übervorsichtiger Autofahrer. Er fuhr sehr konzentriert, auch weil das Fahren auf der rechten Straßenseite für ihn ungewohnt war, und unterschritt sogar noch die Geschwindigkeitsbegrenzung von sechzig Stundenkilometern. Nur diesem Umstand war es zu verdanken, dass er nicht auf das mitten auf der Straße liegende Motorrad auffuhr, sondern kurz davor zum Halten kam. Während seine Mitfahrerin hysterisch zu schreien begann, handelte er sehr besonnen. Er rief per Mobiltelefon einen Krankenwagen und sicherte dann die Unfallstelle mit einem Warndreieck. Bis Rettungssanitäter, Arzt und Polizei nach einer Dreiviertelstunde eintrafen, versuchte er mit Wiederbelebungsmaßnahmen den Mann ins Leben zurückzuholen. Wie sich später herausstellte, hatte Luciano Mancini einen Genickbruch erlitten und auch ein früheres Eintreffen des Arztes hätte nichts an seinem Tod geändert.

Die Straße wurde für den Rest des Tages gesperrt und alle Autofahrer, die Banyalbufar, Valldemossa oder Deià auf diesem Weg erreichen wollten, mussten umkehren, nach Andratx zurückfahren und einen Umweg über Palma nehmen, um an ihr Ziel zu gelangen.

Radio Mallorca berichtete stündlich, wann wieder mit einer Straßenöffnung zu rechnen sei. Der Name des Toten konnte schnell herausgefunden werden. Er trug seine Papiere in der Innentasche seiner Lederjacke. Luciano Mancini war für die Polizeibeamten kein Unbekannter. Es wurde zur Zeit wegen eines Salmonellenfalls gegen ihn ermittelt. Er arbeitete als Koch in einem Restaurant in Portals Nous, hatte sich selbst mit den Viren infiziert und einen Gast angesteckt. Das Ganze war nicht schwerwiegend, aber der gute Ruf des Lokals drohte den Bach hinunter zu gehen. Der Besitzer hatte Luciano sofort beurlaubt, zumal dieser nicht zugab, einen Fehler gemacht zu haben. Er war ein begnadeter Künstler hinter dem Herd, aber schon mehrfach wegen unerlaubten Drogenkonsums aufgefallen. Dass Spitzenköche zu Kokain oder anderen Rauschmitteln griffen, um dem immensen Arbeitsstress entgegenzuwirken, war nichts Neues.

Eine Untersuchung ergab, dass Luciano Mancini auch an diesem Tag Kokain konsumiert hatte. Vielleicht waren seine Reaktionen deshalb verzögert gewesen. Es war nicht mehr nachweisbar.

Der Felsbrocken, der die Straße zur tödlichen Falle hatte werden lassen, war weit oben am Hang abgebrochen. Zu dieser Jahreszeit war Steinschlag eher ungewöhnlich und die Polizei schloss menschliches Zutun nicht aus, zog aber auch in Betracht, dass es eine Laune der Natur war, die dazu geführt hatte, dass der Felsbrocken mitten auf der Fahrbahn gelandet war und zu dem tödlichen Unfall führte.

Es gab keine Zeugen. Niemand hatte eine Beobachtung gemacht und der junge Mann war bekannt dafür, dass er sich nicht an Geschwindigkeitsbeschränkungen hielt, sondern gerne vorgegebene Grenzen überschritt.

Routinemäßig überprüften die Polizeibeamten sein Handy. Sie stellten fest, dass ein paar der eingegangenen Anrufe von Roberta Bergenbaum stammten. Rückfragen bei den Freunden von Luciano Mancini ergaben, dass die beiden manchmal zusammen ausgegangen waren und dass Roberta sich im Costello, dem Restaurant, in dem er gekocht hatte, als Bedienung beworben hatte. Einen Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen konnte niemand feststellen.

Riesige Taschen waren Marina Bergenbaums Markenzeichen und begleiteten sie schon ihr Leben lang. Es waren monströse Ungetüme in allen Farben, in deren lebendigen Tiefen viel Ungeahntes schlummerte. Beim Einchecken am Nürnberger Flughafen war es eine Nagelschere, die dazu führte, dass sie beinahe den Abflug verpasst hätte. Sie musste den gesamten Inhalt ihrer bunt gemusterten Umhängetasche ausräumen: Lippenstift, Abdeckcreme, Wimperntusche, zermatschte Schokostückchen, Halsbonbons, Slip-Einlagen, Sonnenbrille, ein roter Spitzen-BH, Fotoapparat, Smartphone, Laptop, jede Menge Kassenzettel, ein Strafzettel wegen Falschparkens (den sie vergessen hatte zu bezahlen), Geldbeutel, einzelne Münzen, eine Haarbürste und dann eben noch diese verflixte Nagelschere. Natürlich wusste sie, dass Scheren im Handgepäck nicht erlaubt waren. Aber warum sie deshalb mehr als zwanzig Minuten von einem ungnädigen Kontrollbeamten aufgehalten wurde, war ihr unerklärlich.

»Hat schon einmal jemand ein Attentat mit einer sieben Zentimeter großen, verbogenen und in die Jahre gekommenen Nagelschere ausgeübt?«

Der Mann ignorierte ihre provokante Frage einfach.

»Können Sie sich nicht ein bisschen beeilen? Wegen dieser blöden Schere wird das Flugzeug noch ohne mich starten.« »Da müssen Sie eben sorgfältiger packen oder früher aufstehen. Ich bin schließlich für die Sicherheit aller Passagiere verantwortlich.«

Marina raufte sich die Haare und platzte fast vor Angst, den Flug zu verpassen. Seit dem Tod ihrer Tochter war sie völlig durch den Wind, aber davon wusste der Sicherheitsbeamte natürlich nichts.

Abgehetzt fand sie sich im Flugzeug inmitten einer Gruppe gut gelaunter Frauen wieder, die sangen und lachten. Vor, hinter und neben ihr saßen in die Jahre gekommene Kleindirnbacherinnen, die dem örtlichen Gesangverein angehörten und ihre Jubiläumsfeier am Ballermann begehen wollten. Die Goldkehlchen stellten ihre Sangesfreudigkeit während des gesamten Fluges lautstark unter Beweis. Schlager wie »Der König von Mallorca« und »Ein Bett im Kornfeld« schallten durch den Flieger, bis die Flugbegleiterin darum bat, doch auf die anderen Fluggäste Rücksicht zu nehmen. Danach sangen sie etwas leiser, aber ganz auszubremsen waren sie nicht.

»Vielleicht treffen wir ja den Jürgen Drews!« Marinas beleibte Sitznachbarin roch nach Sekt und Nougatschokolade. Sie wusste nicht, ob sie die Frauenrunde verachten oder bewundern sollte.

Die Flugzeit von Nürnberg nach Palma de Mallorca betrug nur knapp zwei Stunden, das Gesangsrepertoire der Truppe war noch lange nicht ausgeschöpft, als sie ankamen.

Beim Anflug auf die Insel glitzerten silbrige Schaumkrönchen auf dem Meer, Marina erhaschte einen kurzen Blick auf das Cap Formentor mit seinem markanten Leuchtturm und ein paar Minuten später glitten malerisch Windmühlen entlang der Landebahn an ihr vorbei.

Sie war schon einmal hier gewesen. Marina wollte nicht daran denken. Dieser erste Urlaub auf Mallorca gehörte zu einem anderen Leben und nicht zu den Erinnerungen, die man gerne hervorholte. Sie war achtzehn gewesen, wollte sich ausprobieren und hatte geglaubt, mit Sangria und durchtanzten Nächten sehr erwachsen zu sein. Mit einem Riesenkater, einer verlorenen Reisetasche und einigen Illusionen weniger war sie nach fünf Tagen wieder in Deutschland gelandet. Von den Schönheiten der Insel hatte sie nichts gesehen. Sie war nur vom Hotel zum Strand und vom Strand zu den billigen Discos und Bierlokalen gekommen. In diesen Tagen hatte sie nicht einen einzigen Spanier getroffen, nur Deutsche und Engländer, die auf dem gleichen Trip waren wie sie. Es war der erste und letzte Urlaub dieser Art gewesen. Sie schämte sich noch immer, wenn sie an die vergeudete Zeit dachte.

Nachdem sie ihren Koffer vom Gepäckband gezogen hatte, fuhr sie mit dem öffentlichen Bus nach Palma, wechselte am Busbahnhof in die Linie 221 Richtung Port Sóller. Schon nach fünf Minuten war sie durchgeschwitzt. In Deutschland hatte es geregnet und die Temperaturen lagen bei gefühlten fünfzehn Grad. Die Temperaturanzeige hinter dem Fahrersitz zeigte siebenunddreißig Grad an und auch die geöffneten Fenster und der Fahrtwind brachten kaum Abkühlung, obwohl es schon spät am Nachmittag war.

Traumhafte Landschaft zog vor dem Fenster vorbei, als der Bus von der Stadtautobahn in Richtung des Tramuntana-Gebirges abbog und auf die hoch aufragende Bergkette zufuhr. Die Straße bis zum Tunnel, die die Besucher auf die andere Seite des Bergmassivs, ins Tal der Orangen- und Zitronenplantagen von Sóller brachte, war gesäumt von Mandel- und Olivenbäumen. Im Frühling, zur Zeit der Baumblüte, musste der Anblick berauschend sein, wenn die Äste in rosa Farbe getaucht waren.

In dieser Region der Insel machten Wanderer und Naturliebhaber Urlaub. Sie teilten sich die Unterkünfte mit immer größeren Heerscharen von Radfahrern, die in den letzten Jahren die kurvige Küstenstraße als ideale Renn- und Trainingsstrecke entdeckt hatten.

Das von Marina Bergenbaum gebuchte Hotel im Hafen von Sóller, im Nordwesten der Insel gelegen, war nicht billig. Es lag dennoch abseits der Strandpromenade und hatte nur zwei Sterne vorzuweisen. Wahrscheinlich war dies der Grund, dass Marina überhaupt ein freies Zimmer im Ort gefunden hatte. Die Insel platzte aus allen Nähten, Mallorca erlebte einen weiteren Rekordsommer beim Tourismus. Besonders viele deutsche Urlauber wichen wegen Sicherheitsbedenken in anderen Mittelmeerländern auf die Baleareninsel aus. Bilder von Bombenanschlägen und fast tägliche Terrormeldungen aus Europas Hauptstädten bescherten Mallorca Jahr für Jahr mehr Touristen. Rund zwei Millionen Besucher überfluteten die Insel allein in einem Monat. Sie stritten sich nicht nur um Hotelzimmer, sondern auch um Liegestühle und Sonnenschirme an den überfüllten Stränden.

Drei Tage hatte Marina ein Zimmer gebucht, dann musste sie weitersehen. Unterkünfte in Palma und Umgebung wären preiswerter gewesen, aber sie wollte ihrer Tochter nahe sein und in Port Sóller hatte Roberta in einem Restaurant direkt an der Strandpromenade gearbeitet.

Das Hotelzimmer war spartanisch eingerichtet. Das Bett mit durchgelegener Matratze war wenig einladend, die Lampenschale war gesprungen, an den Wänden hingen gerahmte Poster von Miró- und Picasso-Gemälden. Beide Künstler hatten ein paar Jahre auf der Insel gelebt und gearbeitet. Außerdem gab es einen wackeligen Schreibtisch mit Stuhl und Leselicht. Alles war unpersönlich, aber sauber. Kein Kühlschrank, also keine Minibar, stellte sie fest. Sie war froh, denn damit kam sie gar nicht erst in Versuchung, die meist teuren Getränke darin zu leeren. Sie trank seit Wochen viel zu viel. Alle Erinnerungen an Roberta führten unweigerlich dazu, dass sie zu Hochprozentigem griff. Täglich wanderte sie tiefer hinunter in den Keller ihrer Seele. Und sie hatte das Empfinden, noch lange nicht am Tiefpunkt angekommen zu sein. Deshalb betrank sie sich gewissenhaft Abend für Abend, in der Hoffnung, die Trostlosigkeit nicht mehr zu spüren.

Der Spiegel im Bad über dem Waschbecken zeigte ein müdes, blasses und zerfurchtes Gesicht. Den Kampf gegen dunkle Augenringe hatte sie in den vergangenen Wochen endgültig verloren. Sie sah weiß durchsträhnte rotbraune Locken, gebändigt mit einem bunten Band, dichte Brauen über schwarz geschminkten Augen, volle Lippen mit einem mürrischen Zug um den Mund. Ihre Haut spannte und kribbelte. An manchen Tagen konnte sie sich selbst nicht leiden. Aber es gab auch die anderen Tage, an denen sie sich und das Leben liebte. Vielleicht würde sie diese Zeit irgendwann wiederfinden.

Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine wilde Grimasse und versuchte nicht länger in Selbstmitleid zu versinken.

Das war sie Roberta schuldig.

Hätte sie dieses Unglück verhindern können? War es nicht die Aufgabe einer Mutter, ihr Kind zu beschützen? Egal, wie alt es war? Ihre einzige Tochter war nicht einmal dreißig geworden. Neunundzwanzig Jahre und sieben Monate. Und sie wollte sich garantiert nicht von ihr beschützen lassen. Warum hatte sie jeden Kontakt in den letzten Jahren vermieden, sie für schuldig befunden und in die Verbannung geschickt? Warum hatte sie selbst nicht nach der exakten Adresse geforscht? Warum hatte sie diese Postkarte einfach an die Pinnwand geheftet und darauf vertraut, dass Roberta sich wieder bei ihr melden würde?

Hätte sie ihr erklären können, warum sie sich von ihrem Vater getrennt hatte? Hätte sie ihr sagen sollen, dass dieser Vater eine einzige Lüge war? Dass er das Erfinden und Spielen von Geschichten so verinnerlicht hatte, dass er selbst an die Figur glaubte, die er vorgab zu sein? Und dass sie immer wieder auf diesen Typ Mann hereinfiel?

Die Decke über ihr knarzte. Sie hörte ein Paar diskutieren, dann lachen, stöhnen und das Aufjaulen von Bettfedern. Danach Stille, bis irgendwo ein Hund bellte.

»Wie kannst du behaupten, dass du mich liebst, wenn du mir nie vertraust …« oder »Wenn du mich liebst, dann musst du mich so nehmen, wie ich bin.«

Wie oft hatte sie diese Worte gehört. Aber sie hatte diesen Mann geliebt, genauso wie ihre Tochter ihn vergöttert hatte. Und obwohl er mit jedem Atemzug log, hatte auch Roberta sich geweigert, ihn zu durchschauen. Deshalb hatte sie auch nicht mehr mit ihrer Mutter reden wollen, als sie sich trennten und erst recht nicht mehr, als er tot war.

Und jetzt war auch Roberta tot. Marina suchte in ihrem Koffer nach dem Flachmann, den sie zwischen Unterwäsche und Strümpfen versteckt hatte und nahm einen tiefen Schluck von dem hochprozentigen Cognac. Der Alkohol half ihr, diesen unseligen Drang, sich die Arme zu zerkratzen, in den Griff zu bekommen. Zumindest für eine gewisse Zeit. Es war ihr klar, dass sie damit ihren Tick nicht wirklich bekämpfen konnte, aber für den Moment war es für sie die einzige denkbare Lösung.

»Tu nicht so, als wärst du das Unschuldslamm gewesen. Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich!«

Sie führte öfter Selbstgespräche. Diese Unart hatte sie sich nach der Trennung von Waldemar angewöhnt.

Sie ließ sich auf das durchgelegene Bett fallen und ging in Gedanken die wichtigsten Schritte durch, die sie sich für den kommenden Tag auf Mallorca vorgenommen hatte: Freunde und Arbeitskollegen von Roberta finden und befragen, Kontakt zur Polizei aufnehmen, die Unfallstelle besuchen.

Bis es ihr endlich gelang, in einen leichten Schlaf zu fallen, war der Flachmann leer, ihre Arme blutig zerkratzt und am Strand wurde der Sand von einem Putztrupp für den kommenden Touristenansturm gesäubert. In den Restaurants wurde das Frühstücksbüffet aufgebaut und die ersten Jogger liefen entlang der Strandpromenade, wo ein sanfter Wind noch nichts von der Hitze des kommenden Tages ahnen ließ.

Unten im Sand, direkt dort, wo die Wellen mit einem leichten Glucksen sanft ans Ufer rollten, machte eine Frau im fortgeschrittenen Alter Yoga-Übungen. Sie konzentrierte sich darauf, ihr Gleichgewicht zu halten und nahm nicht wahr, dass ein junges Paar, das mit Walking-Stöcken im Laufschritt vorbeieilte, sich anstieß, auf sie deutete und kicherte.

Die beiden amüsierten sich wegen des unübersehbaren Übergewichtes der Yogatreibenden. Dicke Fleischringe zeichneten sich unter der orangefarbenen Kleidung ab, die speckigen Oberarme ragten in der Haltung des Baumes in den blauen Himmel, während sie auf einem Bein stand und das andere im Neunzig-Grad-Winkel am Oberschenkel angelegt hatte. Ihr entspannter Blick war in Richtung Horizont gerichtet und sie schenkte sich selbst ein Lächeln. Es war der 21. Juni und Weltyogatag.

Am Morgen wachte Marina mit einem ausgewachsenen Kater auf. »Strafe muss sein, was säufst du auch so unkontrolliert.« Sie löste zwei Aspirin-Tabletten in einem Glas Leitungswasser auf und versuchte, die rasenden Kopfschmerzen zu ignorieren. Um acht Uhr fünfundvierzig fuhr ein öffentlicher Bus die Küstenstraße entlang nach Deià. Er hielt nur kurz am Eingang des Ortes und entließ ein paar Fahrgäste, dann kurvte er weiter die Serpentinen hinauf nach Valldemossa, dem Ort, in dem Frédéric Chopin und George Sand 1838 als erste Touristen Mallorcas vier Monate im Kartäuserkloster Sa Cartoixa de Jesús Natzaré verbrachten. Während George Sand ihre Eindrücke dieses Aufenthaltes in dem Buch »Ein Winter auf Mallorca« niederschrieb, komponierte Chopin die bekannte Regentropfen-Prélude, ein Musikstück aus dem Zyklus der 24 Préludes 28.

Marina stieg in Deià aus und war sofort bezaubert von dem kleinen Bergdorf, das auf einer Anhöhe gebaut war. Sie stieg die steilen Gassen hinauf bis zu der Kirche aus dem achtzehnten Jahrhundert und dem kleinen Friedhof, der sich daran anschloss. Außer ihr gab es nur ein paar wenige Touristen, die den atemberaubenden Ausblick von dort oben genossen. Obwohl sie nicht gläubig war, zog es sie in die Kirche. Sie setzte sich auf eine der schmalen Holzbänke, ließ die Stille des Ortes auf sich wirken und genoss die kühle Ruhe. Bevor sie wieder nach draußen ging, zündete sie eine Kerze an und freute sich an dem tröstlichen Gedanken, damit ihrer Tochter nahe zu sein. Ob Roberta auch einmal hier oben war? Ganz bestimmt. Sie hatte das deutliche Gefühl, ihre Nähe zu spüren.

In Grübelei versunken wanderte sie wieder hinunter zur Hauptstraße und suchte den Wegweiser, der ihr den Weg in Richtung der Bucht zeigte. Sie lief in der Morgensonne hinunter. Nach einer halben Stunde Gehzeit mit atemberaubendem Ausblick auf Olivenhaine und das Bergmassiv des Tramuntana-Gebirges öffnete sich die Schlucht und die Bucht von Deià zeigte das silbrig glitzernde Meer. Lange stand sie reglos an der Stelle, an der ihre Tochter leblos aufgefunden worden war. Ein Wegweiser markierte den Küstenweg in Richtung Port Sóller. Steinig und steil war der Pfad nichts für ungeübte Geher, deshalb war er auch weniger begangen als der oberhalb der Fahrstraße verlaufende Weg, der als einer der schönsten Wanderwege des Tramuntana-Gebirges galt und an manchen Tagen, besonders in den Frühlings- und Herbstmonaten, von Hunderten Touristen bevölkert wurde.

In der Hitze des Hochsommers war das Wandern zu beschwerlich, dafür wimmelte es in der Bucht von Sonnenhungrigen, die nicht nur schwimmen und sich bräunen wollten, sondern auch die Schönheit der Landschaft zu schätzen wussten.

Marina ächzte und schnaufte auf dem Weg nach oben. Sie war Bewegung nicht mehr gewohnt. »Du bist bequem geworden«, schimpfte sie vor sich hin.

Als sie den Ort erreichte, von dem aus sie direkt hinunter auf den Platz schauen konnte, wo Roberta gelegen haben musste, blieb sie schwer atmend stehen. Neben ihr befand sich ein großer flacher Stein, geeignet zum Picknickmachen oder einfach nur, um auszuruhen. Er lag im Schatten eines stacheligen Strauches. Schokoladenpapierreste, eine Coladose und ein benutztes Taschentuch zeugten davon, dass hier oft gerastet wurde.

Hatte auch Roberta an dieser Stelle eine Pause gemacht? Hatte sie auf dem Stein gesessen und hinunter aufs Meer geschaut? Oder hatte sie eine letzte Skizze angefertigt, bevor sie hinunterstürzte? In der Luft lag ein Duft von wildem Rosmarin.

»Das ist kein Ort, um sich umzubringen«, flüsterte Marina, »oder vielleicht ist es gerade der Ort, an dem man sich umbringt, wenn man unglücklich ist?«

»Was ist mit dir passiert, mein Kind? Was hat dich unglücklich gemacht? Oder wer hat dich so gehasst, dass er dich hier hinuntergestoßen hat?«

Um sie herum herrschte Stille, nur das Summen einer Hummel und das Rascheln von Blättern, als eine Eidechse zwischen den Büschen verschwand, war zu hören. Ein grau-brauner Schmetterling ließ sich vertrauensvoll auf ihrer Hand nieder. Nach einer Weile flatterte er weiter in Richtung einer wilden Beerenranke, seine Flügelunterseite schimmerte grün mit weißen Flecken. Sie glaubte zu erkennen, dass es ein Brombeerzipfelfalter war, ein Schmetterling, der zur Familie der Bläulinge gehörte. Roberta hatte Schmetterlinge aller Art schon als Kind geliebt. Zitronenfalter, Pfauenauge, Postillion – viele Namen waren ihr geläufig gewesen. Von ihrer Tochter hatte sie die Namen der einzelnen Tiere gelernt, später hatte Roberta sie fotografiert und gemalt. Der winzige Falter war wie ein Gruß ihrer Tochter aus einer anderen Welt. Marina liefen Tränen über die Wangen, die sie nicht wegwischte.

Von unten, von der gut besuchten Bucht, drangen nur gedämpfte Geräusche zu ihr herauf.

Sie saß lange reglos, wünschte ihre Tochter neben sich und verfluchte ihre Lethargie oder den Starrsinn, die sie daran gehindert hatten, Roberta auf dieser Insel zu besuchen.

Dabei hatte ihr Roberta die Hand zu einer Versöhnung gereicht, hatte ihr eine Postkarte geschickt, die eine Einladung war.

Sie hatte die Karte mit Bobby unterschrieben, nicht mit Roberta. Bobby hatte Marina sie immer genannt, als sie noch klein war. Später, in der Pubertät, hatte sie energisch dagegen protestiert.

»Bobby ist ein Hundename und absolut peinlich. Roberta ist schlimm genug. Euch ist offensichtlich kein vernünftiger Mädchenname eingefallen.«

Sie war von ihren Klassenkameraden manchmal damit aufgezogen worden, dass sie wohl ein Junge hätte werden sollen und deshalb die Eltern einfach ein a an den geplanten Namen gehängt hätten.

Dass sie die Karte mit Bobby unterschrieben hatte, rührte Marina, ebenso wie der Schmetterling.

Lange saß sie auf dem Stein und grübelte darüber nach, warum ihre Tochter ausgerechnet hier sterben musste.

Mallorca ist meine Insel. Ich habe meinen Platz zum Leben gefunden und bin glücklich.

Schrieb das eine Frau, die sich ein paar Wochen später umbrachte?

Niemals.

Sie schwor herauszufinden, was wirklich passiert war.

Ein Blick auf den Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand, zeigte Hanna Winter, dass es vierzehn Uhr war, als es an der Tür zum dritten oder vierten Mal klingelte. Die ersten Male hatte sie erfolgreich ignoriert, aber irgendwann war genug.