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Der verlorene Sohn E-Book

Olga Grjasnowa

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Beschreibung

Ein Kind zwischen zwei Kulturen  

Akhulgo, 1838: Jamalludin wächst als Sohn eines mächtigen Imams im Kaukasus auf. Als Zar Nikolaus I. die Region mit Krieg überzieht, verlangt er den Jungen als Unterpfand. So gelangt der kleine Junge nach Sankt Petersburg, an den prächtigen Zarenhof. Jamalludin ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach seinem Elternhaus und den Möglichkeiten, die sich ihm in Petersburg bieten. 

Olga Grjasnowa erzählt sprachmächtig und eindringlich von einer uns unbekannten Welt, die doch unmittelbar mit unserer zu tun hat: Von einem Kind, das zwischen zwei Kulturen steht und seinen eigenen Weg finden muss. 

»Wie präzise und konsequent Olga Grjasnowa diese Geschichte erzählt ist beeindruckend. ›Der verlorene Sohn‹ – ein großartiger Roman – fesselnd und voller Weisheit.« ttt – titel, thesen, temperamente.

»So sinnlich und anschaulich wie Olga Grjasnowa schreiben auf Deutsch nur wenige.« DER SPIEGEL.

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Seitenzahl: 366

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Über das Buch

»Olga Grjasnowa ist das Beste, was unserer Literatur passieren konnte.« Denis Scheck, ARD druckfrisch.

Akhulgo, Nordkaukasus, 1838: Jamalludin wächst als Sohn eines mächtigen Imams auf. Seit Jahrzehnten tobt der Kaukasische Krieg, und sein Vater wird von der russischen Armee immer mehr bedrängt. Schließlich muss er seinen Sohn als Geisel geben, um die Verhandlungen mit dem Feind aufzunehmen, und Jamalludin wird an den Hof des Zaren nach St. Petersburg gebracht.

Bald schon ist der Junge hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach seiner Heimat und den verlockenden Möglichkeiten, die sich ihm in der prächtigen Welt des Zaren bieten.

Olga Grjasnowa erzählt sprachmächtig von einem Kind, das zwischen zwei Kulturen und zwei Religionen steht und seine Identität finden muss. Und von der verheerenden Wirkung eines Krieges, in dem es keine Sieger geben kann.

»So sinnlich und anschaulich wie Olga Grjasnowa schreiben auf Deutsch nur wenige.« Der Spiegel

Über Olga Grjasnowa

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman »Der Russe ist einer, der Birken liebt« wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr »Gott ist nicht schüchtern«. Der Roman wurde zum Bestseller und hat sich 50 000 mal verkauft. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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Olga Grjasnowa

Der verlorene Sohn

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Nordkaukasus

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Russland

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Warschau

Kapitel 27

Russland

Kapitel 28

Warschau

Kapitel 29

Russland

Kapitel 30

Kapitel 31

Tiflis

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Schamils Imanat

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Danksagung

Literatur

Impressum

Dieser Roman beruht auf historischen Fakten. Vieles stimmt, manches ist frei erfunden oder der Struktur des Romans angepasst.

Хотели как лучше, а получилось как всегда.

Виктор Степанович Черномырдин

Wir wollten das Beste, doch es kam wie immer.

Wiktor Stepanowitsch Tschernomyrdin

Wir lieben unsere Kinder auf so schmerzliche, so erschrockene Weise, dass es uns scheint, als hätten wir nie einen anderen Nächsten gehabt, als könnten wir nie einen anderen haben.

Natalia Ginzburg, Die kleinen Tugenden

Nordkaukasus

1

Sommer 1839

An jenem letzten Morgen seines alten Lebens wurde Jamalludin von seiner Mutter geweckt. Sie kam zu ihm ins Zimmer, setzte sich an sein Bettlager, und Jamalludin wusste, dass sich etwas Unwiederbringliches ereignet hatte. Er spürte Patimats Körperwärme, wollte sich an sie kuscheln, seine Sorgen durch ihre Berührungen vertreiben lassen. Ihre Hand fuhr durch sein Haar. Er hörte das vertraute Klirren ihrer Armbänder, spürte ihre Haut, ihre Liebe. Gierig sog er Patimats Geruch ein und blieb dabei unbeweglich liegen, eingewickelt in seine Decke. Er glaubte, so die Zeit anhalten zu können. Das Unausweichliche hinauszögern. Dennoch wollte er das sein, was alle Welt von ihm erwartete: ein Mann. Was das war, war ihm bereits mit neun Jahren nur allzu klar. Aber noch lieber wäre er heute ein kleiner Junge geblieben, hätte seine Mutter niemals losgelassen.

»Du musst stark sein, mein Kleiner. Sei stolz. Sei mein Stolz. Sei ein Sohn deines Vaters«, flüsterte Patimat ihm ins Ohr. »Es ist nicht für lange. Du wirst bald wieder bei mir sein.«

Patimat war die Mutter zweier Söhne, von denen einer heute den Russen als Pfand für die Dauer der Verhandlungen zwischen dem russischen Heer und den Gotteskriegern des Imam Schamil überlassen werden sollte. Schamil war es Jahre zuvor gelungen, zum ersten Mal zahlreiche kaukasische Stämme zu vereinen und sie vom heiligen Kampf, dem Dschihad, gegen Russland zu überzeugen. Bisher galt Schamil als unbesiegbar, ein Held seiner Zeit. Sein Mut und die entgegen aller Wahrscheinlichkeit errungenen Siege waren legendär.

Seine Frau war jung, gebildet und schön, auch wenn das kaum noch jemand sah. Jetzt legte sie die Hand auf den Rücken ihres ältesten Sohnes und wartete auf etwas, das nicht passierte. Jamalludin ließ diesen Augenblick ebenfalls verstreichen und richtete sich schweigend auf. Er hatte verstanden.

Patimat legte seine Kleider neben ihn und strich sie glatt. Sie waren schneeweiß, obwohl alles um sie herum voller Dreck war oder vielleicht gerade deswegen. Es waren die Kleider, die sie einst für den Tag des Sieges über die Russen zurückgelegt hatte. Jamalludin war ihnen fast entwachsen.

Sie half ihm, sich anzuziehen, obwohl sie sich selbst kaum noch bewegen konnte. In wenigen Wochen erwartete sie ihr drittes Kind. Die Schwangerschaft hatte ihre Gesichtszüge weich werden lassen, ihre Bewegungen langsam und schläfrig. Ihre Augen waren genauso olivgrün wie seine: »Du kannst deinen Dolch mitnehmen, aber hüte dich davor, ihn gegenüber deinen Wächtern zu benutzen. Sie sind unsere Feinde, aber du solltest sie nicht provozieren.« Patimat hielt inne, als ob sie selbst vor dem von ihr Gesagten erschrocken wäre, und fuhr dann entschieden fort: »Sie werden dich gut behandeln. Du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts geschehen.« Währenddessen veränderte sich etwas in ihrem Gesicht, es wurde verschlossener, strenger.

Ihre Ermahnung war nicht nötig, Jamalludin wusste genau, wer er war – Schamils Sohn, Sohn des Imams, der Liebling seiner Mutter, benannt nach Schamils Lehrer, dem sufistischen Scheich Jamal el-Din, einem Heiligen, obwohl die Sitten verlangten, dass man den ältesten Sohn nach dem Großvater väterlicherseits benannte. Jamalludin wusste fast nichts über seinen Großvater, doch über den heiligen Scheich so gut wie alles. Der Scheich war einer der größten Theologen, die es jemals gegeben hatte, und ein direkter Nachfahre Mohammeds. Genau wie Jamalludin war er etwas Besonderes, und es schien, als wäre diese Tatsache jedem geläufig – seitdem er denken konnte, wurde Jamalludin anders behandelt als der Rest der Jungen. Er war der Nachfolger seines Vaters, und nach dessen Tod würde er, Jamalludin, über den gesamten Nordkaukasus herrschen. Mit Gottes Hilfe wären die Russen bis dahin längst besiegt und falls nicht, wäre es an ihm, diese Aufgabe zu Ende zu führen.

Jamalludin hatte ein sanftes, angenehmes Wesen, das eher dem seiner Mutter als dem seines Vaters glich. Jamalludin hatte ihn von klein auf begleitet, bei Verhandlungen, Besuchen in anderen Aulen und sogar bei Kämpfen. Schamil hatte früh angefangen, seinen Sohn auf seine zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Der Junge konnte bereits reiten, schießen und beherrschte viele Suren des Korans auswendig.

Patimat überprüfte noch einmal Jamalludins Aussehen, und als sie zufrieden war, richtete sie sich auf und verließ das Zimmer. Die Tür fiel laut ins Schloss.

Noch vor einem Jahr hatte Jamalludin geglaubt, er würde im Himmel wohnen – so hoch und unerreichbar lag die Festung Akhulgo. Um sie herum gab es nichts außer den allmächtig wirkenden Bergen, die im Sommer mit Gras überzogen waren, im Frühling von einem Meer aus Blumen und im Winter mit Schnee und Wolken, die nicht fern am Himmel standen, sondern in unmittelbarer Nähe zu schweben schienen. Zu ihren Füßen wand sich ein schneller smaragdgrüner Fluss – der Andijskoje Koisu. Aus dieser Höhe erschien er unerreichbar, eine weitere Versuchung. Das Auge konnte sich an nichts ausruhen, auch nicht an den zweistöckigen Steinhäusern, die auf zwei Hochebenen direkt am Berghang standen und einander in ihrer Gleichförmigkeit zu übertreffen versuchten. Genauso einfach waren die Gewänder der Frauen und der Lebensstil – streng und genauestens überwacht. Keine Musik, kein Alkohol, nur Gebet und die Furcht vor dem Zorn Gottes wurden geduldet.

Um ihren Aul zu erreichen, musste man eine Woche lang ununterbrochen bergauf reiten. Den Aufstieg bewältigten nur die geschicktesten Reiter und die besten Pferde. Diese Tatsache und das vorrückende russische Heer trugen dazu bei, dass Gäste hier äußerst selten waren und wenn, kamen sie meistens als Gefangene.

Für Kinder war dies jedoch ein wunderbares Reich, sie wurden bis zu einem gewissen Alter nicht sonderlich streng beaufsichtigt und konnten im Gegensatz zu den Erwachsenen die meiste Zeit über tun und lassen, was ihnen einfiel. Ihre Tage waren voller Lachen und Abenteuer, die jeden Morgen aufs Neue erfunden wurden. Jamalludin war ihr Anführer, während Mohammed Gazi, sein kleiner Bruder, ihm überallhin folgte.

Während die Kinder auf den Felsen spielten, hatte Schamil Akhulgo zu einer Festung ausgebaut. Polnische Kriegsgefangene, die voller Hass auf die Russen waren, hatten ihm dabei geholfen, und die Kinder hatten ihnen scheu zugeschaut. Akhulgo wurde seit Monaten von der russischen Armee belagert. Schamils Kämpfer konnten nur wenig dagegen ausrichten. Die Russen hatten auf Zeit gespielt, und diese war nicht auf der Seite des Imams gewesen.

Ihre Situation war inzwischen mehr als schlecht. Die Vorräte waren aufgebraucht, die Menschen aßen Gras, und sogar das Trinkwasser neigte sich dem Ende zu. Die meisten Männer waren gestorben, genauso wie ihre Kinder und Frauen. Die Leichen konnten nicht mehr begraben werden, und so stand der Geruch der Verwesung in jedem Haus und jeder Straße. Er hatte sich in jede Ritze und jede Pore eingeschlichen. Schwärme von Fliegen schwirrten um die Leichen und die Lebenden.

Die Kinder, die noch am Leben waren, spielten schon lange nicht mehr miteinander. Sie verbrachten ihre Zeit völlig apathisch in irgendwelchen kühlen Ecken, von ihren Müttern möglichst fern vom Kanonenfeuer versteckt. Die Frauen eilten mit versteinerten Blicken durch die Gassen, vor Trauer dem Wahnsinn nahe. Es stank bestialisch, nach ungewaschenen Körpern, Wunden, Leichen, Körperausdünstungen und einer existentiellen Verzweiflung. Alle waren erschöpft, vom Kampf, dem Hunger, dem Durst, der Trauer um die Märtyrer. Man hörte laute Klagen und die Schmerzensschreie der Verletzten. Sogar die Frauen kämpften nun. Sie hatten die Kleidung ihrer getöteten Männer angezogen und standen ihnen im Kampf in nichts nach. Patimat sagte, dass sie sich nach dem Tod sehnten und deshalb mutiger als die Männer waren. Auch Schamil hatte immer wieder auf dem Vorhof der Moschee gesessen, ungeschützt vor den russischen Kanonen, mit Jamalludin auf dem Schoß, und wartete auf die Erlösung. Doch sie kam nicht. Also machte er weiter.

Als selbst die Muriden, seine Schüler, anfingen, Gott um einen schnellen Tod zu bitten, nahm Schamil die Verhandlungen mit den Russen auf. Der Krieg zehrte auch an seinen Feinden, viele Soldaten waren gefallen, der Nachschub kam nur langsam an, und die Moral war alles andere als hoch. Und der Zar wünschte sich einen schnellen Sieg. Allerdings stellten die Russen für den Waffenstillstand eine Bedingung, die Schamil unmöglich erfüllen konnte – sie wollten Jamalludin für die Dauer der Verhandlungen als Geisel nehmen, sozusagen als ein Zeichen guten Willens.

Schamil weigerte sich, seinen ältesten Sohn auszuliefern. Er liebte dieses Kind, und er liebte es vielleicht noch mehr, als er den Propheten liebte. Nur war das etwas, was er nicht zugeben konnte, schon gar nicht vor seinen Anhängern. So klar erinnerte er sich an die sternlose, kühle Nacht, in der dieser Junge geboren worden war. Es war eine lange und schwere Geburt gewesen. Sie hatten ihn erst in das Zimmer gerufen, als das Kind auf der Welt war und alle Spuren der Geburt beseitigt waren. Das Baby lag in Schamils Armen, während Patimat erschöpft eingeschlafen war. Jamalludin hatte Schamil lange angesehen, und obwohl seine Augen noch keinen Gegenstand fokussieren konnten, hatte Schamil sich noch nie jemandem so nahe gefühlt wie diesem Kind, auf das sie so lange gewartet hatten. Patimat war lange nicht schwanger geworden. Als Gott ihnen endlich ein Kind geschickt hatte, erlitt Patimat eine Fehlgeburt. Die Blicke der anderen Frauen waren lauernd gewesen, manche schon fast mitleidig – und auch Schamil machte sich allmählich Sorgen. Man hatte ihm bereits geraten, sich eine zweite Frau zu nehmen. Doch dies war das Letzte, was er wollte. Er liebte seine Frau. War er von ihr getrennt, so konnte er an nichts anderes denken als an die Biegung ihres Halses. Er begehrte sie und nur sie, doch sie machte ihn auch schwach, und manchmal hielt er sich von ihr fern, um dieser Schwäche nicht nachzugeben. Er stellte sich auf die Probe, zögerte das Wiedersehen mit Patimat hinaus, um Minuten, Stunden, Tage, Wochen. Sobald er zu ihr zurückkehrte, spürte er einen Stich im Herzen und kam sich vor wie ein Idiot, weil er es zugelassen hatte, so lange von ihr getrennt zu sein.

Schamil ließ die Russen wissen, sie könnten ein anderes Kind haben, einen Neffen, einen Cousin, Schamil war es gleich wen, solange es nicht Jamalludin war. Er beschloss, es auszusitzen. Die Russen gaben nicht nach, und auch Schamil lenkte nicht ein. Doch dann veränderten sich die Blicke seiner Männer. Ihre Söhne waren gefallen, sie hatten nicht gezögert, das Leben ihrer Kinder für ihn zu opfern, und Schamil wollte nicht einmal einen seiner Söhne als Pfand geben? War sein Blut wirklich so viel mehr wert als das ihrer Kinder? Patimat fürchtete die Blicke der anderen Frauen. Sie fürchtete, eine von ihnen würde Jamalludin etwas antun, auch wenn sie nicht glaubte, dass jemand es wagen würde, so weit zu gehen. Aber Leid macht Menschen zu allem fähig.

Dennoch gab Schamil nicht nach. Es war sein Kind. Die Russen drohten mit dem Sturm auf Akhulgo. Die Soldaten waren bereits in Sichtweite, sie harrten vor der Festung aus und ebenso auf den Gipfeln der umliegenden Berge. Aber sie hatten es bisher nicht geschafft, in den Aul einzudringen. Schamils Kämpfer besetzten alle strategisch wichtigen Anhöhen, und sobald die Russen sich näherten, wurden sie mit Steinen beworfen. Viele Kämpfer entschieden sich für den Märtyrertod, gaben ihr Leben für den Tod der Russen, stürmten auf die Soldaten aus den unwahrscheinlichsten Hinterhalten zu, um möglichst viele von ihnen mit in den Tod zu reißen. Sie schlichen sich nachts ins russische Lager und richteten dort Blutbäder an, aber gegen die russischen Kanonen waren sie machtlos. Die Russen beschossen sie Tag und Nacht. Der Kanonendonner wurde zu einem ständigen Hintergrundgeräusch.

Die Gotteskrieger berieten untereinander, Menschen tuschelten auf der Straße, und auch Jamalludin merkte, dass er jetzt anders angeschaut wurde. Es waren nicht mehr die wohlmeinenden, sogar ehrfürchtigen Blicke, an die er bis dahin gewöhnt war. Jamalludin glaubte, eine Frage in den Augen seiner Nachbarn zu lesen, und schon bald war es blanker Hass, den er sah. Damit veränderte sich der Junge, er wurde verschlossener und menschenscheu.

Eines Morgens war er zu seiner Mutter gekommen, hatte sich neben sie gesetzt und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt.

»Werde ich gehen müssen?«, fragte Jamalludin.

»Nein.«

»Ich bin dazu bereit«, murmelte Jamalludin.

Patimat strich über sein Haar, bis Jamalludin sich aufrichtete und ihr in die Augen sah.

»Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf und stand auf.

Es war das erste Mal, dass Jamalludin seiner Mutter nicht glaubte.

Schamil blieb dabei, die Herausgabe seines Sohnes würde keinem nutzen. Die Russen griffen im Morgengrauen an. Sie hatten ihr andauerndes Artilleriefeuer intensiviert und stürmten unter großen Verlusten die Festung. Der Kampf glich einem Inferno, der Feind rückte immer weiter vor. Auch Jamalludin hatte an der Seite seines Vaters gekämpft, bis ein Geschoss seinen Arm gestreift hatte. Die Verletzung war nicht gefährlich, und doch schrie Patimat auf, als sie Jamalludins blutroten Arm sah. Sie presste ihre Hand auf die Wunde und zerrte den Jungen in ein Versteck. Dort kauerten sie zusammen in einer Ecke und warteten auf den Tod. Jamalludins rechte Hand klammerte sich an seinen Dolch.

Nur vier Stunden später hisste Schamil die weiße Flagge. Danach zog er sich zum Gebet in die Moschee zurück. Auch die Russen zogen sich zurück, die Verhandlungen hingen von der Herausgabe Jamalludins ab.

Kurz darauf sah Mohammed Gazi seinen Bruder mit großen Augen an und fragte: »Musst du weg?«

Jamalludin nickte.

»Aber weshalb?«

»Ich helfe Vater«, sagte Jamalludin.

»Vater ist schon groß, er braucht keine Hilfe«, antwortete Mohammed Gazi.

Jamalludin sah, dass sich die Augen seines Bruders mit Tränen füllten. Er fuhr mit der Hand durch das Haar seines Bruders, wie es Patimat immer tat. Tatsächlich verstand er nicht, weshalb er von hier wegsollte. Doch Schamil konnte nur so lange an der Macht bleiben, wie es der Glaube der Dorfbewohner an seine Unbesiegbarkeit zuließ: Schamils Taktik hing vom guten Willen der Bevölkerung ab. Sie waren es, die die russischen Soldaten verwirrten, sie verkleideten sich als Kämpfer, sodass es schien, als seien Schamils Kämpfer unendlich viele und überall, und diese gaben sich wiederum als einfache Landwirte aus, griffen so die feindlichen Stellungen und Nachschublinien an, bevor sie wieder im Wald verschwanden. Die Zivilisten beschäftigte Schamil als Spione, er wusste über die russischen Truppenbewegungen besser Bescheid als ihr eigener Generalstab. Gegen Schamils Taktik vermochte jahrelang niemand etwas auszurichten. Zumindest bis jetzt. Nun hatten sie einen Weg gefunden.

Jamalludin blickte sich ein letztes Mal in seinem Zimmer um. Er überlegte, ob er etwas mitnehmen sollte außer seinem Dolch, irgendeine Erinnerung, aber er wusste nicht was, und außerdem wäre er in ein paar Tagen oder spätestens Wochen ohnehin wieder zu Hause. In der Zwischenzeit würde er seinen Vater stolz machen. Er würde sich den Feinden ausliefern. Er würde ruhig sein, sie würden niemals erfahren, was in ihm vorging. Er war Schamils Sohn. Sohn des Imams, der Liebling seiner Mutter.

Jamalludin gab sich einen Ruck und ging auf den Hof hinaus. Die im Innenhof angestaute Hitze nahm ihm die Luft zum Atmen. Schamil sah majestätisch und unerreichbar aus – so, wie er eigentlich immer aussah. Jamalludin liebte seinen Vater, aber er fürchtete ihn auch, denn Schamil war so anders als Patimat – verschlossen, streng und gnadenlos gerecht. Er war ein Held. Der von Gott Auserwählte.

Jamalludin blinzelte, die Sonne schien ihm direkt in die Augen. Schamil legte seine Hände auf Jamalludins Schulter, und der Junge meinte, das ganze Gewicht seiner Herkunft auf sich zu spüren. Dann sprach Schamil ein kurzes Gebet und küsste Jamalludins Stirn. Das war alles. Der Imam verschwand wieder in der Moschee. Patimat weinte, und Djawarat, die zweite Frau seines Vaters, die er im letzten Jahr geheiratet hatte, versuchte, ihr Trost zu spenden. Sie hatte erst vor wenigen Wochen einen kleinen Jungen geboren, weswegen sie sich noch immer langsam und schwerfällig bewegte.

»In ein paar Tagen bist du wieder bei mir«, sagte Patimat und küsste ihren Sohn.

Ihre Armbänder klirrten. Sie waren aus Gold und mit großen Edelsteinen verziert. Eigentlich fand Schamil, dass sich so etwas nicht ziemte, aber Patimat setzte sich bei dieser Kleinigkeit durch. Der Schmuck hatte bereits ihrer Mutter gehört.

Jamalludin zwang sich aufzublicken. Patimats Gesicht war tränenüberströmt. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wann er seine Mutter zum letzten Mal fröhlich gesehen hatte. Er wollte sie trösten, ihr versichern, dass er sich zu benehmen wusste, aber hierfür fehlten ihm die Worte. Als er nickte, standen ihm Tränen in den Augen, und er senkte seinen Blick rasch wieder auf den Boden. Patimat bedeckte ihr Gesicht mit dem Schleier, noch einmal versicherte sie ihm, dass er bald nach Hause kommen würde, dass sie bald wieder vereint wären, sie versprach ihm alles, was ihr einfiel, und gleichzeitig dachte sie an ihren Neffen, der seit zwei Jahren in russischer Gefangenschaft war und von dem sie noch nicht einmal wussten, ob er noch am Leben war.

Mohammed Gazi umarmte ihn stumm, und auch das Gewicht dieser Umarmung versuchte Jamalludin sich genau einzuprägen. Der Bruder war nur ein Jahr jünger als Jamalludin, von kräftiger Gestalt und mit großen mandelförmigen Augen. Schon mit zwei Jahren hatte er wie ein ganz und gar fertiger Miniatur-Mann ausgesehen. Jamalludin küsste auch seinen schlafenden Halbbruder. Er roch nach Milch und Schlaf, hatte ein kleines, rundes Gesicht und einen völlig kahlen Hinterkopf. Dann verabschiedete er sich von Djawarat und von seiner Großmutter.

Der Aufbruch ließ sich nicht mehr hinauszögern. Jamalludin griff nach dem Zaumzeug seines Pferdes, streichelte ihm über den Kopf und führte es vom Hof. Younnus blieb dicht neben ihm, und das gab Jamalludin die notwendige Sicherheit. Younnus war für ihn immer so etwas wie ein Onkel gewesen, wenn auch ein recht unzugänglicher. Sein Gesicht war starr und distanziert, als wollte er mit seiner Umgebung so wenig Kontakt wie möglich halten, doch seine Augen waren freundlich und von einem warmen Braunton. Er war einer der engsten Vertrauten seines Vaters, was Jamalludin seltsam vorkam, denn Younnus sprach fast gar nicht, und er konnte sich keine Konversation zwischen den beiden vorstellen. Aber vielleicht hielt gerade das sie zusammen.

Vor ihrem Tor hatte sich der ganze Aul versammelt, um von ihm Abschied zu nehmen. Jamalludin versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Er versuchte, sich überhaupt nichts anmerken zu lassen. Jamalludin betrachtete aufmerksam die dicht zusammengedrängten Häuser aus sorgfältig behauten Steinen, den Boden, der voller Staub und übersät mit kleinen und größeren Steinchen war. Schließlich wandte er sich den angespannten Gesichtern der Menschen um ihn herum zu. Die Menschenmenge blieb stumm, viele Dutzend Augen starrten Jamalludin neugierig an, manche von ihnen waren voller Mitleid, andere noch immer feindselig. Aber alle hofften, dass er gehen würde. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Als sie Akhulgo hinter sich ließen, stiegen sie auf ihre Pferde und begannen mit dem Abstieg. Die Serpentine, der sie folgten, war schmal und nah an einer Felswand aus nacktem Kalkgestein. Jamalludin versuchte in der Ferne einen Blick auf die mit Eis bedeckten Gipfel des Großen Kaukasus zu erhaschen. Die Luft wurde mit jedem Meter schwüler. Younnus trug die weiße Flagge. Auch seine Miene war undurchdringlich, seit dem Morgen hatte er keinen einzigen Laut von sich gegeben. Jamalludin sehnte sich nach seiner Mutter. Wie gerne wäre er umgekehrt, zu ihr gerannt und hätte sich hinter ihrem Rücken versteckt. Er würde weinen, sie würde ihn trösten. Er vermisste seinen Bruder, selbst ihren Streit, wenn sie sich gegenseitig das Spielzeug klauten. Auch nach seinem Vater sehnte er sich nun.

Jamalludin beobachtete einen Adler, der hoch über ihnen schwebte. Seine breiten Flügel glänzten im Sonnenlicht. Die Sonne stand fast im Zenit, und die Luft bewegte sich kaum. Der Spätsommerhimmel war blau und wolkenlos. Insekten surrten laut, ganze Wolken von Mücken folgten ihnen. Das Wasser in den Flüssen war gefallen, viele Bäche ausgetrocknet. Nur der Koisu wirkte aus der Nähe noch mächtiger, die von Akhulgo aus nur in der Ferne sichtbare smaragdgrüne Wasserfläche wurde zu einem rauschenden und gewalttätigen Strom. Schweiß rann Jamalludins Nacken hinab. Er wandte seine Augen vom Wasser ab, die Aufregung machte ihn zugleich müde und wach. Seine Lippen waren rissig, der Mund trocken und die weißen Kleider voller Staub.

Schließlich sahen sie das russische Lager – ein weites Feld voller kleiner Zelte und Lagerfeuer. Vor dem eigentlichen Lager wartete bereits eine große Gruppe berittener russischer Offiziere auf sie. Der Stahl ihrer Bajonette glänzte in der Sonne. Jamalludin schaute zu Younnus. Dieser ritt nun langsamer, und Jamalludin tat es ihm nach.

Nur eine Minute später legte Younnus seine Hand auf Jamalludins Schulter. Er ließ sein Pferd einen zaghaften Schritt vorwärts machen und dann noch einen. Zwei russische Offiziere kamen ihm entgegen.

Jamalludin wusste nicht, was ihn erwartete. Er hatte keine klare Vorstellung von den Russen. Immerhin waren über ihren Herrscher ein paar Fakten bekannt – der weiße Zar, der über die Russen herrschte, war ihr Feind; er hatte den falschen Glauben, seine Soldaten waren furchtlos und sie waren kurz davor, den Krieg zu gewinnen. Er wusste auch, wie die russischen Soldaten aussahen, er hatte sie oft genug im Kampf gesehen. Aber nun wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nichts über sie wusste, und dies versetzte ihn in Panik. Er drehte seinen Kopf zu Younnus, doch Younnus’ Gesicht war so undurchdringlich wie immer.

Vor dem Lager wartete bereits eine kleine Gruppe von Soldaten auf sie. Es waren vier Offiziere, die alle beritten waren, ihre Paradeuniformen und angespannte Gesichtszüge zur Schau trugen. Sie nahmen Jamalludin in Empfang, und einer von ihnen sprach ihn auf Russisch an, nur verstand Jamalludin kein Wort des Gesagten und betrachtete ahnungslos das breite Gesicht des Soldaten. Der drehte sich zu Younnus um in der Hoffnung, dieser könnte das Gesagte übersetzen, doch Younnus blickte ihn nicht an. Jamalludin nickte, stieg von seinem Pferd ab und streckte seinen Rücken durch. Dann sah er dem Soldaten direkt in die Augen. Sie waren klein und blau unter buschigen blonden Brauen.

»Gestatte mir, mich vorzustellen – Alexander«, sagte der Offizier und verbeugte sich leicht. Alexander war kräftig gebaut und mittelgroß, hatte hohe Wangenknochen, eine helle, sonnenverbrannte Haut und einen rötlichen Schnurrbart, der nicht zu seinem blonden Haar passen wollte. Die Nase war lang und gerade.

Die drei anderen gaben keinen Laut von sich, aber grinsten umso deutlicher. Alexander sagte ein paar Sätze auf Französisch, die nicht an Jamalludin gerichtet waren, und schließlich zeigte er mit dem Zeigefinger auf seinen Torso und sagte langsamer als nötig gewesen wäre: »Alexander.«

Alexander war der Spross einer adligen russischen Familie und der Erbe eines riesigen Vermögens, allerdings war er wegen eines illegalen Duells degradiert und in den Kaukasus verbannt worden. Seine Familie blieb in St. Petersburg zurück. An der Front musste er sich wieder nach oben dienen, und obwohl er gerade einen der niedrigsten Ränge einnahm, gehorchten ihm die anderen sofort.

Jamalludin nickte wieder. Younnus’ Pferd scharrte mit dem Vorderhuf. Jamalludin schaute ängstlich zu Alexander. Erst jetzt verstand er, dass er völlig auf sich allein gestellt sein würde. Er drehte sich zu Younnus um und sagte, ohne ihn anzuschauen: »Bitte, lass mich nicht allein.«

Younnus strafte ihn mit einem verärgerten Blick.

»Reiß dich zusammen«, sagte er.

»Ich habe Angst«, flüsterte Jamalludin kaum hörbar.

»Ein Aware hat vor nichts Angst.«

Alexander beobachtete neugierig, wie Younnus sich, ohne die Russen auch nur eines Blickes zu würdigen, von Jamalludin verabschiedete. Er schaute ihm in die Augen, nickte kaum merklich und ritt davon. Younnus war einer der besten Reiter im gesamten Kaukasus, wenn nicht auf der ganzen Welt, und nun war es ihm gelungen, seine ganze Verachtung in den Gang seines Pferdes zu legen. Dann ritt Jamalludin gemeinsam mit den Offizieren zum Lager, wobei Alexander in Jamalludins unmittelbarer Nähe blieb.

Die meisten Soldaten waren aus ihren Zelten gekommen, um einen Blick auf Jamalludin werfen zu können – sein Erscheinungsbild und vermeintlicher Charakter wurden ausführlich kommentiert. Jamalludin versuchte, nur geradeaus zu schauen, er kam sich wie eine Kriegstrophäe vor. Er wünschte sich, sein Vater hätte ihn auf die Geiselhaft vorbereitet, ihm zumindest etwas über die Russen erzählt oder auch nur ein paar Brocken ihrer Sprache beigebracht, aber Schamil hatte bis zuletzt an den Sieg geglaubt. Oder sich zumindest gegenüber seinem Sohn zuversichtlich gegeben – immerhin befand sich sein Neffe schon seit zwei Jahren in russischer Gefangenschaft, ohne Nachricht über sein Wohlergehen oder Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Die Stimmung im Lager war ausgelassen, die Soldaten feierten, sie wähnten sich kurz vor einem bedeutenden Sieg. Vielleicht wäre bald der gesamte jahrzehntelange Kaukasische Krieg Geschichte, und sie könnten endlich nach Hause zurückkehren, zu ihren Frauen und Kindern, und leider auch zu ihren Gutsherren, aber selbst die waren besser als diese sinnlosen Schlachten. Zur Feier dieses Tages hatten sie Extrarationen von Fleisch und Wodka bekommen, und das hatte ihre ohnehin ausgelassene Stimmung in Euphorie verwandelt. Dennoch waren ihre Blicke nicht freundlicher als die der Aul-Bewohner. Jamalludin hörte ihr Lachen, ihr Tuscheln, ihre Ausrufe, ihre Witze – er, der Sohn des Imams, schaute nach vorn und versuchte, alles stolz und selbstbewusst über sich ergehen zu lassen.

Jamalludin wurde in ein Zelt geführt, das größer war als das Haus seines Vaters. Er senkte den Blick, so wie er es von seinen Eltern gelernt hatte. Als er merkte, dass niemand sonderlich auf ihn achtete, fing er an, sich neugierig umzuschauen. Der Raum war äußerst luxuriös eingerichtet – in der Zeltmitte stand ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem Unmengen an Papier und eine ausgebreitete Landkarte lagen, auf welcher mehrere Punkte mit Zinnsoldaten markiert waren. Weiter hinten stand ein Tisch für die Spielkarten, ein Sofa mit einer vergoldeten Lehne, zwei Sessel und ein goldener Samowar. Die Erde war mit feinen Teppichen bedeckt. Alexander zeigte auf das Sofa und gab Jamalludin ein Zeichen, sich zu setzen. Dann ging er hinüber zu den anderen.

Die Offiziere unterhielten sich aufgeregt auf Französisch, wobei sie immer wieder russische, englische oder deutsche Vokabeln einstreuten. Eine Flasche Champagner wurde entkorkt, die Männer klopften sich gegenseitig auf die Schultern und beglückwünschten sich. Alexander stand in ihrer Mitte und strahlte.

»Dafür bekommst du bestimmt den Wladimir und die Anna um den Hals gebunden. Wenn das mal keine schöne Beförderung wird«, sagte einer der Männer in einem herrlichen Rock mit silbernen Epauletten.

»Grüß uns dann St. Petersburg«, scherzte ein anderer.

»Für Russland und den Zaren!«, rief Alexander so plötzlich, als ob er Angst hätte, jemand könnte an seiner Vaterlandstreue zweifeln.

Ein Diener brachte ein Tablett mit feinsten Porzellantassen und mehreren Schalen, gefüllt mit Früchten und Feingebäck. Jamalludin hatte schon sehr lange nichts mehr gegessen, und jetzt schienen sich Hunger und Gier zu einem schwarzen Loch in seinem Magen zusammenzuziehen. Alexander kam wieder zu ihm, deutete auf den Teller und gab Jamalludin ein Zeichen, sich zu bedienen.

Jamalludin nahm eine Nektarine vom Tablett und biss durch die dünne Schale hinein. Der süße Fruchtsaft schoss in seinen Mund, er spürte die verwegene Weichheit der Frucht und schloss die Augen. Es war ein Geschmack, den er schon fast vergessen hatte, und als er auf den Kern biss, zog sich sein Gesicht vor Überraschung zusammen. Ohne den Diener anzublicken, nahm er einen Apfel vom Tablett und dann eine Apfelsine.

Danach passierte nicht allzu viel – die Soldaten feierten weiter, und Jamalludin, obwohl nach wie vor bewacht, wurde sich selbst überlassen. Er zog sich in einen Winkel des Zeltes zurück und setzte sich auf den Boden. Neugierig beobachtete er die Offiziere. Mittlerweile stand vor ihm ein großer Teller mit gegrilltem Fleisch. Er fragte sich, worüber die Männer sprachen und wer sie sein mochten. Das Essen bekam Jamalludin nicht. Sein Magen war nicht mehr daran gewöhnt, solche Mengen zu verdauen und revoltierte. Er rannte hinaus und übergab sich vor dem Zelt. Erst jetzt erinnerten sich die Soldaten an seine Existenz. Sie lachten ihn aus.

In dieser Nacht schlief Jamalludin in einem kleinen Zelt. Obwohl vor dem Eingang zwei Wachen postiert wurden, wäre es nicht allzu schwer gewesen, wegzulaufen, aber es wäre auch unehrenhaft gewesen und hätte wahrscheinlich die Verhandlungen seines Vaters sabotiert. Also wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Er war so müde, dass er den Impuls zu schlafen nicht mehr unterdrücken konnte, dennoch hatte er Angst einzuschlafen. Alles um ihn herum war ihm fremd, die Geräusche, die Gerüche, die Menschen und ihre Gewohnheiten. Selbst der Gesang der Vögel erschien ihm anders. Wenn sein Vater wirklich der von Gott Auserwählte war, weshalb war Jamalludin dann hier? Und die Russen? Was machten sie eigentlich so fern von ihren Häusern? Weshalb kamen sie ausgerechnet hierher mit all ihren Waffen und Kanonen? Wer hatte sie eingeladen?

Die Soldaten feierten noch immer, sie tranken, sangen und brüllten. Mit erschreckender Regelmäßigkeit schoss jemand in die Luft, Jamalludin hörte die trunkenen Gesänge und vergrub sein Gesicht in seinem Kopfkissen, denn zum ersten Mal war niemand da, der ihm sagen würde, dass er dies nicht dürfe – er sei ein Mann, Schamils Sohn und so weiter und so fort. Heute Nacht war er nur ein kleiner Junge, der seine Eltern vermisste und hemmungslos weinte. Er wollte nach Hause, er wollte sein Bett und seine Mutter. Er wollte nichts weiter, als gewöhnlich zu sein.

2

18.August 1839

Am Morgen wachte er erst spät auf und schaute sich verwundert um: Die Sonne war schon längst aufgegangen. Dann fiel ihm wieder ein, wo er sich befand. Die letzte Nacht war die erste seit sehr langer Zeit gewesen, in der er nicht dem Kanonendonner ausgesetzt war und in der bis auf die betrunkenen Russen alles ruhig geblieben war, und so hatte sich sein Körper die Ruhe genommen, die er allzu lange vermisst hatte. Auch der gewohnte Ruf des Muezzins zum Gebet hatte ihm gefehlt, und so hatte er das Morgengebet verschlafen. Der Himmel war wolkenlos und tiefblau. Das gute Wetter kam Jamalludin wie ein Betrug vor.

In diesem Augenblick tauchten auch zwei russische Soldaten im Zelt auf – beide grinsten, als sie Jamalludin noch auf dem Bettlager vorfanden. Der eine war groß und schlaksig, hatte aber einen kleinen Kopf, der wie geliehen aussah.

Das Gesicht des anderen war vom Alkohol verwüstet, aufgedunsen, die Nase von bläulichen Adern und Pusteln überwuchert. Sie gaben ihm ein Zeichen, sich anzuziehen, doch Jamalludin hatte aus Angst einzuschlafen seine Kleider gar nicht erst ausgezogen.

»Sieh an, die muslimische Made lebt noch«, sagte einer der beiden Soldaten.

Der Alkoholiker spuckte auf den Boden und ballte die Fäuste.

Jamalludin sprang auf, zu allem bereit tastete er nach seinem Dolch. In diesem Augenblick betrat Alexander das Zelt. Er hielt ein kleines Tablett mit Brot in den Händen, mit ein wenig Honig, Äpfeln und einer Tasse lauwarmem schwarzem Tee. Lächelnd stellte er es vor Jamalludin ab und schaute dann die beiden Soldaten verwundert und verächtlich an.

»Was macht ihr hier?«, fragte Alexander streng.

»Wollten nur sehen, was der da macht, Eure Exzellenz«, sagte der schlaksige Soldat und verbeugte sich leicht.

»Wieso bekommt er bessere Kost als wir?«, wollte der andere wissen: »Er ist doch Kriegsgefangener!«

»Raus«, schrie Alexander. Seine Augen verengten sich.

Die beiden entfernten sich schweigend, wenn auch widerwillig.

Jamalludin setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, Alexander tat es ihm nach. Dann schob er das Tablett ein wenig näher an Jamalludin heran. Nickte. Wartete. Er schien in einer melancholischen Stimmung zu sein.

Jamalludin steckte sich ein Stück Brot in den Mund und sah dem Offizier direkt in die Augen. Der Mann hatte seine Neugierde geweckt.

»Weißt du, ich habe einen Sohn in deinem Alter«, sagte Alexander.

Jamalludin nahm noch eine Scheibe Brot und schaute Alexander neugierig an, ohne ein Wort zu verstehen.

»Hier« – Alexander zog ein kleines Medaillon aus seinem Rock hervor, in dem zwei Porträts zu sehen waren, das einer jungen Frau mit schwarzem Haar und das eines kleinen Jungen, der seiner Mutter auffallend ähnlich sah.

»Sergej«, sagte Alexander und deutete auf den Jungen: »Ein famoser kleiner Junge, demnächst wird er Kadett.« Jamalludin achtete auf Alexanders Ton, um zumindest etwas über ihn herauszufinden, doch Alexander sprach über seinen Sohn in einer unbeschwerten Weise, die Jamalludin nichts verriet.

Jamalludin nahm das Medaillon in die Hand. Er fragte sich, ob Alexander erwartete, dass er dem Jungen Sympathie entgegenbringen würde. Wahrscheinlich war dem so, beschloss Jamalludin und betrachtete aufmerksam das Porträt. Der Junge sah mit seinen schwarzen Locken nicht viel anders aus als Jamalludins Spielkameraden, und doch würde eines Tages auch er wie sein Vater Soldat werden, und Jamalludin würde gegen ihn kämpfen. Alexander schien Jamalludins Gedanken erraten zu haben. Er seufzte, denn der Lauf der Dinge war nicht zu ändern. Dann steckte er das Medaillon schnell in seine Tasche, ohne es noch einmal zu betrachten.

Alexander führte Jamalludin wieder in das große Zelt, wo der Generalstab sich versammelte, und bedeutete ihm, dort zu warten. Nur wenig später kam eine groß gewachsene Gestalt ins Zelt, gefolgt von mehreren Adjutanten und Offizieren. Ihre Uniform mit den doppelreihigen Knöpfen war mit vielen Orden behangen, die Epauletten waren golden und der ganze Mann in eine Parfümwolke gehüllt. Sein Gesicht hatte etwas Eitles und Ambivalentes, die Bewegungen wirkten gereizt und deuteten eine gewisse Schärfe des Charakters an.

Die Offiziere nahmen augenblicklich Haltung an, und auch Jamalludin stand auf, drückte seinen Rücken durch und wartete angespannt.

Der Generalleutnant Pawel Christoforowitsch Grabbe betrachtete Jamalludin lange. Schließlich bemühte er seine Gesichtsmuskulatur um etwas, das als ein Lächeln durchgehen konnte, und fing an zu sprechen. Er sprach mit einer tiefen und lauten Stimme, artikulierte wie ein Schauspieler und änderte dennoch niemals seinen Tonfall. Grabbe versuchte, seine Rede auf Russisch, dann auf Französisch, Englisch und Deutsch zu halten, doch Jamalludin war keine dieser Sprachen geläufig. Entsetzt starrte der Junge den Generalleutnant an. Dann schrie Grabbe Alexander etwas zu, woraufhin dieser rot wurde und den Blick senkte. Er hatte vergessen, sich um einen Dolmetscher zu kümmern. Der Generalleutnant sprach immer schneller, und seine Hände zitterten. Er wechselte wieder ins Französische und redete äußerst langsam, als ob ihm die Idee gekommen wäre, dass jeder Französisch verstünde, wenn diese Sprache nur langsam genug gesprochen würde.

Mehrmals ließ Grabbe brennende Zigaretten auf den Fußboden fallen, die seine Adjutanten eilig auflasen, bevor sie das ganze Zelt niederbrennen konnten. Er redete ununterbrochen auf Jamalludin ein, während sich keiner der Anwesenden auch nur eine einzige Muskelregung erlaubte. Plötzlich hörte Grabbe auf zu reden, auch sein Blick veränderte sich. Der Glanz wich der Müdigkeit. Er schaute Jamalludin in die Augen, zuckte mit den Schultern, gab Alexander eine kurze Anweisung und verließ das Zelt.

Alexander nickte ehrfurchtsvoll und schaute dem General lange nach. Je weiter Grabbe sich entfernte, desto spöttischer wurde Alexanders Blick und seine Körperhaltung lockerer.

3

18./19.August 1839

Nachdem der Generalleutnant seine Verständigungsbemühungen vollends aufgegeben hatte, fand Jamalludin sich eingepfercht zwischen zwei zigarrerauchenden Offizieren in einer Kutsche wieder. Niemand erklärte ihm irgendetwas, stattdessen unterhielten sich die beiden angeregt in einer Sprache, von der Jamalludin kein Wort verstand. Aber er verstand sehr wohl, dass die Russen sich nicht an die Abmachung hielten und dass er Akhulgo und seine Familie so schnell nicht wiedersehen würde.

Die Sonne ergoss sich über das Gras, über den Feldblumen summten Insekten, der Himmel war wieder hellblau und wolkenlos. Hinter dem Fenster der Kutsche flog die Landschaft an ihm vorbei. Jamalludin starrte aus dem Fenster, ohne irgendetwas zu erkennen oder auch nur genau hinzuschauen. Die Kutsche glitt an Wäldern, grasbewachsenen Weiten, Lichtungen, Feldern und Sümpfen vorbei. Er achtete nicht auf das Himmelblau oder das Grün der Bäume, hörte nicht auf die Vögel und die Unterhaltung seiner Wachen, die in einer Mischung aus Russisch und Französisch geführt wurde. Er weinte nicht. Er klammerte sich an das, was er wusste: Er war Jamalludin, ein Aware. Schamils Sohn. Sohn des Imams, der Liebling seiner Mutter. Wie lange das reichen würde, wusste er nicht.

Gegen Mittag machten sie halt, die Offiziere ließen ihn mitten im Feld austreten und taten es dann selbst auch. Zusammen mit dem Kutscher setzten sie sich in den Schatten, den ihre Kutsche warf. Die Soldaten boten ihm etwas Brot an. Als er ablehnte, versuchten sie es mit Obst, ihre Wodkaflasche zeigten sie Jamalludin wohlweislich nicht. Die Luft war voller Insekten und ihrem Summen. Die Soldaten kratzten hingebungsvoll ihre neuen Stiche und fluchten. Jamalludin sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber weit und breit gab es nichts außer sattem grünem Gras. Er hätte nicht einmal gewusst, in welche Richtung er laufen sollte. Die Russen lachten, tranken. Wolken zogen vorüber. Er wartete darauf, dass die vorbeiziehenden Wolken eine vertraute Form annehmen würden, eine Kuh, einen Esel, ein Gesicht – doch heute wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Anschließend fuhr die Kutsche weiter, die Wachen waren heiterer und schliefen schnell ein, aber Jamalludin starrte noch immer aus dem Fenster.

Am Abend, als die Sonne schon längst untergegangen war, blieb die Kutsche im russischen Hauptquartier einer kleinen Garnisonsstadt stehen. Jamalludin warf durch das Fenster einen schnellen Blick auf den Mond, der in jener Nacht besonders klein und fern wirkte.

Der Offizier, der Wache hielt und gerade erst aufgewacht war, zeigte auf die Festung und rief mehrmals aus: »Temur-Khan-Shura.«

Jamalludin nickte. Er kannte die Festung nur ihrem Namen nach, sein Vater hatte mehrmals versucht, sie einzunehmen. Ihre Kutsche passierte das Tor und blieb vor einem zweigeschossigen Bau stehen, dessen Umrisse Jamalludin in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Die beiden Offiziere stiegen aus und bedeuteten auch Jamalludin, es ihnen gleichzutun. Jamalludin zog es allerdings vor, gar nichts zu machen. Die Abmachung zwischen seinem Vater und den Russen sah keine Kutsche vor. Sie sah keine Festung vor und keine Sprachlosigkeit. Sie sah vor, dass er nach drei Tagen zu seinen Eltern zurückkehren würde. Das hier war nicht abgemacht. Also würde er auch nicht aussteigen.

Die Offiziere standen vor der Eingangstür und gaben wieder Zeichen, die ihn zum Aussteigen bewegen sollten. Jamalludin blieb sitzen, den Blick starr geradeaus gerichtet. Dann versuchten sie, ihn herauszuzerren. Ihre Arme griffen nach ihm, umklammerten seine Oberschenkel, seine Arme, waren zu nah an seinem Hals, und die Nähe ihrer Körper machte Jamalludin rasend. Die Wut kam plötzlich, und sie kam mit voller Wucht, denn Jamalludin war bis dahin gar nicht bewusst gewesen, dass er wütend war. Er schlug um sich, seine Raserei steigerte sich, erreichte ihren Höhepunkt, schlug erst in Verzweiflung und dann in Panik um, als er spürte, dass sie ihm körperlich überlegen waren. Er versuchte, ihre Glieder von seinen abzuschütteln, und biss einen der Offiziere in den Arm. Sie waren stärker. Einer verdrehte ihm die Arme und hielt sie hinter seinen Rücken fest, der andere nahm ihm seinen Dolch ab.

Als er vor ihnen stand, gedemütigt und von ihnen überwältigt, lachten sie ihn aus. Wieder stieg in ihm das Gefühl der rasenden Wut und der Machtlosigkeit auf. In ihren Augen war die dümmliche Freude darüber zu sehen, eigenhändig den Sohn des Imams Schamil besiegt zu haben – selbst wenn dieser noch ein kleines Kind war. Als hätten sie in ihrer Nichtigkeit den Imam persönlich gedemütigt. Sie begutachteten aufmerksam Jamalludins Dolch und gaben Kommentare ab, die dieser nicht verstand. Dann packte der Jüngere der beiden die Waffe ein. Jamalludin wünschte ihm den Tod einer Ratte. Ihm und seiner ganzen Sippe. Er spuckte in das Gesicht, das ihm am nächsten war, und sein Körper bäumte sich noch einmal mit aller Kraft auf. Doch es war sinnlos.

Jamalludin wurde hineingeführt. In einem hellen Arbeitszimmer ließen sie ihn los. Überall waren Kerzen aufgestellt und verbreiteten warmes Licht. An den Wänden standen zwei breite Sofas und hinter ihnen ein hoher Bücherschrank, und der Boden war mit feinen persischen Teppichen bedeckt.

Um einen dunklen Holztisch waren mehrere Offiziere versammelt, in prächtigen Uniformen und mit zahlreichen Orden dekoriert. Die russischen Soldaten hängten sich mehr Schmuck um als seine alten Tanten, dachte Jamalludin.

In ihrer Mitte stand ein Mann mit einem ausgeprägten Bauchansatz. Er trug ebenfalls die russische Uniform, hatte schwarze Haare und einen langen schwarzen Bart – dieses Schwarz hatte Jamalludin seit dem Verlassen Akhulgos nicht mehr gesehen. Jamalludin schaute ihn gespannt an.

»Willkommen«, sagte der Fremde auf Awarisch. Er stellte sich nicht vor. Jamalludins Gesicht entspannte sich ein wenig. Es war das erste Mal, dass er wieder etwas verstand. Doch wenn er diesen Mann verstehen konnte, war der andere entweder ein Verräter oder ein Spion, und da er seinen Namen nicht nannte, war ihm dieser sicherlich ohnehin geläufig. Im ersten Moment war Jamalludin das egal, er war froh, erfahren zu können, was vor sich ging.

Der Verräter machte ein Handzeichen, woraufhin die anderen verstummten.

»Möchtest du dich ausruhen?«, fragte der Fremde und deutete auf ein Sofa, das weiter hinten im Raum an einer Wand stand.

»Ich würde lieber wissen, was mit mir geschehen wird«, sagte Jamalludin.

»Du musst keine Angst haben«, sagte der Mann und läutete eine silberne Glocke. Eine junge Frau mit feuerrotem Haar brachte ihnen ein paar Erfrischungen, die Jamalludin nicht beachtete. Er schaute irritiert auf ihr offenes Haar. Bisher hatte er nur die Haare seiner Mutter gesehen, und diese waren schwarz. Dass es bei Frauen auch andere Haarfarben geben könnte, war ihm bis dahin nicht in den Sinn gekommen. Zudem verstand er nicht, weshalb ihr Haar nicht bedeckt war.

»Möchtest du etwas essen?«, fragte der Schwarzhaarige, und erst da fiel Jamalludins Blick auf die Früchte, das Gebäck und den Tee, die auf schweren Tabletts warteten.

»Was wird mit mir geschehen?« Jamalludin wiederholte seine Frage. Seine Stimme klang fest und selbstsicher.

»Du hast eine lange Reise vor dir. Man wird dich nach St. Petersburg bringen.«