Die juristische Unschärfe einer Ehe - Olga Grjasnowa - E-Book

Die juristische Unschärfe einer Ehe E-Book

Olga Grjasnowa

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Beschreibung

Leyla wollte immer nur eins: Tanzen. Doch nach einem Unfall muss sie das Bolschoi-Theater in Moskau verlassen. Altay ist Psychiater. Nachdem sich seine große Liebe umgebracht hat, lässt er keinen Mann mehr an sich heran. Altay und Leyla führen eine Scheinehe, um ihre Familien ruhig zu stellen. Als die beiden mit Mitte Zwanzig in Berlin von vorne anfangen, tritt Jonoun in ihr Leben. Olga Grjasnowa erzählt von zwei Frauen und einem Mann, die von der Liebe träumen, aber auch nicht wissen, wie man mit der Liebe lebt. Eine rasante Dreiecksgeschichte und ein ungeheuer direkt erzählter Roman über Glück und Unglück in einer Zeit, da alles möglich scheint.

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Hanser E-Book

OLGA GRJASNOWA

Die juristische Unschärfe einer Ehe

Roman

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24682-9

© Carl Hanser Verlag München 2014

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Bild: Luigi Serafini, Codex Seraphinianus, Rizzoli 2013, © 2014, Luigi Serafini mit freundlicher Genehmigung von © Franco Maria Ricci Collection

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Julia

»That old joke – you know, a guy walks into a psychiatrist’s office and says, hey doc, my brother’s crazy! He thinks he’s a chicken. Then the doc says, why don’t you turn him in? Then the guy says, I would but I need the eggs. I guess that’s how I feel about relationships. They’re totally crazy, irrational, and absurd, but we keep going through it because we need the eggs.«

Woody Allen, Der Stadtneurotiker

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Leylas Zelle maß drei mal zwei Meter und sah aus wie der Hauptschauplatz eines schlechten Film Noir. Eine harte Pritsche und ein winziges vergittertes Fenster. Die Luft war stickig, und die Tage dehnten sich schamlos aus. Die meiste Zeit über lag Leyla auf dem Bauch, ihre Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Ihr Körper widerte sie an. Sie hatte seit einer Woche nicht mehr geduscht. Auf ihrem Kleid waren mehrere Schichten Blut und Schweiß übereinander getrocknet.

Sie war wegen illegaler Autorennen in der Innenstadt von Baku festgenommen worden. Die offizielle Anklage hätte »Rowdytum« lauten können, doch eine Anklage wurde nicht einmal erhoben. Autorennen gehörten zu den Hobbys der Goldenen Aseri-Jugend, und sie waren die letzte Möglichkeit der Revolte. Reiche Sprösslinge kauften sich von ihrem Taschengeld alte sowjetische Autos, auf die man einst ein Jahrzehnt warten musste. Die Rennen fanden bei Nacht und ausschließlich in belebten Gegenden statt, nicht selten kamen dabei Fußgänger ums Leben, was den Charme des Ganzen natürlich erhöhte. Niemand wusste, wer diese Autorennen erfunden hatte. Die Inhaftierten gaben nichts preis – und die Wärter fragten nicht nach.

Bei der Präsidentenfamilie waren die Autorennen verpönt und gehörten zu den wenigen Vergehen, die sich nicht mit Geld regeln ließen. Die jungen Fahrer, es war noch nie jemand festgenommen worden, der älter als sechsundzwanzig gewesen wäre, wurden in der Regel auf der Polizeiwache festgehalten und von mehreren Beamten abwechselnd verprügelt. Eine durchaus gängige, ja sogar für diese Breitengrade harmlose Praxis.

Und so wurde Leyla dreimal täglich von einem jungen Polizeischüler abgeholt und in Handschellen ins Untersuchungszimmer geführt. Es war derselbe Junge, der ihr das Wasser und das Essen brachte – schmächtig, von kleinem Wuchs und mit dem traurigen Blick eines ewigen Verlierers. Das Untersuchungszimmer war geräumig und bis auf einen schmalen Tisch und zwei Stühle leer. Er band Leylas Hand- und Fußgelenke fest. Erst während der Fixierung kam der zweite Polizeischüler hinzu: eine operierte Hasenscharte, zwei Goldzähne und ansonsten symmetrische Züge mit zart geschwungenen Augenbrauen, die nicht zum unteren Teil des Gesichts passen wollten. Sie würde ihn wiedererkennen, egal, wann und wo. Seine rechte Hand wanderte langsam über Leylas Oberschenkel, verblieb bei der Scham, fand ihren Weg in ihre Unterhose, richtete dort ruhig und bestimmt ihr Unheil an und ließ nur ab, um sich den Rotz wegzuwischen, den Leyla tief aus ihrer Kehle in sein Gesicht geschleudert hatte. Womöglich gefiel ihm Leylas undurchdringlicher Hochmut. Als er fertig war, schlug er ihr mehrmals und mit solcher Wucht ins Gesicht, dass sie das Bewusstsein verlor. Beim Aufwachen schmeckte sie Blut in ihrem Mund und spürte eine Hand auf ihrer Brust.

Leylas Ballettlehrerin hatte sie schon früh die drei Grundarten des Schmerzes gelehrt: konstruktiv, destruktiv und chronisch. Der menschliche Körper war nicht für Ballett geeignet – um tanzen zu können, musste er sich selbst besiegen. Leyla gewöhnte sich daran, unter Schmerzen zu tanzen, am häufigsten waren es Prellungen, aus Überbeanspruchung resultierende Entzündungen, Schmerzen in der Lendenwirbelsäule und in den Gelenken. Solange er konstruktiv blieb, war der Schmerz nebensächlich. Doch wenn Leyla wegen einer Verletzung nicht auftreten konnte, weinte sie. Alleine und im Bett, wie es die meisten Menschen nun einmal tun.

Mindestens eine halbe Stunde lang passierte nichts. Ein untersetzter Mann kam behäbig mit einem Glas Tee herein. Er hatte kleine, spitze Zähne, die sich in seinem Kiefer dicht aneinanderdrängelten, dicke rissige Lippen und im Kontrast dazu winzige Augen. Während des Verhörs steckte er sich ein Stück Zucker in den Mund, hinter die vergilbte Zahnreihe, und schlürfte seinen Tee durch den Zucker hindurch. Leyla gab keine Antworten und rührte ihre Teetasse nicht an. Sie versuchte nicht, sich herauszureden, sie bat nicht um Vergebung, sie fixierte lediglich die monochrome Wand direkt über dem Scheitel des Polizisten. Leyla sehnte sich nach dem Dreck ihrer Zelle.

Dort, wo keinerlei Bewegung möglich war, erinnerte sich Leylas Körper an ganze Ballette und die Ausschüttung von Endorphinen während einer gelungenen Aufführung. Schwanensee war das erste Ballett, das Leyla im Bolschoi gesehen hatte. Mit Vater und Mutter. Leyla hätte am liebsten die Rolle des Prinzen getanzt, der ein ungeheures Verlangen nach einem seltsamen Wesen empfindet, eine nicht vorprogrammierte Liebe. Sie sah sich vor den gemalten Wäldern im sanften violetten Licht. Die Agonie des Schwans befreite sie von ihrer eigenen, sie berauschte sich am Tanz, der Form, dem Pas de deux, selbst den Strumpfhosen und dem Tutu. Sie ging auf Spitze. Ihre Bewegungen wurden schneller, klarer und sie selbst vollkommen. Sie war wieder eine Tänzerin, ihr Partner hob sie hoch. Im dritten Akt dreht der Schwan 32 Fouttés, die berüchtigten einbeinigen Pirouetten. Schwanensee hatte sie mehrmals mit Altay gesehen, denn er liebte es, in der Dunkelheit des Theaters die muskulösen Männerkörper ungestraft zu betrachten. An einem Abend im Marijnski-Theater – da waren sie bereits verlobt – fing Altay mitten in der Vorstellung zu kichern an, woraufhin die Sitznachbarn sich empört nach dem Unruhestifter umschauten. »Leyla, der See, die Schwäne, das ist doch die reinste Crusing-Area«, sagte Altay. Leyla brach ebenfalls in Lachen aus, und sie mussten die Aufführung verlassen. An jenem Morgen im Gefängnis hatte Leyla Blutungen und war sich nicht sicher, ob es zum Besseren war oder nicht.

Während der nächsten Befragung wollte der Polizeibeamte über ihren Vater reden, der sich angeblich große Sorgen machte. Außerdem fragte er, ob Leylas Ehemann sie überhaupt noch zur Frau haben wollte, wo sie doch die Ehre ihrer ganzen Familie in den Dreck ziehe. Er sprach atemlos und beugte sich so nah an Leylas Gesicht, dass sie seinen säuerlichen Atem roch. Leyla schrie, er solle ihren Vater und vor allem ihren Ehemann in Ruhe lassen. Daraufhin spürte sie einen Schlag. Der Boden unter ihr schwankte, ihr Gleichgewichtssinn versagte. Leyla konzentrierte sich und schaute in sein gealtertes Gesicht. Sie versuchte darin zu lesen, sah jedoch nichts als Verwunderung. Eine Kakerlakensippe flanierte ungerührt über den Fußboden. Leyla schrie, bis drei Männer ihren Kopf auf den Boden drückten, der voller Rotz, Zigarettenstummel und leerer Sonnenblumenkernschalen war. Die Kakerlaken hasteten dicht an ihrem Mund vorbei. Leyla hatte die zweifelhafte Ehre, die erste verhaftete Frau zu sein, und sie bekam die dazugehörige Behandlung.

Die Direktive zur Festnahme der selbsternannten Rennfahrer sollte signalisieren, dass eine Revolte, ob aus Langeweile oder als Fortsetzung des Arabischen Frühlings, sinnlos war. In der Regel wurden die Kids für zehn Tage eingesperrt, unabhängig von Einfluss, Einkommen oder Clanzugehörigkeit. Während dieser Zeit zerbrach der Kommissar sich den Kopf darüber, wie er den verwöhnten Kindern Reue näherbringen sollte – wo doch die einzigen Werte, die ihnen etwas bedeuteten, Geld und Macht waren. Zehn Tage waren für eine Bekehrung zu lang und für die Umerziehung zu kurz. Der Kommissar wünschte sich die Lager zurück.

Leyla spürte, wie ihre Füße angehoben wurden, und trat mit voller Wucht um sich. Dann vernahm sie eine Flut von Stimmen, schwankend in Lautstärke und Ton. Sie schloss die Augen und horchte auf ihren Atem, um ihn unter Kontrolle zu bringen. Wenn Leyla an Giselle dachte, war alles wieder da: Jonouns Geruch stieg ihr in die Nase, sie erinnerte sich an die feinen blonden Härchen auf ihren Oberschenkeln und ihr bernsteinfarbenes Haar, in das sie so gerne eintauchte. Die Sehnsucht nach Jonouns Körper wurde zu einem dumpfen Schmerz. Am Ende des Ganges erklangen spitze Schreie, und Leyla träumte sich zurück in den Tanz der Willis, trat mit der Schuhspitze ein letztes Mal fest ins Kolophonium ein, zog die Bänder ihrer Spitzenschuhe fest und betrat die Bühne des Bolschoi. Nach ebendieser Bühne war sie ihr Leben lang süchtig gewesen, es waren jene zwei Meter Gefälle, unsichtbar für den Zuschauer, ideal für den Klassischen Tanz.

Als der Kommissar den Verhörraum betrat, zitterte ihr Körper. Sie wusste nicht mehr, wo sie sich befand, und bat darum, ein Fenster aufzumachen. In ihrem Kopf rasten Ballettsequenzen in wirrem Galopp herum, Gesichter, die sie schon lange vergessen hatte. Dieses Mal gelang es ihr nicht, eine Erinnerung festzuhalten. Speichel und Blut rannen über ihre Lippen. Der Kommissar wurde rot, hatte Angst, bleibende Spuren in Leylas Gesicht zu hinterlassen, immerhin war ihr Vater ein Mann mit Verbindungen. Er schrie lauter, dann zwang er sich innezuhalten. Schließlich machte er mit frischer Kraft weiter, seine Phantasie ließ ihn nicht im Stich.

Leyla würde nie wieder werden können, was sie einst gewesen war. Eine Ballerina. Das hatte sie gewollt und entschieden. Natürlich hatte sie die Schmerzen einkalkuliert, das war nicht das Problem – Schmerzen und Hunger war Leyla gewöhnt. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass das Ballett ihr fehlen würde. Nicht wie ein Mensch, nach dem man sich sehnt, sondern wie eine Droge, die dem Körper plötzlich entzogen wird, und Leyla hatte ein ausgeprägtes Suchtgedächtnis. Wenn ihr eine Bewegung besonders gut gelang, wurde sie high. Was sie nun vermisste, war der Triumph über den eigenen Körper. Sie versuchte, ihr Verlangen mit Koks oder MDMA zu überdecken, aber es funktionierte nicht. Sie dachte, es würde ihr Erleichterung verschaffen, nicht mehr tanzen zu müssen – sie hatte die ständigen Schmerzen, die Überforderung und Erschöpfung, die Angst vor Verletzungen, den Konkurrenzdruck und die permanenten Intrigen satt. Was sie wollte, war Ruhe, doch ihr Körper hatte sich an die tägliche Tortur gewöhnt und verlangte nach mehr. Leyla fremdelte im eigenen Körper.

Dann bekam sie ein Handtuch und frische Kleidung ausgehändigt, merkwürdigerweise das T-Shirt und die Hose, die sie vor zwei Monaten in ihrer Berliner Wohnung zurückgelassen hatte. Unter der Dusche schrubbte sie den Dreck von sich, streng beäugt von zwei üppigen Politessen. Anschließend wurde sie in einen neuen Raum geführt: zwei große vergitterte Fenster, abgenutzter Linoleumboden und – Altay.

ERSTER TEIL

- 29

Jonoun stand hinter der Theke einer Kreuzberger Bar, in der sie seit einer Woche arbeitete, und spülte Gläser. Es war nicht viel los, sie ließ den Blick durch den Raum schweifen – und blieb ausgerechnet an einer Frau hängen. Was Jonoun als Erstes auffiel, war deren Körperspannung. Sie saß kerzengerade da und wirkte trotzdem entspannt. Als Nächstes registrierte Jonoun, dass die Frau ungewöhnlich schlank war, einen Nasenring trug und lange schwarze Haare hatte. Jonoun hatte nicht vor, sie anzustarren, es passierte einfach, und die andere bemerkte es. Irgendwann schaute auch deren Begleiter hoch, ein gutaussehender Mann mit Schwimmerfigur. Er grinste und wechselte einige Worte mit der Frau. Sie lachten. Bis dahin hatte Jonoun nur mit Männern geschlafen, aber plötzlich wünschte sie sich nichts anderes, als am nächsten Morgen neben dieser Frau aufzuwachen und eine Schale Müsli mit ihr zu teilen.

Eine Weile später stand Leyla auf, lächelte Jonoun an und ging Richtung Toilette. Jonoun folgte ihr.

Die Toilette war eng und verdreckt, ein Spiegel nicht vorhanden, sodass ihre Besucher die kahle Wand anstarren mussten. Als Jonoun hereinkam, wusch Leyla sich die Hände. An ihrem linken Zeigefinger glänzte ein schmaler Goldring. Sie schaute Jonoun irritiert an, und Jonoun fragte sich, ob sie sich alles nur eingebildet hatte.

»Ich muss dir was sagen«, setzte Jonoun an.

»Ja?«, Leyla schaute sich verunsichert um.

Jonoun kam ihr ein wenig näher und zog gierig Leylas schweres Parfum ein.

»Du bist schön«, zum ersten Mal in ihrem Leben errötete Jonoun, im Wissen um die Peinlichkeit ihres Auftritts. Trotzdem wollte sie ihre Hand nach Leylas Locken ausstrecken und ihren Mund schmecken.

»Das ist süß von dir«, Leyla sah gleichermaßen betroffen aus.

»Wie heißt du?«, fragte Jonoun, da das Gespräch stockte.

»Leyla«, sagte sie. »Und du?«

»Jonoun.«

Leyla nickte, trocknete ihre Hände ab und ging hinaus.

Fortan konnte Jonoun sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Leyla beachtete Jonoun nicht weiter und scherzte mit ihrem Begleiter. Die Bar füllte sich, spanischsprechende Touristen und Menschen in Drag stürmten herein. Die Diskokugel an der Decke sah wie ein großes Missverständnis aus.

Der Mann neben Leyla legte seinen Kopf schräg und machte Jonoun ein Zeichen, noch zwei Gläser zu bringen. Jonoun goss den Whiskey großzügig ein und ging zu ihrem Tisch.

»Willst du ihre Nummer?«, fragte er und hielt Jonoun lachend einen Zettel hin.

Jonoun sagte nichts, schaute stumm auf den Boden, der voller Dreck war und unter den Schuhsohlen klebte. Die Situation wurde unerträglich. Leyla riss ihm den Zettel aus der Hand und steckte ihn sich ins Höschen, woraufhin er versuchte, den Zettel wieder herauszufischen, doch Leyla ließ ihn nicht und beide lachten, wahrscheinlich über Jonoun, die nun ihren Kopf hob und sie anstarrte.

»Das ist mein Ehemann«, sagte Leyla langsam und bestimmt.

Fünf Minuten später suchte Jonoun wieder die Toilette auf und ließ das kalte Wasser über ihre Armrücken laufen. Sie fröstelte in ihrem dünnen T-Shirt.

Die Toilettentür öffnete sich, Leyla kam herein und stieß Jonoun in eine der Kabinen. Sie schloss ab, drehte Jonoun mit dem Rücken zur Wand und drückte sie dagegen. Jonoun presste ihren Unterleib an die Tür und Leyla ihren an Jonoun. Dann griff sie nach Leylas Unterarm, drehte sie wieder zu sich und küsste sie. Leyla küsste zurück, ihre Zunge drang in Jonouns Mund, der Duft ihres Parfums stieg ihr in die Nase, sie küsste ihren Hals, packte sie an den Hüften und dachte darüber nach, wie merkwürdig das doch alles war. Dann wanderte ihre rechte Hand zu Leylas Busen und knetete schüchtern die fremde Brust durch die BH-Schale.

»Wann ist deine Schicht zu Ende?«, fragte Leyla.

»Wenn der letzte Gast geht.«

»Ich hol dich in drei Stunden ab«, sagte Leyla und ging hinaus. Jonoun setzte sich auf den zugeklappten Toilettendeckel und stützte ihren Kopf mit den Ellbogen ab. Ihr Atem ging schnell und schwer.

Jonoun war vor zwei Wochen nach Berlin gezogen, mit einem Master in New Media Art, den sie an einem mittelmäßigen Liberal Art College erworben hatte, aber ohne Geld. Ein Leben in Williamsburg konnte sie sich nicht mehr leisten, war zudem durch die Studiengebühren hoch verschuldet und musste ihr WG-Zimmer räumen. Sie hätte es in der Kunstwelt durchaus zu etwas bringen können, wenigstens redete sie sich das ein, aber ohne ein Atelier und mit drei verschiedenen Jobs, die notwendig gewesen waren, um die Miete für ihr winziges Zimmer und den WLAN-Anschluss zu bezahlen, konnte sie keine Karriere machen. Berlin hatte den Ruf, günstig zu sein, sogar Brooklyn ein wenig zu ähneln, provinzieller natürlich, und schon war sie da, die Sehnsucht nach einem neuen, besseren Leben. In der Schule hatte Jonoun Deutsch gelernt und eine gute Note gehabt. Womöglich könnte sie es in Berlin tatsächlich schaffen, dachte sie damals.

Jonoun hatte schon immer ein nomadenhaftes Leben geführt, und ein weiterer Umzug schien nur konsequent zu sein. Wenn sie nicht mehr weiterwusste oder gelangweilt war, wechselte sie den Ort. Vielleicht kam das von ihrer Mutter, der unehelichen Tochter eines Rabbiners, Enkelin eines Kantors und das Ergebnis eines Purim-Fehltritts. Sie war in der engen Welt der Gelehrten aufgewachsen, in der die größte Gefahr von störrischen Frauen ausging, ihren singenden Stimmen, ihren Schlüsselbeinen, ihrer Menstruation und ihrem unbedeckten Haar. Nach der Heirat wurde das Haar abrasiert und der kahle Schädel mit einer Perücke bedeckt, allerdings sollte diese nicht zu echt aussehen.

Jonouns Mutter hatte damals beschlossen, sich niemals von jemandem Vorschriften machen zu lassen, doch sollte sie sich ihr Leben lang nach jenem Halt und jener Enge sehnen, die das gesetztestreue Leben in einem Ghetto versprach. Als Erstes hatte sie ihre Krankenschwesterausbildung aufgegeben, um eine Weltreise zu machen. Jonoun wurde in Indien geboren, wo ihre Mutter sich in einem Aschram der Meditation gewidmet hatte. Ihr Vater war Israeli – ein echter Sabre und Mitglied der israelischen Armee, nach Anne Frank der postpornographische Traum eines jeden jüdischen Mädchens aus mehr oder minder gutem Hause. Die beiden hatten sich in Laos kennengelernt und waren gemeinsam nach Indien gezogen. Oder so ähnlich. Das Einzige, was Jonoun mit ihrem Vater gemeinsam hatte, war ihr Vorname, der eigentlich sein Nachname war. Sie kannte ihn ausschließlich von Fotografien.

Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte Jonoun in einem Kibbuz im Norden Israels, allerdings hatte sie keinerlei Erinnerung an diese Zeit. Als sie drei wurde, heiratete ihr Vater, nicht etwa ihre Mutter, sondern eine Kindergärtnerin, ehemalige Hochleistungssportlerin und Offizierin der Reserve. Jonoun wurde in die Obhut ihrer Großmutter gegeben. Ihre Mutter reiste weiter durch die Welt, und Jonoun hörte nur selten von ihr, meist aus psychiatrischen Anstalten, in die sie aufgrund einer bipolaren Störung und einer leichten Schizophrenie regelmäßig eingeliefert wurde.

In Berlin kannte Jonoun niemanden, und die ersten Nächte verbrachte sie in den Betten fremder Menschen, die sie durch couch surfing im Internet gefunden hatte. Einige von ihnen waren recht anständig, andere wollten Sex, und manchmal ging Jonoun darauf ein, denn draußen herrschten Minusgrade. Überhaupt war es einer der kältesten Winter seit der Wetteraufzeichnung. Die Kälte fraß sich durch die Kleidung, der Himmel war konstant mäuschengrau, und selbst das Innere der Nasen gefror. Jonoun hasste die Kälte und wollte am liebsten sterben, aber sie war zu narzisstisch, um es unbemerkt zu tun.

Schon nach ein paar Tagen ging sie dazu über, ihre Bettgefährten in Kneipen kennenzulernen: Mehrere Nächte hintereinander verbrachte sie wartend in einer Bar. Die Wände waren mit rosarotem Plüsch tapeziert, die Musik laut und elektronisch, wie fast alles in Berlin. Jonoun wartete darauf, ausgesucht zu werden, wartete, bis jemand sie in seine geheizte Wohnung mitnehmen und ihr am nächsten Morgen womöglich einen Kaffee machen würde. Meistens dauerte es nicht sonderlich lange, und es war fast immer eine bestimmte Sorte Mann, deren Aufmerksamkeit sie auf sich zog: schüchtern, unsicher, nicht besonders attraktiv und seltsamerweise nie die eigene Intelligenz anzweifelnd.

Als sie schon die ganze Lebens- und Beziehungsgeschichte des Inhabers sowie die der meisten Stammgäste gehört hatte, wurden ihr ein Job in ebendieser Bar und ein Zimmer in Kreuzberg angeboten. Beides war für sie in Ordnung, denn in diesen Tagen ernährte Jonoun sich überwiegend von 15-Cent-Schrippen.

- 28

Salome, Leylas Mutter, war eine schlanke Frau mit einem ausdrucksstarken Gesicht und leidenschaftliche Ballettomanin. Sie wurde in Tiflis geboren, als Tochter zweier Kriegshelden, ihr Vater war General der sowjetischen Armee und ihre Mutter eine der ersten Kampfpilotinnen im Zweiten Weltkrieg. Das bedeutete, dass die Familie privilegiert war – die Lebensmittel wurden selbst in Zeiten der Essensmarken nach Hause geliefert, sie machte Urlaub auf den Basen für Militärangehörige, hatte Zugang zu Importwaren, ein Auto, Telefon – und vor allem Verbindungen. Salomes Eltern verstanden sich darauf, ihren Genossen in Moskau Pakete mit selbsteingelegtem Gemüse, Marmeladen, georgischem Wein, Trockenfrüchten, aserbaidschanischem Belugakaviar, Nüssen, armenischem Kognak und honigtriefenden Süßigkeiten zukommen zu lassen, und wurden dafür reichlich entlohnt.

Salomes Erziehung war streng und die eines Jungen, wobei auf Werte gesetzt wurde, die aus der Vorkriegszeit stammten. Salome lernte, ihren Rücken gerade zu halten, mit Waffen umzugehen und Fahrzeuge zu lenken. Sie lernte Französisch, Russisch und Georgisch sowie Tanz und Klavier.

Mit zwanzig hatte sie in eine der ältesten Künstlerfamilien der Aserbaidschanischen UdSSR eingeheiratet – ihr Ehemann war Maler, ihre Schwiegermutter Schauspielerin, und in der restlichen Verwandtschaft tummelten sich Jazzmusiker, Plakatmaler und Dirigenten. Sie hatte eine Promotion in Kunstgeschichte und war eine der attraktivsten Frauen in Baku.

Salome war nicht hübsch, sondern eine Schönheit, die keinen Zweifel zulässt, die ein genaues Hinschauen einfordert und schlaflose Nächte bereitet. Betrat Salome einen Raum, entstand Unruhe. Wofür sie absolut kein Verständnis aufbringen konnte, war Disziplinlosigkeit: Hüftspeck, aufgedunsene Bäuche, schlaffe Oberarme, Wollstrumpfhosen zu feinen Stoffen, sonnenverbrannte Nasenspitzen, Hautunreinheiten. Doch Salome hatte auch gelernt, andere nicht auf ihre Fehler hinzuweisen.

Salomes Tochter sollte ebenfalls eine gute Ausbildung bekommen, weshalb Leyla schon im frühen Alter Ballett- und Klavierstunden erhielt. Da die Musiklehrerin keine allzu große Hoffnung in Leyla setzte, beschloss Salome, aus ihrer Tochter eine Ballerina zu machen. Eine von Leylas ersten Erinnerungen war die ans Tanzen, wie sie im Wohnzimmer ihres Hauses stand und sich plötzlich ihres Atems und der Musik bewusst wurde. Da war sie drei.

Salomes Erziehungsmethoden waren indessen zweifelhaft. Ihre Ehe kriselte, und sie war froh, wenn das Kindermädchen ihr die Tochter vom Hals hielt. Nahm sie sich dennoch Zeit für Leyla, wollte sie diese nicht verschwenden und ließ sich detailreich über ihre Fortschritte im Ballett informieren, telefonierte mit den Lehrerinnen und vergaß nicht, ihnen regelmäßig Blumen und französisches Parfum zu schicken. Lehrerinnen waren für sie etwas, das man wunderbar in den Griff bekommen konnte, Ehemann und Tochter dagegen nicht.

Salome vermutete, dass ihr Mann sie regelmäßig betrog, und verließ ihn genauso regelmäßig mit lauten Szenen und viel Pathos. Sie pendelte deswegen zwischen der Wohnung ihrer Eltern in Tiflis und der ihres Mannes in Baku. Natürlich gönnte sie sich auch Ausflüge in andere Wohnungen, vornehmlich in die Schlafzimmer berühmter Musiker und Maler – immerhin fungierte Salome als die Muse der gesamten südkaukasischen Kulturlandschaft.

Wenn Salome nach mehreren Wochen ihre Tochter wiedersah, überkamen sie Gewissensbisse, und sie versuchte krampfhaft, die verlorene Zeit aufzuholen. Sie flocht Leyla Zöpfe, nahm sie mit ins Ballett, stellte ihre siebenjährige Tochter auf die Waage und fertigte strenge Diätpläne an. Brot und Süßigkeiten waren verboten, genauso Säfte und Nägelkauen. Kurzum, Salome wollte Leyla zu einem verantwortungsbewussten sowjetischen Wesen erziehen.

Leyla boykottierte den guten Willen ihrer Mutter, schwänzte die Ballettstunden, stopfte sich mit Kuchen voll und versuchte immer wieder, von zu Hause wegzulaufen, weshalb Salome ihr drohte, sie ins Kinderheim zu stecken. Dennoch: Leyla liebte das Tanzen und sie hatte tatsächlich Talent. Das war etwas, was alle außer Leyla selbst wussten, denn sie hatten sich im Stillen darauf geeinigt, es dem Mädchen nicht mitzuteilen.

Leylas erste Ballettlehrerin, eine hochgewachsene Frau mit winzigem Bauchansatz und nachlässig blondiertem Haar, lehrte ihre Schülerinnen vor allem, dass Ballett kein Beruf für Schwächlinge war. Leyla wurde dazu erzogen, mehr als andere zu leisten. Der Wille zum Funktionieren wurde allmählich zum Fundament ihrer Persönlichkeit.

Mit zehn Jahren legte Leyla die Aufnahmeprüfung am Choreographischen Institut ab, das zum Bolschoi-Theater gehörte. Sie wusste genau, was sie tat: Das Bolschoi war das russische Staatswappen schlechthin. Die Zaren machten die Tänzer und die Eleven zu Angehörigen der imperialen Familie, und die UdSSR machte aus ihnen ein Propagandawerkzeug. Die Meldungen über die Erfolge der Truppe im kapitalistischen Westen lasen sich wie Frontberichte der Roten Armee nach der Schlacht um Stalingrad. Leyla kannte sie alle. Dafür hatte Salome umsichtig gesorgt.

Die ganze Familie flog nach Moskau, und obwohl es dem Kalender nach Frühling sein sollte, war es in der russischen Hauptstadt unerbittlich kalt. Leyla wohnte zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Hotel. Zwei Tage lang durfte sie Eis und Blini essen. Ihr Vater zeigte ihr den Roten Platz und das Lenin-Mausoleum, und später gingen sie in den Gorki-Park, wo sie gewissenhaft alle Fahrgeschäfte ausprobierte, während ihr Vater davon sprach, dass nichts auf der Welt bedeutungsvoller sei als das Bolschoi – älter und traditionsreicher als die USA, zweimal abgebrannt und wieder aufgebaut, das eine Mal gar, während die russischen Soldaten im Krimkrieg verhungerten.

Was sich Leyla am meisten ins Gedächtnis brannte, waren die streunenden Hunde in der Stadt. Wenn es kalt wurde oder zu schneeregnen begann, flohen die Hunde in Unterführungen und wärmten sich aneinander.

Am nächsten Tag brachte ihre Mutter sie zum Institut, wo Leyla sich bis auf die Unterhose ausziehen und vor einer Kommission verschiedene Positionen einnehmen musste. Der Raum war heiß und stickig, von den Wänden bröckelte der Putz. Es roch nach Kinderschweiß und Angst. Leyla wunderte sich über die Porträts der ihr damals noch unbekannten Ballettmeister und die fast identischen weißen Baumwollunterhosen und Zöpfe der Mädchen. Ein älterer Mann mit einem gelblichen Schnauzbart befühlte ihre Muskeln und prüfte, wie weit sich ihr Rücken biegen ließ. Die Kommissionsmitglieder machten Notizen.

Am Abend ging die ganze Familie ins Bolschoi-Theater. Das Gebäude schüchterte Leyla ein – die riesigen Säulen am Eingang, der Marmor, das Avant Foyer, die Kronleuchter des Grand Foyer und die riesigen Spiegel, in denen man seine Figur überprüfen konnte. Leyla wusste schon damals, dass Spiegel nicht lügen, wenn man nur lernt, richtig hinzuschauen. Ihr Vater trug einen Anzug, ihre Mutter einen weißen Pelz und Diamanten. In diesem Augenblick verstand Leyla, dass ihre Mutter vor allem auf Wirkung aus war und dass sie die unzuverlässigste Konstante in ihrem Leben war. Das Ballett hingegen war die einzig verlässliche.

Neben ihnen saß eine Bolschoi-Schülerin mit ihrer Mutter. Das Mädchen war ein paar Jahre älter als Leyla und glich bereits einer fertigen Ballerina. Der Mädchenrücken war gerade, der Körper schmal und lang, genau wie ihre Glieder und der weiße Hals. Obwohl sie nicht besonders schön war, strahlte sie Ruhe und Selbstsicherheit aus.

Als der schwere rote Vorhang hochging, dachte Leyla, ihr Herz würde stehenbleiben. Getanzt wurde Schwanensee, Leylas Vater beugte sich zu seiner Tochter, zeigte auf Odette und sagte eine Spur zu laut: »Eines Tages wirst du auch eine Ballerina sein.« Die Mutter des anderen Mädchens lachte laut auf. Die Schamesröte stieg Leyla ins Gesicht.

Die Ironie lag Leylas Meinung nach darin, dass die Drohung ihrer Mutter, sie wegzugeben, in dem Moment wahr wurde, als sie genau das erreicht hatte, was alle von ihr erwartet hatten: Zusammen mit anderen neunundzwanzig Mädchen, von denen im Laufe der nächsten Jahre mehr als die Hälfte eliminiert werden würde, war sie für eine Ballettkarriere auserwählt worden. Ab sofort würde sie am Choreographischen Institut studieren und im dazugehörigen Internat wohnen. Ihr Zimmer würde sie sich mit Nastja teilen, einem älteren Mädchen aus der Ukraine, mit unzähligen Sommersprossen und wässrig grünen Augen.

Leylas Körper funktionierte tadellos, sie hatte den idealen Körperbau einer Ballerina, kleiner Kopf, langer Hals, schmale, lange Gliedmaßen und eine schlanke, feminine Silhouette. Und das Wichtigste: Leyla war süchtig nach Bewegung.

Die Mitglieder der Eignungskommission erklärten Salome, ihre Tochter verfüge zwar über gute Voraussetzungen, doch kaum jemandem gelänge es, die Versprechen der Kindheit einzulösen. Leyla jedoch schien immer besser zu werden – als Einzige in ihrer Klasse durfte sie ein Schneeflöckchen im Nussknacker tanzen. Ihre Eltern waren aus Baku angereist, machten Fotos für das Familienalbum und fuhren wieder, nicht ohne sich zuvor im Foyer laut gestritten zu haben. Doch das machte Leyla nichts aus, denn sie hatte endlich vor Publikum getanzt. Nun wusste sie, dass sie nichts anderes wollte.

- 27

Jonoun saß monatelang einem ihrer Professoren Modell und beobachtete ihn beim Zeichnen. Er war siebenundvierzig Jahre alt, gutaussehend, hatte einen trainierten Körper und einen ausgezeichneten Sinn für Ästhetik. Hauptberuflich war er Galerist, an der Universität lehrte er aus reiner Barmherzigkeit. Sein Wissen, seine Umgangsformen und seine Selbstsicherheit hatten Jonoun von Anfang an imponiert. Bevor sie ihn traf, war sie ein Punk-Kid, wechselte jede Woche die Haarfarbe, trug Piercings, Nieten und Leder, fuhr Skateboard, kiffte, kokste und liebte Hardcore, Jazz und Punk. Die meiste Zeit verbrachte sie in Plattenläden.

Ihr Professor sprach nicht viel beim Zeichnen, nach der ersten Woche machte er ihr zwischendurch einen Tee, den er in feinen Porzellantassen servierte – er hatte mehrere Jahre in Japan verbracht und sammelte asiatische Kunst. In der zweiten Woche fing Jonoun an, zu den Sitzungen Kaffee in Pappbechern mitzubringen, und meistens plauderten sie miteinander, obwohl er die Pappe missbilligte und den milchigen Kaffee niemals anrührte. Er hatte einen guten Sinn für Humor.

Jonoun war nicht verliebt – sie war beeindruckt: Zuerst führte er sie in französische Restaurants aus, die sie sich niemals hätte leisten können und in denen sie immer einen Bordeaux bestellte, weil das die einzige Weinsorte war, die sie bis dahin gekannt hatte. Er bestand stets auf drei Gängen, und Jonoun hatte keinerlei Mühe, sich daran zu gewöhnen: Ihre Großmutter tat Vorspeisen als Geldverschwendung ab, Beilagen und Dessert als den Ruin der schlanken Linie und ließ keine Gelegenheit aus, Jonoun daran zu erinnern, dass sie zu Übergewicht neigte. Davon sprach der Professor hingegen nie.

Bald schenkte er ihr Kleider, die in seine Welt besser hineinpassten, unmerklich kam er für ihre Metro-Card und schließlich auch für ihre Miete auf. Kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag heirateten sie. Als Jonoun bei ihm eingezogen war, wurde nichts in der Wohnung verändert, lediglich ein Schrank ins Schlafzimmer gestellt. Sie wurde seinen Freunden vorgestellt, aber nicht den Eltern.

Die Ehe hielt drei Jahre und war durchaus harmonisch. Der Sex wurde zwar weniger, doch Jonouns Mann hatte keineswegs das Interesse an ihr verloren, manchmal legte er ihr morgens Kleider heraus, die sie tragen sollte, von seinen Geschäftsreisen brachte er ihr teure Geschenke mit, meistens Schuhe oder Schmuck, im Sommer machte er mit ihr Ausflüge aufs Land, wo er Wein, Gemüse, Öl und Käse von Öko-Bauern kaufte, und gelegentlich fuhren sie in europäische Metropolen, deren Sehenswürdigkeiten er ihr vorführte. Oft und insbesondere bei einem Glas Wein sprach er davon, nach Rom ziehen zu wollen. Er lehrte Jonoun Tennis und Reiten, feilte unermüdlich an ihrem Geschmack und kaufte ihr Bücher. Jonoun bekam genau die Bildung, die er für richtig erachtete, zudem materielle Sicherheit und Geborgenheit. Sie war zufrieden.

Seine einzige Bedingung lautete: Keine Kinder, und Jonoun war mehr als einverstanden, zu sehr genoss sie seine Aufmerksamkeit, um sie mit bedürftigen Säuglingen teilen zu wollen.

Irgendwann sehnte sie sich wieder nach Sex und fing an, mit ihren Kommilitonen zu schlafen. Einer von ihnen war ein vielversprechender Medienkünstler, ein anderer Maler, es folgten ein Synchronsprecher und später ein Schauspieler. Sie erinnerte sich nicht daran, auch nur einen von ihnen nach seinem Namen gefragt zu haben.