Gott ist nicht schüchtern - Olga Grjasnowa - E-Book
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Gott ist nicht schüchtern E-Book

Olga Grjasnowa

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Beschreibung

„Hier kommt die Welt zu Ihnen, wie sie noch nie zu Ihnen gekommen ist.“ Elmar Krekeler, DIE WELT. Amal und Hammoudi sind jung, schön und privilegiert, und sie glauben an die Revolution in ihrem Land. Doch plötzlich verlieren sie alles und müssen ums Überleben kämpfen. Sie fliehen. Ein erschütterndes, direktes und unvergessliches Buch. „Amal schaut den Frauen auf der Straße nach. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr dazugehört. Niemand beachtet sie mehr. Wo ist ihr Haus? Ihre Karriere? Und ihre Straße, die immer nach Jasmin roch? Wo sind ihre Bücher und Schallplatten? Wo die Freunde und Verwandten? Die Partys und der Sommer vor dem Pool? Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist in jedem Atemzug spürbar.“ Als die syrische Revolution ausbricht, feiert Amal ihre ersten Erfolge als Schauspielerin und träumt von kommendem Ruhm. Zwei Jahre später wird sie im Ozean treiben, weil das Frachtschiff, auf dem sie nach Europa geschmuggelt werden sollte, untergegangen ist. Sie wird ein Baby retten, das sie fortan ihr Eigen nennen wird. Hammoudi hat gerade sein Medizinstudium beendet und eine Stelle im besten Krankenhaus von Paris bekommen. Er fährt nach Damaskus, um die letzten Formalitäten zu erledigen. Noch weiß er nicht, dass er seine Verlobte Claire niemals wiedersehen wird. Dass er mit hundert Wildfremden auf einem winzigen Schlauchboot hocken und darauf hoffen wird, lebend auf Lesbos anzukommen. In Berlin werden sich Amal und Hammoudi wiederbegegnen: zwei Menschen, die alles verloren haben und nun von vorn anfangen müssen. Olga Grjasnowas Romane erinnern uns immer wieder daran, dass es nicht nur diese eine Welt vor unserer Haustür gibt, sondern sehr viele Welten, und dass es sich lohnt, sie kennenzulernen. Ihr neues Buch ist ein erschütterndes Dokument unserer Zeit.

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Über Olga Grjasnowa

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman »Der Russe ist einer, der Birken liebt« (2012) wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2014 »Die juristische Unschärfe einer Ehe«. Beide Romane wurden für die Bühne dramatisiert. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Informationen zum Buch

»Hier kommt die Welt zu Ihnen, wie sie noch nie zu Ihnen gekommen ist.« Elmar Krekeler, DIE WELT.

Amal und Hammoudi sind jung, schön und privilegiert, und sie glauben an die Revolution in ihrem Land. Doch plötzlich verlieren sie alles und müssen ums Überleben kämpfen. Sie fliehen. Ein erschütterndes, direktes und unvergessliches Buch.

»Amal schaut den Frauen auf der Straße nach. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr dazugehört. Niemand beachtet sie mehr. Wo ist ihr Haus? Ihre Karriere? Und ihre Straße, die immer nach Jasmin roch? Wo sind ihre Bücher und Schallplatten? Wo die Freunde und Verwandten? Die Partys und der Sommer vor dem Pool?

Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist in jedem Atemzug spürbar.«

Als die syrische Revolution ausbricht, feiert Amal ihre ersten Erfolge als Schauspielerin und träumt von kommendem Ruhm. Zwei Jahre später wird sie im Ozean treiben, weil das Frachtschiff, auf dem sie nach Europa geschmuggelt werden sollte, untergegangen ist. Sie wird ein Baby retten, das sie fortan ihr Eigen nennen wird.

Hammoudi hat gerade sein Medizinstudium beendet und eine Stelle im besten Krankenhaus von Paris bekommen. Er fährt nach Damaskus, um die letzten Formalitäten zu erledigen. Noch weiß er nicht, dass er seine Verlobte Claire niemals wiedersehen wird. Dass er mit hundert Wildfremden auf einem winzigen Schlauchboot hocken und darauf hoffen wird, lebend auf Lesbos anzukommen. In Berlin werden sich Amal und Hammoudi wiederbegegnen: zwei Menschen, die alles verloren haben und nun von vorn anfangen müssen.

Olga Grjasnowas Romane erinnern uns immer wieder daran, dass es nicht nur diese eine Welt vor unserer Haustür gibt, sondern sehr viele Welten, und dass es sich lohnt, sie kennenzulernen. Ihr neues Buch ist ein erschütterndes Dokument unserer Zeit.

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Olga Grjasnowa

Gott ist nicht schüchtern

Roman

Inhaltsübersicht

Über Olga Grjasnowa

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Teil I

Teil II

Teil III

Impressum

Teil I

© Peter Palm, Berlin

Freiheit ist ein Verb.

Daniel Kahn

Durch das Bullauge des Flugzeugs sind bereits die ersten Felder zu sehen, ihnen folgt ein Häusermeer und verschwindet wieder, dann schwenkt die Tragfläche nach oben, und durch das Fenster ist nur noch das Himmelblau zu sehen. Der Flügel senkt sich wieder, und Hammoudi sieht ein von der Sonne verbranntes Feld. Die Räder setzen unsanft auf.

Der internationale Flughafen von Damaskus hat sich seit Hammoudis letztem Besuch kaum verändert. Hinter den Kabinen, von denen die Farbe abblättert, stehen dieselben schlechtgelaunten Grenzbeamten wie immer. Mürrisch mustern sie seinen Pass und machen ihn darauf aufmerksam, dass er in ein paar Tagen abläuft.

»Deswegen bin ich ja hier«, sagt Hammoudi. Der Grenzbeamte in seiner schlechtsitzenden Uniform scheucht ihn fort.

Hammoudi ist gerne in Syrien, doch stets unter Vorbehalt: Sein ganzes Leben lang wurde ihm eingetrichtert, dass es hier keine Zukunft gebe und er spätestens nach dem Studium nach Kanada, Australien oder Europa auswandern sollte. Das Leben, das er in Syrien gelebt hatte, hat diese Vorbehalte bestätigt.

Das Gepäck lässt lange auf sich warten. Mehrere Großfamilien werden ungeduldig; Kinder quengeln; ein Herr mit graumeliertem Haar zündet sich eine Zigarette an und wird vom Wachpersonal ermahnt; Putzfrauen laufen betont langsam mit ihren Wassereimern hin und her, ohne etwas zu putzen. Als das Licht über dem Gepäckband endlich rot aufblinkt, scharen sich alle um den Ausgabepunkt und versuchen, sich einen strategisch günstigen Platz zu sichern, wobei zwei blonde Männer mit rötlichem Bart, die laut Schweizerdeutsch miteinander sprechen, am Ende siegen. Als das Karussell sich endlich in Bewegung setzt, geht ein Raunen durch die Menge. Das Gepäck wird schnell vom Band genommen. Taschen, Koffer aus unterschiedlichsten Materialien, Bündel, Rucksäcke und Kartons werden geschultert, auf die Gepäckwagen gelegt und euphorisch in Richtung des Ausganges geschoben.

Hinter der Absperrung in der Ankunftshalle steht eine Masse von Menschen, die nach ihren Verwandten und Freunden Ausschau halten und auf diese zustürmen, sobald die Tür zur Gepäckausgabe sich einen Spalt breit öffnet. Ein Polizist ermahnt sie immer wieder, nicht zu nahe an die Tür zu kommen. Auf den Gesichtern wechseln sich in kurzen Abständen Freude, Neugierde und Bestürzung ab. Kinder mit Luftballons in den Händen stehen ratlos herum, Babys, deren Väter mit Blumensträußen winken, reiben sich vor Müdigkeit die Augen.

Auch Hammoudi wird von einer lärmenden Menge in Empfang genommen. Eigentlich hatte er vor, direkt ein Taxi zum Hotel zu nehmen. Er möchte sich ein wenig Ruhe gönnen – zwei Nächte alleine schlafen, fern von Claire und auch seiner Familie, die in Deir az-Zour auf ihn wartet. Eine winzige Auszeit, nur für ihn. Aus diesem Grund hatte er den Freunden in Damaskus seine Ankunftszeit nicht mitgeteilt. Sie interpretierten sein Schweigen als Vergesslichkeit und suchten im Netz einfach die Ankunftszeit heraus. Nun fallen sie ihm um den Hals und küssen seine Wangen. Hammoudi wird samt seinem schweren Koffer voller Geschenke ins Auto geladen.

Obwohl es sein Budget übersteigt, hat Hammoudi ein Zimmer im Four Seasons gebucht. Erst vor ein paar Wochen hatte er in Paris seine Facharztausbildung zum plastischen Chirurgen mit Auszeichnung bestanden. Fünf Jahre lang hatte er auf diesen Moment hingearbeitet, und als es so weit war, fühlte es sich als etwas an, das ihm zustand. Danach bewarb er sich bei den drei besten Krankenhäusern der Stadt, und es dauerte nicht lange, bis er von allen dreien zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurde. Hammoudi war hochgewachsen, schlank, zuvorkommend und charmant. Sein Französisch war tadellos. Ausschlaggebend war jedoch die perfekte Symmetrie seines Gesichtes – er war genau der Mann, dem man zutraute, die gängigen Schönheitsnormen verinnerlicht zu haben. Er entschied sich schnell für das Krankenhaus, das ihm das beste Angebot gemacht hatte, und bekam sofort seinen Arbeitsvertrag per Post zugeschickt. Am gleichen Abend feierte er das Ereignis mit seiner Freundin Claire bei einem teuren Abendessen mit viel Champagner. Danach organisierte er seine Reise nach Syrien, wo er seinen Pass verlängern lassen musste – eine rein formale Angelegenheit, von der seine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich abhing und deren Klärung er gerne mit einem Kurzurlaub verbinden wollte.

Die Marmorböden der Empfangshalle des Four Seasons glänzen vor lauter Sauberkeit, und die vielen Blumenarrangements verbreiten einen morbiden Duft. Hammoudi wird von zwei Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes überprüft und fast nicht ins Hotel gelassen, weil er kein Ausländer ist. Seine Freunde werden ihn in zwei Stunden wieder abholen, er hat sie gebeten, ihm Zeit zu geben für einen kleinen Mittagsschlaf und eine Dusche.

Sein Zimmer ist luxuriös eingerichtet, das Bett breit und hart, die Bettwäsche strahlend weiß und frisch gebügelt, die Minibar gut gefüllt, und die Möbel im Damaszener Stil. Auf dem kleinen Tisch steht ein üppiger Blumenstrauß. Immerhin riecht er besser als das Arrangement in der Lobby. Hammoudi lässt Wasser in die Badewanne einlaufen und wählt Claires Nummer.

Am Abend geht er mit seinen Freunden aus. Eine lautstarke Gruppe Mitte dreißig, Frauen und Männer, manche schon verheiratet, andere geschieden oder einfach nur single, lesbisch oder in einer Partnerschaft lebend, die nichts nach sich zieht. Sie laufen durch die Innenstadt von Damaskus, kehren in Bars ein, trinken Arak, bestellen Kleinigkeiten zu essen, noch mehr Arak und noch mehr Essen. Sie lachen, schreien, lästern und streiten. Sie benehmen sich schriller, als sie es früher getan haben, denn sie versuchen das Band zwischen sich wieder zu knüpfen, einander zu versichern, sich nicht vergessen zu haben, noch immer befreundet zu sein.

Hammoudi bemüht sich, Anschluss an das Leben seiner Freunde zu finden, der Reihenfolge ihrer Partner, Kinder und beruflichen Stationen zu folgen, doch bald schon schwirrt ihm der Kopf. Er weiß nicht, dass seine alte Clique aus Studienzeiten sich mittlerweile nur noch ihm zuliebe trifft – in den Jahren seiner Abwesenheit sind ihre Leben auseinandergedriftet.

Zuerst spüren alle die Beklemmung, sind ungeschickt im Umgang miteinander, aber nach einer Weile werden sie entspannter, was nicht zuletzt der Wirkung des Alkohols zu verdanken ist. Sie rufen sich Ereignisse aus ihrer Jugend in Erinnerung, werfen mit Namen von Bekannten, Plätzen und Straßen um sich, an die Hammoudi sich kaum erinnern kann.

Auch Damaskus erkennt Hammoudi fast nicht wieder. Die Innenstadt wurde in den letzten fünf Jahren gentrifiziert: Winzige Lebensmittelläden mussten schließen und wurden als »Zara« oder »Benetton« wiedereröffnet; Bäckereien machten Cafés Platz, in denen Cappuccino mit Sojamilch zu europäischen Preisen serviert wird; ehemalige Gemischtwarenläden, in denen man schlicht alles kaufen konnte, vom Schraubenzieher bis zum Benzinkanister, mussten Handyläden weichen.

Mit dem ersten Morgenlicht fällt Hammoudi in sein überteuertes Hotelbett und schläft sofort ein, während durch die offenen Fenster die Flüche der betrunkenen Nachtschwärmer und die Rufe des Muezzins dringen, der zum Morgengebet einlädt.

Amal hat Angst, die sie wegzuspielen versucht. Ihr Leben lang hat sie die Menschen um sich herum studiert, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Liebhaber, Wildfremde. Sie hat sich ihre Mimik und ihre Gesten eingeprägt, um sie später auf der Bühne exakt wiedergeben zu können. Sie hat Charaktere, Stimmlagen und Emotionen erlernt. Schon als kleines Kind, bevor sie sprechen konnte, ahmte sie Menschen nach. Dennoch hatte sie sich den Wunsch, Schauspielerin zu werden, lange nicht eingestanden. Sie dachte, sie wäre nicht begabt und schön genug, um auf einer Bühne zu stehen. Sie fand ihre Hüften zu breit, die Nase zu lang und die eigene Stimme nicht fest genug. Zudem suggerierte ihr Vater ihr stets, dieser Beruf sei nichts für ehrbare Frauen. Also machte Amal zunächst einen Abschluss in Englischer Literatur, aber die Bücher füllten sie nicht aus, und so ging sie eines Tages doch zum Vorsprechen am renommierten Institut für Dramatische Kunst.

Das alles scheint ihr sehr lange her zu sein. Nun hat die Angst sich wie ein Parasit in ihrem Brustkorb eingenistet. Amal weiß genau, was ihr zustoßen könnte, aber sie weiß nicht, wann und ob es passieren wird, und diese Ungewissheit lässt sie erzittern. Zu viele Menschen in ihrer Umgebung wurden verhaftet, gefoltert oder sind einfach verschwunden, was jedoch auf dasselbe hinausläuft.

Damaskus ist eine laute, unordentliche und hektische Stadt, übervoll vom Hupen der Busse und Taxis, dem Geschrei der Straßenverkäufer, dem Summen und Tröpfeln der Klimaanlagen an den Häuserfassaden, die sich mit der lärmenden Musik, die aus Autofenstern und Bars dröhnt, vermischen. In Damaskus ertrinkt man in der Geschichte und ihren Superlativen. Doch heute ist die Stadt in eine gespenstische Stille getaucht. Kein Verkehr, keine Gespräche, nicht einmal ein Flüstern sind zu vernehmen. Der Himmel ist zugezogen von grauen Wolken.

Amal sieht immer wieder zu den Geheimdienstlern, während ihr Körper jede ihrer Regungen und Geräusche registriert. Der Vorhang in einem der Fenster des Wohnhauses gegenüber bewegt sich. Eine alte Frau versucht möglichst unauffällig durch den schweren Damaststoff zu lugen, und in diesem Augenblick beschließt Amal, dass sie sich nie wieder hinter einem Vorhang verstecken möchte, nicht heute, nicht morgen und auch nicht in vier Jahrzehnten, und dass der einzige Weg, dies zu erreichen, darin besteht, weiter auf diesem Platz zu stehen, komme, was wolle.

Die erste Demonstration fand zwei Tage zuvor statt. Die Luft fühlte sich nach dem Winter erstmals wieder mild an, fast warm. Amal und ein paar ihrer Freunde machten sich mit DIN-A4-großen Pappschildern auf den Weg zum Parlament. Amals Schal war tief in ihr Gesicht gezogen. Sie hatten es nicht gewagt, die Transparente herauszuholen. Am Ende der Demonstration sahen sie sich nicht in die Augen und gingen so schnell wie möglich auseinander. Sie schämten sich, dass sie in aller Heimlichkeit nach einer Demonstration wegrannten, während sich in anderen Ländern Menschen anzündeten.

In den ersten Tagen der Revolution dachten die Optimisten, dass die internationalen Medien und Al Jazeera über die Demonstrationen berichten würden. Sie dachten, das Ausland würde sie nicht im Stich lassen, wenn sie nur von ihrem Staat einforderten, was auch der Rest der Welt anscheinend von ihm verlangte. Keiner dachte wirklich daran, das Regime zu stürzen – es ging ihnen lediglich um Reformen. Ein paar kleine Zugeständnisse seitens der Herrscher.

Die Menschen hatten es nämlich satt. Amal hatte es satt, ihr Bruder hatte es satt, ihre Freunde, ihre Kommilitonen, Bekannte, Fremde auf den Straßen, die ganze vulgäre Boheme hatte es satt. Sie hatten die Korruption, die Willkür der Geheimdienste, die eigene Machtlosigkeit und die permanenten Demütigungen satt. Sie hatten es satt, dass alle öffentlichen Bibliotheken, Flughäfen, Stadien, Universitäten, Parks und sogar Kindergärten nach den Assads benannt waren. Sie hatten es satt, dass ihre Väter, Brüder und Onkel in Gefängnissen saßen. Sie hatten es satt, dass die ganze Familie zusammenlegen musste, um die Söhne von ihrem Armeedienst freizukaufen, während im Kabelfernsehen die nordamerikanischen Teenager Autos geschenkt bekamen und um die Welt reisten. Sie hatten es satt, jeden Morgen in der Schule »Assad, bis in alle Ewigkeit« aufzusagen und zu schwören, dass sie alle Amerikaner, Zionisten und Imperialisten bekämpfen würden. Sie hatten es satt, im Schulfach »Politische Bildung« Assad-Zitate auswendig zu lernen und sie dann mit fehlenden Bruchstücken in Klassenarbeiten zu ergänzen und zeitlich einzuordnen. Sie hatten es satt, dass man ihnen im Fach »Militärische Bildung« beibrachte, ein Gewehr auseinanderzubauen und wieder zusammenzusetzen. Sie hatten es satt, wie Tiere behandelt zu werden. Und vor allem hatten sie es satt, dass sie all das nicht aussprechen durften.

Amals Generation ist die erste, die nichts außer der totalen Herrschaft des Assad-Clans kennt. Ganz im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern, die sich noch gut an die endlosen Putsche vor der Machtergreifung Hafiz al-Assads oder an das Massaker von 1982 an den Muslimbrüdern in Hama erinnern können, mit dem die Regierung erfolgreich gezeigt hatte, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Seither tritt das Assad-Regime wie eine gottgegebene Ordnung auf. Mehr noch: Baschar al-Assad ist größer als Gott, zumindest suggeriert dies seine Omnipräsenz, die seines Vaters, seines Bruders, seiner Frau und deren drei Kindern, und sei es in Form von Porträts, die in jedem Winkel des Landes hängen, wie Vogelscheuchen, die die Menschen ängstigen und vertreiben sollen.

Aus dem Augenwinkel sieht Amal die alewitische Schauspielerin Fadwa Soliman, die sie schon lange bewundert, und für einen Moment beruhigt ihr Anblick sie. Sie atmet tief durch und umfasst mit der rechten ihre linke Hand, um das Zittern zu stoppen. Niemand weiß, was als Nächstes passieren wird. Womöglich wird das Regime an den Demonstranten ein Exempel statuieren, sie alle verhaften oder gewaltsam auseinandertreiben.

Nach einer langen Weile, in der die Demonstranten nichts anderes tun, als beieinanderzustehen und die Geheimdienstler zu beobachten, verlässt ein kleiner Mann in einer zu großen Lederjacke die Versammlung und steuert auf das nächste Café zu. Er ist einer der bedeutendsten Künstler Syriens. Amal und etwa zwanzig andere folgen ihm wie eine Schar Kindergartenkinder, erleichtert, der Gefahr entkommen zu sein.

»Al Raouda«, was »Garten Eden« bedeutet, ist ein traditionelles Damaszener Café, das Alkohol und leichte Gerichte serviert und vornehmlich von Oppositionellen, Schwulen, Lesben, jungen Verliebten und Kleinkriminellen frequentiert wird. Im Garten, der mit weißem und braunem Marmor verkleidet ist und tatsächlich manchmal wie das Paradies anmutet, versammeln sich nun die Demonstranten. Man unterhält sich offen, wenn auch extrem hypothetisch, über Zugeständnisse seitens des Regimes und flirtet unverhohlener denn je miteinander. Nachdem Amal all ihre Bekannten der Reihe nach begrüßt hat, geht sie auf die Toilette, lässt kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen, spritzt es sich ins Gesicht und atmet tief ein und aus. Ihr Körper bebt, während die Anspannung sie verlässt. Sie ist verblüfft, dass die Demonstration so unaufgeregt verlaufen ist. Amal hat sich noch nie als Teil einer Gruppe gefühlt, doch zum ersten Mal ist ihr der Gedanke daran nicht unangenehm.

Hammoudis Familie feiert seine Ankunft mit einem rauschenden Fest. Der Hof ist voller Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten. Hammoudi hatte schon vergessen, wie anstrengend eine Großfamilie sein kann. Die Mädchen tragen Haarreife, pompöse Kleider und kreischen, während die Jungen hinter ihnen herjagen. Dann wechseln sie die Rollen, die Jungen laufen weg, und die Mädchen verfolgen sie schreiend.

In der Mitte des Hofes ist ein riesiger Tisch aufgestellt worden, der sich unter der Last der Speisen und Getränke biegt. Hammoudis Vater hat ein Lamm schlachten, mit Reis und Nüssen füllen und dann langsam über dem Feuer im Hof braten lassen. Seine Mutter wies die Dienstmädchen an, mehrere Tage lang Salate und Vorspeisen vorzubereiten, sieben Kilo Kebab und diverse Fische zu marinieren, Joghurt zu rühren und riesige Tabletts mit Baklava und Sheibiat-Gebäck aufzustellen.

Hammoudi wird von einer Kinderschar belagert, an die er die aus Frankreich mitgebrachten Geschenke verteilt. Die Kinder haben ihr Spiel für einen kurzen Moment unterbrochen. Hammoudis Tanten laden den Gästen großzügige Essensportionen auf die feinen Porzellanteller, die Hammoudis Mutter aus Japan importiert hat. Seine Großeltern haben sieben Töchter und keinen einzigen Sohn, was die Töchter und vor allem der Großvater als ein großes Glück empfinden. Er hat all seinen Töchtern ein Studium ermöglicht, und alle sieben entschieden sich für Medizin. Inzwischen arbeiten sie zwar in unterschiedlichen Fachgebieten, sind aber weiterhin unzertrennlich. Seine ganze Kindheit hindurch sah Hammoudi seine Tanten eng beieinandersitzen und im Sommer auf dem Dach ihres Hauses Nüsse und Süßigkeiten knabbern, während sie über die Nachbarn herzogen.

Hammoudis Cousin gießt zwei Fingerbreit einer klaren Flüssigkeit in ihre beiden Gläser, wirft Eiswürfel hinein und verdünnt den Alkohol mit Wasser, woraufhin die Flüssigkeit milchig-weiß wird. Auch die Nachbarn sind da, die Eltern von Mohammed, einem einst pummeligen Jungen, der mittlerweile zu einem schlaksigen Teenager herangewachsen ist und davon träumt, Brückenbauer zu werden.

Hammoudi beobachtet, wie sein Bruder sich angeregt mit einem Mädchen unterhält, und lächelt in sich hinein – Naji ist stets hinter einer Frau her, obwohl er mit seinen dreiunddreißig Jahren nicht mehr der Jüngste ist. Er ist das schwarze Schaf der Familie.

Nach dem Essen liest Hammoudis Großmutter die Zukunft aus dem Kaffeesatz. Eine lange Schlange bildet sich vor der zierlichen, von Arthritis gebeugten Frau, die sich geduldig nacheinander die Tassen anschaut und den braunen Satz deutet. Sie ist eine der wenigen Wahrsagerinnen, die jungen Mädchen keine Bräutigame und Söhne vorhersagt. In der Kaffeetasse von Hammoudis Cousine sieht sie einen Fisch, was Geld bedeutet. Auch Hammoudi bringt seine Tasse zu ihr, sie streicht ihm über die Stirn, dann aber verfinstert sich ihr Blick, und sie starrt lange seine Tasse an, so lange, dass Hammoudi sie lachend fragt, ob seine Zukunft wirklich so düster sei.

»Gott wird es richten«, sagt sie schließlich. »Min timmi ila abau’ al-samah. Von meinem Mund zu den Pforten des Paradieses.«

Später am Abend fragt Hammoudi noch einmal nach seiner Zukunft, doch seine Großmutter schüttelt nur den Kopf und bittet um ein Glas Wasser.

Am Morgen nach dem Fest, während das ganze Haus noch schläft, macht Hammoudi sich zur Stadtverwaltung auf, um endlich seinen Pass verlängern zu lassen. Die Sicherheitsmänner winken ihn schlaftrunken durch. Die Flure sind eng, die Wände blassgelb gestrichen und mit einer grellgrünen Bordüre geschmückt. In einem stickigen Zimmer nimmt Hammoudi Platz und wartet, bis sein Name aufgerufen wird.

Die Wartezimmer der Syrischen Republik haben viele Gemeinsamkeiten mit den Gefängnissen, niemand weiß, wie lange und weshalb man in ihnen sitzen wird. Die Zeit hier ist auf ihre Unbestimmtheit hin ausgelegt, sie dehnt sich aus oder verrinnt. Möglicherweise wird ein ganzer Tag verstreichen, möglicherweise nur eine halbe Stunde. Hammoudi versucht allen möglichen Beschäftigungen nachzugehen, Handyspiele, E-Mails, ein vor Ewigkeiten angefangener Roman, und doch ist sein Körper in permanenter Alarmbereitschaft, denn sein Name könnte jederzeit aufgerufen werden.

Drei Stunden später darf er in ein winziges Zimmer eintreten und einem Beamten in einem nicht mehr ganz frischen weißen Hemd seinen Pass hinüberreichen. Der hölzerne Schreibtisch ist mit Akten überladen, auf manchen hat sich bereits eine Staubschicht gebildet. Darüber hängt ein großformatiges Porträt des Präsidenten Baschar al-Assad, die Farben sind bereits verblichen. Der Beamte nickt und sagt: »Kommen Sie um vier wieder. Dann können Sie Ihren Pass abholen.«

Draußen blendet das Licht und Hammoudi setzt rasch seine Sonnenbrille auf, die für Deir az-Zour zu elegant und zu teuer aussieht. Seine gesamte Garderobe passt nicht hierher, denkt er. Seine Mutter hat für ihn sogar gestern Nacht noch eine Galabiyya herausgelegt. Er nutzt die Zeit für einen Spaziergang durch die Stadt, die ihm nun entrückt erscheint, so wie seine ganze Kindheit. Die Straßen sind zu dieser Stunde leer, viele der Bewohner halten Mittagsschlaf, auch Hunde dösen im Schatten, während die Katzen sich unermüdlich durch die Müllcontainer wühlen.

In einem winzigen Supermarkt kauft Hammoudi ein Feuerzeug und Zigaretten. Der Ladenbesitzer schläft betrunken hinter seiner Ladentheke, der Monitor der Überwachungskamera und ein alter Fernseher, in dem eine Fußballübertragung läuft, flimmern neben seinem rasierten Schädel. Hammoudi wirft einen Blick auf das Spiel und versucht die beiden Mannschaften auszumachen. Dann reißt er das Zellophanpapier von der Packung und steckt sich gierig eine Zigarette in den Mund.

Er zieht seine Jacke enger um den Körper und setzt seinen Spaziergang fort. Noch ist es kühl, aber im Sommer steigt die Temperatur auf über vierzig Grad im Schatten. Deir az-Zour wird als die »gelbe Stadt« bezeichnet, denn an zweihundertzwanzig Tagen im Jahr bedeckt Sand die Straßen und Häuser. Selbst der Himmel nimmt dann eine safrangelbe Farbe an, die sich im Verlauf der Stunden zu einem kräftigen Rot verwandelt.

Hammoudi kann dem Drang nicht mehr widerstehen, es zieht ihn zum Euphrat, dem smaragdgrünen Fluss, der von den Einwohnern wie eine Gottheit verehrt wird. Gemächlich läuft er hin und bleibt am Ufer stehen, so dass er die Hängebrücke gut im Blick hat. Er sieht zu, wie ein paar Schüler, die offensichtlich den Unterricht schwänzen, in die Tiefe hinabspringen. Die Sprünge sind gefährlich, denn die Strömung ist stark, aber es ist ein altes Ritual der Stadtjugend. In jeder Familie gibt es mindestens einen Verwandten, der in diesem Fluss ertrunken ist, aber das hält die Jugend nicht auf.

Unter den Springern meint Hammoudi Mohammed zu erkennen, und dann fällt es ihm wieder ein, die Hängebrücke sei in Wahrheit eine Schrägseilbrücke, das hat ihm Mohammed mal erklärt. Der Junge, der Mohammed sein könnte, hält die Arme über den Kopf ausgestreckt und lässt sich fallen. Hammoudi wartet, bis sein Kopf wieder auf der Wasseroberfläche auftaucht, und macht sich dann auf den Weg.

Um zehn vor vier steht er wieder im Warteraum des Bürgeramtes. Diesmal wird er sofort in das Büro des Behördenleiters gerufen, der ihn streng anschaut und verkündet: »Sie können Ihren Pass wiederhaben, aber Sie dürfen das Land nicht verlassen.«

»Wie bitte?«, fragt Hammoudi.

»Der Sicherheitsdienst hat Bedenken, Sie wieder ausreisen zu lassen. Bitte wenden Sie sich an das zuständige Amt.«

»Aber mir wurde in der syrischen Botschaft versichert, ich könne meinen Pass einfach verlängern lassen. Es sei keine große Sache.«

»Wo war das?«

»In Paris.«

»Dann wenden Sie sich an die Kollegen in Paris.«

»Aber dafür müsste ich erst ausreisen können!«

»Ich werde nicht mit Ihnen diskutieren.« Mit einem ausdruckslosen Gesicht öffnet der Beamte die nächste Akte.

Amal spaziert mit ihrer Kindheitsfreundin Luna durch den Souq al-Hamidiyeh. Obwohl der Himmel noch hell ist, dämmert es bereits. Die ersten Mücken versammeln sich in den Lichtkegeln der Straßenlaternen. Es riecht nach Jasmin, Weihrauch, Rosenöl, handgemachter Seife und zu Bergen aufgetürmten Gewürzen: Süßholz, getrocknetem Koriander, Estragon, Paprika, Kurkuma, Zimt und Zatar, Rosenblüten, Lavendel, Borretsch. Der Markt besteht aus unzähligen kleinen Gassen und Korridoren, die zu unterschiedlichen Abteilungen führen, so gibt es mehrere Gänge, in denen nur Kleidung oder Haushaltsgegenstände verkauft werden. Alles ist vollgestopft mit Waren, oft sind sie auf Teppichen und Plastikplanen vor den Geschäften ausgebreitet.

Amal und Luna wurden schon von ihren Müttern nebeneinanderher in ihren Kinderwagen spazieren gefahren. Nun sind die beiden auf der Suche nach Dessous, die Lunas neuem Bekannten gefallen könnten. Auf dem Souq al-Hamidiyeh wird in mehreren Gassen Unterwäsche für angehende Bräute verkauft. Die Läden, deren Kundenstamm vorwiegend aus neugierigen Syrerinnen, westlichen Touristen und reifen Damen aus den Arabischen Emiraten besteht, tarnen sich mit Unschuld, während sie in Wahrheit niederländischen Sexshops gleichen. Die Verkäufer sind allesamt männlich und Ende sechzig.

Amal und Luna bleiben immer wieder vor einem Schaufenster stehen, betrachten Peitschen und BHs, die mal als SM-Kreationen daherkommen, mal blinken und mal Löcher auf Höhe der Nippel haben. Sie kichern und tuscheln miteinander wie kleine Mädchen, obwohl beide schon Mitte zwanzig sind und ihre Unschuld bereits mit fünfzehn beziehungsweise vierzehn Jahren verloren haben. Als ein leichter Nieselregen einsetzt, betreten sie endlich ein Geschäft.

Ein Mann mit einer großen, breiten Nase bietet ihnen einen Kaffee an und fragt, ob eine von beiden die Braut sei. Luna nickt eine Spur zu eifrig. Ein Jugendlicher mit Zahnspange bringt aus dem Hinterzimmer ein Tablett mit Kaffeetassen und einer Zuckerschale.

»Du hast die Figur eines Mädchens, es wird nicht schwer, das Richtige für dich zu finden, Schwester«, sagt der Verkäufer und mustert Luna unverhohlen. Sie sieht noch immer aus wie eine Vierzehnjährige – sie ist dünn und hat lange Haare, die ihr ins Gesicht fallen. Ihre Kleidung ist entweder eine Spur zu eng oder zu weit, so dass sie mal wie eine Lolita, die die Kleider ihrer Mutter anprobiert, und mal wie ein zu schnell gewachsenes Kind aussieht.

Nur fünf Minuten später hat er sein ganzes Sortiment vor ihnen ausgebreitet: Der Tisch quillt über von Strings aus Schokolade, Strings geschmückt mit Pailletten, Federn oder ganzen Insekten, es gibt auch Strings mit Bildern von Superhelden und mit Elektronik – manche stimmen ein Liebeslied an, andere nur »Old MacDonald Had a Farm«. Der Verkäufer lässt es sich nicht nehmen, jedes noch so kleine Detail süffisant zu erklären. Doch Luna ist eine schwierige Kundin, unentschlossen und geizig.

»Schwester, wie gesagt, bei deiner Figur kannst du alles tragen«, sagt der Verkäufer, »aber ich würde dir dennoch zu einem Push-up raten, manchmal wollen Männer einfach mehr.«

»Nein.« Mehr sagt Luna nicht, aber sie nippt nachdenklich an ihrem Kaffee und kräuselt eingeschnappt die Nase.

»Schau, Schwester, diese hier sind neu reingekommen.« Der Mann breitet vor Luna eine ganze Reihe von Unterwäschesets aus. Die Höschen sind mit bunten Vögeln geschmückt.

»Ish al-asfour«, flüstert Amal und der Mann grinst, denn dies bedeutet im Arabischen »Vogelnest«, und außerdem bedeutet es auch noch »Schamhaar einer Frau«.

»Manche mögen es voller, vor allem in Europa soll es so zugehen«, erklärt der Verkäufer und hält plötzlich einen String mit einer Rose, dem Symbol der Hisbollah, Luna vor die Nase.

»Vielleicht ja das?«, fragt er hoffnungsvoll.

Luna verzieht das Gesicht und fuchtelt verärgert mit den Händen. Das fast nicht vorhandene Kleidungsstück verschwindet in aller Eile wieder unter dem Ladentisch.

»Schau dir das an, Schwester! Wenn du dich in der Nacht deinem Mann präsentierst, zieh den BH nicht selbst aus, sondern warte, bis er sich dranmacht, ihn zu öffnen, dann klatschst du schnell in die Hände, und der BH öffnet sich von selbst, und das Höschen gleitet einfach runter.«

Das Verkaufsgespräch wird glücklicherweise unterbrochen, als eine Frau in einer bodenlangen Abaya hereinkommt und sich auf Englisch nach den neuesten Pushup-Modellen erkundigt. Ihr Ehemann und ein Sohn jugendlichen Alters warten draußen.

Eine andere Frau kauft eine Unterhose mit einem riesigen Herz aus Schokolade, und Amal flüstert: »Endlich mal eine klare Anweisung.«

Am Ende erwirbt Luna dennoch mehrere Ensembles für ihre neueste Affäre, und Amal fragt sie eher belustigt als besorgt: »Meinst du, das ist wirklich nötig?«

»Der Mann ist seit sieben Jahren verheiratet, natürlich ist es nötig«, zischt Luna.

In den nächsten Wochen unternimmt Hammoudis Familie alles, damit ihm die Ausreiseerlaubnis erteilt wird. Sie wenden sich an sämtliche Generäle, Funktionäre und Mitarbeiter des Geheimdienstes, die sie kennen und seit Jahren vorsorglich mit Geschenken überhäufen, doch niemand weiß, weshalb seine Ausreiseerlaubnis eingezogen worden ist. Er muss vorerst in Syrien bleiben. Seine Stelle im siebten Arrondissement von Paris wird ihm gekündigt, noch bevor er sie antreten konnte.

Er telefoniert immer wieder mit Claire. Ihre Stimme klingt müde und überzuckert, und Hammoudi erinnert sich an ihren nackten Körper, sehnt sich nach ihren straffen Oberschenkeln, kleinen Brüsten und magischen Händen. Sie war die Jahrgangsbeste an ihrer Universität. Hammoudi folgte ihr stets auf Rang zwei.

Er hat ihr nicht gesagt, dass er nicht nach Frankreich zurückkehren kann. Bisher glaubt sie, es gäbe lediglich »Schwierigkeiten mit dem Pass«, und zieht selbst ihre Schlussfolgerungen. Er weiß, dass sie ihm nicht folgen wird. Sie würde niemals in ein Land ziehen, das sich mit Israel im Krieg befindet. Hammoudi ahnt auch, dass er sie bald gehen lassen muss. Aber noch versucht er, diesen Augenblick hinauszuzögern. Nur noch einen Tag, sagt er sich jeden Morgen voller naiver Hoffnung.

Kennengelernt hatten sie sich an der Université Pierre et Marie Curie. Claire stach aus der Menge heraus, sie war größer als die meisten Männer des Jahrgangs, hatte lange schwarze Haare und große dunkelblaue Augen. Hammoudi war davon überzeugt, dass sie Araberin war, aber als er sie in der Mensa auf Arabisch ansprach, schaute sie ihn nur verwundert an, schüttelte ihren Kopf und ging weiter.

Später trafen sie sich bei einem Abendessen bei Freunden wieder. Zuerst hatte er sie angelächelt, später redeten sie miteinander, und schließlich tanzten sie. Trotzdem zog Claire es monatelang nicht in Betracht, mit Hammoudi auszugehen, denn sie war bereits mit einem älteren jüdischen Oberarzt verlobt, der koscher aß und an den heiligen Feiertagen in der Synagoge betete. Als Hammoudi Claire erklärte, er würde sie lieben, entgegnete sie lediglich, da könne sie auch nichts machen.

Aber Hammoudi ließ sich nicht beirren und bat Claire immer wieder, mit ihm ins Kino, in ein Restaurant, ins Konzert, Theater oder zu einer Ausstellung zu gehen. Später schlug er Ausflüge vor, ins Planetarium, in den Zoo, ins Schwimmbad, und irgendwann wurde aus dem Nein allmählich ein Ja. Von da an dauerte es nicht lange, und Claire trennte sich vom Oberarzt und zog in Hammoudis winzige Wohnung in der Nähe der Gare du Nord ein. Seitdem tastete Hammoudi jeden Morgen, noch bevor er richtig aufgewacht war, nach ihr. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie sich tatsächlich für ihn entschieden hatte.

Sie waren seit fünf Jahren zusammen, und es waren die glücklichsten Jahre seines Lebens. Claire forderte ihn in jeder Hinsicht heraus, sie gab sich nie zufrieden und wollte, dass Hammoudi sich mehr anstrengt, in ihrer Beziehung und in seiner Arbeit. Das gefiel Hammoudi, und Claire mochte seine Hingabe, wie sie es immer wieder halb scherzend ihren Freundinnen erzählte. Abends, nachdem beide aus dem Krankenhaus zurückgekommen waren, gingen sie gemeinsam essen und besprachen ihre Fälle: Claire stellte seine Diagnosen in Frage, kritisierte seine Behandlungsmethoden, und Hammoudi bekam zum ersten Mal in seinem Leben eine Außenperspektive auf sich und eine gleichberechtigte Partnerin, die ihn ernst nahm und kritisierte.

Nach ihrem ersten gemeinsamen Jahr fing Claire an, Hammoudi allmählich in ihre Familie zu integrieren. Sie stellte ihn ihren Eltern und ihren vier älteren Brüdern vor, die allesamt verheiratet waren und mehrere Kinder hatten. Hammoudi begleitete Claire zu den koscheren Seder-Abenden im Haus ihrer Eltern und zu den zahlreichen Geburtstagen ihrer Nichten und Neffen. In Gegenwart von Claires Verwandten fühlte er sich wohl, sie waren zwar der totale Gegensatz zu seiner Familie – leise und zurückhaltend, distanziert, wenngleich warm –, aber unter ihnen konnte Hammoudi sich von seinen lauten Tanten erholen, die sich in alles einmischten und ihn immerzu fragten, wann er endlich heiraten werde.

Vor fünf Monaten entschloss sich Hammoudi dann tatsächlich dazu, Claire einen Antrag zu machen. Er hatte nicht wirklich Lust zu heiraten, aber er ging davon aus, dass dies genau das war, was Claire und ihre Familie von ihm erwarteten. Einen Monat lang trug er den Diamantring mit sich herum, bis er endlich die richtige Gelegenheit fand. Im Garten des Rodin-Museums stellte er seine Frage, und Claire antwortete ohne zu zögern, sie würde ihn lieben, aber wolle nicht heiraten. Hammoudi kam sich vorgeführt und abgewiesen vor, aber er machte genauso weiter wie bisher und erwähnte seinen gescheiterten Antrag gegenüber niemandem.

Auch jetzt kann Hammoudi sich mit einem Leben ohne Claire nicht abfinden und schon gar nicht mit einem in Syrien. Seine Tage verbringt er im Haus seiner Familie oder in den vielen Bars der Stadt, sein Mobiltelefon lässt er dabei keine Sekunde lang aus den Augen. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, aber nichts tut sich.

Hammoudi mochte den Pariser Charme. Er mochte die Menschen dort, die freundlich waren, aber sich niemals aufdrängten. Er konnte der Schönheit der Stadt nicht widerstehen, der Architektur, den kleinen überteuerten Bistros und Cafés, der Selbstgefälligkeit der Bewohner. An ihren freien Tagen streiften Hammoudi und Claire durch die Museen der Stadt, immerhin war Claire die Tochter zweier Kunsthändler. Wenn sie auf ein Bild zeigte, erklärte sie Hammoudi, was sie sah, und dann setzte sie das Gemälde in seinen kunsthistorischen Zusammenhang, bis sie schließlich etwas leiser hinzufügte, wann sie das Werk zum ersten Mal gesehen hatte und was es ihr bedeutete. Hammoudi meinte sie nach jedem Museumsbesuch noch mehr zu lieben.

In der Nacht hat Hammoudi einen Traum. Claire kommt nach Hause und kann ihn nicht finden, aber er hört sie nach ihm rufen, ihre Stimme ist erst weit weg, dann kommt sie näher, verschwindet wieder, kommt wieder näher. Als sie endlich die Küche betritt, schreit Hammoudi lauter und strampelt. Er realisiert erst jetzt, dass er geschrumpft ist und im Kühlschrank eingeschlossen wurde. Er schwimmt, während die Kraft ihn verlässt. Dann öffnet Claire endlich die Kühlschranktür, das elektrische Licht geht an und Hammoudi versucht sich mit letzter Kraft an ein Stück Karotte zu klammern, denn aus irgendeinem Grund schwimmt er in einem Suppentopf. Er schreit nach Hilfe, er hat Krämpfe. Doch als Claire ihn endlich sieht und versucht, ihn herauszufischen, schwimmt sie plötzlich ebenfalls in der Brühe. Schweißgebadet wacht er im Morgengrauen auf. Auf seinen Lippen hat er den Geschmack von Suppe.

Amal hat nicht viele Erinnerungen an ihre Mutter, und seltsamerweise ist eine davon ausgerechnet die, wie ihre Mutter kocht. Die Küche war für sie ein nutzloser Raum, und wenn sie sich doch dazu herabließ, sie zu betreten, dann bereitete sie meistens einen russischen Salat mit dem seltsam französisch anmutenden Namen Olivie zu, der aus zerkochtem Gemüse und Wurst zusammengemengt war. Die Besonderheiten dieses Salates bestanden in den Erbsen aus der Dose, die sowohl in Moskau als auch in Damaskus schwer zu bekommen waren, und Tonnen fettiger Dosen-Mayonnaise, unter der der Geschmack vollends begraben wurde. Während des Kochens telefonierte Swetlana mit einer ihrer unzähligen Freundinnen, die Telefonschnur war locker um ihre Hand gewunden, in der anderen hielt sie eine Zigarette. Es kam durchaus vor, dass sie ins Essen aschte.

Damals lebten sie in einer russischen Parallelwelt. Sie hatten russische Freunde – meistens Männer mit dichten Schnurrbärten und Wohlstandsbäuchen, die als Professoren an syrischen Universitäten arbeiteten –, fuhren im Sommer auf die Datscha ihrer Großeltern in der Nähe von St. Petersburg, und am Neujahrsabend gab es einen Weihnachtsbaum, eine Flasche Sekt und ein Netz Mandarinen. Ihre Eltern sprachen Russisch miteinander, denn Bassel hatte mit einem Stipendium fünf Jahre lang in der Sowjetunion studiert und in der Zeit die Sprache perfekt gelernt. Swetlanas Arabisch war wegen ihres starken russischen Akzentes für Außenstehende kaum zu verstehen.

Als sie noch ein Kind war, vergötterte Amal ihre Mutter, die eine auffällig schöne Frau war, liebevoll und fürsorglich, wenn auch nicht unbedingt zuverlässig. Auf den verblichenen Fotos, die Amal geblieben sind, sieht Swetlana elegant und äußerst feminin aus. Sie ist blond und blauäugig, trägt Riemchensandalen oder Pumps, ihre Kleider haben klassische Schnittmuster und die Röcke betonen stets ihre grazilen Beine. Auf Amals Lieblingsfotografie sieht man Swetlana während einer Reise nach Saudi-Arabien, sie trägt eine ausgefallene Abaya, die mit feiner französischer Spitze verziert ist und im Wind sanft ihren Körper umspielt, das Haar ist nachlässig von einem schwarzen Tuch bedeckt und die große Sonnenbrille verleiht die notwendige Mondänität.

Swetlana, was im Russischen »Licht« bedeutet, verliebte sich an der Abendkasse der St. Petersburger Philharmonie in einen jungen Syrer. Sieben Stunden warteten sie nebeneinander auf die billigen Karten für die obersten Ränge, ließen sich von den mausgrauen sowjetischen Aufseherinnen als Ratten und Geier beschimpfen und nahmen sich nicht einmal die Freiheit, auf die Toilette zu gehen, aus Angst, den Anspruch auf ihren Platz in der Schlange zu verlieren. Als dann die Restkarten endlich verkauft worden waren, reichten sie nicht für Swetlana, doch Bassel überließ ihr heroisch seine Karte. Nach der Vorstellung wartete er auf sie im Foyer und schlug vor, sie nach Hause zu begleiten. Die Straßen seien nicht sicher, sagte er und hatte recht.

Bassel studierte in der Sowjetunion Ingenieurwissenschaften, und als er kurz vor seinem Abschluss stand, wurde Amals Mutter schwanger. Sie heirateten, und Swetlana brachte in Damaskus Amal zur Welt und ein paar Jahre später ihren Bruder Ali. Doch als Amal elf wurde, ließen sich die beiden scheiden und Swetlana ging ohne die Kinder zurück nach Russland – das Sorgerecht blieb nach syrischem Recht beim Vater.

Amal und Ali hatten keine Chance gehabt, sich von ihrer Mutter zu verabschieden – Bassel hatte sie eines Sommers zu entfernten Verwandten nach Saudi-Arabien geschickt, und als sie sonnenverbrannt und religiös geschult wiedergekommen waren, fehlte von Swetlana jede Spur. Ihre Sachen waren verschwunden, ebenso wie die meisten ihrer Fotografien. Amal konnte nur die wenigen retten, die sie ein Jahr nach Swetlanas Verschwinden zufällig in einer Schublade gefunden hatte. Bassel musste sie übersehen haben.