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Wenn dein schönster Traum zu deinem schlimmsten Albtraum wird ...
Julia und Nicki sind beste Freundinnen. Für Julias Junggesellinnenabschied haben sie sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Statt Party zu machen, gehen sie lieber wandern. Nur sie beide auf dem abgelegenen Kungsleden-Wanderweg in Schweden. Doch eines Morgens geschieht das Unvorstellbare, und Julia bleibt allein in der Einsamkeit der rauen Natur zurück. Ohne Karten, ohne Orientierung, ohne zu ahnen, was mit Nicki passiert ist. Wird sie den Weg zurückfinden? Und wer ist die Gestalt, die Julia immer wieder zu sehen glaubt?
Alle Gewissheiten sind dahin. In diesem Buch wirst du dich verirren.
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2025
Julia ist überglücklich: In Lars hat sie endlich ihren Seelenverwandten gefunden. Sogar einen Antrag hat er ihr schon gemacht. Im Trubel der Hochzeitsvorbereitungen hat sie ihre beste Freundin Nicki aus den Augen verloren, obwohl die beiden sonst unzertrennlich sind. Nun überrascht Nicki sie mit einem Hochzeitsgeschenk der besonderen Art: einem Ausflug zu zweit auf den Kungsleden, einen der beliebtesten Wanderwege Schwedens. Schon am nächsten Tag sollen sie abreisen. Obwohl sie etwas überrumpelt ist, stimmt Julia zu. Was für eine schöne Gelegenheit, ihre Freundschaft wiederzubeleben! Doch auf der Wanderung verhält sich Nicki merkwürdig, ist still und in sich gekehrt. Bis sie eines Morgens verschwunden ist. Die Planung lag komplett in Nickis Hand, in der kurzen Zeit konnte Julia sich nicht mit dem Gelände vertraut machen. Und so ist sie allein in der Wildnis, ohne Orientierung und ohne die Möglichkeit, Hilfe zu holen. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach Nicki. Und stößt dabei auf etwas, das sie lieber unentdeckt gelassen hätte.
Rebecca Russ wurde 1991 in Salzburg geboren, wo sie noch heute mit ihrem Mann lebt, umgeben von Bergen und Seen. Neben dem Schreiben von Büchern gehört auch deren Gestaltung zu ihren Leidenschaften: Sie arbeitet als selbstständige Coverdesignerin. Ihre Freizeit verbringt sie gern in der Natur beim Wandern oder Segeln.
Im Aufbau Taschenbuch erschienen von ihr bisher »Die erste Frau« und »Mutterliebe«, bei Rütten & Loening ist »Die Influencerin« lieferbar.
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Der Weg – Jeder Schritt könnte dein letzter sein
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Prolog
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Danksagung
Impressum
Für meinen Großvater, der mit mir im Regen durch die schottischen Highlands gestapft ist, damit mich die Inspiration finden kann.
Der Wind schneidet durch die Baumkronen und peitscht den Regen gegen mein Gesicht. Ich stolpere weiter durch das Dickicht, meine Wanderkleidung durchweicht, die Hände aufgerissen von dem Gestrüpp, durch das ich mich kämpfe. Der Weg vor mir, der nicht einmal ein richtiger Weg ist, verliert sich im Matsch. Meine Schritte sind schwer, jeder Atemzug zieht schmerzhaft in meiner Brust.
Immer wieder bleibe ich stehen und lausche, doch da ist nichts außer dem dumpfen Dröhnen des Regens und dem Rauschen des Windes. Meine Beine zittern vor Anstrengung, aber ich zwinge mich weiter. Immer weiter. Gerade ist Bewegung meine einzige Rettung gegen die beißende Kälte.
Meine Fingerspitzen streichen über die Rinde eines Baumes, feucht und kalt, während ich mich daran abstütze, um nicht auf dem glitschigen Laub auszurutschen. Regen und Nebel erschweren mir die Sicht. In dem dunstigen Schleier verschwimmen die bleichen Birken um mich herum zu geisterhaften Skulpturen. Manchmal glaube ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrzunehmen, ein Schatten, der im Nebel verschwindet. Dann rufe ich wieder, laut und verzweifelt, meine Stimme heiser vor Angst. Aber niemand antwortet.
Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in mir aus, sickert wie Eiswasser durch meinen Körper, bis es sich in meinem Bauch zu einer grauenvollen Gewissheit verdichtet.
Ich bin ganz allein hier draußen.
Und ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
Bei unserer Ankunft hält Schweden sich noch vor mir verborgen. Dichte Regenschleier verhüllen die Landschaft, tauchen alles in ein nebliges Grau, aus dem nur hin und wieder verschwommene Farbtupfer auftauchen. Hier das Aufblitzen vom Blau eines sich windenden Flusses, da das verwässerte Rot einer einsamen Blockhütte.
Ich starre gebannt aus dem Fenster des Linienbusses, denn ein Blick auf meine Garmin-Sportuhr verrät mir, dass es nun nicht mehr allzu lange dauern kann, bis wir in Ammarnäs eintreffen, dem eigentlichen Startpunkt unserer Reise. Das kleine Dorf am Rande des Vindelfjällen-Naturreservats ist so weit abgelegen, dass es uns fast einen ganzen Tag gekostet hat, von Frankfurt aus hierherzukommen. Meine Beine sind inzwischen taub vom vielen Sitzen, und mein Rücken ächzt, obwohl er den schweren Trekkingrucksack bislang nur wenige Meter hat tragen müssen. Dabei würden die richtigen Strapazen morgen erst anfangen. 78 Kilometer zu Fuß in unwegsamem Gelände fernab jeder Zivilisation über Berge, Hochmoore und von Flüssen durchzogene Täler. Nur ich, ein einsamer Weg und meine beste Freundin Nicki.
Die Wanderung auf dem sagenumwobenen Königsweg in Schweden war ihre Idee. Ich war etwas überrascht, als Nicki den Vorschlag machte. Zu unserer Studienzeit, als wir noch Mitbewohnerinnen waren, haben wir oft solche Trekkingtouren unternommen. Mit nicht mehr als unseren Rucksäcken waren wir auf dem West Highland Way in Schottland wandern gewesen und haben die Dolomiten in Italien bestiegen.
Aber je älter wir wurden, desto weniger wurden diese Abenteuer, bis sie irgendwann überhaupt nicht mehr stattfanden. Vor allem im letzten Jahr haben wir uns kaum mehr gehört und noch weniger gesehen, was zum Teil meine Schuld ist. Ich habe einen neuen Job in einer Werbeagentur angenommen, wo ich ständig Überstunden machte, und dann lernte ich auch noch Lars kennen.
Lars, der so anders war, als alle Männer, die ich davor gedatet hatte und der mein Leben in kürzester Zeit völlig auf den Kopf stellte. Nach nur einem halben Jahr machte er mir einen Heiratsantrag, und ich war verliebt genug, dass ich sofort Ja sagte. Die letzten Monate waren ein Wirbelsturm aus Hochzeitsvorbereitungen, Umzugschaos und Gefühlshochs. Der Kontakt zu Nicki brach dabei völlig ab. Am Ende hatten uns seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen, und dann tauchte sie gestern Nachmittag plötzlich vor meiner Tür auf, zwei Flugtickets und eine Broschüre in der Hand, und verkündete, sie habe eine Überraschung für mich. Sie war sichtlich nervös und strich immer wieder mit den Fingern über die beschichteten Papierkanten. Die Broschüre entpuppte sich beim näheren Hinsehen als Wanderkarte, auf dessen Titelseite ein grünes Tal, umrahmt von steilen Berghängen, prangte, in der Mitte ein glasklarer See: der Kungsleden-Wanderweg in Schweden. Sie hatte diese verrückte Idee, anstelle eines klassischen Junggesellinnenabschieds eine Trekkingtour zu unternehmen.
Eigentlich wollte ich diese Tradition komplett auslassen – Partys hatten seit Lars ohnehin ihren Reiz verloren. Aber Wanderschuhe statt High Heels und frische Nordluft statt stickiger Clubs? Das klang schon mehr nach meinem Geschmack. Ich konnte mir keine schönere Art vorstellen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Es war schon immer ein Traum von uns gewesen, einmal im hohen Norden zu wandern, im Land der Nordlichter, wilden Rentierherden und endlosen Fjells.
Aber der Flug würde bereits am nächsten Morgen gehen, und ich hatte in den nächsten Tagen noch Termine beim Floristen und meiner Änderungsschneiderei. Abgesehen davon war ich überhaupt nicht mehr in Form für so eine lange Wanderung und nicht sicher, ob meine Ausrüstung ausreichen würde. Unsere letzte große Tour lag Jahre zurück, doch Nicki sagte, sie hätte bereits ein neues Zelt gekauft. Ich brauchte nur mich selbst, einen Rucksack und genug Wechselkleidung mitbringen. Um alles andere würde sie sich kümmern.
Da war etwas in ihrem Blick, das keine Widerrede duldete, und am Ende sagte ich Ja, woraufhin wir uns jubelnd vor Freude in die Arme fielen.
Ich fing sofort an zu packen, und nicht einmal vierundzwanzig Stunden später sind wir tatsächlich hier, nur noch ein paar Straßenwindungen und Hügel vom Kungsleden entfernt.
Lächelnd drehe ich mich in meinem Sitz zu Nicki um, die im Bus neben mir sitzt, um einen witzigen Kommentar über Trinkspiele auf unserer Wanderung zu machen, aber ich sehe, dass sie schon wieder in ihr Notizbuch vertieft ist. Bereits im Flieger hat sie ständig darin geschrieben. Das kenne ich noch von unserer Studienzeit. Obwohl Nicki inzwischen hauptberuflich in der Marketingabteilung eines Verlags arbeitet, weiß ich, dass es immer noch ihr größter Traum ist, eines Tages Autorin zu werden.
»Schreibst du wieder an einem Roman?«, frage ich und recke den Kopf, aber Nicki klappt das lederne Heft zu, bevor ich einen Blick darauf erhaschen kann.
»Nicht wirklich«, entgegnet sie und schlägt ihre Hände über dem Heft zusammen.
»Wenn doch, musst du ihn mich unbedingt lesen lassen.«
Nickis Mundwinkel zucken verhalten. »Versprochen.«
»Ich habe deine Geschichten immer geliebt. Vor allem die übernatürlichen. Weißt du noch, die mit dem Mädchen, das den Tod vorhersehen konnte?«
»O mein Gott, bitte erinnere mich nicht daran.« Nicki schneidet eine Grimasse. »Das war doch Kinderkram. Da war ich noch so jung, als ich das geschrieben habe.«
»Also, ich fand die Geschichte toll. Ich würde sie jederzeit wieder lesen.«
»Du hattest schon immer einen fragwürdigen Büchergeschmack«, neckt Nicki mich. »Du fandest ja auch Twilight spannend.«
»War es auch!«
Bevor ich weiter ausholen kann, streckt Nicki den Arm an mir vorbei zum Busfenster.
»Jules, sieh nur!«, sagt sie mit geweiteten Augen.
Auf der Straße vor uns strecken sich vier Holzpfeiler in die Höhe, wo sie wie die Spitzen eines Tipis zusammenlaufen und dabei ein hölzernes Schild stützen: »Välkommen till Ammarnäs« steht darauf, am Rand daneben die Silhouetten zweier weißer Polarfüchse, das Symboltier des Naturreservats.
Ich grinse vor Vorfreude, während wir unter dem Willkommensschild hindurchfahren.
Ammarnäs.
Endlich sind wir da.
***
Es ist bereits zu spät, um heute noch loszuwandern, weshalb wir unsere erste Nacht in einer kleinen, rustikalen Pension in Ammarnäs verbringen. Es ist das einzige Mal, dass wir auf unserer Tour in einem warmen Bett schlafen, für die übrigen Nächte haben wir Schlafsäcke und Nickis großes Zweipersonenzelt eingepackt. Auf dem Kungsleden zwischen Ammarnäs und Hemavan gibt es zwar Schutzhütten, die deutlich komfortabler wären, aber Nicki und ich möchten lieber etwas abseits der Hauptpfade schlafen, wo wir für uns sind und die wahre Natur genießen können. In Schweden gilt das Jedermannsrecht, was bedeutet, dass wir uns in der Wildnis völlig frei bewegen dürfen: Zelten, Feuer machen, Beeren sammeln, alles ist erlaubt, und diese Freiheit wollen wir auch nutzen.
Noch immer prasselt der Regen von einer grauen Wolkendecke auf die Erde. Von der Busstation bis zum Hotel sind es zwar nur wenige Gehminuten, dennoch sind wir völlig durchnässt, als wir an der Rezeption eintreffen.
»Ich sagte doch, wir hätten unsere Regensachen auspacken sollen«, brummt Nicki und fährt mit der Hand durch ihre kurzen braunen Haare, um das Wasser aus den Strähnen zu schütteln.
»Jetzt sind wir doch da, und im Zimmer können wir uns gleich umziehen. Es gibt sogar eine Sauna.« Das ist einer der Vorteile an Schweden: Sogar die kleinste Hütte ist hier mit einer Sauna ausgestattet, und meine unterkühlten Glieder können die trockene Hitze gerade gut gebrauchen. Vorher müssen wir allerdings noch einchecken.
Nicki, die alles organisiert hat, holt ihr Handy mit der Reservierungsbestätigung hervor und legt es auf den Holztresen der Rezeption. Die Frau dahinter ist um die fünfzig, trägt eine grüne Strickjacke und strahlt uns aus einem rundlichen, freundlichen Gesicht heraus an, in dem feine Lachfältchen um ihre Augen hervortreten.
»Hej«, heißt sie uns auf Schwedisch willkommen und legt den Zeigefinger auf Nickis Handybildschirm, um die Reservierung zu lesen. »Frau Faber und Frau Lauter?«, fährt sie auf Englisch fort.
»Genau«, antwortet Nicki. »Wir haben für eine Nacht reserviert.«
»Euer Zimmer ist bereits fertig.« Die Frau deutet auf unsere Rucksäcke, die wir gegenüber von der Rezeption auf den Boden gestellt haben. »Ihr wollt den Kungsleden gehen, nehme ich an?«
Ich lächle breit. »Ja. Morgen geht es los.«
Ein kleiner Seufzer entweicht ihren Lippen. »Kein gutes Wetter für eine Wanderung, überlegt euch das besser noch mal. Heute sind deswegen schon zwei Gruppen wieder heimgekehrt.«
»Etwas Regen macht uns nichts aus.« In Schottland hat es während unserer Wanderung auch die Hälfte der Zeit geregnet. Nicki und ich sind für jedes Wetter gerüstet.
Die Frau zuckt mit den Schultern und klickt mehrmals mit der Computermaus über den altmodischen, kastenartigen Bildschirm vor sich. »Wie ihr meint. Aber denkt daran, dass ihr ab einem gewissen Punkt nicht mehr so einfach umkehren könnt. Hier sind eure Schlüssel. Die Straße runter ist ein kleiner Laden, falls ihr euren Proviant noch etwas aufstocken müsst.«
»Danke.«
»Frühstück ist um sieben. Seht zu, dass ihr euch zumindest ordentlich stärkt, bevor ihr losgeht. Braucht ihr sonst noch irgendwas? Wanderkarten? Schutzhüttenreservierungen? Ihr seid allerdings etwas spät dran in der Saison, weshalb die meisten Hütten bereits geschlossen haben.«
»Kein Problem«, erwidert Nicki und nimmt die Schlüssel an sich. »Wir wollen eh wild zelten.«
Die Frau gibt uns noch ein paar Infobroschüren über den Kungsleden und das Vindelfjällen-Reservat mit, anschließend schleppen wir unsere tropfenden Rucksäcke ins obere Stockwerk. Die Pension ist einfach, aber gemütlich, wie fast alles hier im Ort, in dem nur etwa hundert Einwohner leben. Das Zimmer besteht aus zwei Einzelbetten, einem kleinen Tisch und zwei Stühlen – mehr Luxus, als wir später auf dem Trail haben werden. Ich bin froh, endlich hier zu sein, und schäle mich sogleich aus meinen nassen Klamotten, um in einen warmen Jogginganzug zu wechseln.
Draußen peitscht noch immer der Regen gegen die Fenster. Der Himmel ist grau und dunkel, obwohl es erst fünf Uhr Nachmittag ist. Nun machen mir die Worte der Rezeptionistin doch etwas Sorgen.
»Meinst du, dass es morgen besser wird?«, frage ich Nicki, die gerade ihren Kulturbeutel im Bad ausräumt. »Der Regen sieht echt übel aus.«
»Keine Ahnung, aber du hast doch alles eingepackt, was ich dir aufgeschrieben habe, oder? Regenjacke? Überhose? Poncho?«
»Alles dabei«, antworte ich und klopfe auf meinen fest verschnürten Rucksack. Im Packen bin ich nach unseren vergangenen Touren geübt. Es ist ein Balance-Akt aus Gewicht und Notwendigkeit. Nach ein paar Kilometern spürt man jedes zusätzliche Gramm am Rücken, weshalb nur das Wichtigste mitdarf.
»Nach dem Chaos heute Morgen bin ich mir bei dir nicht mehr so sicher«, sagt Nicki neckend.
»Witzig«, brumme ich.
In meiner Verpeiltheit hätte ich unsere Reise fast zum Platzen gebracht. Ich habe meinen Pass verloren. Ich war mir sicher, ihn in meiner Schreibtischschublade verstaut zu haben, doch als ich ihn gestern Abend rausholen wollte, um ihn ganz vorne in meinem Rucksack zu verstauen, war er nicht mehr da.
Ich stellte alles auf den Kopf. Durchsuchte jede Lade, jede Handtasche, jede Jacke, doch ohne Erfolg. Ich verbrachte drei Stunden lang mit Suchen, bis ich Nicki schließlich völlig aufgelöst anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich morgen nicht in den Flieger steigen konnte.
Doch davon wollte Nicki nichts hören. Sie schickte mich noch in der Nacht zur Polizei, damit ich eine Verlustanzeige aufgab, und heute Morgen waren wir gleich die Ersten beim Passamt, um mir einen Notpass ausstellen zu lassen. Zum Glück schien die Dame hinterm Schalter Mitleid mit mir zu haben und beschleunigte den Prozess, so dass wir rennend gerade noch das Abfluggate erreichten, bevor das Boarding für unseren Flug nach Umeå schloss.
»Mach dir keine Sorgen wegen des Wetters«, ruft Nicki aus dem Badezimmer. »Die Vorhersagen haben sich schon wieder gebessert. Und selbst, wenn nicht. Ein bisschen Wasser hat uns doch noch nie aufgehalten.«
»Stimmt«, antworte ich zu leise, als dass Nicki mich verstehen kann. Dann lasse ich mich aufs Bett fallen und hole mein Handy hervor, um Lars zu antworten. Er hat mir in der letzten Stunde bereits zwei Nachrichten geschrieben, die erst jetzt bei mir eintreffen. Während der Busfahrt durch die dichten Wälder vor Ammarnäs hatte ich kaum Empfang.
Seid ihr schon da?, gefolgt von: Du fehlst mir jetzt schon.
Schmunzelnd tippe ich eine Antwort:
Sind eben im Hotel angekommen. Es regnet in Strömen, aber sonst geht es uns gut. Du fehlst mir auch.
Dazu mehrere Kuss-Emojis.
Als Lars gestern von der Arbeit kam und mich packen sah, war er erst überhaupt nicht begeistert von meinen Plänen. So plötzlich, ohne jede Vorankündigung und dann auch noch kurz vor der Hochzeit, so dass die restlichen Vorbereitungen an ihm hängen blieben. Und wieso ausgerechnet eine Trekkingtour? Wieso konnte ich nicht wie ein normaler Mensch meinen Junggesellinnenabschied in einer Bar feiern? Aber Lars sorgte sich auch wegen der Abgeschiedenheit der Route. Da draußen sind wir fernab jeder Zivilisation, ohne Handyempfang, ohne Zugang zu fremder Hilfe, wenn etwas passieren sollte. Lars ist selbst kein Wanderer und versteht den Reiz der Wildnis nicht: Meilenweit zu blicken, ohne einen einzigen Menschen am Horizont. Die Stille, die Weite. Luft, die so rein ist, dass sie beim Einatmen in der Lunge prickelt.
Ich bin in mein Handy vertieft und bemerke Nicki erst, als sie direkt vor mir steht. »Ist das Lars?«, fragt sie mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.
»Ja. Er ist etwas besorgt wegen der Wanderung, aber ich habe ihm versprochen, dass ich in einem Stück vorm Altar erscheinen werde.«
Nicki erwidert mein Lächeln nicht. Sie mag Lars nicht sonderlich, das habe ich sofort gespürt. Bislang haben sie sich nur einmal getroffen, zu meiner Geburtstagsfeier im Februar. Nicki hat ihn wie Luft behandelt, kaum ein Wort geredet und ist früh gegangen. Wahrscheinlich liegt es an seiner Herkunft. Lars ist mit Geld aufgewachsen, hat es vervielfacht, indem er mit Mitte zwanzig Bitcoin gekauft und mit dem Gewinn eine erfolgreiche Krypto-Trading-Plattform gegründet hat. Nicki hingegen kommt aus sehr ärmlichen Verhältnissen, hat immer sparen müssen, immer nur secondhand gekauft und schimpft gerne über die reichen Bonzen, die unsere Wirtschaft ruinieren. Ich kann mir vorstellen, dass sie deshalb viele Vorurteile gegenüber Lars hegt, die ich hoffentlich während unserer Tour etwas zerstreuen kann.
Gerade will ich etwas in der Art sagen, als ich bemerke, wie Nicki erneut ihre Schuhe überstreift. »Gehst du noch mal raus?«
»Der Regen lässt etwas nach«, murmelt Nicki mit dem Rücken zu mir. »Ich dachte, ich gehe noch schnell zum Laden, bevor er schließt. Ich möchte sicherheitshalber noch eine Gaskartusche kaufen und vielleicht ein paar Snacks.«
»Snacks klingen gut. Soll ich nicht mitkommen?«, frage ich und greife bereits nach meinen Schuhen.
»Nicht nötig«, wehrt Nicki ab und schlüpft in ihre Regenjacke. »Es reicht, wenn eine von uns nass wird.«
Kurz vor der Tür rufe ich sie noch mal zurück. »Warte! Sollen wir vielleicht noch irgendwas in Ammarnäs unternehmen, bevor es morgen losgeht?«
»Was meinst du?« Nickis Blick gleitet an mir vorbei, ohne mich direkt anzusehen.
»Keine Ahnung, ich hatte noch nicht allzu viel Zeit zu recherchieren, aber ich hab zum Beispiel gelesen, dass es hier die weltbesten Rentierburger geben soll.«
Nicki verzieht die Mundwinkel. »Klingt ja widerlich.«
»War auch nur eine Idee.« Aus irgendeinem Grund fange ich an zu stammeln. »Aber vielleicht finden wir ein anderes nettes Restaurant. Oder wir machen uns einen entspannten Spa-Abend in der Sauna.«
»Ich glaube, ich möchte mich heute einfach nur ausruhen, wenn das für dich okay ist«, erwidert Nicki nach einer kurzen Pause, während ihre Finger unruhig den Türstock hinabgleiten. »Die Wanderung morgen wird sicher anstrengend, aber geh ruhig in die Sauna, während ich weg bin, dann können wir danach unten im Hotel abendessen gehen.«
»Ja, klar. Passt für mich.« Obwohl ich lieber mit ihr gemeinsam in die Sauna gegangen wäre, zwinge ich mich zu einem Lächeln. »Dann bis später.«
Nicki nickt mir zum Abschied zu. Stirnrunzelnd blicke ich ihr nach, als sie die Tür hinter sich schließt. Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass es zwischen uns anders ist. Eine Distanz, die früher nicht da war. Nicki hat sich verändert, sie ist stiller geworden, zurückgezogener. Auch optisch hätte ich sie gestern fast nicht erkannt. Mit der Kurzhaarfrisur und den ungewohnt weiten Klamotten. Obwohl Nicki schon immer schlank und durchtrainiert war, hat sie im letzten halben Jahr sicher fünf Kilo abgenommen, so dass ihre Jeans beim Gehen über ihre hervorstehenden Hüftknochen rutscht und ihr spitzes Kinn scharf hervorsticht.
Veränderungen sind normal, das sollte mich nicht wundern. Als wir noch zusammenwohnten, waren wir fast noch Kinder, gerade erst zwanzig geworden, den Kopf voller großer Träume und das Herz stets auf der Zunge. Bestimmt bin ich auch nicht mehr dieselbe wie damals, dennoch habe ich gehofft, dass es wieder so wie früher wäre, wenn wir einmal unterwegs sind. Ich vermisse Nicki und unsere Freundschaft, gerade jetzt, da ich davorstehe, einen der wichtigsten Schritte überhaupt zu machen: Ehe und vielleicht sogar bald Kinder. Manchmal macht mir das Angst.
Ich liebe Lars, aber zwischen uns ist alles so furchtbar schnell gegangen, dass ich kaum Zeit hatte, Luft zu holen und alles in Ruhe zu durchdenken weshalb ich eine Freundin gerade gut gebrauchen könnte. Eine, die mich kennt wie niemand sonst auf der Welt, die mir zuhört und deren Ratschlägen ich vertrauen kann.
Doch obwohl wir zu zweit auf dem Trip sind, fühle ich mich in dem Moment allein.
In der Nacht höre ich den Wind heulen, wie er an der Hotelfassade reißt und gegen das Fensterglas peitscht, doch als ich aufwache, ist alles ruhig. Sonnenlicht fällt in einem diesigen Strahl durch einen Vorhangspalt in unser Zimmer und lässt mich blinzeln. Ein einzelner Vogel ruft, wie um das Ende des Unwetters anzukündigen.
Ein Seufzer der Erleichterung entfährt mir. Nicki hatte also recht. Regen hätte uns zwar nicht aufgehalten, aber in trockenen Schuhen zu wandern ist doch deutlich angenehmer. Vor allem heute während unserer ersten Tagesetappe, bei der wir über sechshundert Höhenmeter erklimmen müssen.
Beschwingt schlage ich die Decke zurück und gehe zum Fenster, um die Vorhänge beiseitezuziehen. Die dunklen Gewitterwolken haben sich verzogen und geben den Blick auf einen hellblauen Himmel frei. Erstmalig erhasche ich auch einen Blick auf die Berge des Vindelfjällen-Naturreservats mit ihren sanften Rundungen und weiß schimmernden Schneefeldern. Plötzlich kann ich es kaum mehr erwarten, dort oben zu sein, und spüre, wie meine Lippen sich zu einem Lächeln verziehen. Noch immer gefesselt von der majestätischen Aussicht, mache ich mit meinem Handy ein Foto, um es Lars gemeinsam mit einem Guten-Morgen-Gruß zu schicken. Es ist Samstagfrüh, wahrscheinlich schläft er noch, aber sobald wir einmal unterwegs sind, werde ich kein Netz mehr haben. Gut möglich, dass dies das letzte Mal ist, dass ich ihm schreibe.
Zu meiner Verwunderung antwortet Lars sofort, fast so, als hätte er auf meine Nachricht gewartet:
Guten Morgen! Bitte sei vorsichtig. Ich habe gesehen, dass schwere Unwetter in der Region wüten. Vielleicht solltet ihr eure Wanderung besser verschieben.
Zur Beruhigung schicke ich Lars noch ein Foto, diesmal mit Fokus auf den klaren Morgenhimmel. »Das Gewitter ist schon vorbei, keine Wolke mehr in Sicht.«
Während ich schreibe, höre ich Wasser durch die Rohre im angrenzenden Badezimmer rauschen. Nicki scheint ebenfalls wach zu sein und gönnt sich die letzte warme Dusche, bevor wir uns die restlichen Tage mit kaltem Flusswasser waschen müssen.
Geplant ist, dass wir noch vor acht Uhr aufbrechen, um den meisten Wochenendausflüglern zuvorzukommen. Nach Nicki springe ich ebenfalls rasch unter die Dusche, bevor wir alles zusammenpacken und uns für die Wanderung anziehen.
»Hast du Mückenspray dabei?«, fragt Nicki, während ich Jacke und Schuhe hervorhole.
»Na klar. Ich bin gestern früh extra noch mal schnell zur Apotheke. Wollen wir uns gleich einsprühen?« Die Mücken in der Gegend sollen eine echte Plage sein. Als sie nicht antwortet, hebe ich den Blick und merke, wie Nicki mich anstarrt. »Alles okay?«
»Was ist das?« Nicki beäugt mein Wanderoutfit. Ich trage eine türkisfarbene Softshelljacke aus wasserfestem Material, schwarze Trekkinghosen und neue, hoch geschnittene Wanderschuhe aus Nubukleder. Die langen Haare trage ich zu einem Pferdeschwanz gebunden, bedeckt von einem ebenfalls türkisfarbenen Cappy mit Berglogo.
Etwas verlegen zucke ich mit den Schultern. »Meine Wanderausrüstung war schon ziemlich alt. Lars hat mir zum Geburtstag alles neu gekauft.« Sich selbst hat er dabei ebenfalls neu ausgestattet, damit wir zusammen Tagesausflüge unternehmen können. Bislang ist es dazu aber noch nicht gekommen. Obwohl mein Geburtstag schon über ein halbes Jahr zurückliegt, trage ich die neue Wanderausrüstung heute zum ersten Mal.
Nicki schüttelt den Kopf. »Du wirkst wie aus einer Sportartikelwerbung.«
Ich könnte es als Scherz auffassen, wenn Nickis Tonfall nicht so abfällig wäre. Meine Wangen werden spürbar heiß. »Sie sind funktional, darauf kommt es doch an, oder?«
Schnaubend dreht Nicki sich weg, um ihre eigenen ergrauten Wanderschuhe überzuziehen, die sie bereits vor fünf Jahren auf unseren Touren getragen hat. »Ich hoffe nur, du kriegst keine Blasen in den Schuhen«, brummt sie. »Die sehen nicht aus, als ob sie schon richtig eingelaufen wären.«
Wie denn, nachdem sie mich mit dieser Wandertour so plötzlich überfallen hat? Doch ich schlucke den bissigen Kommentar hinunter, der mir auf der Zunge liegt. Ich will nicht streiten. Schon gar nicht, bevor unsere Wanderung überhaupt begonnen hat.
Wir gehen noch mal den Inhalt unserer Rucksäcke durch, um zu prüfen, ob wir auch wirklich alles dabeihaben, denn in den nächsten Tagen werden wir keine weitere Möglichkeit haben, Proviant aufzustocken. Danach checkt Nicki uns aus, während ich schon mal in den Frühstücksraum gehe und uns zwei große Tassen Kaffee organisiere.
Obwohl es noch früh am Morgen ist, ist der Raum jetzt schon erfüllt von Besteckklappern und munteren Gesprächen. Außer mir sehe ich noch mindestens zwei Wandergruppen mit hohen Rucksäcken neben den Tischen und ausgebreiteten Wanderkarten zwischen Tassen und Tellern. Ihre verkrusteten Wanderschuhe und sonnengebräunten Wangen verraten mir, dass sie schon länger unterwegs sind, vielleicht sogar den gesamten Kungsleden gehen, der in seiner Gänze über vierhundert Kilometer lang ist und sich bis in den tiefsten Norden Schwedens erstreckt. Der Weg zwischen Ammarnäs und Hemavan ist nur eine kurze Etappe davon, die Nicki und ich in sechs Tagen bewältigen wollen. Sechs Tage, die mir entweder sehr kurz oder sehr lang erscheinen werden.
Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Kaffeetasse, als es in meiner Hosentasche vibriert. Ich verschlucke mich, Kaffee tropft über den Rand und auf die Tischdecke, dennoch lächle ich, als ich abhebe. Es ist Lars.
»Hallo, Schatz. Du hast Glück. Noch sind wir im Hotel und haben Empfang.«
»Deshalb rufe ich auch so früh an. Ich hatte gehofft, ich erwische dich noch, bevor ihr aufbrecht. Wie geht es dir?«
»Gut«, antworte ich, während ich mit einer Serviette den verschütteten Kaffee auftupfe. »Etwas aufgeregt vielleicht, aber ich freue mich schon, dass es nun gleich losgeht.«
»Und das Wetter hat sich gebessert, sagst du?«, fragt er, begleitet von leisem Tassenklappern. Ich stelle mir vor, wie Lars in der Küche steht und die Kaffeemaschine vorbereitet, den Trichter mit frisch gemahlenem Kaffee füllt, während Röstaromen den Raum erfüllen. Normalerweise mache ich das jeden Morgen für uns, seitdem ich bei ihm eingezogen bin.
Ich drehe mich zum Fenster auf der anderen Raumseite und betrachte den blauen Himmel draußen. »Ja, keine Wolke in Sicht. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Unmöglich. Ich werde die ganze Woche kein Auge zubekommen, solange du weg bist. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du wirklich zu dieser wahnwitzigen Reise aufgebrochen bist und mich kurz vor der Hochzeit allein lässt.«
Ich brumme leise ins Telefon. »Wer weiß, vielleicht tut es dir ja ganz gut, mich zu vermissen.«
»Als wäre ich nicht schon verrückt genug nach dir«, raunt Lars. »Und Nicki? Wie geht es ihr?« Seine Stimme bekommt immer diesen merkwürdigen Tonfall, wenn er über sie spricht, so dass ich laut seufze.
»Ich wünschte wirklich, du würdest ihr eine Chance geben. Sie ist meine beste Freundin.«
»Ich weiß, und ich gebe mir auch Mühe.« Lars gibt ein frustriertes Geräusch von sich. »Vielleicht liegt es auch daran, dass ich sie kaum kenne, aber sie hat so einen Ausdruck im Gesicht, wenn sie dich ansieht, der mich stört.«
Genervt tippe ich mit den Fingern über die Tischkante. »So ein Blödsinn. Was meinst du?«
»Keine Ahnung. Als wäre sie eifersüchtig auf dich.« Lars’ Tonfall wird wieder leichter. »Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich will euch nicht die Stimmung verderben. Genieß heute deine Wanderung, wenn du das unbedingt durchziehen willst, aber versprich mir, dass du aufpasst. So eine Tour ist nicht ungefährlich.«
»Ich weiß. Ich verspreche, ich bin vorsichtig.«
»Gut. Ich habe nämlich eine Überraschung für dich, wenn du wiederkommst.«
In dem Moment sehe ich Nicki den Frühstücksraum betreten. Sie trägt ihre Wanderjacke über dem Arm und hält Ausschau nach mir. »Eine Überraschung?« Schmunzelnd winke ich Nicki über die Tische hinweg zu. »Ist die Ehe nicht Überraschung genug?«
»Ich habe nicht gesagt, dass die Überraschung nichts mit unserer Ehe zu tun hat. Besser gesagt, mit unseren Flitterwochen. Mehr verrate ich aber noch nicht. Bloß, dass du deine Wanderschuhe dort höchstwahrscheinlich nicht brauchen wirst.«
»Schade. Und ich hatte gehofft, du entführst mich auf den Mount Everest.«
Wir verabschieden uns gerade, als Nicki den Tisch erreicht und den freien Stuhl zu sich zieht. »Hat alles geklappt?«, frage ich sie, als ich das Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht sehe.
»Ja«, erwidert sie knapp und greift nach ihrer Kaffeetasse. »Wir sollten uns aber beeilen, sonst sind alle vor uns auf dem Wanderweg.«
Gleich darauf kommt eine Kellnerin zu uns. Nicki und ich bestellen beide zwei große Schüsseln Joghurt mit Früchten und Nüssen und Sandwiches für unterwegs. Nach dem Frühstück und einer weiteren Runde Kaffee geht es dann auch schon los.
Die Luft ist noch kühl vom Regen, als wir nach draußen treten. Mich fröstelt leicht, dennoch lasse ich meine Überjacke noch im Rucksack, denn ich weiß aus Erfahrung, dass mir nach ein paar Schritten schnell warm werden wird.
Ammarnäs entpuppt sich bei Sonnenschein als beschaulicher Ort, voller Bäume und traditioneller schwedischer Holzhäuser, deren Fassaden in kräftigen Rot- und Brauntönen gestrichen sind. Die erste Etappe führt uns mitten durchs Dorf, entlang der Hauptstraße, wobei wir einen Fluss queren, bevor wir den Parkplatz erreichen, wo das Abenteuer offiziell beginnt. Hier steht eine große Holztafel und am Eingang des Pfades ein Pfeiler mit mehreren Schildern, die die verschiedenen Etappen anzeigen.
Kungsleden steht an oberster Stelle.
»Lass uns ein Selfie machen«, sage ich, den Arm ausgestreckt, während ich das Handy schwenke, um das Schild im Hintergrund einzufangen. Ich presse Nicki an mich und grinse breit in die Kamera. Erst nachdem ich abgedrückt habe, merke ich, wie erschrocken Nicki aussieht, die Augen viel zu groß in dem schmalen Gesicht.
»Bist du bereit?«, frage ich sie vorsichtig.
Sie kramt in ihrer Jackentasche, ohne mich anzusehen, den Blick starr auf den Wald gerichtet, ein seltsam steifes Lächeln auf den Lippen. »Klar«, murmelt sie.
Ist sie etwa nervös? Das sieht ihr ganz und gar nicht ähnlich. Vor allem, nachdem wir schon deutlich anspruchsvollere Wanderungen gemeistert haben.
Ich senke das Handy, schicke das Foto aber noch an Lars, bevor ich es in meine Jackentasche stecke. »Los geht’s«, tippe ich darunter.
»Kungsleden, wir kommen«, sage ich in einem aufmunternden Ton.
Dann nehme ich einen letzten tiefen Atemzug und wende mich dem schmalen Pfad zu, der zwischen den ersten Bäumen verschwindet. Nah hintereinander treten wir in den dichten Mischwald ein, und mit einem Schlag wird die Welt dunkler und stiller.
Ich merke sofort, wie gut mir die Bewegung tut, das monotone Voranschreiten, während sich mein Brustkorb bei jedem Atemzug weitet. Die Rucksackriemen lasten schwer auf meinen Schultern, aber auch dieser Schmerz tritt schnell in den Hintergrund, wird ein Teil der Kulisse, gemeinsam mit dem Rhythmus meiner Schritte, dem Knirschen von Kieseln und meiner immer lauter werdenden Atmung.
Gott, wie habe ich das vermisst!
Nicki, die ein paar Schritte vor mir geht, verhält sich nach wie vor ungewöhnlich still und redet nur das Nötigste mit mir. Ich versuche mich nicht zu sehr von ihrer Laune beeinträchtigen zu lassen, aber ihre Schweigsamkeit ist wie ein Splitter in meiner Ferse, den ich einfach nicht ignorieren kann. Fast kommt es mir vor, als wäre sie sauer auf mich. Weil ich mich letztes Jahr so rar gemacht habe? Viel öfter hat sie sich auch nicht gemeldet. Wieso wollte sie überhaupt diese Wanderung mit mir machen, wenn sie ohnehin nicht mit mir reden will?
Seufzend lenke ich meinen Blick auf die umliegende Landschaft und den Weg vor mir. Wir haben Mitte September, und das Laub beginnt bereits, sich zu verfärben. Die Luft riecht nach feuchter Erde und dem Harz der Bäume. Der Weg steigt immer mehr an, und ich muss mich konzentrieren, um auf dem schlammigen Untergrund meinen Halt zu bewahren. Bald läuft mir der Schweiß den Nacken hinunter, und ich keuche vor Anstrengung. Ich würde gerne langsamer gehen, aber Nicki gibt ein straffes Tempo vor. Der Abstand zwischen uns wird immer größer. Meine Beine ächzen, während ich mich bemühe, zu ihr aufzuschließen.
»Kurze Pause«, bitte ich keuchend und greife nach hinten nach meiner Wasserflasche. Nicki bleibt ein paar Meter über mir stehen, doch kaum dass ich die Wasserflasche abgesetzt habe, marschiert sie bereits weiter, so dass ich sprinten muss, um den Kontakt zu ihr nicht zu verlieren.
Meine Lungen brennen. Bei dem Tempo werde ich nicht lange durchhalten, und dabei hat unsere Wanderung gerade erst angefangen. Nickis kurzer Haarschopf verschwindet hinter der nächsten Biegung außer Sicht.
Da reicht es mir. Ich ramme die Fersen in den Boden und streife die Rucksackriemen ab.
»Was ist bloß los mit dir?«, rufe ich laut, während ich mich kraftlos auf einen Felsen sinken lasse.
Mein Herz pocht wie wild, und meine Hände zittern, so dass ich den Reißverschluss meiner Jackentasche fast nicht aufbekomme, als ich nach einem Energieriegel fische.
Eine Sekunde später kommt Nicki wieder in Sichtweite und läuft mit großen Schritten zu mir herab. »Was meinst du?«
Ich zerre so fest an der Folienverpackung, dass der Energieriegel zwischen meinen Fingern entzweibricht. »Keine Ahnung, aber ich dachte, dass wir diese Wanderung gemeinsam unternehmen. Stattdessen rennst du einfach voraus und redest kein Wort mit mir.«
Nickis dunkle Augen weiten sich. »Tut mir leid, ich war in Gedanken. Ich wollte gar nicht rennen.«
»Du bist die ganze Zeit schon so komisch. Als ob du mich überhaupt nicht dabeihaben möchtest.« Meine Stimme bricht. Um mich abzulenken, schiebe ich ein Stück des Energieriegels in meinen Mund.
Nicki lässt ihren Rucksack nun ebenfalls sinken und setzt sich auf den Felsen neben mich. »Natürlich will ich das! Du bist der Hauptgrund, aus dem ich hier bin.«
»Was ist dann los? Wieso ignorierst du mich die ganze Zeit?«
»Tut mir leid«, sagt sie erneut, während ihr Kinn herabsinkt. »Das war keine Absicht. Ich hab einfach viel im Kopf. Um ehrlich zu sein … Es waren ein paar harte Monate, sind es eigentlich immer noch.«
Krampfhaft schlucke ich. »Was ist passiert?«
»Viel.« Ein bitterer Ausdruck kreuzt Nickis Gesicht, sie verhakt ihre Hände im Schoß ineinander. »Ich bin …« Sie zögert. Dann holt sie tief Luft. »Mir ging es in letzter Zeit nicht so gut. Es wurde immer schlimmer, eine Zeit lang konnte ich nicht zur Arbeit gehen. Letzten Monat haben sie mir gekündigt.« Sie schüttelt leicht den Kopf. »Gerade hab ich keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«
Plötzlich fühle ich mich wie die schlechteste Freundin der Welt.
»Das wusste ich nicht. Wieso hast du nie was gesagt?« Mitfühlend nehme ich ihre Hände in meine.
»Ich hatte nicht die Kraft, über alles zu reden. Damals noch nicht. Deshalb wollte ich unbedingt mit dir wandern gehen.« Nicki drückt meine Hände fest. »Wir haben viel zu lange nicht mehr geredet.«
»Das stimmt«, bestätige ich und erwidere sanft den Druck, während ich mich gleichzeitig frage, wieso eigentlich. Ich erinnere mich daran, wie schwer es im letzten Jahr war, Nicki überhaupt zu erreichen. Wenn sie mal ans Telefon ging, wirkte sie distanziert, und für jeden Vorschlag, sich zu treffen, hatte sie eine Ausrede parat: zu viel Arbeit, eine Erkältung, Kopfschmerzen. Anfangs hatte ich es immer wieder versucht, aber nachdem Lars in mein Leben getreten war, hatte ich es allmählich sein gelassen.
Jetzt schäme ich mich, dass ich so leicht nachgegeben habe. Ich hätte es besser wissen müssen. Hätte merken müssen, dass hinter ihrem Rückzug mehr steckt. Schließlich sind Freundinnen genau dafür da: um einander beizustehen, gerade in schweren Zeiten. Aber ich war so in meinen eigenen Alltag verstrickt, dass ich ihre plötzliche Distanz einfach hingenommen habe, ohne weiter nachzuforschen.
»Tut mir leid wegen des hektischen Starts, aber die nächsten Tage gehören nur uns.« Nicki deutet den Weg hinauf. »Nach dieser Steigung müsste laut Karte ziemlich bald eine Brücke mit einem Fluss kommen. Dort machen wir richtig Pause, was hältst du davon?«
»Klingt gut.« Ich lasse mich von Nicki hochziehen, und zum ersten Mal seit Beginn unserer Reise habe ich das Gefühl, dass wir uns richtig in die Augen sehen.
Am liebsten würde ich nachhaken, sie fragen, was genau passiert ist, aber Nickis Blick zeigt mir, dass sie dafür noch nicht bereit ist, und das ist okay. Wir haben schließlich die ganze Woche für uns. Diesmal wird nichts sich zwischen uns stellen.
Lächelnd mache ich den ersten Schritt. »Dann mal weiter.«
***
Die nächsten Stunden unserer Wanderung verbringen wir dennoch größtenteils schweigend, konzentriert auf unsere Schritte und unsere Atmung, doch es ist eine andere Art von Stille. Sie ist nicht mehr wie ein Loch, das zwischen uns klafft und uns trennt, sondern geprägt von Verbundenheit. Zwei Freundinnen, die gemeinsam einen steinigen Weg bestreiten, weil sie wissen, dass es die Mühe wert ist. Und das ist es wirklich.