Die Influencerin - Rebecca Russ - E-Book
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Die Influencerin E-Book

Rebecca Russ

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Beschreibung

Wir sehen dich – wir verfolgen dich.

Am Höhepunkt ihrer Online-Karriere verliert die Lifestyle-Influencerin Sarah Rode alles, wofür sie jahrelang gearbeitet hat. Die Online-Welt gibt ihr die Schuld am Tod einer Followerin. Nach einer Flutwelle aus Hass löscht Sarah all ihre Social-Media-Apps und verkriecht sich in ihrem Haus. Doch der Hass sickert bald über die Grenzen der Online Communities hinaus bis über ihre Türschwelle. Sie fühlt sich bedroht und verfolgt. Dann erscheint ein neuer Instagram-Account in Sarahs Namen. Wer steckt hinter dem Fake-Account? Wie kann es sein, dass der Betreiber ihre persönlichen Geheimnisse zu kennen scheint? In einem atemlosen Rausch kommt Sarah der erschütternden Wahrheit Schritt für Schritt näher ...

Ein hochspannender Thriller über die Abgründe der Social Media-Welt und die Schattenseiten des Influencer*innen-Daseins.

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Seitenzahl: 321

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Rebecca Russ

Die Influencerin

Ich folge dir. Ich verfolge dich. Ich zerstöre dich.

Thriller

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

1.

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35.

Danksagung

Impressum

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Für meine Schwiegermama

1.

Ich liebte alles an ihr, aber am meisten liebte ich ihr Haar. Goldgelb wie sonnenbeschienener Weizen und mit diesem zarten Schimmer in den Spitzen wie ein Tuch reinster Seide. Zu gerne hätte ich ihr gesagt, sie sollte es öfter offen tragen und nicht immer zu einem glatt frisierten Pferdeschwanz zusammenfassen, doch das ging nicht. So sehr ich es mir auch wünschte, aber wir hatten nicht die Art von Beziehung, in der wir offen miteinander redeten. Nein, sie wusste ja nicht einmal, wer ich war.

Dafür wusste ich alles von ihr. Die Marke ihrer Lieblingsleggins und dass sie gerne kitschige Popsongs beim Laufen hörte. Welches Parfüm sie morgens auf die Innenseite ihrer Handgelenke tupfte und die Musterung ihrer Schlafzimmervorhänge. Ich wusste, dass sie sich vor großen Vögeln fürchtete und dass sie eine Schwäche für Lakritzstangen hatte. Und dafür musste ich nicht einmal abends durch ihr Fenster spähen. Sie teilte es bereitwillig mit mir und dem Rest der Welt, lud mich ein in ihr Leben mit all seinen intimen Details.

Sechs Uhr morgens. Das war immer unsere Zeit, kurz bevor ich zur Arbeit aufbrach. Ich hatte bereits alles vorbereitet. Kaffee und Müslischale standen am Rande des Küchentischs, und in der Mitte mit einem ihrer Fotos als Bildschirmschoner: mein Handy.

Ich war nicht wie diese Kids, die ständig und überall im Vorbeigehen konsumierten. Ich wollte diese Augenblicke zelebrieren, in denen ich ihre Timeline durchstöberte. Das Herzklopfen voll auskosten, das ich verspürte, wenn ein neues Foto von ihr auftauchte. Eine Nahaufnahme ihrer Finger, wenn sie ihre morgendliche Tasse Tee trank oder auch nur den Schatten ihrer schnell arbeitenden Beine, wenn sie zu ihrer täglichen Laufrunde aufbrach.

Ich nahm mir gerne Zeit, zoomte ran, machte Screenshots von ihren Stories und Reels und sortierte sie je nach Inhalt in verschiedene Alben auf meinem Handy, um sie jederzeit wieder aufrufen zu können. Meine Lieblingsbilder von ihr druckte ich aus und hängte sie an meine Schlafzimmerwand, wo ich sie von meinem Bett aus betrachten konnte. Ich liebte es, am Morgen nach dem Aufwachen als Erstes in ihr Gesicht zu blicken und in ihren jadegrünen Augen zu versinken.

Das Foto, das ich gestern ausgedruckt hatte, lag noch auf einem Stuhl neben mir, ein außergewöhnlich schöner Schnappschuss, den sie erst vor ein paar Tagen hochgeladen hatte. Darauf trug sie ein rotgeblümtes Sommerkleid und stand bis zu den Schenkeln in einem tiefgrünen See, so dass der knappe Saum gerade oberhalb der Wasseroberfläche schwebte. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte frei in die Kamera, während ihre Haare vom Wind über ihre Schultern geworfen wurden. Sanft umspielten die goldenen Strähnen ihren Hals und die rosige Kuhle ihres Schlüsselbeins, wo genau in der Mitte ein kleines Muttermal in der Form eines Herzens prangte.

Ganze Nächte hatte ich damit verbracht, dieses Muttermal in Gedanken mit den Fingern nachzuzeichnen. Ich tat es auch jetzt wieder, während ich mit der Kaffeetasse in der Hand ungeduldig darauf wartete, dass sich ihre Instagram-Seite auf meinem Handybildschirm öffnete.

Etwas schien mit meiner Internetverbindung nicht zu stimmen. Obwohl bereits Minuten vergangen waren, lud ihre Seite einfach nicht. Ich schloss alle Apps und trottete zur Kommode mit dem Router hinüber. Alle Lichter blinkten, dennoch zog ich den Stecker einmal raus, steckte ihn wieder rein und wartete darauf, dass er erneut hochfuhr.

Dabei war gerade heute so ein wichtiger Tag. Sie hatte einen schweren Schlag erlitten, und ich fieberte darauf hin, zu erfahren, wie es ihr ging. Ich hatte mir sogar vorgenommen, einen kleinen, aufmunternden Kommentar unter ihrem letzten Beitrag zu hinterlassen, um die Hasstiraden, die ihr Profil überschwemmten, etwas abzumildern. In Gedanken hatte ich bereits mehrere Versionen ausformuliert, wie ich sie am besten trösten und erreichen könnte. Die Galle kam mir hoch, wenn ich wieder an diese Internettrolle dachte, die einen beleidigenden Kommentar nach dem anderen formulierten und sich anmaßten, sich über sie erheben zu können, als wüssten sie nur einen Funken über sie.

Nervös schlürfte ich die Reste von meinem Morgenkaffee aus. Der WLAN-Router zeigte wieder drei Lichter. Meine Timeline lud, aber ihr Profil war nirgends zu sehen, was seltsam war, weil es mir sonst immer als Erstes unter den Story Icons angezeigt wurde.

Ich gab ihren Namen umständlich in meinem Suchfeld ein, erwartete, endlich ihr Bild zu sehen, das Lächeln, mit dem sie mich jeden Tag begrüßte und das mein Leben endlich wieder lebenswert gemacht hatte.

Doch nichts. Statt ihres Fotos erhielt ich einen weißen Bildschirm und einen einzelnen Satz: Wir konnten kein Ergebnis für deine Suche finden.

Mein Herz begann zu rasen, meine Handflächen wurden feucht, und ich musste mein Handy fester packen, um ihren Namen erneut in das Suchfeld einzutippen.

Keine Ergebnisse.

Ich versuchte es testweise mit einem anderen Profil. Hier funktionierte die Suche. Sofort wurde mein Bildschirm von bunten Fotokacheln geflutet. Dann wieder ihren Namen, der einzige Name, der für mich zählte: @sarahlaeuft

Keine Ergebnisse.

Ich schleuderte das Handy von mir, ein kehliger Laut entrann meiner Brust, halb Schrei, halb Schluchzer. Wankend sank ich in meinem Stuhl zurück, meine Arme zitterten, alles an mir zitterte. Nein, das durfte einfach nicht sein. Das konnte nicht sein.

Noch immer erleuchtete das weißblaue Licht meines Handybildschirms meinen Küchenfußboden. Der schwarze Schriftzug schien mir voller Hohn entgegenzustarren.

Keine Ergebnisse.

Und damit waren meine schlimmsten Ängste Wirklichkeit geworden.

Sarahs Profil, das Zentrum meines Lebens, war gelöscht worden.

2.

Kommentar von @jesse.likezz: Stimmt das echt, was die Leute hier schreiben? War eigentlich immer ein riesen Fan von @sarahlaeuft, aber das jetzt? Einfach abartig, was sie da geliefert hat. Unfollowed.

Ich fühlte ihr Getuschel mehr, als dass ich es hörte. Wie Spinnenbeine krochen die Worte meinen Nacken hinauf und ließen mich frösteln.

»Ist das nicht …?«

»… dass sie so einfach hier rumläuft …«

»Sie hat zugenommen, oder?«

Ich versuchte, nicht hinzuhören, die bohrenden Blicke und halblauten Fragen zu ignorieren, aber natürlich war das unmöglich. Wie nackt fühlte ich mich auf meinem Stuhl inmitten des überfüllten Cafés, in dem ich saß. Meine schwarze Sonnenbrille schmolz, meine Kleiderfasern lösten sich auf, und mir war, als würde jede einzelne Person im Raum mich ansehen und nicht bloß die drei jungen Frauen, die auf dem Weg zum Kaffeetresen stehen geblieben waren, um mich anzustarren.

»Ups! Entschuldigung!«

Eine große, dunkelhaarige Frau in einem Jeans-Minirock rempelte die Gruppe von hinten an. Kaffee schwappte über den Rand der zwei Becher in ihren Händen und tropfte zwischen die weißen, modischen Turnschuhe der Frauen.

»Hey! Pass doch auf, mein Handy!«

Erst als ich aufblickte, sah ich, dass eine der Frauen ihre Handykamera auf mich gerichtet hielt und es nun panisch von den überschwappenden Kaffeebechern weghielt. Wahrscheinlich war es dennoch zu spät, wahrscheinlich hatte sie ihren Schnappschuss längst gemacht und würde ihn in den nächsten Minuten in ihren Instagram-Stories hochladen. Gemeinsam mit einer Verlinkung zu meinem mittlerweile deaktivierten Profil und einem schadenfrohen #sarahisoverparty Hashtag.

Ich würde es nie erfahren. Auf dem Steinzeithandy in meiner Handtasche gab es keinen Appstore und kein Instagram.

Nicht mehr.

Die dunkelhaarige Frau grinste breit, so dass ihre Zähne aufblitzten. »Sorry. Es ist nur … Ihr steht hier echt blöd im Weg.« Im Vorbeigehen rammte ihre Handtasche die Hüfte einer der Frauen, woraufhin diese vor ihr zurückweichen musste, dann bahnte sie sich weiter ihren Weg, an den eng beieinanderstehenden, kreisrunden Tischen vorbei direkt auf mich zu und stellte einen der Kaffeebecher vor mir ab.

»Einmal Mandelmilch-Latte mit Zimt, kein Zucker, so wie du ihn am liebsten magst.« Caro, meine Schwester, schnappte sich den Stuhl gegenüber von mir und platzierte sich so, dass sie zwischen mir und dem Rest des Raumes saß, als könnte sie mich dadurch wie ein Schild von den restlichen Besuchern abschirmen. Mein Blick glitt dennoch an ihr vorbei, zurück zu den Frauen, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und auf ihre Handybildschirme starrten.

Caro schnaubte hörbar und rührte kräftig mit einem Pappstrohhalm durch ihren Latte. »Vergiss sie. Die haben doch keine Ahnung.«

Ich brummte wortlos zur Antwort und zog den Becher an mich heran, zögerte jedoch, davon zu trinken. Nutzte es etwas, Caro zu sagen, dass ich die Kombination Kaffee mit Zimt überhaupt nicht mochte? Dass es wie so vieles bloß etwas war, das ich aufgenommen hatte, weil es hip und in war und zu der Rolle passte, die ich spielte? Sie würde es ohnehin nicht verstehen. Caro, die schon als Kind laut und selbstbewusst gewesen war und zu allem eine Meinung hatte, ganz egal, ob sie damit aneckte oder nicht, während ich immer nur darum bemüht war, mich meiner Umgebung anzupassen. Es war das, worin ich gut war. Das, was mich in meinem Beruf so erfolgreich machte.

Ich zwang mich, einen Schluck zu nehmen, und lächelte Caro über die Milchschaumkrone hinweg an. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, weshalb wir hier sind.« Die Kaffeequalität war es auf jeden Fall nicht, wie ich mit zuckenden Mundwinkeln feststellte. Vor Anspannung verzog ich die Lippen zu einem verkrampften Grinsen. Die anhaltende Geräuschkulisse machte mich zusehends nervös. Zischende Dampfdrüsen gemischt mit Geschirrklappern und verwischten Gesprächsfetzen. Die letzten Wochen hatte ich das Haus nur für die allernötigsten Besorgungen verlassen, weshalb mich nun bereits normale Alltagssettings wie dieses hier völlig überforderten. Wie eine Aussätzige hatte ich mich mit meiner Familie hinter verschlossenen Türen verschanzt und hatte nicht einmal mehr Anrufe entgegengenommen. Caro hatte mich fast in ihren Wagen zerren müssen, um mich herzubekommen, aber sie hatte nicht lockergelassen, ehe ich zugestimmt hatte, und kein Nein akzeptiert. Nun wunderte ich mich, wieso.

»Erwischt!« Caro lachte. Der Laut klang unehrlich, was mich nur noch skeptischer machte, weil sich meine Schwester im Gegensatz zu mir nur selten verstellte.

»Was ist los? Wenn es etwas zu besprechen gibt, hätten wir das genauso gut zuhause machen können.« Dort hatte ich mein Büro und sogar einen kleinen Meetingraum, den wir jedoch selten benutzten, weil ich mich in der Küche wohler fühlte. Was aber viel wichtiger war: Wir wären allein gewesen. In dem hell beleuchteten Café fühlte ich mich immer mehr wie auf dem Präsentierteller, wie Beute freigegeben zur Jagd.

»Also gut.« Caro fächerte ihre Handflächen auf der Tischplatte auf, als müsste sie sich stützen. »Die Wahrheit ist: Wir werden gleich jemanden treffen.«

Meine Wirbelsäule versteifte sich. »Du hast mich doch hoffentlich nicht an die Presse verkauft.« Ich lachte, als wäre es ein Scherz, aber selbst in meinen Ohren klang der Laut schrill und ängstlich.

»Nein, guter Gott, nein! Du weißt genau, dass ich das niemals tun würde. Mein Job besteht darin, dich zu unterstützen, und genau deshalb habe ich dich hergebracht.« Caro atmete tief durch und senkte ihre rauchige Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe Kontakt mit einem Agenten aufgenommen.«

Meine Finger zogen sich um den Pappbecher zusammen, drückten die dünne Form ein. »Raphael ist mein Agent.« Mein Mann hatte mich schon vertreten, lange bevor ich mit @sarahlaeuft zur Onlineberühmtheit aufgestiegen war. Er hatte an mich geglaubt, mich gestählt und mir am Ende zu dem Menschen verholfen, der ich heute war. Ich verdankte ihm alles.

»Und er kann es auch weiterhin bleiben! Ich würde nie vorschlagen, dass du ihn ersetzt. Es ist bloß …« Caro rang sichtlich nach Worten. »Der Mann, den ich dir vorstellen will, hat ganz andere Kontakte als Raphael. Zu Zeitungen und Verlagen zum Beispiel und jetzt da …«

Ich hob eine Augenbraue. »Jetzt da meine Karriere zu Ende ist, meinst du?«

»Das habe ich nicht gesagt!« Caro schnaubte genervt. »Aber es wäre ein guter Zeitpunkt, sich etwas umzuorientieren, findest du nicht? Und du hast mir immer erzählt, dass dir das Schreiben von Blogbeiträgen bei deiner Arbeit so viel Spaß macht. Du bist so richtig darin versunken. Wieso das also nicht weiter ausloten? Was gibt es schon zu verlieren?«

Weil ich ohnehin bereits alles verloren hatte? Säure und bitterer Kaffee krochen meinen Rachen hinauf. Ich schluckte. »Du hättest mich warnen sollen, dann hätte ich dir gleich gesagt, dass wir hier unsere Zeit verschwenden.« Ich ließ meinen noch vollen Becher stehen und stand vom Tisch auf.

Caro erhob sich mit mir. »Sarah, nun warte bitte.«

»Ich verstehe einfach nicht, wieso du so etwas hinter meinem Rücken arrangierst.«

Caro lächelte milde. »Weil du sonst niemals zugestimmt hättest.«

»Ich bin kein kleines Kind! Ich weiß selbst, was für mich am besten ist.«

In Caros Augen blitzte etwas auf. »Oder was Raphael für dich am besten findet?« Sie kniff die Augen zusammen. »Tut mir leid, das war so nicht gemeint. Ich denke bloß, dass es noch andere Wege gibt, mit der ganzen Situation umzugehen, und Raphael neigt dazu, dich wie durch einen Tunnelblick zu betrachten.«

»Das zu beurteilen ist nicht dein Job.«

Abwehrend hob Caro die Hände vor sich. »Ja, ich weiß. Ich bin bloß die Assistentin. Aber ich bin zufällig auch noch deine Schwester, schon vergessen? Denkst du, es macht mir Spaß, dich so am Boden zu sehen? Ich will dir doch bloß helfen.«

»Ich weiß, du meinst es gut, aber ich bin nicht bereit für einen solchen Termin.« Ich schulterte meine Handtasche. »Ist dir nie die Idee gekommen, dass dieser Agent bloß ein weiterer Geier ist, der meine Story ausschlachten möchte? Von der Sorte habe ich bereits genug am Hals.«

»So einer ist er nicht, deshalb wollte ich unbedingt, dass ihr euch kennenlernt. Er glaubt an dich. Er findet deine Texte klug und witzig und dass du weit mehr aus dir machen könntest.«

Es war das mehr, das mich zum Umdrehen bewegte. Von allen Menschen, die mich in den letzten Wochen verurteilt und abgefertigt hatten, musste mir ausgerechnet auch noch meine Schwester das Gefühl geben, versagt zu haben?

Das lautstarke Lachen eines Mannes vor der Kuchenvitrine ließ mich zusammenzucken. Im Laufschritt eilte ich zur Tür hinaus. Ich wollte nur noch weg von hier, dem Getuschel und Gekicher, den neugierigen Blicken und halb versteckten Handylinsen. Auf der gepflasterten Einkaufsstraße war zwar mindestens genauso viel los wie innerhalb des gut besuchten Cafés, aber zumindest hatte ich durch die Bewegung nicht länger das Gefühl, ein Tier im Käfig zu sein. Der Knoten in meiner Brust löste sich etwas, und ich nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft war schwül, schmeckte nach Spannung. Hinter dem strahlenden Junihimmel schien sich ein Gewitter zusammenzubrauen.

»Sarah!« Caro kam direkt nach mir zur Tür heraus. Ich blieb nicht für sie stehen, ließ sie rennen, um zu mir aufzuschließen. Schweiß sammelte sich in der Kuhle meines Rückens. Trotz des warmen Frühlingswetters hatte ich mich in einen langen Trenchcoat gehüllt, der sich nun wie eine Zwangsweste auf meiner überhitzten Haut anfühlte. »Tut mir leid. Ich weiß, ich hätte vorher mit dir reden sollen. Ich wollte dich nicht so überfallen.«

»Wieso tust du es dann?«, zischte ich und spürte meinen Kiefer mahlen.

»Ich mache mir Sorgen um dich. Sieh dich doch an. Du bist noch dünner als sonst, isst nichts, schläfst nicht und gehst kaum noch vor die Tür. Wie soll das so weitergehen?«

Ich hatte die Arme fest um mich geschlungen, mein Schritt war schnell, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wohin ich ging. »Raphael meint, wir sollen erst mal abwarten, bis sich der erste Rauch gelegt hat.«

»Es sind nun acht Wochen vergangen. Wie lange sollst du noch damit warten, bis du wieder anfängst, zu existieren? Du lebst wie ein Geist.«

»Ich weiß es doch selbst nicht, okay? Alle wollen Antworten von mir, die Medien, die Sponsoren … aber ich weiß es einfach nicht. Ich habe keine Ahnung, wie es mit mir und meiner Arbeit weitergehen soll. Ob es überhaupt ein Weiter geben wird …« Ich biss mir auf die Unterlippe, die unter dem Druck meiner Zähne erzitterte.

»Ganz ruhig. Ich habe das Gefühl, du machst dir selbst viel zu viel Stress. Es ist schlimm, was passiert ist, und sicher hat Raphael recht damit, abwarten zu wollen, bis das Gröbste vorüber ist, aber denk daran, es ist immer noch das Internet, und das Internet vergisst schnell. In ein paar Wochen interessiert sich wahrscheinlich keiner mehr für diese alte Geschichte, und du bist Schnee von gestern.«

Caros aufmunterndes Lächeln beruhigte mich wenig, denn genau da irrte meine Schwester sich leider. Das Internet vergaß nie. Ich musste es wissen. Ich hatte jahrelang darin gelebt. Kein Morgen hatte für mich ohne eine Instagram-Story begonnen. Keine Woche ohne eine Live-Workoutsession geendet. Meine Onlinecommunity hatte mich Schritt für Schritt durch meinen Alltag begleitet, bei meinen Lauftrainings und HIIT-Einheiten, aber auch bei ganz banalen Aktivitäten, wie wenn ich unseren Hund ausführte oder für die Schulaufführung meiner Tochter Papierkronen bastelte. Sie hatten mit mir zu Abend gegessen und mich beim Abschminken beobachtet. Intime Momente, die sonst nicht einmal meine Mutter mitbekam und die über siebenhunderttausend Menschen fast täglich live mitverfolgen konnten.

27 693 Likes für ein Foto von mir auf dem Sofa, wie ich meine Beine in plüschigen lila Wollsocken in die Höhe streckte #endlichwochenende

41 499 Likes für eine Nahaufnahme, wie ich meine neuen Nike-Laufschuhe zuband #laufenmachtglücklich

83 528 Likes für ein Vorher/Nachher-Bild von mir in einem knallpinken Bikini am See #fitnessmotivation

Es gab kaum einen Aspekt meines Lebens, der nicht öffentlich war. Kaum einen Moment, der nicht von anderen kommentiert, bewertet oder gespeichert werden konnte. Von Menschen, die ich persönlich nicht kannte, die mir aber doch so nah waren, dass ich alles mit ihnen geteilt hatte. Freude. Ängste. Sorgen. Sehnsüchte.

Und die sich jetzt gegen mich wendeten.

Der Schmerz darüber saß wie ein Splitter zwischen meinen Rippen, der sich bei jedem Atemzug tiefer bohrte. Das Internet war nie ohne Schattenseiten, dennoch war ich es jahrelang gewohnt gewesen, dass die Menschen zu mir aufsahen, mir lange Nachrichten schrieben, wie sehr ich ihr Leben beeinflusst hatte und wie viel meine Beiträge ihnen bedeuteten. Sie nannten mich Freundin, Heldin, Idol. Aber auch Schlampe, Miststück, Betrügerin. Schon immer waren es die Hassnachrichten gewesen, die mich am Ende eines Tages am meisten beschäftigten. Die Menschen, die fanden, dass alles an mir fake sei, denen ich zu dick oder zu dünn war, die meine Stimme nicht mochten oder die mir wegen meiner fitnessorientierten Inhalte Frauenfeindlichkeit und Fatshaming vorwarfen.

Raphael sagte immer, das gehöre zum Job dazu. Ich dürfe das nicht ernst nehmen, nicht so nah an mich heranlassen. Caro löschte die meisten boshaften Kommentare, bevor ich sie überhaupt sah, und mit der Zeit wurde ich tatsächlich besser darin, weiterzuscrollen und die Beleidigungen zu ignorieren, aber damals war das einfach gewesen. Damals, als diese Fälle noch vereinzelt auftraten, ein paar Ausnahmen, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was mir jetzt entgegenschlug.

Das war der Grund, wieso mein Smartphone sein Dasein inzwischen ausgeschaltet in meiner untersten Schreibtischschublade fristete und ich kurzfristig auf ein altertümliches Nokia-Tastenhandy umgestiegen war. Weil ich ihren Hass nicht länger ertrug, die säuretriefenden Nachrichten und hämischen Kommentare.

Ich spürte diesen Hass auch jetzt noch an mir nagen, während ich neben Caro die belebte Mariahilfer Straße im Herzen von Wien entlangeilte. Vorbei an Touristen, Einkaufsbummlern und Passanten. Fast alle hatten ihr Handy in der Hand, wischten mit ihren Fingern über die leuchtenden Bildschirme. Früher war mir das überhaupt nicht so bewusst gewesen, doch nun waren diese glänzenden Kästchen alles, was ich wahrnahm. Und jedes Mal stellte ich mir die Frage, sahen sie sich gerade mich an? Wussten sie, wer ich war, was ich getan hatte? Drehten sie sich heimlich nach mir um, nachdem ich an ihnen vorbeigegangen war, um auf mich zu zeigen, ein Foto zu schießen?

Vor acht Wochen noch war ich eine von ihnen gewesen, war ein Teil der dauerklickenden Masse. Mein Handy war die Verlängerung meines Arms gewesen. Es war das Erste, das ich morgens in die Hand nahm, und das Letzte, das ich abends beiseitelegte. Egal ob zuhause oder unterwegs, ich hatte es ständig bei mir. Ich klickte, wischte, tippte, knipste, und in den wenigen Momenten, in denen ich mein Handy nicht zur Hand hatte, weil ich Sport machte oder mit Kochen beschäftigt war, dachte ich zumindest daran. An den nächsten Post, das nächste Foto, den perfekten Hashtag.

»Sarah? Sarah, bist das wirklich du?«

Mein Nacken versteifte sich. Am liebsten hätte ich die grelle Stimme ignoriert und wäre einfach weitergegangen, aber das Rufen war zu laut, die Person bereits zu nah. Fußtritte näherten sich in schnellen Trippelschritten von hinten. Caro und ich kamen unter der schattigen Markise eines Schuhgeschäfts zum Stehen, wo ich mich langsam umdrehte. Meine Mundwinkel spannten sich zu einem gezwungenen Grinsen.

»Marly?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte. Marlys Stimme und hellgelber Lockenkopf waren unverkennbar.

»Sarah, na, wusste ich es doch! Ohne Filter hätte ich dich fast nicht erkannt.« Marly lachte schrill über ihren eigenen Witz und klatschte in ihre mit Armbändern behangenen Hände. Sie trug helle High-Waist-Jeans im Washed-Look, dazu weiße Sneaker und ein zitrusgelbes Häkeltop, das einen Streifen sonnengebräunter Haut frei ließ. Bevor ich protestieren konnte, hatte sie mich in eine feste Umarmung gezogen, so dass mir eine dichte Welle Kokos-Orangen-Duft entgegenschlug, die mich nach Atem ringen ließ.

»Marly, wie schön dich wiederzusehen! Toll siehst du aus.« Ich gab vor, sie besser betrachten zu wollen, und trat einen Schritt zurück, aber eigentlich wollte ich bloß weg von ihr, weg von dem ganzen Trubel der Innenstadt, den Menschen, dem Gesehenwerden. Meine Arme kribbelten und juckten vor unterdrückter Nervosität.

Eigentlich war ihr Name Marlene Reiter, aber seit sie als Mode- und Lifestyleinfluencerin erfolgreich geworden war, bestand sie darauf, dass jeder sie mit ihrem Onlinenamen ansprach. Vor einem Jahr hatte sie noch als mittelmäßig bezahlte Verkäuferin in einer Modeboutique gearbeitet. An den Tagen, an denen wenig los war, hatte sie angefangen, die Modeneuheiten des Ladens selbst anzuprobieren und darin für Instagram zu posieren. Sie besaß ein gutes Gespür für Kombinationen und Kontraste, ihr Feed war farbenfroh und ästhetisch gekonnt in Szene gesetzt, dennoch blieben die Follower anfangs aus. Bis sie ihren damaligen Partner, einen Golffreund meines Mannes, dazu überredet hatte, mich nach meiner Hilfe zu fragen. Nach mehreren E-Mails und Handynachrichten willigte ich ein, mich mit ihr auf einen Kaffee zu treffen. Ich verriet ihr all meine Tipps und Tricks zum Thema Reichweite, welche Inhalte funktionierten und bei welchen die Leute einfach weiterscrollten. Und vor allem die goldene Regel des Algorithmus, die lautete: Content, Content und immer wieder Content. Marly hatte den Dreh schnell raus, postete immer mehr auch persönliche Inhalte, anstatt sich bloß in stilvoll kombinierten Outfits zu drapieren. Auf ihr Drängen hin posierte ich zudem noch auf zwei, drei Bildern mit ihr und verlinkte ihr Profil. Ein paar Wochen später konnte Marly bereits die ersten Kooperationsverträge unterschreiben, und inzwischen lebte sie sogar davon und nannte fast hunderttausend Follower ihr Eigen.

»Es tut mir so leid, was passiert ist«, sagte Marly nun mit verkniffenem Gesicht und strich über meinen Oberarm. »Ich wollte dich längst anrufen, aber du weißt ja, wie das ist. All die Nachrichten und Termine. Fast bin ich ein bisschen neidisch auf dich, dass du mal eine Auszeit von dem ganzen Trubel nehmen kannst. Wie geht es dir? Kommst du klar?«

»Es geht schon«, log ich. Mein Gesicht war so starr wie eine Maske, meine Wirbelsäule verhärtet, weil ich mich zwingen musste, gerade zu stehen, mir nichts anmerken zu lassen. Unbewusst hatte ich meine Selfiemiene aufgesetzt. Den Kopf zur Seite geneigt und ein leichtes Lächeln mit halb geöffnetem Mund auf den Lippen. Stunden vor dem Spiegel hatten mich den Ausdruck perfektionieren lassen. Für mich war er Schild und Waffe zugleich.

»Ich habe in letzter Zeit so oft an dich denken müssen. Das ist alles so schrecklich, was passiert ist, aber du weißt hoffentlich, dass dich überhaupt keine Schuld trifft. Ich und die Mädels stehen da voll hinter dir.«

Sie und welche Mädels?, wollte ich fast fragen. Und schloss mich das automatisch aus? »Danke«, presste ich mühsam hervor.

»Du solltest dich wirklich nicht länger verstecken. Mach eine Stellungnahme oder so. Ich bin mir sicher, du würdest viel Zuspruch bekommen, wenn du ehrlich über die ganze Sache redest. Du hast noch immer so viele Fans!«

»Gerade möchte ich einfach etwas Ruhe einkehren lassen.«

»Verstehe. Du hast ja auch die Hölle durchgemacht. Ein absoluter Alptraum! Nimm dir die Zeit, und ein bisschen Pause tut bestimmt auch gut, nicht wahr? Du hast immer so viel gearbeitet die letzten Jahre. Ein echtes Arbeitstier!«

Ich nickte lediglich in falscher Zustimmung. In meinem Rücken erklang ein Räuspern. Dankbar für die Ablenkung trat ich zur Seite, bis ich wieder auf gleicher Höhe mit meiner Schwester stand. »Du kennst bestimmt noch Caro.«

Marly strahlte. »O ja, deine Assistentin!«

»Und Schwester«, ergänzte ich. Die Leute vergaßen das oft, weil wir so unterschiedlich aussahen, wie unser Vater immer gesagt hatte. Es lag daran, dass Caro und ich nur in unseren Herzen miteinander verbunden waren, nicht jedoch durch Blut. Und im Genpool hatte Caro eindeutig die besseren Karten gezogen, weshalb rein objektiv betrachtet sie der Star von uns beiden hätte sein sollen. Wie Tag und Nacht oder Yin und Yang, wie unser Vater immer gerne gesagt hatte.

Dabei hätte rein objektiv betrachtet Caro der Star von uns beiden sein sollen. Sie war nicht nur die Klügere von uns beiden, sondern auch die bedeutend Hübschere.

Ich sah gut aus, wenn ich einer akribischen Skincareroutine folgte und mein Gesicht mit Make-up, Highlightern und Konturstiften in die gewünschte Form brachte.

Caro sah umwerfend aus, wenn sie bloß mit ungewaschenen Haaren und Kopfkissenabdrücken morgens aus dem Bett rollte.

»Richtig.« Marly musterte Caro kurz, dann riss sie die Augen weit auf und begann aufgeregt, auf ihren Fußballen zu wippen. »Hey, falls du sie gerade nicht brauchst, ich suche so dringend eine Assistentin! Ich schwöre, zurzeit wächst mir alles über den Kopf.«

Caro ergriff mein Handgelenk. »Sarah braucht mich noch«, sagte sie bestimmt.

»Natürlich! Gerade in solchen Zeiten umso mehr, nicht wahr? Toll, dass du jemanden an deiner Seite hast, der dir wieder mit auf die Beine hilft. Und auf meine Hilfe kannst du selbstverständlich auch zählen! Also falls ich mal einen Post für dich machen soll oder irgendetwas anderes für dich tun kann, gib unbedingt Bescheid. Und lass nicht zu viel Zeit verstreichen, bevor du dich wieder zeigst, ja? Es ist ungerecht, aber du weißt doch, wie schnelllebig unsere Branche ist und wie schnell Trends kommen und gehen …«

Was wollte sie mir damit sagen? Dass ich ein Auslaufmodell war, das dabei war, aus der Mode zu kommen?

»Danke für deinen Ratschlag«, erwiderte ich trocken.

»Ich muss jetzt auch schon wieder los. Ich sage es euch, mein Leben ist ein Marathon! Aber wie gesagt, melde dich ruhig, wenn du etwas brauchst. Egal was! Wir müssen bei so was schließlich zusammenhalten. Lass dich von den Trollen nicht unterkriegen, hörst du?« Marly gab mir einen Kuss links und rechts, begleitet von lauten Schmatzgeräuschen. »Wir sehen uns hoffentlich bald!«

»Ja. Hoffentlich.« Ich lächelte steif, bis Marly sich endlich mit einem übertriebenen Winken von uns entfernt hatte.

Sie war noch nicht ganz außer Hörweite, als sie bereits ihr Handy hervorgeholt hatte und laut losträllerte. »Du wirst nicht glauben, wen ich gerade auf der Straße getroffen habe!«

»Alles in Ordnung?«, fragte Caro besorgt und zog mich beiseite, um eine Frau mit Kinderwagen vorbeizulassen. »Du bist bleich wie die Wand.«

»Es geht schon. Ich will jetzt einfach nach Hause.« Von dem Anblick der strömenden Einkaufsbummler wurde mir ganz schwindlig. Meine Schläfen pochten dumpf, und ich hob die Finger zur Stirn, um gegen den beginnenden Kopfschmerz anzumassieren. »Manchmal hasse ich diese ganze Oberflächlichkeit.«

»Vergiss nicht, du hast es dir so ausgesucht.«

Hatte ich das wirklich? Manchmal war ich mir da nicht so sicher. Ich hatte nie Influencerin werden wollen. Ich mochte noch nicht einmal den Ausdruck. Influence wie beeinflussen. Es gab mir noch mehr das Gefühl, eine Betrügerin zu sein, als ohnehin schon. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb mich die Welle aus Hassnachrichten, die mein Profil überschwemmt hatte, so aus der Bahn geworfen hatte. Weil ich den Verfassern in ihren Beleidigungen und Anschuldigungen insgeheim recht gab, aber das konnte ich Caro nicht sagen, weil ich ihr dann auch etwas anderes gestehen müsste: Wie erleichtert ein Teil von mir darüber war, dass diese Scharade endlich ihr Ende fand und mich die Menschen als die sahen, die ich wirklich war. Fehlerhaft. Gewöhnlich. Falsch.

Das Klingeln eines Handys schnitt durch meine Gedanken. Meines Handys. Der Ton war immer noch so ungewohnt, dass ich ihn erst nach ein paar Sekunden erkannte, ehe ich ranging.

Es war Raphael.

»Hallo, Schatz.« Mein Mann kam normalerweise schnell zur Sache. Als er nicht sofort reagierte, packte ich das Handy fester vor Sorge. »Raph? Alles in Ordnung?«

Er antwortete mit einem Räuspern. »Es geht um Vicki. Die Schule hat mich eben angerufen, dass ich sie abholen soll. Ich bin bereits auf dem Weg zu ihr, aber wahrscheinlich wäre es besser, wenn ihr ebenfalls gleich nach Hause kommt.«

»Die Schule, was …« Kurz ärgerte ich mich, weil sie in Notsituationen eher ihn als mich kontaktierten, dabei war ich vor zwei Wochen extra persönlich hingefahren, um im Sekretariat meine neue Nummer zu hinterlassen. Trauten sie mir nach dem, was passiert war, nicht mehr zu, mich um Vicki zu kümmern? Doch es ging hier nicht um mich und meine Befindlichkeiten. Meine Tochter brauchte mich. »Ich komme sofort.«

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Sofort war in Wien jedoch eine Wunschvorstellung. Caro hatte das Auto am Ende der Fußgängerzone geparkt. Trotz Laufschritts brauchten wir zehn Minuten, bis wir am Parkplatz waren, und von dort noch mal eine halbe Stunde durch den dichten Stadtverkehr, um nach Vösendorf zu gelangen, einer kleinen Gemeinde am Rande von Wien, wo Raphael und ich vor einem Jahr ein Haus gekauft hatten. Es war wunderschön, ein renovierter, blassgelb gestrichener Altbau mitten im Grünen mit freiem Blick auf die umliegenden Felder. Genau die Art Haus, von der ich immer geträumt hatte und nie gedacht hätte, dass ich es mir jemals würde leisten können. Am Rande des Gartens lag ein kleiner Teich, umschattet von Buchen und Eichen, in denen sich in den wärmeren Monaten allerhand Vögel tummelten. Diesen Sommer hatten wir vorgehabt, noch einen Pool im Garten auszuheben und die Terrasse zu vergrößern. Bis …

Sofort saß mir wieder der Kloß im Hals, und ich drängte Caro auf den letzten Metern, noch schneller zu fahren.

Ich sprang nach draußen, kaum dass Caro den Parkplatz erreicht hatte, und rannte die gepflasterte Einfahrt hinunter. Atemlos taumelte ich in den Flur.

»Raphael? Vicki?«

Raphael kam mir aus der Küche entgegen. Sein kantiges Gesicht war von Sorgenfalten verdunkelt. Das enganliegende hellblaue Hemd und die dunklen Lederschuhe zeigten, dass er bis zum Schulanruf noch im Büro gewesen sein musste. Im Gegensatz zu mir hielt er nicht viel von Homeoffice und bestand darauf, sich täglich morgens um acht ins Verkehrschaos der Wiener Innenstadt zu stürzen, um in seinem Glasbunker Telefonate und Meetings abzuhalten. Und das, obwohl er sein eigener Chef war. Die Agentur, die er leitete, vertrat Models, SchauspielerInnen – und mich.

»Sie ist oben«, sagte er.

»Wie geht es ihr? Was ist denn nun passiert?«

Sein von Bartschatten überzogenes Kinn kratzte an meiner Wange entlang, als er mich flüchtig im Vorbeigehen küsste. »Ich weiß es nicht genau. Sie will nicht wirklich darüber reden. Anscheinend hatte sie Zoff mit einer ihrer Freundinnen. Annika. Vicki hat ihr ein Buch ins Gesicht geschleudert und sie danach noch an den Haaren gezogen. Annikas Nase hat geblutet. Es ist nichts gebrochen, keine Sorge, aber die Direktorin war sehr bestürzt wegen Vickis Verhalten. Sie hat sie für den Rest der Woche vom Unterricht ausgeschlossen und will ihr eine Strafarbeit aufbrummen.«

Noch während Raphaels Erzählung schüttelte ich immer wieder den Kopf. »Unmöglich. So etwas macht Vicki nicht. Das muss ein Missverständnis sein.«

Raphael zog die Brauen oberhalb seiner dunklen Augen zusammen. »Vicki hat bereits zugegeben, dass sie es war.«

»Aber warum? Das passt einfach nicht zu ihr. Und sie hat nichts dazu gesagt?«

»Kein Wort. Ich habe ihr erst mal Stubenarrest und Fernsehverbot gegeben. Vielleicht erzählt sie nachher mehr, wenn sie etwas Zeit hatte, sich zu beruhigen. Sie war noch immer sehr aufgewühlt, nachdem wir angekommen waren.«

»Ich gehe gleich rauf und sehe nach ihr.«

»Hey, alles in Ordnung?«, fragte Caro, die gerade die Haustür hinter sich schloss.

»Alles halb so wild«, antwortete ich im Hinaufgehen von der Treppe aus. »Anscheinend bloß ein Streit unter Freundinnen. Kannst du schon mal das Essen vorbereiten? Vielleicht Zucchinibolognese? Die mag Vicki besonders gerne.«

»Ich finde nicht, dass wir sie für ihr Verhalten auch noch belohnen sollten«, mischte Raphael sich ein.

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht mehr gehört, und betrat das obere Stockwerk, in dem sich unser Schlafzimmer samt Bad und das von Vicki befanden. Vickis Tür, die mit schillernden Sonnenblumenstickern verziert war, war verschlossen. Sachte klopfte ich mit den Fingerknöcheln dagegen.

»Hey, kann ich reinkommen?« Ich wartete zwei Atemzüge lang, doch als keine Antwort ertönte, schob ich die Tür langsam auf. Mein Fuß stieß gegen Vickis Schultasche, die gemeinsam mit einer Jeansjacke und einem Stapel Hefte achtlos zu Boden geworfen worden war. Normalerweise hätte das wieder zu einer Diskussion zwischen uns geführt, doch heute stieg ich kommentarlos über das Chaos hinweg.

Vicki lag rücklings auf ihrem ungemachten Bett, den Unterarm über ihrem Gesicht, so dass es aussah, als würde sie schlafen. Einzig das Zucken ihrer nackten Zehen verriet, dass sie sehr wohl wach war und meine Anwesenheit bemerkt hatte. Ganz anders Mokka.

Unser Familien-Labradoodle hatte es sich auf der zusammengeknüllten Decke am Bettfußende bequem gemacht und wedelte freudig mit seinem buschigen Schwanz, als er mich sah. Mit seinem braunen, plüschigen Fell hatte er selbst als ausgewachsener Rüde noch etwas von einem Teddybären, vor allem, wenn er wie jetzt in seiner Lieblingsposition quer über Vickis Bett lag und seine großen, rosigen Pfoten von sich gestreckt hielt. Ich kraulte ihm kurz über den lockigen Kopf, ehe ich mich am Bettrand niederließ und die Hand nach meiner Tochter ausstreckte.

»Hey«, sagte ich sanft.

»Hey«, folgte knapp.

»Ich habe gehört, du hattest einen anstrengenden Tag in der Schule.«

Vicki gab einen Laut zwischen einem Murren und einem Stöhnen von sich und schwieg dann wieder.

»Möchtest du darüber reden?«, fragte ich.

»Ist nicht so wichtig.«

»Bist du sicher? Annika würde das wahrscheinlich anders sehen.«

Vicki zog ihre schmalen Schultern ein. Die Spannung in ihrem Körper war so spürbar, als würde die Luft um sie herum vibrieren. »Es war keine Absicht. Ich wollte sie nicht verletzen.«

»Aber das Buch hast du geworfen, oder?«

»Nicht fest. Sie stand einfach blöd. Und sie hat mich provoziert.«

»Das ist keine Entschuldigung. Du weißt, dass Gewalt keine Lösung ist. Womit hat sie dich provoziert?«

Vickis Hand, die noch immer die obere Hälfte ihres Gesichts verdeckte, öffnete und schloss sich mehrmals zur Faust. Bloß ihr Mund lugte darunter hervor, bildete eine verschlossene, harte Linie.

Sachte zog ich ihren Arm weg, damit ich ihr in die Augen sehen konnte. Graugrün mit einem goldenen Schimmer, so wie meine. »Vicki, sei bitte ehrlich mit mir. Dieser Streit mit Annika … Hatte er irgendetwas mit mir zu tun?«

Vicki antwortete nicht, doch der steife Zug ihrer Lippen, das Zucken ihrer Lider verrieten, dass ich richtig lag. Eiswasser waberte durch meine Organe. Also doch! Es war meine Schuld. Schon wieder.

Ich bemühte mich um ein Lächeln, doch meine Mundwinkel zitterten, verzogen mein Gesicht zu einer Fratze. »Du kannst es mir ruhig sagen, weißt du?«

Vicki saugte die Unterlippe zwischen ihre Zähne und begann daran zu knabbern. »Es war bloß etwas, das sie gesagt hat. Sie hat dich etwas Schlimmes genannt und da – keine Ahnung. Ich bin einfach so wütend geworden. Es tut mir leid.«

Wahrscheinlich wollte ich es gar nicht hören, wahrscheinlich hatte Annika sogar jedes Recht gehabt, mich so zu nennen, doch ich fragte trotzdem, während ich Vicki eine dunkelblonde Haarsträhne hinter ihr Ohr strich und mein Herzschlag so laut hämmerte, dass er bis zu meinen Schläfen hinauf pulsierte. »Was war es, Schatz? Wie hat sie mich denn genannt?«

Vicki nuschelte. Ihr Blick war glasklar, ohne jede Ablehnung oder Vorwurf, dennoch durchbohrte er mich wie ein Pistolenschuss. »Mörderin.«

3.

Nachricht von @barfuss_stella: Ich fand dich schon immer hässlich und konnte dein total übertriebenes Gehabe nie leiden. Nun sehen zumindest alle, wie hässlich und verlogen du auch im Inneren bist. CANCELED!

»Und?«, fragte Raphael mich später, als er mich bei Caro in der Küche antraf.

Ich stellte mich absichtlich unwissend und rührte geschäftig mit einem Löffel in der Pfanne, während Caro die Zucchini mit dem Spiralschneider bearbeitete. »Was denn?«

»Vicki – hat sie etwas gesagt?«

»Nein«, entgegnete ich und senkte meinen Blick auf die blubbernde Soße, um meine Lüge zu kaschieren. »Wahrscheinlich bloß irgendein Mädchenkram. Vielleicht ging es um einen Jungen.«

»Sie ist doch erst zwölf.«

»Eben.« Ich lächelte ein wenig gezwungen. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich glaube, sie braucht bloß etwas Zeit für sich.«

»Wenn du meinst«, entgegnete Raphael, ohne sonderlich überzeugt zu klingen. »Ist das Essen bald fertig? Ich muss nachher wieder zurück in die Firma für ein Meeting.«

»Nur ein paar Minuten noch.« Ich bat ihn, Vicki zum Essen zu holen, doch als er die Treppe wieder hinunterkam, schüttelte er den Kopf.

»Sie sagt, sie hat keinen Hunger.«

Ich klopfte den Kochlöffel am Topfrand ab, die Bewegung war ungewollt heftig. Rote Soße spritzte über die Herdplatte und auf meine Handgelenke. »Hast du ihr gesagt, dass es Zucchinibolognese gibt?«

»Du sollst ihr was beiseitestellen.«