Der Weihnachtshund - Daniel Glattauer - E-Book

Der Weihnachtshund E-Book

Daniel Glattauer

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Beschreibung

"Der Weihnachtshund" ist die ideale Lektüre für alle, die Weihnachten aus langjähriger Erfahrung kennen und fürchten. Der Roman ist ein Antidepressivum gegen den vorweihnachtlichen Frust, bei dessen Lektüre man mindestens einmal pro Seite lacht. Eine Liebesgeschichte, wie sie schöner nicht sein könnte."

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Über das Buch

"Der Weihnachtshund" ist die ideale Lektüre für alle, die Weihnachten aus langjähriger Erfahrung kennen und fürchten. Der Roman ist ein Antidepressivum gegen den vorweihnachtlichen Frust, bei dessen Lektüre man mindestens einmal pro Seite lacht. Eine Liebesgeschichte, wie sie schöner nicht sein könnte."

Daniel Glattauer

Der Weihnachtshund

Roman

1. Dezember

»Kurt feiert Weihnachten heuer wie üblich daheim. Sein Herrl (ich) sicher nicht. Also nehmt mir bitte den Hund ab. Er ist zutraulich und pflegeleicht. Er ist ein guter Hund.«

Diese Meldung konnte im Internet unter dem Stichwort »Weihnachten« abgerufen werden. »Sein Herrl« war Max. Kurt war ein reinrassiger Deutsch-Drahthaar. Was er gerade machte? Er lag unter seinem Sessel und zählte im Geiste seine Deutsch-Drahthaare. Es war nicht wirklich sein Sessel, nur der Sessel, unter dem er immer lag. Von den zwei Jahren, die Max und Kurt im gemeinsamen Haushalt verbracht hatten, war Kurt etwa eindreiviertel Jahre unter dem Sessel gelegen. Man konnte also beruhigt »sein Sessel« sagen. Wenn sich Kurt irgendetwas verdient hatte, dann diesen Sessel. Allerdings hatte sich der Sessel Kurt nicht verdient. Der Sessel war nämlich im direkten Vergleich der deutlich Lebendigere von beiden.

Max war, sah man von Kurt ab, ein Single. Er war es aus Überzeugung, nicht aus Verlegenheit, er konnte ja nicht sein Leben lang verlegen sein. Max war immerhin bereits 34. Um das gleich einmal abzuklären: Er war nicht schwul. Es wäre zwar nichts dabei gewesen, auch George Michael war schwul, aber Max stand auf Männer ungefähr so sehr wie auf Fensterrahmenputzen oder Leintuchabziehen oder Kurt-auf-die-Beine-Stellen. Max sah es so: Mit Männern konnte man auf fünf Biere gehen, Darts spielen, Harley-Davidson-Maschinen abfeiern und unerreichbaren Oberweiten nachtrauern. Und natürlich über den Job reden. Am ehesten hätte Max im Männerverband unerreichbaren Oberweiten nachgetrauert.

Max mochte Frauen. Sie ihn theoretisch auch. Leider passten sie nicht zusammen. Sie hatten es oft genug miteinander probiert. Max hatte nämlich ein Problem, ein spezifisches, ein eher ungewöhnliches, ein eher sehr außergewöhnliches. (Später!) Und Frauen waren ja nicht alles. Nicht?

Max spürte Weihnachten. Es kam direkt auf ihn zu. Eine erste kräftige Brise Lebkuchen-Punsch-Extrakt aus nordwestlicher Richtung in Form von Nebelnieselgraupel war bereits eingetroffen. Die Großstadt bei null Grad Celsius: zum Einfrieren zu wenig, zum Auftauen zu viel. Die Leute auf der Straße beschleunigten ihren Schritt. Sie dachten garantiert bereits an Geschenkpapier mit Engerlmotiven. Das machte Max Angst.

Wie gesagt, er stand dazu, ein Single zu sein. Das war die ehrlichste Form einer zwischenmenschlichen Beziehung: Max war täglich 24 Stunden zwischen sich. Er war mitunter rührend um sich selbst bemüht. Dies erforderte volle Konzentration und lenkte von unwichtigen Dingen wie Alltag ab. Aber, zugegeben, zu Weihnachten hing er ein bisschen blöd in der Winterluft. Ihm war das eindeutig das falsche Klima für zu viel Vorbereitung auf zu viel Feier für zu wenig Grund dafür. Außerdem hatte er eine nicht therapierbare Sternspritzer-Allergie. Und ein gefährliches Glaskugel-Syndrom. (Er neigte dazu, sie zu zertreten.) Neuerdings machte sich eine heimtückische Fichtennadelunverträglichkeit und eine ausgewachsene Kerzenwachsneurose bemerkbar. Erklangen dann auch noch Weihnachtslieder, schlitterte er in eine tiefe Winterdepression, die sich erst zu Pfingsten langsam wieder auflöste. Deshalb hatte er beschlossen, in diesem Jahr auf die Malediven zu fliegen. Das war zwar so plakativ, dass es schon wieder weh tat. Aber er hatte sich entschieden, Weihnachten unter der prallen Sonne zu leiden. Das vergönnte er seiner Haut, sie schenkte ihm auch nichts. Morgen sollte es übrigens angeblich schneien. Morgen war Sonntag. Entsetzlich. Max hasste Sonntage.

2. Dezember

Draußen schneite es nicht. Es war nur angekündigt worden, damit die Menschen wussten, dass es hätte sein können, damit sie Daunenkapuzenmäntel und Schneeräumgeräte kauften. Drinnen saß Katrin vor dem Computer und surfte. Das schaffte sie stundenlang. Es war ihre Nahtstelle zwischen Tätigkeit und Untätigkeit. Eingabe ohne Eingebung. Träumen ohne Gefühlsduselei. Suchen ohne auf der Suche zu sein. In die Luft starren mit Buchstaben. Gähnen per Tastendruck. Nasenbohren ohne Nase. Und ohne Finger. Genügt es?

Katrin kam aus einfachen Verhältnissen. Ihre Eltern waren verhältnismäßig einfach zu allem gekommen, was sie hatten, inklusive Katrin, ihrem Herzstück. Die Mama, Ernestine »Erni« Schulmeister, hatte den Papa, Rudolf »Rudl« Hofmeister, beim explosionsartigen Ausdruck der Unverträglichkeit einer zu großen Menge Alkohols in Form von Bier erwischt. Das war beim Fest einer freiwilligen Feuerwehr, die sich einmal im Jahr einen Brand selbst legen musste, um wenigstens einmal im Jahr einen anderen Brand als den täglichen persönlichen zu löschen. Es gab dort eben zu wenig Häuser in den Dörfern und die waren zu feucht, um zu brennen. »Ist Ihnen schlecht?«, fragte Erni. »Ja«, erwiderte Rudl zwischen zwei Beweisen. Er war ein sehr aufrichtiger Mensch. Danach heirateten sie. Nicht unmittelbar danach, zwei Jahre später. Hätten sie etwas mehr Mut zur Lücke gehabt, würde Katrin Schulmeister-Hofmeister heute Katrin Schulhofmeister heißen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Wahrscheinlich nicht.

Vor 30 Jahren minus 22 Tagen kam Katrin gesund zur Welt. (Exakt am Heiligen Abend würde sie also dreißig.) Damals war die Stadt gerade im Chaos versunken und von der Umwelt abgeschnitten, es hatte ungefähr drei Zentimeter geschneit. Die Schneeräumung versagte, das heißt: es gab keine. Der zuständige Stadtrat musste zurücktreten, aber er weigerte sich.

Beim Christbaumschmücken hatten Ernis Wehen bezüglich Katrin eingesetzt. Rudl, wie das oft so ist bei werdenden Familienvätern, war im Verkehr stecken geblieben. Selbst ohne Verkehr wäre er stecken geblieben, sein Ford Fiesta hatte Sommerreifen. Kein Problem für Erni. Hausdoktor Sokop von der Dreier-Stiege und Hebamme Alice aus dem Erdgeschoss sorgten für eine Weihnachts-Heimgeburt, wie sie selbst von hartgesottenen Boulevard-Journalisten wegen übertriebener Klischeelastigkeit abgelehnt, also nicht veröffentlicht worden wäre. Als Rudl heimkam, lag Tochter Katrin sozusagen unter dem Christbaum, angeblich lamettabehangen, aber das hatten die ehrgeizigen Urgroßeltern dazuerfunden. Rudls vergoldeter Armreifen für Erni — 1300 Schilling nach zähem Verhandeln — ging an diesem Abend jedenfalls ein wenig unter. Und den Karpfen aß keiner. Wenigstens verschluckte auch keiner eine Gräte.

Logisch, ein Kind, das so zur Welt kam, blieb erstens geschwisterlos (selbst ein gezieltes Osterbaby hätte da nicht mithalten können) und zweitens ein ewiges Wunschkind. Die liebenden Schulmeister-Hofmeisters wünschten sich von Katrin (zum Teil erst im Nachhinein, als es schon eingetroffen war) lange schwarze Haare, große grüne Augen, schöne weiße Zähne, kein Geschrei im Kindergarten, lauter Einser in der Volksschule, keine Pubertät (keine Wimmerln, keinen Poster von Tom Cruise, kein Backstage bei AC/DC und keinen privaten Bongo-Kurs bei »Jim« aus Jamaika, der wusste, worauf es im Leben ankam, auf die Freiheit). Mehr noch: keinen Zungenkuss vor 14, keine Präservativdiskussionen vor 16, keine Schwangerschaft vor 18, ja im Gegenteil: die Matura, möglichst mit Auszeichnung, möglichst mit links. Dann ein Studium, möglichst Medizin. Hier trotzte Katrin erstmals und studierte Maschinenbau, das war aber nur ein Scherz, deshalb brach sie das Studium nach einem halben Semester des Staunens und Bestauntwerdens ab und wurde medizinisch-technische Assistentin der Augenheilkunde. Die Eltern waren glücklich und rehabilitiert. Augen gehörten ja auch irgendwie zur Medizin.

Und nun fehlte praktisch nur noch der Eine, der Schwiegersohn, der Mann für immer, ein fescher, kluger, aus gutem Hause mit gutem Geld, gutem Geschmack und guten Umgangsformen, ein richtiger (»Frau Schulmeister-Hofmeister, ich darf doch Mama sagen, Sie machen den besten Kaffee der«) Welt-Mann. Und das war die Tragödie aus der Sicht der Schulmeister-Hofmeisters: Diesen Mann gab es nicht. Er war weder eingezogen noch eingetroffen noch eingetreten. Katrin stand unmittelbar davor, dreißig Jahre alt zu werden und … nein, man durfte es gar nicht laut denken. Man durfte es niemals aussprechen. Man durfte es dem Goldschatz auch ja nie anmerken lassen. Man durfte es nur ausnahmsweise einmal lautlos hier in dieses Buch hineinschreiben: Katrin — näherte — sich — dem — 30er — und — hatte — keinen — Mann! Demnach auch kein Kind, keine Familie, kein Reihenhaus mit Garten, kein Gemüsebeet, keinen Schnittlauch, kein Garnichts.

Draußen schneite es wie gesagt nicht. Drinnen surfte Katrin im Internet und klickte »Weihnachten« an, weil sie gerade daran gedacht hatte, indem sie nur ja nicht daran denken wollte. Da dumpten sich Reisebüros mit Last-Minute-Fluchtmöglichkeiten an die von Weihnachten entferntesten Strände der Welt nieder. Da rieselte der Reisig aus den Offerten der Basare. Da duellierten sich die Krippen-Aussteller: Holz gegen Naturholz gegen Strohdach gegen Perlmutthirten. Da ließ die Gastronomie ihre fetten Gänse aufmarschieren und flehte um rechtzeitige Reservierung. Und da — hoppla. Was wollte der Typ? Seinen Hund anbringen? — Katrin hatte eine Idee.

3. Dezember

Max mochte Montage. Sie begannen gleich in der Früh. Sie kamen zur Sache. Sie forderten heraus. Sie gaben Max das Gefühl, dabei zu sein. Kein Montag ohne Max. Die Sonntage schienen auf ihn verzichten zu können. Die Montage freuten sich auf ihn. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Max war weite Strecken dieses Tages erfrischend geschäftlich unterwegs. Es war ein Tag, an dem sogar die Sonne geschienen hätte, wäre nicht eine dichte Nebelwand darunter eingeklemmt gewesen, die sich laut Prognose nur »zögernd auflösen« würde, das bedeutete etwa gegen Mitternacht. Max pendelte in seiner Arbeitszeit zwischen drei Büros, die ihm nicht gehörten, die auch nicht auf ihn warteten, die ihn aber duldeten, weil er dort beruflich tätig sein musste, um Geld zu verdienen, das sahen auch die Büros irgendwie ein. Max war Journalist, im etwas weiteren Sinne dieses Wortes. Er produzierte für die wöchentlich erscheinende »Rätselinsel« die gefürchtete »Max’sche Kreuzworträtselecke«, deren Ausfallsquote unter den Auflösern nach nur drei gemeisterten Worten bei etwa neunzig Prozent lag. Seine Spezialität waren erfundene Abkürzungen. (Zum Beispiel: Xenophonspielerin mit fünf Buchstaben. Richtige Lösung: Xphsp.)

Leider war der Job schlecht (an der Grenze zu gar nicht) bezahlt. Deshalb gestaltete Max im Büro Nummer zwei einer Wiener Bezirkszeitung zusätzlich das tägliche Kino- und Theaterprogramm. Die Kreativität war dabei insofern begrenzt, als Max die Veranstaltungen nicht selbst bestimmen, zeitlich festlegen und auf die Bühnen und Leinwände verteilen konnte. Er schrieb das Programm vielmehr von bestehenden Vorgaben ab. Aber er machte das sehr gewissenhaft. Und es gab niemanden, der daran interessiert zu sein schien, ihm diesen Job bei dieser Bezahlung streitig zu machen.

Max’ drittes und entscheidendes berufliches Aufgabengebiet betraf Kurt, seinen reinrassigen Deutsch-Drahthaar. Zumindest theoretisch. Denn in der Praxis betraf Kurt nichts. Er war dagegen immun, von irgendeiner Sache der Welt betroffen zu sein oder zu werden. Max verfasste im Büro Nummer drei für das wöchentlich, wenn auch beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit erscheinende Tiermagazin »Leben auf vier Pfoten« die Hundekolumne »Treue Augenblicke«, deren Star kein Geringerer, aber auch kein Lebendigerer war als Kurt. An dieser Stelle muss zurückgeblendet werden, denn »Treue Augenblicke« hatte einen ziemlich tragischen Hintergrund.

Es war gut zwei Jahre her, als die Medien des Landes dahinter kamen, was die Leser und Seher des Landes tatsächlich am Geschmacksnerv ihres Interesses packt: Hundegeschichten. Schluss mit der Tagespolitik, dem Phrasen-Friedhof der Einfallslosen, dem Foyer der ständig schleimenden, um Wählerstimmen heischenden Mandatare und ihrer schwitzenden und geschwätzigen Reporter. Die Leute wollen wissen, was wirklich in der Welt passiert. Startkollision am Nürburgring. Sexskandal im Vatikan. Achtzig Prozent der griechischen Schafhirten sind olivensüchtig. Verona Feldbusch kauft ein Wörterbuch. — Das sind Meldungen, das sind Themen, das sind Schlagzeilen.

Und was noch viel wichtiger ist: Leser wollen unterhalten werden. Und zwar gut. Am besten köstlich. Und bitte ohne Kindergeschrei, das hat man ohnehin daheim (oder braucht es selbst dort nicht). So begann die goldene Ära der Hundegeschichten. Ein Journalist hatte damit angefangen, in einer wöchentlichen Kolumne seinen rosaweißen Zwergpudel Rüdiger zu porträtieren. Tausende Leser wurden süchtig, die Gehsteige und Promenadenwege waren bald voll von rosaweißen Zwergpudeln namens Rüdiger. Eine Rasse, die wegen chronischer Hässlichkeit bereits auszusterben drohte, schüttete unter entzückten Passantenblicken plötzlich die städtischen Laternenmaste zu und düngte Hunderte Hektar Grünland.

Chefredakteure, die nicht schliefen, reagierten sofort. Bald gab es in jeder namhaften Gazette eine prominent platzierte Hundekolumne, zumeist gleich neben dem politischen Leitartikel, um diesen ein wenig aufzulockern. Jede war ein bisschen anders angelegt. Großer Hund, kleiner Hund. Altes Herrl, junges Fraul. Herrl beschreibt Hund. Hund beschreibt Herrl (wobei Herrl für Hund Schreibarbeit verrichtet, da Hund Computer höchstens abschleckt). Fraul spricht wie Hund. Hund studiert Sexualverhalten von Fraul. Beide ziehen über Männer her. Und so weiter.

Das war der Zeitpunkt, als Max, 32, gewerbsmäßiger Studienabbrecher und frisch angelernter Polizeireporter bei der auflagenstarken liberal-konservativen Tageszeitung »Horizonte«, seine große Chance erkannte und nützte. Er mochte zwar keine Hunde. Aber er kaufte Kurt. Denn er sah die Marktlücke: Im Autoren-Rudel der Rüden und Weiberl fehlte ein Tier mit artistischer Begabung, ein begnadeter Hundekörper, der Kunststücke zu Wege bringen konnte, die zu beschreiben Millionen Lesern organisierte Tränenströme in die Augen triebe. Es war Kurt.

Max entdeckte ihn bei einem Pressetermin der Suchtgiftfahnder. Sie präsentierten ihre neuen Waffen im Kampf gegen die südostkolumbianische Drogenmafia. Kurt wurde mitgenommen, um den Medienvertretern zu zeigen, wie ein Hund aussieht, der auf Kokain anspricht. Kurt legte gleichzeitig seine Vorder- und Hinterbeine über Kreuz und bog den Körper wie eine zu leicht gespannte Hängematte zu Boden. Dazu drehte er den Kopf in kleinen konzentrischen Kreisen, als würde er die Nackenmuskulatur trainieren. Sein Maul war weit aufgerissen, die Zunge hing S-förmig heraus, die Augen waren geschlossen. »Er schläft gerade«, meinte der verantwortliche Beamte ernst wie ein Chirurg, um der verheerenden Wirkung von Kokain ein neues erschütterndes Zeugnis auszustellen.

Als Kurt gleich darauf drehpirouettenartig erwachte, als sich die Hälfte seines verknautschten Gesichtes als geöffnete Augen entpuppte, in denen dicke, kaffeebraune Glaswürfel tanzten, und als seine Abertausenden Deutsch-Drahthaare wie unter Strom in alle Richtungen drifteten, wusste Max, dass er ihn haben musste, um über ihn zu schreiben.

Da Kurt ohnehin nur ein Vorzeigemodell und aufgrund des hohen Alters (zwölf Jahre) bereits ein Auslaufmodell war und mit Drogen in Wirklichkeit überhaupt nichts am Hut hatte, erklärte sich die Polizeidirektion nach Wochen des Bettelns und aus Angst vor einer negativen Presse bereit, Kurt an den lästigen Journalisten abzutreten.

In den folgenden Wochen schlief Max zwar nachts nicht, sondern öffnete lieber Wildbeuschel-Dosen und suchte das Balli, um den röhrenden Fremdkörper aus dem Bett zu bekommen, wo dieser für den Olympischen Hundezehnkampf zu trainieren schien. Aber seine Kolumne »In den Wind gesabbert« machte ihn nach nur drei Folgen zum »Horizonte«-Star — und Kurt zum berühmtesten Hund des Landes, noch vor Hofburg-Bullterrier »Ferstl«, jenem des neuen Bundespräsidenten.

Erste Kolumne: »Wie Kurt durch drei Zähne pfeift, um sein Wildbeuschel einzufordern.« Zweite Kolumne (zur Eröffnung der Ballsaison): »Wie Kurt auf drei Beinen Linkswalzer tanzt.« Dritte Kolumne: »Wie sich Kurt in Irish Setter Alma verliebt und ihr mit Rückwärtssalti zu imponieren trachtet.«

Dann passierte etwas Schreckliches. Kurt blieb nach einer Rückwärtssalti-Dreierkombination im Park liegen und rührte sich nicht mehr. Max dachte zunächst an ein neues Kunststück. Doch nach einer Stunde war klar, dass mit dem Hund etwas nicht stimmte. — Nichts stimmte mehr. Er war tot. Es hatte ihm beim Salto den Magen umgedreht. »Er hat nicht gelitten«, schwor der Tierarzt. Max weinte dennoch. Kurt hatte immerhin sein Leben auf den Kopf gestellt.

»Kurt ist tot«, gestand Max tags darauf seinem Chefredakteur. »Nein«, erwiderte der Chef. »Doch«, wusste Max, »es hat ihm den Magen umgedreht, die Kolumne ist gestorben.« »Nein«, erwiderte der Chef. »Es mag ihm den Magen umgedreht haben, aber die Kolumne geht weiter. Die Leser wollen sie. Besorgen Sie sich einen neuen Hund, genau den Gleichen, wir zahlen das.« — »Kurt gab es nur einmal, er ist unersetzlich«, widersprach Max kleinlaut und ärgerte sich, gerührt zu sein und gegen Tränen ankämpfen zu müssen. »Hören Sie zu, junger Mann«, sagte der Chef sehr ruhig und legte Max seine Hand auf die Schulter. »Niemand ist unersetzlich, kein Hund und auch kein Kolumnist. Also besorgen Sie sich bitte einen neuen Kurt.« Er hob die Hand von Max’ Schulter, um das Gespräch für beendet zu erklären. »Auch ich bin übrigens einer der zahlreichen Liebhaber Ihrer Kolumne«, rief er ihm noch nach.

Drei Tage lang wollte Max kündigen. Am vierten wusste er, dass er auf täglich zehn Briefe, zwanzig Anrufe und dreißig E-Mails Fanpost nicht mehr verzichten wollte. Außerdem war sein Bett zu leer, um nicht schlafen zu können, wie er es bereits gewohnt war; so schlief er schlecht und träumte depressiv. Am fünften Tag suchte er Kurt II. Am sechsten Tag fand er ihn. (Am Abend des sechsten Tages schrieb er für »Horizonte« zum vierten Mal »In den Wind gesabbert«.)

Der Kynologenverband hatte ihm Zugang zum »Verein der Freunde des Deutsch-Drahthaar« verschafft. Schon die Menschen dort ähnelten Kurt I optisch sehr. Bei den Hunden war die Übereinstimmung noch größer: Jeder von ihnen konnte Kurt sein. Fünf Exemplare waren gerade auf »Herrl-Suche«. Zwei schliefen fest, einer döste, einer gähnte. Und einer — auch er schien zunächst zu schlafen und Max glaubte bereits, den »Verein der Freunde des Deutsch-Drahthaar« als Valium-Sekte entlarvt zu haben —, dieser fünfte startete aus flacher Bodenlage senkrecht in die Höhe, biss sich im Flug in den Schwanz und landete offenbar zu seiner eigenen größten Überraschung hellwach auf vier Pfoten, ein Phänomen, von dem er sich minutenlang nicht erholte. »Das ist Mythos, er kommt aus Kreta«, meinte der Züchter. »Nein, das ist Kurt und er kommt zu mir«, entgegnete Max triumphierend.

Die Geschichte nähert sich ihrer zweiten Tragödie. Kurt II alias Mythos und von nun an für immer Kurt war am Tag des Erwerbs von einer Biene gestochen worden. Der steile Sprung war sein erster und letzter, ein einmaliges Kunststück, sein einziges kräftiges Lebenszeichen. Ab diesem Zeitpunkt bewegte er sich wie Kretas Ureinwohner um zwei Uhr mittags im Juli: nicht.

Die vierte Kolumne »In den Wind gesabbert« schien noch einmal den alten Kurt wachzurufen: »Wie Kurt zum Himmel steigt und wie ein Komet zur Erde zurückkehrt.« Für Max war das ein wehmütiger Nachruf, für die Leser der vierte Teil einer glanzvollen hundeathletisch-humoristischen Serie. Den fünften Teil — »Wie selbst Kurt einmal zur Ruhe kommt« — verzieh man ihm gerade noch; jeder Kolumnist hat einmal einen Hänger. Nach dem sechsten Teil — »Wie Kurt mit geschlossenen Augen von Bungeejumping träumt« — rief ihn der Chef zum ersten Mal zu sich. Nach dem siebenten Teil — »Und Kurt bewegt sich doch« — rief ihn der Chef zum letzten Mal zu sich. Er erklärte ihm, dass Journalismus etwas mit Leben zu tun habe und dass »In den Wind gesabbert, Teil sieben« der letzte in »Horizonte« erschienene Teil gewesen sei. Im selben Atemzug lobte er Max als tüchtigen Polizeireporter.

Max kündigte am gleichen Tag und blieb die nächste Zeit zu Hause. Dort hatte Kurt bereits kampflos den Platz unter seinem Sessel erobert. Sie sprachen nicht viel miteinander. Wenn Max unbedingt Gassi gehen wollte, trottete Kurt eben mit.

Täglich langten drei Fan-E-Mails weniger ein. Nach zwei Wochen schrieb keiner mehr. Nach drei Wochen erhielt Max ein zu diesem Zeitpunkt bereits überraschendes Angebot von »Leben auf vier Pfoten«, dem vermutlich unbekanntesten Tiermagazin der Welt. Dort suchten sie einen Kolumnisten für »Treue Augenblicke«. Sie hatten an Max und Kurt gedacht. Das Herrl sollte wieder seinen lustigen Hund beschreiben. Dafür gebe es auch ein kleines Honorar. Max war gerührt und willigte sofort ein.

Das war vor eineinhalb Jahren. Von diesem Zeitpunkt an beschrieb er jede Woche die Bewegungsabläufe eines regungslosen Deutsch-Drahthaar. Er hatte sich sicherheitshalber noch nie gefragt, warum und für wen er das eigentlich tat. Vermutlich für Franz von Assisi.

Bis Montag Nachmittag hatte sich der Nebel nicht aufgelöst. Max war mit »Treue Augenblicke« fertig. Die Folge beschrieb einen Spaziergang mit Kurt im Nieselregen, die mit Abstand größte Aufregung der vergangenen Woche, denn Kurt war einer Pfütze ausgewichen.

Vor dem Verlassen des Büros überflog Max die eingelangten Mitteilungen in seiner Mailbox. Fünf Leser hatten auf sein Weihnachtsangebot, Kurt zu nehmen, reagiert. Vier fragten an, warum Kurt Kurt hieß, ob er den Namen der Hundekolumne »In den Wind gesabbert« verdanke und ob Kurt denn ähnlich ausgeflippt unterwegs sei wie der legendäre Kurt aus »Horizonte«. Die fünfte Meldung lautete: »Ich mag keine Hunde, aber ich glaube, ich würde ihn nehmen. Er muss mich nur halbwegs in Ruhe lassen. Und ich will ihn vorher sehen. Gruß. Katrin.« Diese E-Mail beantwortete Max sofort, denn er hatte das Gefühl, die beiden würden gut miteinander harmonieren. Er schrieb: »Sie können den Hund jederzeit sehen. Sagen Sie mir wann und wo. Wir kommen überall hin. Kurt freut sich schon. Gruß. Max.« Das mit »Kurt freut sich schon« war eine Notlüge.

4. Dezember

In der Nacht hatte es geregnet und der Wind drückte stark gegen das Fensterglas, welches knirschende Geräusche machte, als stünde es knapp davor, in die Brüche zu gehen. Katrin wurde von einem elefantengroßen Hund mit Haifischzähnen gebissen, wachte auf und konnte, obwohl die Schmerzen natürlich gleich weg waren, die restlichen drei Stunden nicht mehr einschlafen. Den Typen mit dem Hund würde sie zu Mittag im Café Melange treffen. Sie hoffte, dass er ihr nichts tun würde — der Hund. Vor Männern fürchtete sie sich weniger.

Ordination war dienstags von 8 bis 12 und von 15 bis 18 Uhr. Katrin kam immer schon ein bisschen früher. Sie ertrug es nicht, wenn Doktor Harrlich vor ihr in der Praxis war. Da empfing er sie stereotyp im bemüht französischen Akzent mit »Guten Morgen, mein schönes Fräulein, haben Sie gut geschlafen?« und schlich mit seinen schlaffen Händen von hinten an ihren Körper heran, um ihr aus dem Mantel zu helfen, als wollte er Marlon-Brando-mäßig zum »Letzten Tango« antreten. Es wäre übrigens garantiert sein letzter Tango gewesen. Augenarzt Doktor Harrlich war 76 und ordinierte nur noch aus Gewohnheit und Betriebsblindheit. Er sah bereits so schlecht, dass er seine Patienten nicht mehr unterscheiden konnte.

Doktor Harrlich unterschrieb aber immerhin die Krankenscheine. (Den richtigen Platz fand er blind.) Die restliche Arbeit erledigte Katrin — und umgekehrt. Sie war theoretisch medizinisch-technische Assistentin der Augenheilkunde, jedoch praktisch Augenärztin ohne Doktortitel. Ihretwegen kamen die Kunden, ihretwegen musste der Wartesaal vergrößert werden. Achtzig Prozent der Patienten waren Männer. Alle wollten von ihr behandelt werden. Alle wollten, dass sie ihnen in die Augen schaute.

Der Vormittag verging schnell. — Ein Leberleiden, ein beginnender grüner Star, altersbedingte Kurzsichtigkeit, jugendliche Weitsichtigkeit: gleich zwei Dioptrien mehr — armer Bub, war erst fünfzehn Jahre alt und hatte schon Aschenbecher vor den Augen. Sieben weitere Patienten waren gesund und brauchten keine Brillen. Wahrscheinlich hatten sie es vorher ohnehin schon gewusst.

Zehn vor eins wartete Katrin im Café Melange auf den Weihnachtshund, der ja hoffentlich an einer Leine hängen und mit einem ausbruchsicheren Beißkorb ausgestattet sein würde. Die zehn Minuten bis zum vereinbarten Treffzeitpunkt brauchte sie, um Fluchtwege auszukundschaften, für den Fall, dass der Hund an keiner Leine hing und mit keinem ausbruchsicheren Beißkorb ausgestattet war.

Katrin hasste es, allein in einem Kaffeehaus zu sitzen und so zu tun, als würde sie in dem Magazin, mit dem sie ihr Gesichtsfeld abschirmte, auch tatsächlich lesen. Sie hasste es, von Männern angesprochen zu werden, von denen sie nicht angesprochen werden wollte, und nur solche sprachen sie an. Noch mehr hasste sie deren ängstlich-sündige Blick-Kombinationen (Augen-Busen-Beine-Augen-Busen-Busen), die nach ihr verrenkten Hälse, das notgeile Gezwinkere, die lustvoll gehobenen Augenbrauen, die von der Wunschvorstellung geöffneten Münder mit den vorblinzelnden Zungen. Am meisten hasste sie die Vorstellung, dass sich manche der Männer vielleicht sogar einbildeten, sie würde deshalb allein im Kaffeehaus sitzen, um dies erleben zu dürfen.

Als sie 26 war und den Vollzug ihrer vierten gescheiterten Beziehung, jene mit Herwig, hinter sich gebracht hatte, saß sie alleine in einem Kaffeehaus und ließ sich widerstandslos ansprechen. Ihr fehlten die natürlichen Abwehrkräfte. Außerdem wollte sie Herwig dafür bestrafen, dass er so war, wie er war. Außerdem hatte sie schon sechs Monate mit keinem Mann mehr geschlafen. Außerdem hatte sie Lust — zwar nicht unbedingt danach, mit einem Mann zu schlafen, aber nach ganz normalem Sex.

Der Typ hinter den Sonnenbrillen, Georg sollte er heißen (eines der wenigen Worte, die er fehlerfrei und ohne geistigen Kraftaufwand reproduzieren konnte), war einer, den Frauen einen »Adonis« nannten, ein ewiger Tarzan-Statist, potent bis in die Zehenspitzen. Ein Typ, den es eigentlich nur auf Fototapeten geben dürfte. Wegen solcher Männer flogen Garnisonen frustrierter Ehefrauen und Mütter nicht mehr allzu kleiner Kinder jährlich nach Tunesien und ritten auf Kamelen. Manche kamen nie wieder zurück.

Damals war Katrin alles egal. Deshalb beantwortete sie selbst Fragen wie: »Warum bist du allein?«, »Wie lang brauchst du zum Fönen deiner Haare?« oder: »Was machst du sonst noch?« mit wenigen Worten, aber großer Geduld. Schließlich fragte Georg: »Was ist dein Lieblingssport?« — »Bumsen«, erwiderte Katrin (war aber nicht sicher, ob sie das Wort richtig ausgesprochen hatte, ob es nicht »Pumsen«, »Bumbsen« oder noch härter »Pumpsen« hätte heißen müssen). Jedenfalls dachte sie dabei ganz fest und genüsslich an Herwig und hätte viel dafür gegeben, wenn er in dieser Situation hätte dabei sein können. Georg schien mit dieser Antwort zwar nicht gerechnet zu haben, aber sie gefiel ihm offensichtlich. Denn er sagte verschwörerisch grinsend: »Mein Lieblingssport eigentlich auch!« und verlangte die Rechnung.

Katrin bereute es nicht. Immerhin wusste sie bald wieder, wie das am Anfang mit Herwig gewesen war und warum sie es hatte einschlafen lassen. Im Stundenhotel gab es Sekt, Erdnüsse und für jede Stellung eine Couch. Georgs Erregtheit schmeichelte ihr. Und es machte ihr Spaß, einen Mann mit exakt jener Sache glücklich zu machen, die für ihn das größte Glück bedeutete. Sie freute sich mit ihm, dass er bald kam. Sie freute sich für sich, dass er bald ging. Er schaute auf die Uhr und dürfte ebenfalls zufrieden gewesen sein. »Morgen um die gleiche Zeit?«, fragte er beim abschließenden Händeschütteln. »Vielleicht eine Viertelstunde später«, erwiderte Katrin. Sie fand den Gag extrem gut, beherrschte sich aber und unterdrückte ein herausplatzendes Lachen. Das Kaffeehaus war für sie jedenfalls gestorben. Georg sowieso.

Und die Sache mit dem Weihnachtshund wohl ebenfalls. Der Typ hatte bereits zwanzig Minuten Überzeit, das sollte genügen. Katrin hatte den Termin somit zwar erfolglos, aber heil überstanden. Draußen regnete es gefrierend. In der Ordination blühten ihr an diesem Tag noch sieben Patienten. Am Abend konnte sie eventuell mit Freunden ins Kino gehen.

In der verbleibenden Mittagszeit verspürte sie den dringenden Wunsch sich zu belohnen. Zum Glück war es nicht weit zum nächsten italienischen Schuhgeschäft. Die Menschen auf der Straße bildeten gefrierende Regensäulen. Vor der überdachten Punschhütte wand ein Weihnachtsmann seine nasse Mütze aus. Daneben lag ein eingerollter großer Hund an einer Leine. Die Leine war gespannt. Am anderen Ende stemmte sich jemand wie ein Surfer im Tornado dagegen. Es gibt schon verrückte Bilder, dachte Katrin.

5. Dezember

Am Krampusvormittag ging der morgendliche gefrierende Regen in Schneeregen, dieser in Regenschnee und Letztgenannter in Schneeschauer über. Zu Mittag ging der Schneeschauer in Schauer über, der Schauer wenig später in Regenschauer, der Regenschauer in gefrierenden Schneeschauer, dieser in Graupel, der Graupel in Nieselgraupel, welcher via Graupel zu Schneeschauer zurückkehrte. Am späten Nachmittag hörte der Niederschlag auf und es bildete sich bei um den Gefrierpunkt schwirrenden Temperaturen beständiger Nebel mit einer Obergrenze von ungefähr 11.500 Metern. Darüber schien angeblich die Sonne.

Immerhin erhielt Max eine zweite Chance, die Frau zu treffen, die Anstalten machte, Kurt über Weihnachten zu übernehmen. Auch wenn wenig Hoffnung bestand, dass daraus tatsächlich etwas werden könnte, durfte Max die Chance nicht auslassen. Denn er hatte zwar genügend Freunde zum »täglich Pferdestehlen«, aber keine zum Kurt-zweimal-täglich-ins-Freie-Schleifen. Seine Eltern flogen, wie jedes Jahr, über die Feiertage zu den Großeltern nach Helsinki. Die lebten dort, weil es vom Wetter her auch schon egal war. Sie hätten Helsinki jedenfalls nie verlassen, um Weihnachten in Wien zu feiern, nicht wegen der Eltern, nicht wegen Max und schon gar nicht wegen Kurt, den sie nur aus Erzählungen kannten. (Eigentlich nur aus einer Erzählung: Er bewegte sich nicht.)

Max hatte keine Geschwister. Max hatte niemanden, der ihm einen Gefallen schuldig gewesen wäre (außer Kurt). Tierheime schieden aus, dort würde Kurt einschlafen und nicht mehr aufwachen. (Warum schieden Tierheime eigentlich aus?) Und per Internet hatte sich ebenfalls keine weitere Möglichkeit aufgetan, den Hund anzubringen. Die Leute wollten einzig wissen, warum Kurt Kurt hieß und ob das etwas mit Kurt aus dem legendären »In den Wind gesabbert« in »Horizonte« zu tun hatte.

Noch am Vorabend hatte sich Max mit einer romanverdächtig ausführlichen E-Mail für den geplatzten Termin entschuldigt. »Sie müssen wissen«, hat er der Interessentin geschrieben, »Kurt ist ein eher bequemer Hund. Es gibt Stunden, da geht er nicht gern ins Freie. Gestern Mittag war eine dieser Stunden. Und wenn er nicht gern ins Freie geht, dann geht er nicht ins Freie. Da ist er in sich konsequent. Kurt ist außerdem ein bisschen wasserscheu und gestern hat es geregnet. Deshalb sind wir nicht gekommen. Wir sind zwar von zu Hause weggegangen, aber wir sind nicht angekommen. Das tut uns leid. Das heißt: Mir tut es leid. Aber Kurt ist wirklich ein guter Hund. Und vielleicht wollen Sie sich ihn doch einmal ansehen. Vielleicht morgen. Morgen wird es bestimmt nicht regnen. Morgen geht Kurt sicher gern außer Haus, das heißt: Morgen geht er sicher außer Haus. Wir kommen auch gerne zu Ihnen, wenn Ihnen das lieber ist. Sie müssen uns nur sagen, wann wir wohin kommen sollen. Wir können uns das einteilen. Herzliche Adventgrüße senden Max und Kurt.« — Den letzten Satz korrigierte er und schrieb: »Mit freundlichen Grüßen, Max.«

Die Frau, die den Hund theoretisch übernehmen wollte, hatte am frühen Morgen geantwortet: »Okay. Schauen Sie mit Ihrem Hund beim Augenarzt Doktor Harrlich vorbei. Dort arbeite ich.« Und sie hatte die Adresse angegeben. Und die Uhrzeit: 15 bis 17 Uhr. Und sie hatte angefügt: »Bitte befestigen Sie Kurt an einer Leine und statten Sie ihn mit einem Beißkorb aus. Patienten könnten sich sonst fürchten.« Und sie hatte hinzugefügt: »Bitte überprüfen Sie den Beißkorb auf mögliche Durchlässigkeit. Es grüßt Sie: Katrin.«

Den Vormittag verbrachte Max im Einser-Büro und erstellte die »Max’sche Kreuzworträtselecke«. Um Zeit zu sparen, griff er auf eine Rätselecke vom August des Vorjahres zurück. Abkürzungen waren ja zum Glück zeitlos. Zu Mittag gab er im Zweier-Büro das aktuelle Kinoprogramm ein. Am frühen Nachmittag besorgte er einen Beißkorb. Eigentlich hätte er Kurt gern dabeigehabt, wegen der Größe. Aber es schneite leider und regnete.

Exakt zwei Minuten vor fünf hatte er die Tür der Ordination des Augenarztes Doktor Harrlich erreicht. Es hatte buchstäblich in letzter Sekunde sowohl zu regnen als auch zu schneien aufgehört. Max fühlte sich psychisch angeknackst und auch physisch schwer gezeichnet. Stufensteigen mit Kurt hieß, jede Stufe fünfmal zu steigen. Der Arzt residierte im zweiten Stock. Kurt fand zwar in jeden Fahrstuhl, aber er verließ kaum einen mehr; Feuerwehreinsätze dieser Art waren erfahrungsgemäß teuer. Jedenfalls lag Kurt, als sich die Tür öffnete, wie durch ein Wunder bei Fuß. Seine müde Medium-Schnauze hing in einem sportlichen XXL-Beißkorb. So verwegen hatte ihn Max noch nie gesehen. Für die nächste Folge von »Treue Augenblicke« bot sich »Als Kurt seinen ersten Beißkorb trug« an.

Katrin erlebte die folgenden Minuten wie eine Szene aus einer Filmkomödie, in der ein verwirrter Außendienstmitarbeiter einer Elektrogerätefirma bei seinem ersten Auftrag einer Kundin einen Staubsauger als Nähmaschine verkaufen wollte und zu Demonstrationszwecken eine Gefriertruhe mitgebracht hatte. Sie öffnete die Türe und fing ein überfallsartiges »Guten Tag, mein Name ist Max und das ist Kurt« ein. Dabei zeigte der junge Mann auf eine dunkelbraune eingerollte Masse zu seinen Füßen, als deren Mittelpunkt das Drahtgestell eines Beißkorbes erkennbar war.

»Kurt beißt niemals«, versicherte der Mann überraschend traurig. »Er ist äußerst gutmütig. Er mag Menschen, er kann es vielleicht nicht so zeigen. Er ist ein bisschen schüchtern. Ihm macht auch das Wetter zu schaffen. Einmal Regen, dann wieder Schnee, dann wieder Schneeregen. Für so einen Hund ist das eine ständige Umstellung. Kurt ist nämlich sehr sensibel und reagiert …«

»Und ich heiße Katrin«, unterbrach Katrin. »Angenehm«, erwiderte er, ein wenig irritiert. »Kommen Sie weiter«, sagte sie. Er zögerte, beugte sich zum Haufen Hund hinunter, als müsste er sich dort erst eine Eintrittsgenehmigung erteilen lassen. Dann legte er die Leine nieder und betrat den Warteraum. — »Der Hund kann auch hereinkommen«, sagte Katrin. »Danke, es schadet ihm nicht, vor der Türe zu liegen«, erwiderte der Mann. Katrin hatte das Gefühl, dass er es mit der Zucht ein bisschen übertreibe.

»Wenn ich ihn nehme, dann möchte ich ihn vorher einmal austesten«, sagte Katrin. — »Ehrlich«?, fragte der Besitzer. Er dürfte ein Nervenleiden in der rechten Schulter haben, bemerkte Katrin. »Wie oft muss er tagsüber gehen?«, fragte sie. »Zweimal, aber …« Er zögerte. »Was aber?«, fragte Katrin. »Aber er kann es sich nicht merken«, erwiderte der junge Mann. — »Und schläft er in der Nacht?« — »Jaaa!«, rief der Besitzer und ballte die Fäuste wie ein Tennisstar, der sich wieder ins Spiel gebracht hatte. »Und was frisst er?« — »Jeden Abend zwei große Dosen Wildbeuschel«, erwiderte der junge Mann. »Er hat es gern, wenn man ihm die Schüssel unter die Schnauze legt.« Sein Herrl hatte gepflegte Zähne und seine Augen dürften gesund sein, sie konnten sogar lachen, bemerkte Katrin.

»Und was spielt er gern?« — »Verstecken«, erwiderte der Mann nach längerer Nachdenkpause. »Und ›Blinde Kuh‹, die Kuh ist immer der Mensch.« — Er hatte einen seltsamen Humor. — »Und woran muss man sonst noch denken, wenn man ihn hat?« — »Am besten an gar nichts«, entgegnete der Besitzer. »Man darf nur nicht auf ihn vergessen.« — »Klingt ziemlich einfach«, sagte Katrin. »Ja, er ist ein guter Hund«, antwortete der Mann nervös. »Ich werde mir die Sache überlegen und gebe Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid«, sagte Katrin. »Das wäre fein«, erwiderte der Hundebesitzer. »Und ich würde ihn gern einmal auf den Beinen sehen«, sagte Katrin. — »Sicher«, sagte der Mann und lächelte bitter. Dann verabschiedete er sich. Der eingerollte Haufen vor der Tür hatte sich keinen Millimeter verschoben. »Er ist ein guter Hund«, wiederholte der Mann und zog kräftig an der Leine. Er hatte leicht abstehende Ohren — der Mann. Vom Hund hatte Katrin keinen Eindruck. Das war der beste Eindruck, den sie sich hatte vorstellen können.

6. Dezember

In der Nacht zum Nikolaustag hatte es geschneit und der Schnee war liegen geblieben. Kurt ebenfalls. Der Schnee würde laut Prognose zu Mittag bereits geschmolzen sein. Kurt nicht.