Der Weihnachtswunsch und andere Geschichten aus Dingsda - Johannes Schlaf - E-Book

Der Weihnachtswunsch und andere Geschichten aus Dingsda E-Book

Johannes Schlaf

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Beschreibung

Dieses eBook: "Der Weihnachtswunsch und andere Geschichten aus Dingsda" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Johannes Schlaf (1862 - 1941) war ein deutscher Dramatiker, Erzähler und Übersetzer und bedeutender Vertreter des deutschen Naturalismus. Als Übersetzer trug er entscheidend zur Verbreitung der Werke von Walt Whitman, Émile Verhaeren und Émile Zola im deutschsprachigen Raum bei. Er gilt damit als Begründer des Whitman-Kults in Deutschland. Eine erste Hinwendung zur impressionistischen "Gefühlssprache" und Naturmystik kündigte sich bereits in Schlafs Dingsda-Skizzen an, die im ersten Sammelband In Dingsda 1892 erschien waren. Dieser "impressionistische Naturalismus" erreichte einen Höhepunkt in Schlafs 1894 erschienener Dichtung Frühling, die begeisterte Zustimmung fand. Aus dem Buch: "Die dicken Ähren nicken und beugen sich, und leise wühlt es in matten, rotgoldigen Lichtern über eine Haferbreite hin. Drüben rutscht die Sonnenscheibe zwischen den Dunstschichten hinunter. Jetzt nur noch die Hälfte, jetzt nur noch ein rotes Tupfchen - und nun ist auch das weg. Nun ganz das heimische, trauliche Dämmern über den weiten, weiten Feldern, und im Westen, schräg über den Himmel hin, die matte Röte ..."

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Johannes Schlaf

Der Weihnachtswunsch und andere Geschichten aus Dingsda

e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-5048-9

Inhaltsverzeichnis

In Dingsda
Neue Erzählungen aus Dingsda
Der Weihnachtswunsch
Das Feuerwerk
Türck
Marie
Der Mann im Theater
Herbst
Herbstblatt

In Dingsda

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abseits
Rendezvous
Die Rezension
Lektüre
Feierabend
Siesta
Helle Nacht
Dämmerstunde
Im Wind
Abschied

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Dies ist die dritte Auflage, die mein »Dingsda«-Büchlein erlebt. Sie mag bekunden, daß es im Laufe der Jahre seine Wirkung getan hat und daß es noch immer munter weiterlebt. Im stillen hat es gewirkt. Aber das entspricht seiner Art. Doch eindringlich. Schon oft wurde darauf aufmerksam gemacht, wie man an mehr als einer Stelle auch den Spuren seiner Einwirkung auf die Entwicklung unserer neuesten deutschen Novellistik seit zwanzig Jahren begegnen kann.

Doch lieber als das ist mir der Umstand, daß es nach wie vor seine unmittelbar lebendige Wirkung auf den Leser übt. Daß es mit der Sonne, dem freundlichen Stilleben und Einleben in die schlichten Freuden, mit denen die Natur gütig unsere Herzen heilt, auch anderen wohltut; daß es im Laufe der Jahre immer neue Freunde gewonnen hat; abseits von all den anderen, lauteren, aber oft auch wohl vergänglicheren Erfolgen unseres literarischen Lebens ... Ich habe dieser neuen Auflage nichts hinzugetan und nichts genommen. Das Büchlein hatte damals eine ganz bestimmte Notwendigkeit seines Entstehens. Es ist ein aus sich selbst gewordenes Stück Leben und Seele. Das erfordert auch die Pietät seines »Schöpfers«. Da darf nichts verändert und beschnitten werden. Das ist in solchen Fällen nichts als Verschlimmbesserung ...

Möge diese schöne Bücherei meine stille »Dingsda«-Welt von damals noch recht vielen Freunden ans Herz tragen! ...

Weimar, Sommer 1912.

Johannes Schlaf.

Abseits

Inhaltsverzeichnis

Zwischen vier und fünf Uhr bummelte ich, meine Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, fröstelnd in der Morgenkühle die Linden entlang. Eine Droschke rumpelte vorbei über den Fahrdamm. Ein paar Nachtschwärmer drückten sich mit vorgebeugten Schultern und hochgeklapptem Rockkragen an mir vorüber, und die elektrischen Monde warfen mir ihr weißes Glühlicht ins Gesicht. Ich summte so vor mir hin. Eine schöne alte Melodie.

»Die Sonn erwacht; Mit ihrer Pracht Erfüllt sie die Berge, das Tal! O Morgenluft! O Waldesduft! O güldener Sonnenstrahl!«

Und so weiter. Mit Grazie in infinitum. Quer durch den Tiergarten.

An der Potsdamer Brücke blieb ich stehen.

Die Laternen schoben eine Reihe goldener, strahlender Balken in den Kanal hinunter. Sie bauten einen blinkenden Märchenpalast in das träge, schwarze Wasser hinein. Goldene Lichtspäne schaukelten weit über die Wasserfläche an den dunklen Kähnen hin, und es wehte ein scharfer, kühler Wind.

Fern das dumpfe, rastlose Rauschen des Verkehrs. Immer in demselben gleichmäßigen Tonfall. Berlin kennt keinen Schlummer ...

... Hm! Zum Beispiel! Die vielen Streiks jetzt! Und wenn nun hier das schöne, saubere Straßenpflaster aufgerissen würde und ...

»O Morgenluft! O Waldesduft!«

Und da überrieselte mich eine brennende Sehnsucht.

Diese Melodie! Seit ein paar Stunden konnte ich sie nicht loswerden. Und auf einmal kam es mir voll, hell und klar zum Bewußtsein: sie war das erste, unbewußte Regen eines unwiderstehlichen Wunsches.

Einmal fort von diesem verfluchten Schreibtisch, an den mich der verwünschte Trieb anschmiedet, dieses unheimlich komplizierte Leben hier überall um mich herum zu erfassen, festzuhalten und formend zu gestalten. Einmal fort aus diesem literarischen Getratsch, das einem die Ohren mit dummen Redensarten wundreibt. Einmal fort aus diesem verzweifelt wirren Getriebe, das einem Tag und Nacht keine Ruhe läßt, einen zum Schreibtisch zieht, vom Schreibtisch treibt; das so rätselhaft unsinnig ist, einen mit bunten Ahnungen betrunken macht und in quälende Zweifel reißt. Fort aus diesem endlosen, dummen Wechsel von Halten und Verlieren...

»O Morgenluft! O ...«

Bon! Abgemacht! – Ich will mich ein paar Wochen lang »einer geregelten Lebensweise befleißigen«, Philister sei« unter Philistern, eine ländliche Pfeife rauchen, will mich abends mit den Hühnern zu Bett legen und morgens mit der Sonne aufstehen, über die grünen Hügel laufen, durch die taunassen Felder; will im Grase liegen, in den blauen Himmel starren und die Sonne mir auf den Pelz scheinen lassen; will vegetieren wie die roten Feldnelken und nichts denken; nichts, nichts denken... Ich werfe die Zigarre weg und schlage den Rockkragen in die Höhe, weil mich mit einem Male der Gedanke ängstigt, ich könnte mich erkälten. – Die Hände in den Überrock und nach Hause. Und morgen: fort, fort!...

»O Morgenluft! O Waldesduft! O güldener Sonnenstrahl!« ...

Nun ja! Alles ganz schön! Als mir aber der Bart einen Zoll lang aus dem Kinn geschossen war, weil es dem Ortsbarbier beliebte, zwar nicht zu streiken – in diesem empörenden Neste wurde nur konservativ gewählt –, aber am Delirium tremens zu leiden, und als ich an ein paar sternlosen Abenden nach einem Besuch bei dem Herrn Pastor, sonst einem liebenswürdigen alten Herrn, beinahe auf dem hochwohllöblichen Stadtpflaster ein paar Beinbrüche davongetragen hätte, da war mir die Sache über, gründlichst über...

Der Mensch muß ja nun heutzutage einmal Abwechslung haben...

Also weiter, weiter...

Zunächst aber beschloß ich, eine Sekundärbahn zu benutzen und meinem Heimatsorte, der in der Nähe lag, einen Besuch abzustatten.

Das war eine halbwegs sentimentale Anwandlung. Aber, lieber Gott! so ein Stückener fünfzehn Jahre mochte es her sein, daß ich das Nest nicht gesehen hatte. – Am Vormittag kam ich an. Der Zug – halb Güter-, halb Personenzug – entlud sich seiner sechs Passagiere; der Bahnhofsinspektor kroch aus seinem Bureau hervor, preßte sich die rote Mütze auf den Kopf und trug langsam seinen dicken Bauch am Zuge entlang. Ein paar italienische Hühner, die vor dem kleinen, neuen Backsteingebäude umherpickten, stoben gackernd auseinander. Die beiden Schaffner traten zusammen und staunten meinen Hut und Überrock an, der ihnen vielleicht außergewöhnlich neumodisch vorkam. –

Kaum hab ich ein paar Schritte getan, da regt sich mein Lokalpatriotismus. Nun haben wir hier auch eine Bahn!...

Aber ein Wetter? Köstlich!

Da liegt das Nest. Die roten Dächer im Gartengrün den Berghang hinauf übereinander aufgestapelt, übereinander hinweglugend. Vögel drüber in der blauen, goldigen Luft. Die drei Kirchtürme, die hohen grauen Schloßtürme vom höchsten Gipfel herab und die kerzengeraden Rauchsäulen in der blendenden Sonne. Alles genau so wie früher. Nur nach dem Bahnhof zu ein paar Bauplätze und ein paar neue Häuser. Nur da, ganz neu: ein paar längliche rote Backsteingebäude und ein weißblendender »Palast«. Ein Großhändler. Ein wirklicher, richtiger Großhändler. Ich lese das Firmenschild: H. Windesheim & Co. Glückauf! – Und nun trat ich durch das Tor, durch das »damals« noch der gelbe Postkutschkasten abends zwischen den blühenden Fliederbüschen auf der staubgrauen Chaussee gemütlich hereinhumpelte. Wie schön der Postkutscher immer geblasen hatte, wenn wir so neben der alten Karre hersprangen! Da sind die Gartenmauern mit dem übernickenden Grün, und da ist der »Goldene Bär« und der »Schwarze Adler«. Herrgott! Fünfzehn Jahre? Wirklich fünfzehn Jahre? Ich ... Hm! Kann man sich hier nicht irgendwo ein paar Zigarren kaufen? ...

So! Freilich: ländlich, schändlich! Aber ... Ja! Warum man nur heutzutage so über den Tabak räsoniert? ... So! – Der schöne blaue Rauch! Und nun um Gottes willen nicht sentimental werden! Denn »das hat gar keinen Zweck«! –

Ich stolpere, mit schweifenden Blicken, rauchend über das bucklige Pflaster mitten über den Fahrweg. Immer weiter und weiter.

Wenn mir jetzt ein alter Freund, ein Jugendbekannter, ein ehemaliger Schulkamerad, nun biederer Schuster, Zimmermeister oder Schlosser, begegnete und mich fragte, was ich für ein »Metier ergriffen« hätte? Das Herz klopft mir ein wenig.

Hm! Peinlicher Gedanke! Wie sollte ich mich ihm, unbeschadet meiner Reputation, verständlich machen?

Nein, ich will ganz allein so ein Stündchen, sozusagen inkognito, hier umherbummeln, ganz mutterseelenallein, mir still alles ansehen und mich dann wieder fortschleichen, hinaus zum Bahnhof.

Ich lese die Firmenschilder. Ja, nun merke ich doch: die Generationen haben sich ein wenig verschoben. Es kann aber auch sein, daß ich viele Namen vergessen habe.

Ein paar Leute gehen an mir vorüber. Ob Bekannte darunter sind? Niemand redet mich an, nur fremde Gesichter. Wie lächerlich klein die Häuser geworden sind! Richtig eingeschrumpft sind sie.

Ach, die kleinen Straßen! Hinauf und hinunter! Die Schwalben schießen zwitschernd an den grauen, gelben, weißen und blauen Häuserchen hin. Ein paar gelbflaumige Gänseküchelchen piepen auf dem Pflaster umher. Dort drüben sehen die weiten grünen Felder und Gärten in die Stadt herein; über die Dächer hinweg die blaue, sonnendunstige Ferne.

Ach, und so still! Wie still hier die Welt geblieben ist! Nur fernher rattert langsam, schläfrig ein Lastwagen. Unten schwatzen ein paar Nachbarn über die Gasse hinüber. Ich höre ganz deutlich, was sie sprechen; Wort für Wort.

Weiter. –

Hier haben wir Ball gespielt. Hier hab ich einmal einen Silbergroschen gefunden und ihn sträflich in Johannisbrot und Kirschen vergeudet. Hier haben wir gewohnt, und hier; und hier wurde ich geboren ... Ach, ach, ach – In dem kleinen Häuschen da noch der alte Buchbinderladen mit der schön waschblau gestrichenen Tür. Hier habe ich mir Neuruppiner Bilderbogen und Bleistifte gekauft. Ich trete ein. Eine alte Frau. Ich kenne sie sofort wieder. Ordentlich Herzklopfen bekomm ich. Ich mache einen kleinen Einkauf. Sie kennt mich nicht mehr. Natürlich ... Nein, anreden will ich sie nicht. Still weiter! – Und nun den alten Marktplatz hinauf. Da, der mittelalterliche Rathausturm mit der blauen Sonnenuhr. Dort oben wohnt noch der Türmer, der die entsetzliche Brandglocke läutete, wenn Feuer ausgebrochen war. Der Türmer, der abends immer so schöne Choräle über die stillen roten Dächer beruhigend in den schönen Feierabend hineinblies. Die Falken schrillten dazwischen, und die Schwalben schossen in langen, weiten Bogen um das spitze Schieferdach des Turmes, auf dem die Abendsonne lag.

Hier auf dem Markt versammelten sich in ihren grünen Röcken und steifen Tschakos mit den schwarzen Hahnfederbüschen – nur die Musik hatte rote – die Stadtschützen, wenn draußen vor der Stadt im Schützengarten hinter dem alten Schloß Mannschießen war. Das dauerte immer acht Tage. Jeden Tag zogen sie hinaus, und es war ein schönes, aufregendes Fest.

Wie spät? Was! In einem kleinen Stündchen hab ich das ganze Nest durchstreift und stehe vor dem anderen Tor. Da ist die alte Grabenbrücke. Durch Brennesseln und Scherben krochen wir Jungens hindurch in ein enges altes Gewölbe, das wir unter einem Garten aufgestöbert hatten. Hinten konnten sich gerade noch ein paar Sonnenstrahlen durch eine vergitterte Luke zwängen, die ein bläuliches Dämmerlicht gaben. Wir machten hier Rauchversuche mit Pfennigzigarren, lasen grellbunt illustrierte Räuber- und Indianergeschichten und unternahmen, von ihnen begeistert, allerlei Raubzüge in die Gärten und Schotenfelder der Umgegend. –

Und jetzt steh ich draußen auf den grünen Bergen. Die Wolfsmilch blüht wie früher zwischen den Kalksteinen, und die frische Luft weht immer noch über die Gräserchen und Hungerblümchen, die sich zwischen dem Geröll hervorzwängen. Immer noch taumeln die weißen und gelben Schmetterlinge drüberhin, und unten im Tale fließt der Bach zwischen Wiesen und Gärten und stürzt über die brausenden Mühlwehre.

Und dort auf der Anhöhe das Schloß. Der Marterturm, der alte, riesige graue Wachtturm, die hohe Schloßkirche. Die dicken, ungeheuren, unverwüstlichen Wallmauern, zwischen denen Ebereschen und Vogelbeeren hervorbrechen. Weit, weit dehnen sie sich in die Runde. Tief der alte Wallgraben mit Gras und Gebüsch, hier und da voll Geröll und Mauerstücken. Die tiefen schwarzen Schießscharten. Die Brücke und das Tor mit den Wappen und Kruzifixen und den steinernen, knienden Rittern davor.

Da oben zwischen dem alten Mauerwerk kletterten Und spielten wir umher. Hab ich keinen Bekannten, keinen Freund mehr hier? Nein, nicht einen einzigen. Nur Erinnerungen und ein paar Gräber. –

Und wieder streif ich durch das Nest, bis ich zu einem Gäßchen komme. Zwischen alten Scheunen und halbzerfallenen, gelbbraunen Lehmhütten mit verwitterten Strohdächern schlendere ich hinauf, auf die Friedhofskapelle zu. Oben im Dachstuhl, frei in der Frühlingsluft, die alte grünspanige Friedhofsglocke, umspielt von Sonnenschein und Schmetterlingen im Gebälk. Und unten davor die uralte mächtige Linde, die mit ihrem zerklüfteten Wipfel das Ziegeldach überragt. –

Jetzt bin ich oben. Rechts und links zweigt sich die Scheunengasse weiter, und rechts und links von der Kapelle aus auf der anderen Seite, lang, weit die hohe Friedhofsmauer.

Ich stehe vor der Kapelle. Unter den vier Bogenfenstern an den beiden Seiten des breiten Tores – »Eingang zur Ruhe« haben sie darüber gemalt – stehen in altfränkischer Schrift Sprüche eingegraben. Ich suche sie zu entziffern.

»Hier seynd viel dausend neingeschiegt und warden auf das Jüngste Gericht«

heißt der eine. –

Es ist so still und so einsam, so totenstill hier. Nur die Linde raunt ununterbrochen, und die Bienen summen leise dazwischen umher. Die sonnige Luft, so warm und schläfrig. Mücken und große stahlblaue Schmeißfliegen darin hin und her. Ein schimmlig modriger Geruch von dem Müll und Schutt an den Scheunen hin.

Ich starre auf die dunklen Fenster, und mir ist, wie damals immer, als müßte auf einmal von drinnen heraus aus der grabesstillen, feuchtkühlen Finsternis ein weißer Totenschädel durch die blinden, spinnwebüberzogenen Scheiben grinsen. Ich schreite auf das massive Eisengittertor zu. Wie oft, mit einer, war ich da hindurchgeschritten. – Es ist recht rostig geworden. Wie ich auf die Klinke drücke, kreischt ein Ton schrill und scharf in die sonnenheiße Mittagstille. Es ist zugeschlossen. Hier ist kein Eingang mehr. Ich gehe ein Stück die Mauer hin und finde ein neues, sauberes Tor neben einem neuen Leichenhause. Ich schreite hindurch, und da merk ich erst, daß ich noch immer diese dumme Zigarre im Munde habe. Schnell laß ich sie hinter meinem Rücken zu Boden gleiten. Ein unerklärliches Gefühl von Scham, Angst und Sehnsucht überkommt mich, und zitternd, mit klopfendem Herzen tret ich ein. Mir ist, als sollt ich in den nächsten Augenblicken von jemand, von einer verhört werden, als sollt ich Rechenschaft ablegen über all die Jahre. – Kein Mensch da. Ich bin ganz allein auf dem weiten, stillen, sonnigen Friedhof.

An dem halbversunkenen, regenverwaschenen Kapellentor schleich ich vorbei, unwillkürlich einen Augenblick auf den Zehen. Es ist hier schattig von Bäumen, und das alte Gemäuer haucht einen kühlen Moderduft aus.

Ich sehe rechts hinüber. Der alte Ahorn. Da ist das Erbbegräbnis. –

Nein! Ich kann noch nicht gleich so hingehen. Es würgt mir in der Kehle, und es ist, als ob mir die Augen feucht würden. Ein so dummes, sonderbares Gefühl. Die ganzen Jahre her: nein, wohl kaum ein einziges Mal ist mir so zumute gewesen. –

Ich gehe vorbei und schreite zwischen den Gräbern entlang die gelbsandigen, buchsbaumumfaßten Wege hin. Die Sonne blinkert auf der Goldschrift eines Marmorsteins. Überall Grabmäler. Hohe, niedrige, breite, schmale. Uralte, sargähnliche; grünübermoost. Eine Säule mit einem goldumfransten, steinernen Mantel drüber. Zwei verschlungene Hände. Zwei umgekehrte Fackeln, gekreuzt. Eine vergoldete Schlange, die sich in den Schwanz beißt. »Das Symbol der Ewigkeit«, hatte sie mich damals belehrt, als sie mich fast täglich mit hierher nahm und ich über die grünen Gräber weg nach den bunten Schmetterlingen haschte, den Admirals, den Trauermänteln, Totenköpfen und den gelben Buttervögeln ... Dort eine wetterverwaschene Grabschrift. Naive Verse, die mit dem »Wiedersehen da drüben« trösten. Die alten, dunkelgrünen Lebensbäume und die hellgrünen Trauerweiden. Birken und Tannen. Goldlack und fliegendes Herz. Rosen und Nelken und Jelängerjelieber. Dazwischen verblichener, silbergrauer Flor um einen welken Kranz. Blumen und Grün, überall Blumen und Grün in der bienensummenden, duftschweren Mittagschwüle. –

Hier standen die alte Mauer und die Pflaumenbäume. Wie oft hatte ich in den Ästen gehockt, während sie da drüben auf der grüngestrichenen, sauberen Lattenbank unter dem Ahorn vor einem Grabe saß ...

Und hier, an dieser Stelle, muß es gewesen sein, wo einmal eine kleine Schar Leute im Kreise um etwas herumstand. Es war ein Mann, lang und starr über ein Grab hin. In der Hand hatte er eine Pistole, und da, wo der Kopf sein mußte, hatten sie ihm eine blaue, verwaschene Schürze übergedeckt ... Es fällt mir wieder ein. – Hier die Mauer, an der er dann eingescharrt wurde. Drüberhin kann man weit über die Felder und Hügel hinsehen. –

Alles streicht an mir vorbei wie im Traume; und endlich steh ich unter dem Ahorn und sinke auf einer alten, regenverwaschenen Bank nieder. Sie ist wacklig und hier und da ausgebessert.

Vor mir drei efeuüberwucherte Gräber und ein schlichter Sandstein in Form einer aufgeklappten Bibel. Auf dem einen Blatte ein Bibelspruch, auf dem anderen ein Name und ein paar Daten. Und da drunter liegen ein paar morsche, braungraue, schmutzige Knochen und ein goldenes Ringelchen ... Weiter nichts! –

Du? ... Das bist du? ...

Und doch – Was, »und doch«? – Ja, und doch ist etwas so lebendig in mir: all diese Erinnerungen.

Wie wunderlich das ist! Alle die Erinnerungen von dem, damals, da unten zwischen den grünen Bäumen und roten Dächern; und von dem hier oben, wenn ich hier neben ihr saß in meinem blauen Kittelchen und an ihrem guten Gesicht hing. –

Eine kommt nach der anderen, und ... allmählich werd ich so wunderbar müde von dem einschläfernden Bienengesumme ringsum und der warmen Sonne und dem Blumenduft und dem leisen, wispernden Rauschen über den ganzen Friedhof hin, so wunderbar müde ...

Als ich nachher wieder draußen vor der Kapelle stand, fühlt ich mich sehr frisch und heiter. Ich summte sogar vor mich hin. So entschlossen war ich, beinahe übermütig. – Zwei Männer kamen mir entgegen, die Friedhofgasse herauf. Sie bogen um die Ecke und gingen an den Scheunen hinunter. Der eine kam mir so bekannt vor.

Donnerwetter! War das nicht der »lange Hirsch«?!

Jawohl! Aber er hatte recht gemischtes Haar bekommen. So die Couleur »Kümmel und Salz« ... Er schlenkerte immer noch so mit den Armen, wenn er sprach.

Ich sah ihm nach und lachte.

Der einzige Bekannte, den ich wiedergetroffen hatte.

Er war ein Allerweltsmacher. Sozusagen der Spaßmacher der ganzen Stadt, mit bei allen dummen Streichen. Oft hatte er schönes Geld; aber dann vertrank er's bis auf den letzten Pfennig, denn er konnte kein Geld leiden.

Einmal hatte ich ihn, hoch zu Pferde, in einer kakelbunten, phantastischen Uniform, einen dreieckigen Hut mit einem riesigen Federbüschel auf dem Kopfe, vor einer aufgeputzten Schar unter Trommel- und Pfeifengetön über den Markt zum Tore hinaus in die Berge reiten sehen.

Es war irgend so ein Frühlingsspiel.

Der lange Hirsch hatte mich damals immer sehr interessiert.

*   *   *

Gegen Abend saß ich wieder auf der Bahn. Vor mir, in der Richtung, in welcher der Zug fuhr, lag bereits das Abendrot am Horizont hin über den Feldern.

Ich saß ganz allein im Coupé. Ich lehnte mich zurück, drückte mich in die Ecke und kniff die Lippen und Augen zusammen, um die Empfindungen im Zaum zu halten, die in mir umherrumorten.

Ich sah ein anderes Abendrot. Breit, qualmig von Kohlendunst, sich in den blaßblauen Himmel verlierend, und hohe blaugraue Häusermassen schieben und zacken sich breit hinein, und ich höre ein Rauschen und Brausen, rastlos lockend wie Meeresbrandung. Weiße elektrische Monde seh ich, breite Straßen mit der Pracht zahlloser Schauläden, wie aus Licht gewebt, rollende Wagen und alle die Menschen, diese sonderbaren, unruhigen, hastenden, hoffenden Menschen ...

Noch eine Weile will ich mich hier draußen im Lande herumtreiben, wo die Welt so still und langsam geht.

Wie lange aber wird es dauern und ich muß wieder hin. Ich muß, und sollt ich ersticken in diesem rastlosen, unbarmherzig vorwärtstreibenden Strudel. Ich muß. – Die Sehnsucht wird mich treiben. Die Sehnsucht? Wonach? ...

Rendezvous

Inhaltsverzeichnis

Ein wenig blasiert, ein wenig müde, kam ich hierher in dieses Nest.

Ein ganz gewöhnlicher Marktflecken, mehr Dorf als Stadt, einen Talkessel in die Höhe liegend, zwischen Gartengrün und Wald, bei einem See.

Ein ganz simples Nest. Aber ich begegne hier keinem Menschen, denn für regelrechte Touristen ist es doch ein wenig zu langweilig. Gott sei Dank! Ich meinerseits habe hier Luft, Licht, Sonne. Das ist für mich die Hauptsache. Und dann macht sich der sterntropfende Nachthimmel hier über diesen winzigen Baracken und bemoosten Scheunendächern ebenso schön wie anderswo.

Aber eins nötigt mir zuweilen ein resigniertes Lächeln ab. Ich genieße hier. Ja! Ich genieße alles. Bis zum Kleinsten. Einen Buchenwipfel, vom Sonnenlicht durchzittert; die lärmenden Spatzen auf der ungepflasterten Gasse; ein Huhn, das im Grase pickt; die Bienen, die in den Kirchenlinden summen; einen Schmetterling über die Blumen am Feldrain hin. Aber ich genieße das alles als Kontrast, als etwas Heiteres, Niedliches, Lichtes, Sonniges gegen einen gewaltigen, düsteren Hintergrund. Es ist noch so etwas wie Raffinement in meinem Genuß; er ist nicht unbefangen. Ich genieße wie einer, der einer Krankheit entronnen ist, wie ein Genesender. Nun immerhin: wie ein Genesender ...

Ob das wohl jemals anders sein kann? Ich meine: ob man wohl noch einmal ganz, ohne Rest, im Leben, in einem großen Glück aufgehen kann? Besinnungslos? Fortgerissen? – Ganz Kraft, ganz Leben, ohne des »Gedankens Blässe«?

Wenn ich mich recht zurückbesinnen kann, so war das wohl früher einmal. Es ist aber nun schon recht lange her. Ein einziges großes Fest war damals das Leben und ließ kein Reflektieren aufkommen; kein Reflektieren ...

Ach was!

Wie herrlich der Mond dort voll über den Bäumen steht! Zudem: heute hab ich ja ein Rendezvous. Ein nächtliches Rendezvous ...

*   *   *

Wie spät? Gegen zehn. –

Es ist so hell, daß ich's hier, beim offnen Fenster, erkennen kann.

So! – Und nun schnell das Jackett über, den Hut. Zum Fenster hinaus. Leise durch den schönen, hellen Garten. Über den Zaun, mit einem Satz.

Die Ungeduld! – Und sie wird mich doch noch ein Weilchen warten lassen.

Aber wenn ich hier langsam so an den Gärten hinbummle?

Alles schon tot. Nirgends ein einziges rotes Licht zwischen den schwarzen Bäumen durch. Wie das Mondlicht drin flimmert! Wie sie sich in den weiten klaren Himmel zacken!

Fern, fern vom anderen Ende der Stadt kläfft hell ein Hund in die mondglimmende Nachtluft hinein. Rein und klar jeder Ton. In einem fort. Aus dem Inneren, vom Markt her, schläfrig, behaglich das Kuhhorn des Nachtwächters. Von Zeit zu Zeit, immer wieder. Jetzt hier, jetzt da. – Das Kirchglöckchen: zehn zitternde, silberhelle, friedliche Töne.

Die wunderfrische, schöne Nachtluft! – Ah! Man kann aufatmen, aufatmen, aufatmen! –

Dort, weit am Horizont, verschimmern die graugrünen, wogenden Felderflächen in den Mondglast. Die Sterne tropfen drüberhin. Unzählig! Unzählig! – Schwarz kraust sich die Waldung drüben den Berg hinan mit breiten, langen, mattsilbernen Lichtflecken drüber und silbernem Gekräusel. Und der Bach rauscht den Hang herunter; rätselhaft, wie raunend. Verschwimmende, ungewisse Töne. Wie Stimmengewirr, bänglich. – Unruhig bleibt man stehen und lauscht, als könnte man Worte hören, irgendwelche Worte. Aber aus den dichten Gärten schluchzt eine Nachtigall; weithin, lang, süß. Beruhigend, traulich. – Lächelndes Sinnen überkommt einen.

Husch, husch! – Eine Eule! Weich, samten über den mondlichten, staubigen Grasweg hin. Zwischen den Gärten kreischen Katzen. Von Zeit zu Zeit ein flinkes, zierliches, sich entfernendes Rascheln in den Zäunen hin, wie in Windungen. Blumen glimmen von den hellen Beeten her. Und hier stehen sie am Weg entlang; wild, in breiten bunten Flecken; regungslos ...

Weiter! Immer hier an den Zäunen entlang.

Hier der Kirchberg.