Der weiße Song - Mark Daniel - E-Book

Der weiße Song E-Book

Mark Daniel

0,0

Beschreibung

Auf einer Musikkassette aus den 1980ern entdeckt Andreas einen mitreißenden Song einer verschollenen Rockband. Zu seiner Verblüffung findet sich im weltweiten Netz keine einzige Spur, und selbst die größten Musikfreaks müssen ungläubig kapitulieren. Die Jagd nach den Urhebern des „Weißen Songs“ zieht enorme Kreise. Und dann ist da noch eine verschüttete Erinnerung, die ans Licht drängt … Mark Daniel verhandelt mit seinem Roman die Suche nach einem mysteriösem Stück Musik – und nach Orientierung von Ü-Fünfzigern in einer Zeit, in der sich Kommunikation, Geschlechterverständnis und Werte ändern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 369

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

Impressum 

Mark Daniel»Der weiße Song« 

1. Auflage 

www.edition-winterwork  

© 2021 edition-winterwork  

Alle Rechte vorbehalten 

Satz und Layout: edition winterwork 

Umschlag: sk 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

Der weiße Song 

Mark Daniel 

 

Auf einem Mixtape aus den 1980ern entdeckt Andreas einen vergessenen Rocksong wieder. Seltsamerweise können weder Apps noch Suchmaschinen das Stück identifizieren. Bald verlagert sich die Fahndung in die sozialen Medien, doch auch die größten Musikfreaks und -Communities kommen dem Rätsel nicht auf die Spur. Die Jagd nach Hintergründen zum „Weißen Song“ zieht immer weitere Kreise, und manche Mitsuchende bringen Andreas auf unterschiedlichste Art in Bedrängnis: ein YouTuber zum Beispiel, der den Ruhm als Entdecker für sich beansprucht. Außerdem eine Reporterin, die das Kuriosum journalistisch ausschlachten will und ihn auch sonst ziemlich nervös macht. Und dann ist da noch eine tief verschüttete Erinnerung, die ans Licht drängt… 

 

Mark Daniel, der den Song tatsächlich auf einem seiner Mixtapes entdeckte, verhandelt in seinem Roman nicht nur das Mysterium um ein Lied. Es geht um die Suche nach Orientierung eines Ü-Fünfzigers in einer Welt, in der sich Kommunikation, Medien, Geschlechterverständnis und Werte ändern.  

 

 

 

 

Mark Daniel, Jahrgang 1967, wuchs im westfälischen Witten auf und studierte in Bochum Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet er bei der Leipziger Volkszeitung, ist Autor von Kabarett- und Theater-Texten, Hörspielen und Büchern. 2015 erschien die Satire „Schnauze Ossi“ (mit Jürgen Kleindienst, Gütersloher Verlag), 2018 die Reportagen-Sammlung „Rock'n'Roll 4evermore“ (Eulenspiegel Verlag). Mehr Informationen stehen auf www.markdaniel.de.

 

 

 

 

 

 

 

I tried once 

 

Gott ist tot. Die Eilmeldung seiner News-App pushte sich auf sein Handy. Nun gut, sie war abzusehen gewesen. Schon seit Tagen, so verbreiteten die Nachrichten, war es ihm schlecht gegangen. Jetzt also die Erlösung, und die Jüngerinnen und Jünger waren untröstlich. Karel Gott war gestorben. Zu etwa 95 Prozent ließ Mütze das kalt. Er gehörte nicht zu denen, die alle Remixes von „Biene Maja“ auf Platte und CD im Schrank hatten. Die fünf Prozent Bestürzung speisten sich lediglich aus dem Gedanken: „Wieder eines weniger von den Gesichtern, die das Kindsein bestimmt haben.“ Nun konnte Gott da oben bei Dieter Thomas Heck auftreten.  

 

Ein ungehaltenes Räuspern schreckte ihn auf.  

„Herr Bachenbreder?“ 

Mütze blickte ertappt lächelnd von der Nachricht wieder ins Gesicht der Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs aus einfallslosem Büroweiß.  

„Geben Sie mir mal Fahrzeugschein und Führerschein, bitte?“, schnarrte die städtische Angestellte. 

Er fummelte die geforderte von seinen gefühlt 85 Plastikkarten aus dem Portemonnaie und schob sie rüber zu der selbst für Rathaus-Zugehörige bemerkenswert schlecht gelaunten Endfünfzigerin in blasslila Rüschenbluse mit Nana-Mouskouri-Brille. Lebte die Mouskouri eigentlich noch?, fragte er sich. 

Ihr miesepetriges Double tippte auf der Tastatur herum. Mütze las das Muster der billigen, weißen Strukturputz-Tapete hinter ihr. Sah aus wie eine riesige Fläche ausgetrockneter Rinnsale und kleiner, rissiger Inseln auf weitem, völlig verdörrten Boden. 

 

„Fürs Parken sind Sie hier falsch“, schrapnellte die Frau. 

„Äh, wie bitte?“ 

„Die Adressänderung auf dem Personalausweis ist kein Problem, aber die Parkbescheinigung gibt‘s nicht im Bürgeramt, sondern im Technischen Rathaus.“ 

Hörte er da eine leichte Häme heraus? 

„Wieso das denn, es geht doch ums Anwohnerparken?“, fragte Mütze. 

„Richtig“, sagt die Mouskouri für Arme, „aber das wird in Ihrer Straße neu eingerichtet und heißt in diesem Fall Bewohnerparken. Dafür müssen Sie ins Technische Rathaus.“ 

„Sie wollen mich doch...“. Er riss sich zusammen. „Sie machen Witze, oder?“ 

„Sehe ich so aus?“ Plakativ arktische Gesichtszüge. 

„Wollen Sie mir sagen, ich hab mir hier also ne halbe Stunde lang umsonst den Hintern plattgesessen?“ 

„So würde ich das nicht formulieren. Für Sie gilt jedenfalls Bewohnerparken. Dafür müssen Sie ins Technische Rathaus.“ 

Wahrscheinlich hatte sie diese roboterhafte Belehrung schon Hunderte Male abgelassen. Konnte aber doch nur eine ganz miese Verarsche sein. Mütze guckte sich um. Wo war die versteckte Kamera?  

„Okay, fantastisch“, grummelte er. „Welche Öffnungszeiten hat das Technische Rathaus denn heute?“ 

Seufzend und mit ostentativem Widerwillen blätterte die Gute ihre Behördenbroschüre auf und blickte mit einer Andeutung von Lächeln an. 

„Heute ist geschlossen.“ Ihre linke Augenbraue zuckte wie zur Betonung. 

Mütze rollte mit den Pupillen. „Nee! Das stimmt nicht wirklich?!“ 

„Heute ist Mittwoch, und da ist geschlossen. Im Technischen Rathaus.“ 

„Ich fass es nicht! Ich hab heute extra frei genommen!“ 

Das stimmte zwar nicht wirklich, aber ein bisschen Drama und ein schlechtes Gefühl hatte sich die Amtsziege verdient.  

„Das tut mir leid“, kam es so herzzerreißend einfühlsam zurück wie das „Fahr‘n Se mal rechts ran!“ bei Fahrzeugkontrollen.  

Mütze stand auf. „Na, immerhin habe ich Ihre zauberhafte Bekanntschaft gemacht“, zischelte er, „haben Sie nach Feierabend schon was vor?“ 

Die Olle verengte die Augen. „Ja, das hab ich – irgendwas ohne unverschämte Kunden wie Sie.“ 

Mütze holte Luft und dann zum vernichtenden Schlag aus. „Blasen Sie alles ab, denn ich hab eine brandneue, erschütternde Nachricht für Sie: Karel Gott ist tot!“ 

Wütend stapfte er davon, schaute sich aber noch einmal um. Mouskouri für Arme sah ihm starr und mit geweiteten Augen hinterher. Beim Aufreißen der Ausgangstür meinte er, ein kurzes Schluchzen zu hören. 

 

 

Aus den modrigen Katakomben der Erinnerung zwängte sich eine Stimme hinauf. „It‘s a night of horrors“, krächzte der Sänger. „Where the demons get out.“ Eine Gitarre raspelte dazu. Da kündete einer das pure Grauen an, Verderben, die Hölle, das Ende! „Close the door and be quiet. Cause they‘re crying for blood.“ Kam noch verdammt gut. Und das, obwohl die Aufnahme leierte wie Sau. Die Folge eines Bandsalats, den die Musikkassette nur mit vielen Blessuren überlebt hatte. Mütze zog das vergilbte Einlegeblatt heraus, das jahrzehntelang in der zerkratzten, ehemals durchsichtigen Hülle gewohnt hatte, und schmunzelte. „Cutty Sark: Die Tonight“ war nur noch blass zu lesen, in der Klaue eines Schülers, der für seine Handschrift stets eine Vier im Zeugnis stehen hatte. 

Das Mixtape aus Radiomitschnitten war über 35 Jahre alt. Älter als der Mauerfall, älter als die erste Love Parade und älter als der Skandal im Sperrbezirk. Andreas Bachenbreder, genannt Mütze, hatte das Ding mit einer Faszination in der Hand gehalten wie Ägyptologe Howard Carter die Maske Tut-ench-amuns. Hatte sich nach dem Misserfolgserlebnis im Bürgeramt hinter seiner Barrikade aus Umzugskartons verschanzt und ans Ausräumen gemacht. Inzwischen war es früher Abend, doch seit zwei Stunden schon hatte Mütze außer Weiteratmen jede Tätigkeit eingestellt. Seit der Inhalt der staubigen Pappkiste aufgetaucht war. Vier Umzüge hatte sie überlebt, ohne jemals bei einem einzigen ausgepackt worden zu sein. 

„Was jahrelang ungeöffnet im Keller stand, gehört in den Müll!“ hatte seine Mutter immer behauptet. Zumindest in diesem Fall lag sie falsch, denn Mütze hatte einen vergessenen Schatz gehoben: seine Kassettensammlung. Und wenn auch der CD-Player den Geist aufgegeben hatte, das Fach für die Tapes funktionierte noch. Cutty Sark. Das war für viele eine Whiskey-Sorte, deutlich weniger wussten um die gleichnamige Band, um das deutsche Metal-Flaggschiff der frühen 80er aus Bonn. Kannte irgendjemand auf diesem verdammten Planeten noch Cutty Sark? Oder die Rockröhre Lee Aaron? Ihr „Deceiver“ wütete als nächstes Stück. Auch nicht übel. „A very sexy lady indeed“, lechzte der Sprecher des britischen Radiosenders BFBS zu den letzten Riffs. Würde er das heute rausplautzen, hätte er eine Klage wegen Sexismus am Hals.  

Davon abgesehen nervte der Typ damals schon wegen seines Reingelabers zum Song-Ende. Ob er zur Heavy Metal Show oder zur Monday Rock Show gehörte, daran konnte sich Mütze nicht erinnern. Jedenfalls hatten diese gottverdammten Moderatoren schon immer ihren Kommentar oder die Chartplatzierung beim Ausblenden dazu gegeben, und Generationen von Mitschneidenden hätten sie dafür gern aufs Rad geflochten, bis sie sich drehten wie eine LP! 

Mütze erinnerte sich an vor Jahrzehnten entsorgte Mixtapes, deren Trackliste er noch immer und für immer gespeichert hatte, samt Zwischenmoderationen. Auf einem raste Freddie Mercury mit seinen Queen zu „Don‘t Stop Me Now“ über die Energie-Autobahn, dann schnurrte Mal Sondock ein am Ende abgeschnittenes „Da geht die Post ab, das waren ---“ hinein, bevor der Sänger von Faithful Breath „A Million Hearts“ den Hörer beschwor, gefälligst zu warten, denn noch war er derjenige, der die von allen begehrte Lady an der Angel hatte. Faithful Breath, damals neben Franz K. die einzige Band aus seiner Heimatstadt Witten, die es zu Ruhm über die Komposthaufen der Ruhrgebiets-Schrebergärten hinaus gebracht hatte. Nach „A Million Hearts“ piekste übrigens umgehend das Synthie-Intro von Visage ins Ohr – „Fade To Grey“. Nun ja, war halt ein Mixtape. 

An diese Kassette hier konnte sich Mütze allerdings nicht erinnern. Deswegen zwang ihm der nächste Titel ein Schmunzeln ab. Ziemlich krude Mischung, die er damals auf die zweimal 30 Minuten gebannt hatte. Hazell Deans „Searching“ bahnte sich seinen Weg. Zuckerwattenpop der simpelsten Sorte. Peinlicher waren nur die Pappköppe von Modern Talking. Der Einzug des Lipgloss ins Popgeschäft, optisch wie musikalisch. Und dieses eunuchenhafte „Cheri Cheri Lady“ klebte für Mütze bis in alle Ewigkeit an der unglaublichen Brünetten, mit der er in der Schul-Disco getanzt und sich schlagartig in sie verschossen hatte. Nach allen Regeln seiner begrenzten Kunst hatte er gebalzt wie ein Auerhahn. Eine Woche später hatte sie ihn mit dem Arsch nicht mehr angeguckt. Halb so schlimm, in dieser Zeit entliebte er sich schneller als Lucky Luke schießen konnte. Auf einer Freitagabend-Party konnte er einem Mädchen begegnen, für das er durch Hölle, Fegefeuer und jede Mathestunde gehen würde. Kein anderes weibliches Wesen würde ihn jemals wieder auch nur ansatzweise so entflammen können wie dieses. Diese Erkenntnis hatte eine Halbwertzeit bis zum nächsten Samstag, an dem ein Typ aus der Jahrgangsstufe seine Cousine aus Dingenskirchen mit auf die nächste Fete nahm. Die Ewigkeit konnte ein erstaunlich frühes Verfallsdatum haben, wenn Geilheit mit Liebe verwechselt wurde. War halt so zwischen 15 und 18. Auch bei Mütze, der jedoch damals kein Abschlepptyp war, sondern eher der Gefühlige, der Irritierbare, der noch nicht so richtig wusste, wohin ihn seine emotional-hormonellen Achterbahnfahrten führten. 

Als nächstes pumpte „Happy Children“ von P. Lion die Synthies durch den Lautsprecher, im Finale zerlabert von WDR-Discjockey Mal Sondock, amerikanischer DJ-Held von damals. Die 80er Jahre – ein ungemein prägendes Jahrzehnt besonders für alle, deren Hauptbeschäftigung in dem Zeitraum die Bekämpfung von Akne und Eltern-Dominanz war. Grauenvolle Mode, Knight Rider und Diese Drombuschs, Tschernobyl, Pet Shop Boys, ein Schauspieler als US-Präsident und kein einziges Deo, das den eigenen Iltis-Geruch komplett überdeckte. Die 80er – die Zeit, in der Fußballprofis noch deutlich älter waren als er. Überhaupt schien ihm die Liga als der deutlichste Indikator dafür, wie schnell sich die jeweilige Gegenwart erledigte: Als er das Alter der meisten Spieler erreichte, entschädigte ihn, dass die Trainer noch massig viele Jahre vor ihm lagen. In der nächsten Stufe sorgte Manni Burgsmüller für Trost, weil er noch mit 40 für Geld vor das Leder trat. Undsoweiter, Inzwischen waren Mützes Jahrgänge Sportdirektoren oder Vereinspräsidenten. 

 

Ein Song riss ihn aus seinem Gedankenstrom. Beim nächsten Stück preschten ein treibendes Schlagzeug, Keyboards und eine sirrende Gitarre gleichzeitig los, dann lud eine Stimme durch. Die miese, gurgelnde Qualität des Tapes wickelte dem Frontmann zu Beginn ein paar mal ein Handtuch um den Mund, ehe er sich davon befreite. Trotzdem verstand Mütze kaum eine Zeile, bis der Refrain warnte: „Hold on, hold on!“ Ganz schwach hob ein Wiedererkennen Mützes Augenbrauen. Ging flott ab, der Song. Coole Melodie und vernünftig Druck auf dem Kessel, wenn auch kein besonders auffälliger Abzweig vom Mainstream der frühen 80er. Trotzdem ein spannendes Wiederhören. Vielleicht ja doch kein so schlechter Tag heute, dachte er.  

„I tried once, I tried twice, no goodbye, no sacrifice“. Das gefiel ihm. Aber war da nicht noch etwas? Irgendwo tief unten in seinem Gedächtniskeller, in der Hirnkammer frühjugendlicher Erinnerungen, regte sich bei diesem Stück etwas. Ein kaum merklicher Schimmer, der mit kurzen, hellen Streifen auf einen Halbschlaf fiel, aber sofort wieder verschwand. Und keine Ahnung, ob die Assoziation mit etwas Unbekanntem eine gute oder eine schlechte war. Er spürte bloß dieses Gefühl, das einem durch den Bauch schießt, wenn man merkt, dass man sich von zu Hause ausgesperrt hat. Seltsam.  

Sein Blick glitt zum Einleger: „Hold On“ stand da in jugendlich verblasster Schrift, deren endgültige Kalligraphie sich noch nicht gefunden hatte, und an der für den Interpreten-Namen reservierten Stelle bog sich ein Fragezeichen. Mütze hörte weiter. Der Sänger krächzte irgendwas von „fear“ und „so clear“. Alarmsirene bei der Geschmackspolizei! So etwas Abgenudeltes kannst du heute nicht mehr bringen, dachte Mütze, aber damals war das sicher erst die 30. Band, die diesen Reim gewagt hatte. Nach rund drei Minuten verlor sich die Musik erneut in einem Strudel aus Rauschen. Dann ein kurzes Fiepen – Stille. Fünf Sekunden später meldete sich plötzlich „Burn The Sun“ von Virgin Steele, dann die Türklingel. Mütze wunderte sich – schon der Paketdienst mit der Stehlampe, die er im Netz bestellt hatte? Seine Knochen schienen auf den Boden getackert. Ächzend hievte er sich aus dem Schneidersitz, überstieg die Kartons in der vollendeten Eleganz eines 95-Jährigen nach Oberschenkelhalsbruch und drückte den Türöffner. 

Eine Minute darauf stand Jörg vor ihm, in seiner Hand raschelte eine Plastiktüte. 

„Mööönsch, Mütze!“, rief Jörg grinsend, „Schon alles eingeräumt?“ 

Mütze knurrte. „Bin so weit, wie man kommen kann, wenn einem der beste Kumpel beim Umzug nicht geholfen hat.“ 

„Mönsch, Mütze!“ Jörg bemühte nochmal seine Standard-Ansprache die an einen Sprung auf der Schallplatte erinnerte, „Du weißt doch: Ich hab Rücken.“ 

Mütze winkte ab. „Schon gut. Wir sind halt alle keine 40 mehr.“ 

Das war noch stark untertrieben für Männer in einem Alter, für die bereits eine Ü-30-Disco einem Kindergeburtstag gleichkam. Jörg und Mütze teilten sich ihren Geburtsjahrgang mit Boris Becker, Kurt Cobain und Jürgen Klopp. Leider auch mit Markus Söder. Kann man sich halt nicht aussuchen. 1967 gewann Eintracht Braunschweig den Fußball-Meistertitel. 1967 verlor Benno Ohnesorg sein Leben. Und Mütze 52 Jahre später die Geduld: „Jetzt steht da nicht rum wie Pik sieben auf Gleis acht und komm endlich rein!“, brummte er Jörg an und schob einen Karton beiseite, um die Wohnungstür weiter zu öffnen.  

Was für ein bekloppter Spruch eigentlich, dachte Mütze, völlig aus der Zeit gefallen. Natürlich war er nicht wirklich sauer auf seinen Kumpel, denn das meiste Zeug hatte das Umzugsunternehmen geschleppt, es war nur um den Kleinscheiß gegangen, den Mütze in fünf Fahrten seines Kombi vorab in die neue Bude gebracht hatte. Immer dann natürlich, wenn Claudia nicht da gewesen war. Er hatte keine demonstrativen Dackelblicke über verschränkten Armen am Türrahmen gewollt, die das Scheitern einer Beziehung mit gespielter Teilnahme kommentierten oder pflichtschuldig fragten „Soll ich nicht doch mit anfassen?“. Nein, mit Anfassen war es eh vorbei, seit dieser Kollege von Claudia bei ihr damit angefangen hatte. Genauer gesagt: Seit Mütze davon wusste und damit zehn Jahre Beziehungslaufzeit gekündigt waren wie ein Handyvertrag.  

 

„Hab dir aber was Leckeres mitgebracht“, onkelte Jörg. Er raschelte zwei Döner aus der Tüte, bog dabei um die Ecke in das noch nicht als solches erkennbare Wohnzimmer und staunte. „Meine Fresse, wie sieht‘s denn hier aus?“ 

„Ich wurde aufgehalten beim Auspacken“, sagte Mütze lächelnd. 

„Wie heißt sie?“ fragte Jörg. 

„Wenn ich das wüsste.“ 

„Hey, spann mich nicht auf die Folter...“ 

„Ich hab keinen Namen.“ 

„Hier aus dem Haus?“ 

„Nee, aus meinem Archiv.“ 

Er zog die Kassettenhülle hervor und reichte sie Jörg, während er auf die Rückspultaste des Rekorders drückte. 

„Alter, sowas hast du noch? Das gehört ins Museum für Frühgeschichte. Ich hab meine Tapes vor 15 Jahren entsorgt.“ 

„Titel Nummer sechs“, sagte Mütze bloß. „Gefällt mir richtig gut, aber ich hab damals den Namen der Band nicht aufgeschrieben. Jetzt kannst du deine Fachkenntnis als Rock‘n‘Roller beweisen, du Lexikon.“ 

Zumindest in Sachen 80er-Rock galt Jörg in der Tat als Experte. Bei jedem der seit ein paar Jahren grassierenden Kneipenquizze war er eine sichere Bank, wenn es um die Dekade der saitenzerrenden Zottelköpfe, der Popper, Synthies und der Punk-Epigonen ging. Tauchte er bei einem Kneipenquiz auf, wusste die Konkurrenz, dass sie für ihn keine war und quasi vor der ersten Runde schon verloren hatte, wenn es um Gitarrensounds ging. 

Jörg kannte daher auch so gut wie alles, was jemals bei The Monday Rock Show oder der The Heavy Metal Show von BFBS, Wolfgang Neumanns Schlagerrallye (die so hieß, obwohl sie gar keine Schlager spielte) und Mal Sondocks Diskothek auf WDR lief. Ohne Wimpernzucken kramte er aus seinem Speicherplatz die Titel von One-Hit-Wondern hervor, kaum hatte er die ersten Takte gehört. 

Jörg erinnerte sich an Namen von Bands, die sogar deren Ex-Mitglieder inzwischen vergessen hatten. Beispielsweise wusste er ganz selbstverständlich nicht nur, wer 1984 mit „It‘s Not What I Mean“ die eigene Bedeutungslosigkeit weiter zementierte, sondern sogar den Namen des für die Musikgeschichte ebenfalls unerheblichen Albums: „Apocalypse“ von einer Combo namens Viva. Austauschbarer Mainstream-Rock, dessen Melodien auch Jon Bon Jovi hätten einfallen können. Den Bandnamen Viva zu googeln, war nicht nur wegen des gleichnamigen Musiksenders aussichtsarm. Diese Typen aus Hannover konnte heute einfach keiner mehr kennen. Außer Jörg und Mütze, denn die hatten die damals im Radio gespielten Stücke von Viva auf Kassette verewigt, Jörg schickte ihm vor Jahren die eigens umgewandelten mp3-Dateien. Inklusive Moderationsschnipsel natürlich.  

 

„Na, dann lass mal hören“, sagte Jörg, rieb sich vorfreudig die Hände und trug den lässigen Killerblick eines Elfmeterschützen, der sich nicht einmal die Ecke aussuchen musste, weil der Torwart eh nicht im Kasten stand. 

Mütze erwischte beim Rückspulen das Fadeout des Songs zuvor.  

„Boah, nee, Happy Children“, stöhnte Jörg nach nur zweikommanullachtvier Sekunden, bloß um sich warmzumachen für die folgende Aufgabe. 

Mütze lief rot an. „Das, äh...“ 

„Ach, lass mal“, sagte Jörg mit einer wischenden Handbewegung, „ich hab zu Hause sogar DVDs mit allen Teilen von ,Die Dornenvögel‘. Jeder hat seine Leichen im Schrank.“ 

„Nicht dein Ernst!“ 

„Mönsch Mütze, na klar, so ernst wie dein ,Happy Children‘! Zu sowas muss man stehen. Es gibt Rocker, die noch Plüschtiere neben dem Kopfkissen haben. Das sind tiefere Abgründe als Sado-Maso-Fantasien. Vergiss nicht, Michael Hutchence hat sich dabei aus Versehen stranguliert.“ 

Kurz-Klugschiss beendet – das Stück rumpelte los. Irgendwas mit „last cigarette“ und „you‘re alone“ war vom Frontmann nach dem Intro herauszuhören.  

Jörg packte den Döner aus, schlug die obere Zahnleiste ins Fladenbrot – und verharrte im Biss. „Ah!“, rief er nur hervor. Zum Kotzen, dachte Mütze, dieser Mistkerl hatte jetzt schon den Titel parat! Doch Jörg wurde wieder zum Stillleben, machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nee, doch nicht, ich dachte zuerst, es wäre was von Box of Frogs.“  

Nie gehört, dachte Mütze, als er nun ebenfalls das Alupapier vom Döner schälte und der große Unbekannte beim Refrain angekommen war. „I tried once, I tried twice, no goodbye, no sacrifice“. Oder so ähnlich. Jörgs Stirn warf Falten, eine nach zwei anderen. 

„Interessant“, murmelte er mit halbvollem Mund, „sagt mir noch nix. Erstaunlich! Klingt gar nicht so übel, Mann!“ 

Mütze nickte nur mit Zufriedenheit im Blick, weil Jörg doch tatsächlich passen musste. 

Zweite Strophe. „Mach mal kurz Stopp!“, sagte Jörg plötzlich. 

Mütze drückte die rote Taste. 

„Also?“ fragte er erwartungsvoll. 

„Das is‘n Ding! Keinen Schimmer! Ist mir völlig unbekannt.“ 

Bei Mütze wurde die Genugtuung ob der Ahnungslosigkeit von Schlaumeier Jörg einen Tick eingetrübt, denn wie sollte er nun an die Lösung kommen?  

„Einen Augenblick“, sagte sein Kumpel kauend, „das ist zwar unsportlich, aber jetzt frag ich das Netz.“ 

Mit der noch unfettigen Hand – an der linken floss schon die Kräutersoße in die Mulde zwischen Daumen und Zeigefinger – befummelte er sein Smartphone und rief das installierte Musikerkennungsprogramm auf. „Okay, kannst weitermachen.“ 

Die zweite Strophe bewegte sich auf den nächsten Refrain zu, Mütze sah Jörg über die Schulter. Auf dem Display flackerten die Farben wie früher die Lichtorgeln in den Kiefernmöbel-Partykellern von Jörgs Reihenhaus-Eltern. Beim Suchen warf die App wachsende Farbblasen, und endlich, endlich passierte etwas: „Sorry“, stand auf dem Display, „den Titel konnten wir leider nicht erkennen.“ Der Button darunter empfahl: „Erneut versuchen.“ 

„Gibt‘s ja wohl nicht“, sagte Jörg, „die App erkennt sonst alles. Den Song muss es doch geben!“ 

„Ich würde sagen: Ja, den gibt es“, bemerkte Mütze süffisant. „Ich hol uns mal zwei Bier. Der Kühlschrank ist nämlich schon angeschlossen.“ 

„Mönsch Mütze“, sagte Jörg, „hervorragende Idee!“ 

Als Mütze ihn nach der Rückkehr zwischen die Kartons fragte, ob er schon gehört hätte, dass Karel Gott tot sei, vergaßen sie die Fahndungsfortsetzung nach einem Song, der weniger Geschichte geschrieben hatte als „Fang das Licht“ oder „Babicka“. Was jetzt nicht unbedingt ein Ritterschlag für die Goldene Stimme aus Prag sein musste. 

 

 

Am Himmel streckten die Wolken ihre fetten, schwarzgrauen Bäuche heraus, so schmutzig, als hätte ein Automechaniker seine öligen Hände damit gewaschen. Der Dezember-Anfang war für neue Klima-Verhältnisse regelrecht kühl ausgefallen und die Erinnerung an das, was man früher Altweibersommer nannte ausradiert. Manchen rutschte der Begriff noch heraus, eigentlich aber hatte er es ins stetig wachsende Verzeichnis der Wörter geschafft, die man zu vermeiden hatte, wollte man keinen Protest bei vor allem jungen Frauen entfachen. Jedenfalls war‘s jetzt nicht mehr so warm wie wochenlang zuvor. 

 

Andreas Bachenbreder schloss den Briefkasten auf, an dessen Klappe immer noch das Stück Papier klebte, auf das er seinen Namen gekrakelt und das er mit silbernem Gaffaband befestigt hatte. Selbst ein halbes Jahr nach seinem Einzug in die Kochstraße hatte der Hausverwalter es nicht auf die Reihe bekommen, ein ordentliches Schild unter dem Sichtfenster und an der Klingel anbringen zu lassen. Ihm war es wurscht, so lange die Post ankam. Heute lag ein Umschlag mit Werbung vom Internetanbieter im Blechkasten. Warum der in regelmäßigem Abstand die Anwohner belästigte, obwohl die komplette Südvorstadt ohnehin mangels Konkurrenz Internet und Kabelfernsehen von dem Kommunikationsriesen bezog, war ihm ein Rätsel. Mütze kratzte sich ärgerlich am Kopf, dessen hintere Seite ein kleines, aber schleichend wachsendes Eiland blitzblanker Haut offenbarte, umgeben von einem Wald aus mittellangem, wellig-schwarzgrauen Haar, an dem das Baumsterben in Langzeitstudie zu beobachten war. Für Anfang 50 wirkte er optisch noch relativ frisch, fand er, vielleicht sogar spätjugendlich, höchstens wie Ende 40, zumal er sein Gewicht von 82 Kilo bei 1,83 Meter seit Jahren hielt. Immer wieder passierte es, wenn er die alte Heimat besuchte und ihm Gesichter von früher entgegen kamen, dass er sich fragte, warum die alle schon so viel älter aussahen als er. Wobei er die schlimme Befürchtung hegte, umgekehrt könnte sich das genauso verhalten. 

Dass in seinem rechten Knie ein niedliches Arthröschen wuchs, konnte ja keiner sehen. Und nur wer nebenan zeitgleich loslegte, konnte spüren, dass Mütze am Pissoir länger brauchte als früher. Was soll‘s, die paar Veränderungen nach einem halben Jahrhundert waren okay, so lange er weiter ohne große Beanstandungen durch den Tüv des Lebens kam. 

In den Seiten des Werbeblättchens hatte sich überraschend eine Postkarte versteckt. Auf der Rückseite der berühmten Draufsicht auf das alte Inkadorf Machu Picchu stand gekritzelt: 

„Hi Mütze! 

Läuft! 

Thorsten“  

 

An Ausführlichkeit nicht zu überbieten, der Freund und Kollege, Englisch-Pauker am selben Gymnasium wie er und acht Jahre jünger. Aber immerhin – eine Postkarte, keine Sammel-Whats-app aus einer Broadcast-Liste an 40 Empfänger mit dem Vermerk „Grüße aus Peru“, sondern ein handbeschriftetes Stück Pappe! Old School hoch drei, alle Achtung. Das hatte selbst der Vintage sehr lieb habende Mütze schon lange nicht mehr zu Stande gebracht. Ein Foto von Machu Picchu wäre schnell gepostet und ein vielfaches Begeisterungsecho damit programmiert. Ein bisschen neidisch wurde Mütze auf Thorsten schon. Peru stand bereits seit einer Weile auf seiner Reiseliste, aber entweder hatten Beziehungs-Wirren den Trip verhindert oder mangelnder Elan, allein zu reisen. Visum beantragen und all der Stress, och nee, das war ihm zu mühsam. Da urlaubte es sich auf Kreta doch viel leichter. Und eine Unannehmlichkeit war Thorsten nach seiner Rückkehr im Lehrerzimmer sicher: die Gardinenpredigt von Marie-Cathleen. Von wegen CO2-Verpestung und ökologischem Fußabdruck. Marie-Cathleen, 28, fuhr nur Rad, hatte keinen Fernseher, ernährte sich vegan und vermied Plastikmüll wie Herbert Grönemeyer Gesangsstunden. Sie unterrichtete eben nicht nur Kunst und Ethik, sondern privat auch Klimawandellehre, und zwar sowohl unbezahlt als auch unaufgefordert. „Thorsten, das kannst du echt nicht mehr bringen heutzutage“, würde sie motzen, „von Deutschland nach Peru, das sind allein für den Flug 2200 Kilo Schadstoff-Ausstoß, mal ganz zu schweigen von den Autofahrten und Übernachtungen und… “ 

„Ja, soll ich denn mit dem Rad dahin?“, würde Thorsten sie entnervt unterbrechen, „und unter freiem Himmel schlafen und mir jeden Furz verkneifen, bloß damit die CO2-Bilanz nicht abschmiert?“ 

„Mach einfach mal in Europa mit dem Zug Urlaub. Du glaubst nicht, wie schön das sein kann.“ 

„Ich lass mir doch nicht vorschreiben, wie und wo ich Urlaub mache, verdammt! Ich schindere wie ne Hafennutte und will in meiner Freizeit das tun, worauf ich Bock hab, ohne schlechtes Gewissen.“ 

Würde Thorsten das so sagen, hätte er gleich die nächste Abreibung wegen despektierlich-sexistischer Formulierung am Hals. Definitiv jedenfalls würde Thorsten poltern: 

„Es ist sowieso Quatsch, wir können nullkommanichts gegen den Klimawandel machen, so lange die Chinesen und die Amis mit ihren Kohlekraftwerken die Erde aufheizen. Da ist unsere Ersparnis rein gar nichts!“ 

„Typischer Whataboutism!“, würde Marie-Cathleen dagegen halten. 

„Whata-was? What?“ 

„Du bist doch der Englischpauker! Das Ablenken vom eigenen Fehler durch Verweis auf andere.“ 

„Na und?“ 

„Wäre also nicht so schlimm, wenn du einen Menschen umbringen würdest, wo doch Pinochet Zigtausende...“ 

„Hör auf mit diesem Vergleichs-Scheiß, ich bringe niemanden um.“ 

Und so würde das noch eine Weile weitergehen. Marie-Cathleen würde auf das Wachrütteln einer Greta Thunberg verweisen, Thorsten würde wettern, die Rotzgöre, die nicht mehr zur Schule ging und sich berühmt demonstrierte, sei ein rotes Tuch für ihn, überhaupt der ganze überzogene, aus dem Ruder gelaufene Wahn um den Klimawandel. Marie-Cathleen würde funkeln, ob er etwa auch zu diesen Bekloppten gehörte, die den menschlichen Anteil am Klimawandel leugneten und die AfD wählten und so weiter und so weiter. 

Irgendwann würde sie dann Mütze fragen: „Was meinst du überhaupt dazu?“ 

„Tja“. Mütze würde sich am Kopf kratzen und sagen, dass Thorsten ganz sicher nicht AfD wählte und das schon blöd sei mit der Erderwärmung und er hin- und hergerissen sei, weil er das mit der Fliegerei auch kritisch sähe. Aber auf der anderen Seite wäre er selbst gern mal in Peru und esse auch gern Fleisch und fahre immerhin im Sommer schon mal Rad statt Auto und so. 

Marie-Cathleen würde ihn mitleidig ansehen und sagen: „Ach Mütze, wie immer unentschieden. Komm aus deiner Bequemlichkeitsblase raus, positioniere dich doch mal, brenne für etwas.“ 

Das wäre schon eine ziemliche Frechheit, was diese lebensunerfahrene Göre sich anmaßen würde zu predigen. Also nicht die Greta, sondern die Marie-Cathleen. Da war er ja schon auf Vorrat sauer auf sie! Aber noch war es ja gar nicht soweit. Vielleicht würde die Kollegin auch einfach den Kopf schütteln und vorwurfsvoll murmeln:  

„Mütze, Mütze, Mütze.“ 

 

Mütze. Ein Nickname aus alten Tagen, weil sein Haarschopf so dicht gewesen war wie eine Schapka, also eine russische Pelzmütze. Eine ganze Weile war Andreas Bachenbreder in Leipzig von allen schnöde bei seinem Vornamen genannt worden, auf „Andi“ runtergekürzt. Bis zu dem Tag, an dem Jörg aufgetaucht war. 1994, zwei Jahre, nachdem Andreas aus dem Ruhrpott nach Sachsen gezogen war, folgte ihm sein alter Schulkumpel. Andreas hatte seinen Job als Deutsch- und Englischlehrer angetreten, Jörg bekam einen beim Planungsamt der Stadt.  

 

Mütze führte den Neuling ins Leipziger Leben ein, in ein spannendes, lebendiges, in dem die Anarchie, die fehlenden Regeln des sauber geordneten Westens fehlten, Partys in Abbruchhäusern gefeiert wurden und verbotene, nicht beherrschbare Autorennen mitten durch die Innenstadt führten. In der lange halbtoten Innenstadt sorgten bald neue Kneipen für ein sperrstundenfreies Leben. Eine aufrüttelnde, unruhige und unvergleichlich spannende Zeit, die ihn faszinierte und belebte. Ost-West-Gräben? Die wurden im weltoffenen Leipzig eher auf spielerische Weise ausgehoben und bei ein paar Bierchen wieder zugeschüttet. Über die geistreichen der Wessi-Witze konnte Andreas krampflos mitlachen. „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum“, hatte einer kichernd gereimt. „Weißt du, warum es im Osten nur 12 Schuljahre gab und bei Euch 13?“, hatte ein Kollege gefragt und gleich die Antwort geliefert: „Ihr hattet noch ein Jahr Schauspiel-Unterricht!“ 

Nun ja, dieser Unterschied sollte in den nächsten Jahren verschwinden, und nach ein paar Jahren hatten die Ossis das Schaumschlagen und Sich-Verkaufen-Können schon erschreckend gut gelernt. Lange her, der Feiertaumel. Wenn Jubiläen zu den legendären Montagsdemonstrationen, zu Mauerfall oder Deutscher Einheit anstanden, wurde der Zerfall der Bevölkerung in zwei Teile sichtbar. In die Nörgler, die die kalte Härte des Kapitalismus beklagten und sich in die scheinbare Zwischenmenschlichkeits-Oase DDR zurücksehnten und in die, denen die Friedliche Revolution noch immer als Symbol von Befreiung und neuer Lebensperspektive heilig war. Zu ihnen gehörten zwangsläufig die Wessis Andreas „Mütze“ Bachenbreder und Jörg Kaltenborn.  

 

Im Hausflur begegnete ihm die freundliche alte Dame, die unter ihm wohnte und deren Namen er sich noch nicht gemerkt hatte.  

„Guten Tag, Frau ...“ 

„Guten Tag, Herr Bachenbreder“, sagte sie mit breitem Sächsisch und genauso breitem Grinsen, das bedeutete: Ich kenn deinen Namen, aber meinen musst dir erarbeiten, den verrate ich dir nicht. 

Er schloss die Wohnungstür auf, legte Werbeblättchen, Postkarte und Kabelfernsehen-Post auf die Kommode, streifte die Jacke ab, warf sie über den Stuhl im Flur und stapfte gähnend ins Wohnzimmer. Die Wohnung war seit dem Umzug natürlich längst eingerichtet; pragmatisch, praktisch, gut. Hätten Möbel-Scouts einen Blick in Mützes vier Wände werfen können, ein Angebot als Musterwohnung für Billigprodukte wäre ihm sicher gewesen – unter der Bedingung, regelmäßig aufzuräumen und einen Designer zuzulassen, der aus seinen herumliegenden leeren Pizzakartons eine Skulptur hätte bauen dürfen. Schon an der ersten Voraussetzung, hier mal klar Schiff zu machen, wäre der Vertrag gescheitert. 

Immerhin aber war jeder der zuvor jahrelang nicht angerührten Umzugskartons ausgepackt. Große Überraschungen hatte es seit dem Kassettenfund nicht mehr gegeben, außer die vergilbte Zeitschrift seines Abi-Jahrgangs, alte Liebesbriefe und einen Jahreskalender von 1985 mit allen Geburtstagen damaliger Popstars. 

Zu den Original-CDs und Schallplatten waren noch einige Slimcases dazugekommen, denn Jörg hatte für den software-technisch eher unbeschlagenen Mütze die aufgetauchten Kassetten digitalisiert und gebrannt. Ab und zu packte er eine der Scheiben aus und hörte sie durch. Auch wenn er manchmal moderneres Zeug einwarf – Linkin Park oder Limp Bizkit –, die jugendbegleitenden Kamellen blieben unterm Strich doch die besten. Da konnten die in den letzten Jahren wechselnden Lebensabschnittsgefährtinnen die Stirnen runzeln oder offen mäkeln, wie sie wollten. 

„Mach mal deine Kotzmusik aus“, hatte Monika mehrmals barsch gefordert. So war das also mit Toleranz und der Liebe. „Mach ich gern“, versprach Andreas, „sobald du aufhörst zu sächseln.“ Aphrodisierende Wirkung hatten solche Dialoge nur sehr, sehr bedingt. Der Trennungsgrund letztlich war ein anderer, nämlich schlicht Beziehungs-Ödnis.  

Bei Antje war Hoffnung aufgeflackert, denn die teilte seinen Geschmack für rockig-melodische Beschallung. Allerdings eine von wenigen Gemeinsamkeiten. Sie zofften sich zuviel und zu oft wegen Bagatellen. Typische Mann-Frau-Konfliktverläufe aus der Liga „Männer wollen Lösungen, Frauen wollen reden“. Und reden, das konnte Antje. Direkt nach dem Aufwachen und bis kurz vorm Einpennen. Die hohe Frequenz brauchte seinen Toleranzvorrat auf, und nach einem besonders heftigen Streit genau über dieses Zuviel und die von ihm ewig offen gelassenen Kleiderschrank-Türen hatte er seine Sachen gepackt. 

Im Schnitt dauerten seine Beziehungen fünf Jahre, mal länger und mal kürzer. Während um ihn herum Jahrgangs-Genossen wie in heimlicher Absprache ihre Freundinnen und Frauen schwängerten, kam er um eine Vaterschaft herum. Sie mochten noch so niedlich sein, die kleinen Teufel von Kolleginnen, Freunden, Verwandten, Bekannten, er aber hatte keine Lust auf Kuckuck-Spiele mit glucksenden Babys wie „Ja, wo ist denn der Andi? Daaaaa isser!“ Als spreche man mit einem Hündchen, das schwanzwedelnd darauf wartet, bis Herrchen sich die Jacke für den Spaziergang übergezogen hat. 

Vor 13 und 15 Jahren hatte auch Jörg etwas zu Stande gebracht, Junge und Mädchen. „Das größte Geschenk unseres Lebens“, hatte er sehr überzeugt gesagt. Aus Mützes Sondersicht gab es auch Geschenke, die man nicht unbedingt annehmen musste. Heilfroh war er gewesen, als Corinna, ein Two-Nights-Stand, nach dem Ausbleiben ihrer Regel und dem positiven Schwangerschaftstest von sich aus die Abtreibung ins Spiel brachte. Tief ausgeatmet hatte er. Jetzt, mit 52, konnte er noch so viel Zeugungskraft haben, wie er wollte – seine Einstellung war geblieben, und er kannte genug Leute aus seiner Altersklasse, die nicht als Opas, sondern als Väter einen Kinderwagen vor sich her schoben.  

 

Tja, die Beziehungen. Zuletzt der Abschnitt mit Claudia, mit der ihn zehn weitgehend schöne Jahre verbunden hatten, einsamer Beziehungsrekord. Zum Schluss verwaltete auch hier die Routine ihr Leben, die sexuellen Aktivitäten wurden rar, die gemeinsamen Abende schweigsamer, wegen ihrer aufgekommenen Aufräum-Manie die Konflikte häufiger, die Aufmerksamkeit für das Gegenüber verflüchtigte sich, dann kreuzte Claudias Kollege auf, und das war‘s dann. Wieder mal solo.  

Mütze erinnerte sich an das Credo der alten Lehrerkollegin Ruth, die kurz vor der Rente stand, als er – damals blutjung und verliebt – mit ihr in einer Freistunde ins Gespräch über Ehe und Lebenslänglichkeit kam. „Alles antiquiert“, sagte sie lakonisch, „man sollte schriftlich eine Dauer von sieben Jahren festlegen und bei Ablauf der Frist pragmatisch-ehrlich darüber reden, ob beide eine nächste Amtsperiode mittragen. Das würde einiges ersparen.“ So sehr Mütze sich als 25-Jähriger über diesen Mangel an Romantik empört und vehement widersprochen hatte, so einschränkungslos gab er ihr ein Vierteljahrhundert später Recht. 

 

Alleinsein jedenfalls bedeutete nicht zwangsläufig Einsamkeit und hatte seine Vorteile. Zum Beispiel an einem Abend wie diesem: Mütze schmierte sich ein paar Brote, öffnete ein Bier und postierte beides auf dem Tisch neben den Bildschirm seines Laptops. Junggesellenabend-Essen, das niemand bemeckern konnte. Er aß Stulle und konsumierte Buchstaben. Der Rolling Stone vermeldete online, dass Kiss an einer Küste von Australien ein Unterwasserkonzert für Weiße Haie gaben, weil die „von den niedrig frequentierten Klängen des Rock‘n‘Roll angezogen werden“, so der Veranstalter. Mütze schmunzelte. Da bekam die Bezeichnung „Monsters of Rock“ eine neue Bedeutung. Nach dem Essen warf er Limp Bizkit ein. „Hold on“ sang Fred Durst, „You find another way to bleed my soul“. Und da fiel er Mütze wieder ein: „Hold On“, der rätselhafte Song von BFBS.  

Er kramte die Cassette aus dem Regal, klickte sie ein. Da waren sie wieder, die Gitarren im Trab, die flankierenden Drums. Da gab‘s kein Orgel- oder Keyboard-Intro, kein dramaturgisches Vorspiel, sondern das ging sofort in die Magengrube. Ein verflucht gutes Stück! Gleich nochmal von vorn. Es gibt Songs, die man beim ersten Hören großartig findet, die man sich drei oder vier mal reinzieht und danach leider zu dem Schluss kommt, dass es doch eine langweilige Sicherheits-Nummer ist. Und es gibt die Songs, an denen das Ohr zwar hängenbleibt, die einen aber erst nach mehrmaligem Konsum faszinieren, dafür umso anhaltender. 

Deep Purples „Sometimes I Feel Like Screaming“ beispielsweise. Ein Meisterwerk, in dem sich das Gitarrenmotiv von Steve Morse von Mal zu Mal verdichtet, das immer eindringlicher und wehmütiger, monumentaler wird. Aus Mützes Sicht einer der geilsten Songs der Rockgeschichte, den er nie müde wurde zu hören. 

„Hold On“ hatte durchaus das Potenzial, in diese Liga aufzusteigen, in seinem Schwung und seinem Galopp jedenfalls kein Stück zum Fremdschämen. Ta-dam-bäng-bäng, ta-dam-bäng-bäng, bäng-bäng. „I tried once, I tried twice...“ Versuchen, versuchen – versucht hatte Mütze nichts mehr, um herauszubekommen, wie der Song endete, wie die Kapelle dahinter hieß, wie der Name des Sängers lautete, ob es die Band noch gab. Oder welche damit verbundene Erinnerung an etwas oder jemanden im stillen Kämmerlein schlummerte. Er hatte nur gespürt, dass etwas Verschüttetes an die Oberfläche des Erinnerns wollte, da zog wie schon beim allerersten Wiederhören ein Stich in den Bauch. 

Zeit, die Sache anzugehen, beschloss er. Und so schwer konnte es doch nicht sein, das herauszufinden. Eine Pflichtangelegenheit und Ehrensache für Rockfans der früheren Stunden wie ihn, musikalisch sozialisiert ab Ende der 70er, als die Kinderhörspiel-LPs in die hintere Regalreihe rutschten und die Cover mit langhaarigen Gitarrengurus sich rasend vermehrten. Als es zur höchsten Auszeichnung gehörte, dass die Eltern darum baten, den Mist endlich leiser zu machen. 

 

Und nun, ein paar Dekaden später, galt es einer höchst bemerkenswerten Klangspur zu folgen, die weitgehend verwischt schien und die doch irgendwohin führen musste. Nach der Konstellation der anderen Songs auf dem Mixtape musste es von 1983, allerspätestens von 1984 stammen.  

 

Auch ein von technischem Knowhow weitgehend verschonter Typ wie Mütze schaffte es, gleich mehrere Musikerkennungs-Apps herunterzuladen und denen „Hold On“ vorzududeln. Jörgs Shazam hatte ja bereits versagt, aber es gab noch genügend andere. „Keine annähernden Übereinstimmungen“, meldete SoundHound. Die Konkurrenz mit dem schnöden Namen „Musikerkennung“ schämte sich: „Oops! No results found. Please try again.“ Music Detector gab auf, Musik-Identifikator und BeatsMusix ebenso. Das machte die Angelegenheit noch spannender. Bloß – welchen Weg gab‘s noch? 

Au Mann! Plötzlich klatschte Mütze seine Handfläche gegen die Stirn – warum war er nicht gleich drauf gekommen? In die Suchmaschine gab er zum Stichwort „Lyrics“ weitere Passagen des Textes ein, die er aus dem Genuschel heraushören konnte. „Last Cigarette“, „I should remember the things that you said“ und ein paar andere eindeutige Fetzen. Nun war „Hold On“ so klar eingekreist, dass es kein Entrinnen geben konnte. Im weltweiten, alles wissenden Netz, das jeden noch so unbedeutenden Krümel auffing, den 7,8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten fallen ließen, musste sich ein Song wiederfinden, den in den 80ern Hunderttausende Hörer am Radio verfolgt haben dürften. Er freute sich auf Jörgs Verblüffung, wenn er ihn mit den Früchten seiner detektivischen Meisterleistung düpieren konnte. 

 

 

„Hey, was gibt‘s?“ Jörgs Stimme klang müde. 

„Hab ich dich geweckt?“ fragte Mütze. 

„Muss wohl beim Fernsehen eingenickt sein.“ 

„Dabei pennst du doch den ganzen Tag im Rathaus!“ 

„Du bist sooo unglaublich witzig, Mütze“, knurrte Jörg. „Gibt‘s als nächstes nen Kommt-ein-Mann-zum-Arzt-Witz?“ 

„Herr Doktor, ich werde immer ignoriert! – Der Nächste, bitte!“ 

Jörg stöhnte. „Au Mann, was ist denn ich dich gefahren, wieso bist du so aufgedreht?“ 

„Ich habe nach dem Song gesucht. Weißt du noch, nach dem von meinem alten Tape. Hab ich Dir vorgespielt, du hast Shazam gefragt.“ 

Jörg klang nun ein wenig wacher. „Ah klar, der coole rockige aus den 80ern. Sag nicht, du hast ohne mich die Lösung gefunden.“ 

„Ich hab Teile der Lyrics gegoogelt. Du glaubst es nicht.“ 

„Na, sag schon, Alter, wer isses?“ 

„Keinen Schimmer! Die Welt kennt diesen Song nicht. Es gibt nicht einen einzigen Eintrag, der mit der Suchanfrage übereinstimmt.“  

„Ach komm, kann ja wohl nicht sein. Da haste bestimmt nicht richtig gesucht.“ 

Mütze holte Luft. „Komm mir nicht so, Mann! Gezielt googeln kann jeder.“ 

„Okay, du hast nichts gefunden, und was pusht dich dann so hoch? Wenn Erektion eine Stimme hätte, wäre sie grad deine.“ 

„Ich finde das sensationell! Es gibt tatsächlich etwas, was dem Gedächtnis des Planeten nichts sagt!  

Das erstaunt mich noch mehr als das Versagen aller Musikerkennungsprogramme.“ 

„Aha. Und das fasziniert dich also?“ 

„Das fasziniert mich also. Aber vor allem finde ich es irgendwie beruhigend. Es gibt eine winzige Amnesie im Gehirn der modernen Welt.“ 

„Mütze, du hast echt ne Meise. Das heißt also, du willst gar nicht mehr rauskriegen, von wem das Stück ist und wie es komplett klingt, weil es cool ist, dass es Wissenslücken gibt?“ 

„Das hab ich nicht gesagt. Natürlich will ich es wissen. Wenn ich es nämlich herausgefunden habe, weiß ich mehr als das Internet! Endlich!“ 

„Mütze, ich glaub, du brauchst mal wieder ne Frau.“ 

„Witzig!“ 

„Ich komm vorbei, okay?“ 

„Du sagtest aber gerade, ich bräuchte ne Frau!“ 

„Quatsch nicht, Mütze, ich hab ne Idee!“ 

„So?“ 

„Ja! Ich kenne da jemanden, der uns helfen könnte.“ 

 

 

Rick de la Rock ballte triumphierend die Faust. Sein neuestes Video war im Kasten, und es würde ein Brüller werden. Zufrieden legte er die Beine auf den Wohnzimmertisch, nuckelte an der Zigarette, goss sich einen Wodka ein und prostete sich selbst in dem großen Spiegel zu. Mit ein paar Tricks hatte er es geschafft, die gefilmten Kopfbewegungen seines Berner-Sennen-Rüden Rocky an den Rhythmus des Songs „No Fronts“ von Dog Eat Dog anzupassen. Dabei bedeutete der Name der Band ebenso einen Sic!-Effekt wie die Frequenz von Rockys Schwanzwedeln. Er hatte das Tier auf einem überdimensionalen Skateboard postiert und ihn an den Läufen festgebunden. Starr vor Angst und Stricken hatte sich Rocky kaum gerührt, einfach nur gejault, als Rick ihn ein Stück angeschubst und gefilmt hatte, wie sein Hund die Einfahrt zu seiner Eigentumswohnung entlang gefahren war. Der Rest war Bastelei am Laptop gewesen. Landschaft zufügen, Autobahn, Züge und Skateboard-Pipes – mit dem dahinrollenden Rocky, der scheinbar das Land und Verkehrswege auf einem Brett erkundete. Headbangend und jaulend! Genial. Die nächsten tausend Klicks waren dem Youtuber Rick de la Rock auf seinem gleichnamigen Kanal so sicher wie Pädophile in der katholischen Kirche! Na gut, vielleicht ‘n bisschen daneben. Dann halt wie die nächsten zwanzig Meistertitel für den FC Bayern. 

Wenn er Glück hatte, wurde mal wieder das Redaktionsteam des RTL-Morgenmagazins mit der süßen Natascha auf den Coup aufmerksam und zeigte einen Ausschnitt kurz vor dem Übergang zu den Nachrichten. Danach würde sich selbstverständlich der Tierschutzverein aufregen, das Entfernen des Videos fordern, was wiederum noch größere Aufmerksamkeit vor allem in den sozialen Netzwerken hatte. Es würde Nachahmer geben und wiederum Verweise auf ihn als Urheber. Wie er seinen Job doch liebte! 

Soweit man das als Job bezeichnen konnte, denn eigentlich tat Rick de la Rock auf seinem Kanal nur das, was er schon immer gern gemacht hatte: Basteln und Blödsinn machen, und das seit drei Jahren für so viel Geld, dass er von den Geburten seiner Kindsköpfigkeit leben konnte. Es gab Unternehmen, die mehrere Tausend Euro dafür ablatzten, dass er sie in seinen Insta-Posts vorstellte. 

Seinen Job als Versicherungskaufmann hatte der jetzt 32-Jährige wegen seiner rasanten Karriere als „Creator“, wie das in der Szene hieß, von heute auf morgen geschmissen. Seitdem sprach sein Vater, Palliativ-Mediziner an der Universitätsklinik in Köln, noch weniger mit ihm als sein Hund, aber das konnte Rick, der eigentlich Richard Baumgart hieß, verkraften. Die Auffahrt zu seiner Eigentumswohnung, die er vor einem halben Jahr bezogen hatte, war fast so imposant wie die zur Villa seines Erzeugers, der seit dem plötzlichen Verschwinden von Richards Mutter allein dort lebte und nächteweise Assistenzärztinnen zum Vögeln dort beherbergte.  

Ein Sohn, der eine solide Berufslaufbahn gegen das Fabrizieren beschämender Ware in Form von Videoclips ohne Mehrwert eingetauscht hatte, galt nicht nur als unrepräsentabel. Keinen Cent würde Richard von seinem Alten erben, so viel war sicher. Na und? Mit aktuell drei Millionen Youtube-Abonnenten, zwei Millionen Followern bei Instagram und einer schier unerschöpflichen Fantasie für Debilitäten wähnte er sich auf der sicheren Seite, nämlich seiner: der von Rick de la Rock, dem Influencer mit stetigem Hang zu saitenlastiger Musik aus allen möglichen Dekaden. 

Zu den meistgeklickten Folgen gehörte „Viagra nach Noten“. Hier hatte Rick aufgedröselt, welche Songs angeblich besonders gute Vehikel dafür waren, um die sexuelle Begierde eines Gegenübers zu steigern. In Verbindung mit bestimmten Spirituosen natürlich, deren Namen er in eigene Reime baute. „Bullet Ride“ von den Metallern In Flames, kombiniert mit Southern Comfort und Red Bull on the rocks, verkaufte Rick als Geilmacher par excellence. „Willst du kommen jetzt und hier, brauchst du Southern, niemals Bier!“, dichtete er dazu und leckte sich lustvoll die Lippen. „Stricken“ von Disturbed und ein Glas Moscow Mule gehörten nach seinen pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen ebenfalls zu den Rammel-Beschleunigern, wie er sie nannte. „Saufe Cocktail, höre Stricken, besser kannste niemals ficken!“. Das alles war nach seinem Bemessen nur in zweiter Linie peinlich und platt, in erster Linie war es cool und Kult, darin bestärkten ihn alle seine Fans. Die Negativ-Kommentare unter seinen Videos hatte er zu missachten gelernt. 

Zum Markenzeichen hatte Rick gemacht, dass sein Kopf mit nach hinten gedrehtem Basecap immer aus der rechten unteren Ecke schräg ins Bild ragte. Das war speziell und verschleierte seine physiognomische Asymmetrie à la Claus Kleber. Wie beim ZDF-Nachrichten-Mann lag Ricks linkes Auge nicht auf der derselben Höhe wie das rechte, nämlich höher, was er durch leichtes Schräglegen des Kopfes auszugleichen suchte. So wie Kleber auch, nur dass der nicht aus einer Bildecke das Heute-Journal moderieren konnte.