Rock'n'Roll 4evermore - Mark Daniel - E-Book

Rock'n'Roll 4evermore E-Book

Mark Daniel

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Beschreibung

Die großen Helden des Rock'n'Roll sind alt geworden. Oder sie sterben. Lemmy Kilmister, David Bowie, Prince sind tot, und Deep Purple verkünden ihren Abschied. Die wegweisenden Beschaller des Jugendzimmers, die Lieferanten gitarresker Hymnen zu Liebe, Frust, Klassenfahrt und Widerstand hören freiwillig auf oder aus biologischen Gründen. Okay. Jedenfalls ist keine Zeit zu verlieren, will man die aussterbenden Dinosaurier des Rock-Business noch einmal auf der Bühne sehen. Journalist Mark Daniel und sein Kumpel "Hümmi", zwei Rockfans, geprägt von den "harten Saiten" des Musiklebens, reisen zu den Abschiedskonzerten der alten Recken … Und es ist keine sentimentale Reise, um sich an "alte Zeiten" zu erinnern. Es geht um den Spirit dieser Musik und die Behauptung eines Lebensgefühls: Rock'n'Roll forevermore.

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Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

ISBN E-Book 978-3-359-50076-6

ISBN Print 978-3-359-01363-1

© 2018 Eulenspiegel Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: Karoline Grunske

Die Bücher des Eulenspiegel Verlags erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das Buch: Die großen Helden des Rock’n’Roll sind alt geworden. Die Beschaller des Jugendzimmers, die Lieferanten gitarresker Hymnen zu Liebe, Frust, Klassenfahrt und Widerstand verkünden ihren Abschied und treten ab von der Show-Bühne. Da ist keine Zeit zu verlieren, will man die Dinosaurier des Rock-Business noch einmal live hören. Der Journalist Mark Daniel und sein Freund Hümmi, zwei Rockfans, geprägt von den harten Saiten des Musiklebens, reisen zu den Konzerten der alten Recken und erleben – noch einmal, immer wieder – den Spirit des Hardrocks.

Über den Autor: Mark Daniel, 1967 im westfälischen Witten geboren, studierte Theater­wissenschaften in Bochum und arbeitet seit 1994 als Kulturredakteur bei der Leipziger Volkszeitung. Er schreibt Hörspiele und war Mitautor des Buches »Schnauze Ossi«.

Inhalt

Der Grund

Rainbow an der Loreley

Grand Schlamm oder: Der Fotograf tanzt

Hümmi trifft Ian Gillan

Ein großartiger Pantoffelheld

Michael Sadler & Co

Die Göttingen-Saga

Phil Campbell und Saxon im Hellraiser

Lemmy ist immer dabei

Spencer Davis Group im Vogtland

Crowdsurfing mit Rock’n’Rollator

Starauflauf beim Neujahrssingen

Die Nacht, als ich Paul Stanley war

Schwarzes Gold zum Männerabend

Alles hängt an der Nadel

Bay City Rollers in Schwalmstadt

Noch einmal winken, Baby

Ein Fan holt seine Jugendstars in die Provinz

Wenns juckt, gehts rund

Voices of Rainbow auf der Burg Mylau

Denkmalgeschützte unter sich

Der ominöse Titel Nummer sechs

Song instead of a Kiss

Deep Purple in Leipzig

Sabine aus Werdau nimmt Abschied

Chris de Burgh in Leipzig

Die unerträgliche Seichtigkeit des Seins

Mano Cornuta

Der Teufel steckt im Detail, und Gene Simmons ist bekloppt

Lieder am See mit Helden der Siebziger und Extrabreit

Die Abrissbirne über dem Gebäude der Zweifel

Y & T in Isernhagen

Der ewige Traum von der Ewigkeit

Fluch oder Segen: Coverbands

Eine herkömmliche Nuss-Nougat-Creme

Warum Witten-Herbede das geilste Rockdorf des Universums ist

BOP sei Dank

Ian Andersons Jethro Tull in Leipzig

Steh auf, wenn du Rockfan bist

Mail-Disput mit einem Rockfan

Sven P. und die Sülzpasteten der Scorpions

Ein Kinobesuch zum Abschied von Black Sabbath

Die Trennwände sind umsteckbar

Gitarrengott Gary Moore

Öffentliche Kreativ-Onanie

Alice Cooper in der Oberpfalz

Früher war mehr Blut

Hümmis üble Nachrede

Im Auge des Rock’n’Roll oder:Mark, Junge, so geht das nicht

Der Grund

Irgendwann passierts. Irgendwann hört jeder dieses Geräusch, produziert von einem elektrisch verstärkten Instrument aus der Familie der Kastenhalslauten, gemeinhin Gitarre genannt. Dieses Sirren, Sägen und Kreischen, das sich in das limbische Gehirnsystem fräst. Intuitiv entscheidet sich, ob man völlig zu Recht und lebenslang dem Rock’n’Roll verfällt oder dem schlechten Geschmack, also irgendeinem elektronischen Kunstzeug oder so was, irgendetwas Seltsamem ohne harte Riffs.

Ich hatte das unermessliche Glück, frühzeitig von einer Muse durchgeknutscht worden zu sein, die Lederklamotten trägt, sich aufs Headbanging versteht und die Finger zum Teufelshorn formt. Trifft man dazu auf jemanden, der ebenfalls jedem Rock hinterher hört, kann die Leidenschaft enorme Dynamik bekommen: Hümmi, wie ich im Ruhrgebiet aufgewachsen und Anfang der Neunziger nach Leipzig rübergemacht. Geschrammel gehört auch für ihn zum Leben wie ein, zwei, drei gute Biere und wie der Kater zum letzten, das schlecht gewesen sein muss.

Dass man die Hingabe zur rauen Gangart manchen gar nicht und anderen sofort ansieht, dafür stehen wir als Paradebeispiele: Jede Dreitagebartstoppel in Hümmis Gesicht scheint in einem winzig kleinen Gitarrenhals zu enden. Die Klamottenwahl pendelt im Alltag und Arbeitstag ausschließlich zwischen Fanshirt vom letzten Gig oder einem Schalke-Trikot, und Hümmis Herzlichkeit nimmt verbal meist den ruppigen Weg. Er fährt Motorrad, kann ordentlich tanken und quarzt wie ein Schlot.

Ich dagegen bekomme schon nach drei rasurfreien Tagen ein Gefühl der Totalverwahrlosung und ziehe gelegentlich Hemden an. Konzerte gehen wegen Tinnitus nicht ohne Ohrstöpsel, und meist kommuniziere ich auf die einfühlsame Art. Den Mopedführerschein habe ich nach einem blutigen Sturz als Hintermann von einer 80er aus meinen Erwägungen gestrichen. Ich vertrage Alkohol etwa so gut wie Donald Trump Kritik. Und wenn ich rauche, dann nur abends.

Enorme Unterschiede. Letztlich spielen sie aber keine Rolle. Es zählt, dass wir beide innig dasselbe lieben: den guten alten Rock’n’Roll, der mehr ist als eine Stilbezeichnung. Das ist ein 1000-PS-Gefühl, ein irrsinnig belebendes Grundrauschen, zu dem man feiert, tanzt, röhrt, trinkt, das Ich und die Welt vergisst. Vor allem bei Konzerten.

Deshalb befeuern wir uns gegenseitig im Aufspüren von Auftritten jener letzten Rockdinosaurier, die sich noch durch die Landschaft schleppen. Denn sehr bald werden die Ur-Vertreter ausgestorben sein. Und kein Jurassic Park kann sie nachbauen, denn: Magie hat keine DNA.

Diese Magie mit all den Emotionen und Geschichten gehört immer wieder neu erlebt, so lange es noch geht. Also pilgern wir den Helden hinterher. In Hümmis altem VW Bulli – auch so ein Held.

Und jetzt wirds Zeit, der Motor springt an.

Ich schlage vor: Steigt ein und kommt mit!

Hümmi raunzt: Aber n bisschen zackig, datt is keine Parade hier!

Rainbow an der Loreley

Grand Schlamm oder: Der Fotograf tanzt

Um sich den Sensationsgrad dieser Nachricht für Rockfans vor Augen zu führen, nehme man als Vergleich die Abschaffung der Mehrwertsteuer, Markus Söders Parteiwechsel zur Linken und das Austrocknen sämtlicher Steueroasen. Und zwar alles zusammen. Das läge dann etwa auf einer Stufe mit der Neuigkeit, dass sich Gitarrenlegende Ritchie Blackmore nach zwanzig Jahren stinklangweiliger Folkklampferei endlich wieder die elektrisch Verstärkte umschnallt und die Kracher seiner Bands Deep Purple und Rainbow spielt. Die Nachricht von Blackmores Open-Air-Show beim »Monsters of Rock« auf der Loreley rockt sich per Mail vom Veranstalter in mein Redaktionspostfach hinein. Ein Knüller!

»Hömma, da müssen wir hin«, sag ich zu Hümmi. – »Hömma, und wie wir das müssen!«, sagt Hümmi zu mir. Mein Kumpel Hümmi gehört wie ich zu den wenigen, die eine labyrinthische Geschmacksverirrung in die Ecke des Hardrock trieb. In der man sich gefälligst zu schämen hat, zumindest nach Meinung der Geschmackspolizisten, die einem in den Achtzigern sofort Handschellen anlegten, wenn man keine Platte von Depeche Mode, The Cure oder Midnight Oil im Schrank hatte. Hatten wir nicht, sondern Deep Purple, Rainbow, AC/DC, White­snake, Uriah Heep, Van Halen und viele andere ganz gruselige Vertreter der rustikalen Betäubung.

Als Journalist finde ich: Dass sich nun einer der besten Saitenschrammler dieses Planeten auf das besinnt, was er auch in den letzten zwanzig Jahren hätte tun sollen, gehört dringend medial gestreut. Ein Konzertbericht für die Zeitung muss her – unverzichtbarer Außentermin! Als Fotoreporter wird Hümmi neben mir als Schreiber beim Veranstalter angemeldet, obwohl er nicht mal einen Fotoapparat hat.

»Ich besorg mir einen«, gelobt der Kumpan. »Alter, da saufen wir uns die Hucke voll!« Ein Satz, der mich zusammenzucken lässt. Wie ich schon andeutete: Im Gegensatz zu mir verfügt Hümmi über eine beneidenswerte Trinkfestigkeit und bessere Voraussetzungen, Promille über seinen Körper zu verteilen. Wenn Hümmi ganz leicht einen sitzen hat, bin ich kurz vor der Grenz­überschreitung zum Filmriss.

Ich verdränge die Befürchtung bis zu dem Tag, an dem der Freund mit seinem T3, Baujahr 1987, vor die Wohnungstür rollt – also einem übernachtungstaug­lichen Gefährt, das mit seiner Retro-Atmo und dieser Verheißung von Freiheit auf vier Rädern zwei alternde Männer in die Stimmung von Pubertierenden zurückvehikelt. Aus dem Fahrerfenster ragt Hümmis Linke, deren Finger die Pommesgabel formen. Also das Teufelshorn, Erkennungszeichen für die Anhängerschaft diabolisch-rauer Musik.

Im T3-Kühlschrank tanzt klimpernd das Bier unter den Bässen der auf volles Rohr gedrehten Lautsprecher, und nachdem ich meinen Schlafsack ins Heck gepfeffert habe, werden die ausgedruckten DIN-A3-Poster von Ritchie Blackmore’s Rainbow an die Seitenscheiben geklebt. Die Faust vom Cover der Platte »Rising« kommt da ausgesprochen gut.

Die psychoanalytische Theorie spricht in diesem Fall von einer regressiven Phase. Laut Lexikon erfolgt »ein zeitweiliger Rückzug auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung mit einfacheren, primitiveren Reaktionen«. Hümmi dazu: »Ich hatte nie eine andere Stufe!«

Nach drei Stunden Fahrt und dem Einwurf eines Snacks wechseln wir die Plätze. Während ich mich nun an der wackligen Schaltung des T3 abmühe, plöppt sich der Freund das erste Bier auf und installiert eine Fluppe im Mundwinkel. Es ist fünfzehn Uhr und die Straße frei. Die alte Möhre tuckert die Autobahn entlang, ab und zu wedeln uns Gleichgesinnte aus ihren überholenden Autos ihre »Monsters-of-Rock«-Eintrittskarten entgegen oder recken anerkennend den Daumen. Nur einer deutet beim Vorbeirasen an, sich den Finger in den Hals zu stecken. Das ist eine gute Quote. Hümmi öffnet die zweite Hopfenkaltschale, und ich kann das nur begrüßen: klarer Vorteil für mich, wenn er sich jetzt schon zulötet. Zu seinem Level aufschließen kann ich später, da reicht mir ein Sechzehntel seines Bierkonsums.

Eineinhalb Stunden vor Beginn des Supports kredenzt der Himmel eine Frühsommerüberraschung: Innerhalb von zwanzig Minuten kübelt er die Niederschlagsmenge eines halben Jahres auf die Erde. Im dichten Vorhang aus Regen erkennen wir gerade noch einen großen Parkplatz, jede Menge Ordner und den Campingplatz am Festivalgelände. Wir mühen uns Richtung Einfahrt des vollvermatschten Zeltareals. Rülpsend steigt Hümmi aus, um nach einem Platz Ausschau zu halten und eine Naturdusche zu nehmen, als uns schon ein patschnasser Zottliger in Warnweste und Gummistiefeln auf dem weichen Weg entgegenschmatzt. »Alles voll, alles voll, ihr könnt umdrehen!« Hümmi setzt seinen ledernen Breitkrempenhut auf und dazu eine bedeutsame Miene. »Hömma«, sagt er, »wir sind in wichtiger Mission hier, um --« – »Komm mir nicht so, jetzt musste nur noch behaupten, du bist von der Presse« – »Aber so was von!« – »Mir egal, der Platz ist voll, dreht um!«

Nix zu machen. Fünfzig Meter weiter trennt ein unbefestigter Weg das flache Campinggelände vom Wald­rand. »Ich fahr da jetzt mal rein!«, beschließe ich und sehe gleich im Rückspiegel den kleinen, dicken, nassen Mann in grell-orangener Ordnerkluft hinter uns her wetzen: »Da darf man nicht parken!!« – »Halt mal an«, ruft Hümmi. Zwei Minuten später ist der Ordner ein paar Euro reicher (»Das dürft ihr aber keinem sagen, sonst bin ich dran!«) und wir parken exklusiv um die Ecke auf einem unberührten Fleckchen Rasen unter Bäumen, nahe eines Weinbergabhangs. »Rock’n’Roll!«, ruft Hümmi, und ich öffne das erste Bier.

Der Niederschlag ist vorbei, als wir uns auf den Weg machen. Die Sintflut hat die Erde auf dem abschüssigen Areal in quaksend weichen Schlamm verwandelt. Der legendäre Regen von Woodstock ist ein feuchter Pups gegen das hier. Wer am Ausschank ganz oben Bier holt und mit Bechern den Abstieg wagt, muss balancetechnisch Bestleistungen abrufen. Und nüchtern sein. Ein paar Rocker haben schon mal den Boden gewalzt, wie die dreckigen Inseln auf Jeans- und Lederkutten zeigen. Rutsch’n’Roll beim internationalen Grand Schlamm.

Thin Lizzy mit Frontmann Ricky Warwick legen einen ordentlichen Support hin, Manfred Mann’s Earthband dito. Dann naht der Höhepunkt. Hümmi setzt seinen Old-Surehand-Hut auf, schultert die Kamera und begibt sich schwankend in den Fotograben. Während der ersten drei Titel dürfen die Presseleute fotografieren. Angesichts seines Zustands mache ich mir Sorgen um die Qualität der benötigten Bilder. »Hol schomma neues Bier für danach!«, ruft Hümmi noch. Ich nutze die Gelegenheit: Für Hümmi ein normales, für mich ein alkoholfreies. Bloß nicht die Becher vertauschen!

Als ich zur Bühne zurückkomme, genieße ich den Einmarsch von Mister Blackmore unter ohrenbetäubendem Jubel, den Purple-Opener »Highway Star« und die irre Stimme des neuen Sängers Ronnie Romero. Am Ende von Titel Nummer zwei, »Spotlight Kid«, schaue ich in den Graben: Ich erblicke sechs Fotoprofis, die mit wichtiger Miene Ritchie Blackmore ins Visier nehmen wie die Metallhasen am Schießstand einer Kirmes. Und ich sehe einen Hümmi. Der streckt nicht ganz stand­sicher die Arme weit von sich – und tanzt und singt und jubelt. Eine Karikatur auf die Bedeutungsschwangerschaft all der umstehenden Kollegen. Glückselig taumelt er fünf Minuten später seinem Bier entgegen (er nimmt das richtige) und präsentiert auf dem Display die durchaus drucktauglichen Bilder. Ich bin beruhigt.

»Respekt!«, sagt er ein paar Minuten später, »dir merkt man gar nicht an, dass du auch was wegschlabberst!« – »Ach«, sage ich siegessicher abwinkend, »jetzt gehts doch erst mal los.«

Zwei Stunden lang saugen wir die einzigartige Gitarrenstimme des einundsiebzigjährigen Meisters in Schwarz ein. Mit dem für ihn typischen Bewegungsreichtum einer Stehlampe zaubert Blackmore auf seinem Werkzeug, verzieht kaum eine Miene und überlässt die Show dem Frontmann. Gesang zum Niederknien, was man sich nur wegen des moddrigen Untergrunds erspart. Das Instrumentalstück »Difficult To Cure« – ein Gottesdienst der Musik: Unter Ritchies Saiten zersplittern die Klänge wie Glas.

Beim nächsten Getränkegang legt sich am Bierwagen eine große Pranke auf Hümmis Schulter: Aus einem etwa zwei Meter großen Jeansganzkörper voller Aufnäher guckt ein Stoppelgesicht, und eine tiefe Bassstimme fragt: »Sach mal, bist du nicht der Fotograf, der vor Ritchie getanzt hat?« Der Angegrunzte ist zu blau, um Angst zu haben. »Ja, sia!«, ruft er. Der Jeansberg donnert seine Pranke noch mal auf die Schulter des Kumpels, die Erde bebt ganz leicht. »Geil, Alter, geil!« Hümmi freut sich.

Auf dem Weg zum hier nicht ganz so stillen Örtchen sehen wir sie, diese unglaubliche, großartige Skulptur: Vor uns steht tief gebeugt ein menschliches, männliches Wesen, voll wie n Rohr und nach mehreren Stürzen in matschige Erde gepackt. Komplett. Vom Scheitel bis zur Sohle. Weder Haut noch Textil sind farblich erkennbar. Mit dem letzten Rest seines Bewusstseins hält er sich auf den Beinen und betreibt mit langen, lehmigen Zotteln Headbanging in Zeitlupe. Eine Installation, ein Kunstwerk, in Schlamm gehauen. Für so etwas bezahlt man bei der Documenta eine Menge Eintritt – ohne geile Musik dazu.

Beim übernächsten Getränkegang – ich warte vor der Bühne, gerade rumpelt Ritchie »Perfect Strangers« – erwischt es meinen Kumpel. Ich erkenne ihn nicht sofort, als er zurückkommt. Eine Schlammschicht bedeckt seine Klamotten wie Drachenblut den Körper von Siegfried von Xanten. »Irgendwas passiert?«, frage ich. – »Du Arsch!«

Auf dem Rückweg zum exklusiven Parkplatz liebt man ihn sogar, den Matsch als Teil eines magischen Abends. Also ich zumindest. Im T3 zischen wir noch ein Bierchen. Es ist erst mein fünftes oder sechstes alkoholhaltiges. »Also, ich bin fertig«, lallt Hümmi, setzt sich zur Abendtoilette ins Gebüsch ab und versinkt dann auf dem Bett unterm Aufstelldach sehr bald in seliges Schnarchen. Eine Etage darunter verstöpsle ich mich mit Ohropax und träume von Regen und wie ich in hohen Stiefeln durch eine riesige Schüssel geschmolzener Schokolade wate.

Am Morgen, eine knappe Stunde bevor uns ein unfreundlicher Typ aufklären wird, dass wir auf Privat­gelände stünden und den Platz schleunigst zu verlassen hätten, erwache ich. Hümmi schnarcht immer noch. Sein rechter Fuß ragt weit über das Bett hinaus und blickt quasi zu mir hinunter. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als formten sich die Zehen zu einer Pommesgabel. »Rock’n’Roll!«, murmele ich beseelt. Und dreh mich noch mal auf die Seite.

Hümmi trifft Ian Gillan

Ein großartiger Pantoffelheld

Hümmi raucht. Das ist zunächst nichts Ungewöhn­liches – Hümmi raucht viel. Über den Tag verteilt hat der Mann mehr Nikotin in der Lunge als Motörheads seliger Lemmy Kilmister Jack Daniel’s im Blut. Und – for God’s sake! – das will verdammt was heißen. An diesem sonnigen September-Mittwochmittag aber nuckelt er so fest an der Zigarette, als könne er die Nervosität aus seinen Gedanken saugen. »Ich werde stottern«, befürchtet er und schwimmt in diesem typischen Gefühlsstrudel, wenn ein herbeigefreutes Ereignis kurz vor dem Eintreten etwas irreal Bedrohliches bekommt. Denn Hümmi hat ein Date: Er trifft sein Idol. Er ist verabredet mit dem Mann, dessen Stimme sein Leben schon vor dem Erblühen bunter Pickellandschaften begleitet hat. Eine einzigartige Stimme, die in »Perfect Strangers« jene Zeile singt, die Deep Purples Bedeutung in zig Millionen Biografien formuliert: »I am the echo of your past«. Ian Gillan, Frontmann der Rocklegende. Ein Glücksfall, eine Ehre. Vergleichbar mit der Situation, als träfe ein Kreisliga-Fußballer Cristiano Ronaldo. Als erhielte man Physiknachhilfe bei Stephen Hawking. Als bekäme man von Bud Spencer höchstselbst die Fresse poliert. Oder einen Jack Daniel’s von Lemmy eingeschenkt.

Eingestielt wurde das Ganze ein paar Wochen zuvor. Wegen der Show »Rock meets Classic« residierte Gillan in einem Leipziger Hotel; das Management lud Journalisten zu Interviews ein, um den bevorstehenden Bandauftritt im November zu bewerben. Im Klartext: Das Konzert war beschissen verkauft, obwohl neben Gillan noch Gianna Nannini, Status Quo, Asia-Sänger John Wetton und Krokus-Stimme Marc Storace zur Beschallung beitragen sollten. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch Eric Martin (mit zarten vierundfünfzig das Nesthäkchen im Line-up) dazu gehörte. Wie sich nicht überraschend beim Konzert herausstellte, ein Fehler. Nettes Kerlchen, der Sänger der Gruppe Mr. Big, aber dieser Schnulzpop gehört nun mal nicht ins Programm. »Just Take My Heart« oder »Be With You« sind rockig, wie Zuckerwatte scharf ist.

Nun ja, jedenfalls bietet die Ausbaufähigkeit im Ticketverkauf die sensationelle Gelegenheit, mit Mister Gillan dieselbe Luft zu inhalieren. Sonst üblich sind im Musikjournalismus Telefoninterviews – preiswert und auch zeitlich effizient. Am Fuß der Promikontaktskala rangiert das Frage-Antwort-Spiel per E-Mail. Bei dem immer heimlich zu befürchten ist, dass das Management einen Praktikanten darauf ansetzt, die gemailten Fragen im Sinne des Adressaten zu beantworten.

Wie auch immer, jetzt jedenfalls heißt es: »Hömma, Hümmi, willste da nicht mitkommen?« – »Hömma, da sterb ich vor Aufregung!«, kommt es aus der Leitung. Kurze Pause. »Aber – kann es was Besseres geben, als vor Ian Gillan tot zusammenzubrechen?«

Der Veranstalter versteht, dass beim Interview ein zusätzlicher Purple-Experte und momentaner Redaktionspraktikant unabdingbar ist. Noch nie in ihrer langen, wechselvollen, über einhundertfünfundzwanzigjährigen Geschichte hatte die Leipziger Volkszeitung einen älteren Praktikanten. Aber das mit dem Expertentum ist noch weit untertrieben. Hümmi ist nicht nur leidgeprüfter Schalke-Anhänger, ein großer flausenköpfiger Junge mit Pläte, der eine original Carrera Universal Autorennbahn im Keller hat und auf dem Motorrad die Freiheit schmeckt. Vor allem ist der Kerl Deep-Purple-Anbeter größtmöglichen Ausmaßes. Im Kleiderschrank stapelt sich ein Turm aus Fanshirts. Die Purple-Tonträger misst er nicht in Stückzahl, sondern in Metern. Rund drei sollen es sein. In Sachen Konzerten kommt Hümmi auf dreißig. Es wäre eins mehr geworden, hätte er nicht 2001 auf dem Weg zum Londoner Hammersmith Odeon mit seiner Guzzi zu viele Kurven durch den Harz genommen und sich verspätet. »War so geil auf der Strecke«, sagt er, »geile Kurven. Hab mich total verschätzt.« Die gebuchte Fähre tuckerte also ohne ihn zur Insel Richtung Hardrockshow.

Was Ian Gillan für ihn ist? »Ein Gott, die Nummer eins aller Purple-Frontmänner, aber so was von!«

Als ihm anno 1984 ein Kumpel beim Sportunterricht erzählte, dass sich die Band in Mark-II-Besetzung zurückmelde, bekam er Schnappatmung. Das Nachfolgealbum »The House of The Blue Light« findet er zwar schebbich, die 96er-Scheibe »Purpendicular« dagegen sensationell.

Dass das besagte Comeback schon weit über dreißig Jahre her ist, verstehen Hümmi und ich als seltsamen Witz. Zeit, was ist Zeit? Komisch ist die in ihrem Tempo – vor allem, weil sie sich unverschämterweise unserem Empfinden nicht anpasst. Zu »Perfect Strangers« haben wir uns im Rockpalast in Bochum auf der Tanzfläche abgekämpft, aber so lange kann das nun auch nicht her sein. Doch apropos: Im Hier und Jetzt ist es 11.55 Uhr, Hümmis Zigarette krümmt sich im Aschenbecher. Es geht ins Hotelfoyer, wo Gillans Assistentin Sally Long die Gesprächspartner abholt. »Ihre Stadt wird jedes Mal schöner«, schwärmt die Leipzig-erfahrene Britin, während mein Freund nervös am Purple-Shirt nestelt. Nicht irgendeins natürlich, sondern gekauft beim fanclub­betriebenen Label Purple Records.

Noch fünf Minuten. Ich lese Panik aus Hümmis Augen. Vielleicht besser, das Idol doch nicht zu sehen. Ja, das denkt er. Und tatsächlich kann so was furchtbar ins Auge gehen. Im Juni 2003 war es, als mein Arbeitgeber im Vorfeld des Rolling-Stones-Konzerts während der »Licks«-Tournee in Leipzig ein Fantreffen mit Jagger und Co. unter den Lesern verloste. Warum? Klar, der Kartenverkauf lief beschissen. In der Not bot eine Agentur uns an, Abonnenten mit einem Meet and Greet zu beglücken: backstage Händeschütteln mit den Stars. Hauptsache, es kommt noch mal was ins Blatt. Als Support wurde dann auch noch AC/DC verpflichtet. Muss man sich mal überlegen. Holt man Helene Fischer als Anheizerin für Florian Silbereisen?

Jedenfalls ist »Desaster« ein zu dezentes Wort für das, was an diesem lauen Juniabend auf der Festwiese Leipzig hinter den Kulissen passierte. Wir stehen in einem stickigen großen Zeltanbau hinter der großen Open-Air-Bühne und warten auf vier berühmte alte Männer, die sich unverschämt viel Zeit lassen. Langsam geht selbst die »Sympathy for the Devil« flöten. Ein geschniegelter wandelnder Schleimbolzen im dunklen Anzug stimmt derweil kaugummikauend die Anwesenden darauf ein, wie sie sich in Gegenwart ihrer Rock-Majestäten zu verhalten haben. Genauer: wie sie sich nicht zu verhalten haben. »Nichts zum Signieren vorzeigen, die Jungs geben keine Autogramme!« Wow, cool! »Niemand darf ein Foto machen!« Guck an, die Profis wissen, wie man Fans bei der Stange hält. »Ach ja, und sprecht sie nicht groß an, die Zeit ist knapp. Einfach die Hand geben.« Liebenswerte Sache. Dann doch noch was Positives: »Die Jungs mögen es, wenn ihr gut gelaunt seid«, sagt der Mistkerl, »also feiert sie richtig.« Damit das auch klappt, wird Jubeln und Klatschen mehrfach geprobt. Ich sinniere darüber vorzuschlagen, sich ein paar Applaus-Tonkonserven von den Witzeshows beim MDR kommen zu lassen, aber nach fünf Minuten Einpeitschen ist das Arschloch zufrieden.

Weitere fünf Minuten später kommen die Superstars hereinspaziert, zumindest im Rahmen ihrer unterschiedlichen Möglichkeiten: Charlie Watts kann allein gehen, Mick Jagger und Ron Wood dagegen haben Keith Richards untergehakt, weil der die Beine momentan lediglich hinterherschleifen kann. Seine Zunge hängt auf hab acht, und er zieht eine debile Faltenfratze. Fest steht: Der Stone ist stoned. Die vier schütteln in Sekundenbruchteilen ein paar Besucherhände, Jagger guckt dabei nicht in die Augen, sondern beobachtet lieber den Verlauf der Nähte an der Zeltwand. Kurzes Posieren für den Tourfotografen – und weg sind sie. »Äh … das ging ja fix«, staunt einer der Verlosungsgewinner. »Autogramme und ein paar Worte wären ja schon schön gewesen«, gesteht ein anderer. »Trotzdem – diesen Moment werden wir nie vergessen.« Manchmal sind Fans vor lauter Fansein ganz schön bescheuert. Um die Episode abzuschließen: AC/DC räumen an diesem Abend ab. Später schafft es Keith Richards beim Hauptact wider Erwarten, seine Riffs unfallarm zu spielen und sturzfrei über die Bühne zu tapsen.

Fünf Jahre später übrigens fiel Richards auf den Fidschi-Inseln von einer Palme und wurde am Gehirn operiert. Was eigentlich muss noch passieren, um den Mann von der Gitarre fernzuhalten? Selbst das Promi-­Sterbejahr 2016 hat er ohne Nachruf hinter sich gebracht und hat es gewagt, mit den anderen geriatrischen Kollegen noch mal auf Tournee zu gehen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass er weder geradeaus laufen noch vernehmlich sprechen kann, enorm gewachsen.

Nun gut, hier und jetzt ist es mit Gillan anders. Der Mann konsumiert schon eine Weile keine Drogen mehr, und er weiß, dass man das Bilden von Sätzen zum klassischen Bestandteil von Interviews zählt. Wird schon werden. Außerdem bemerkt die Assistentin erneut, Ian sei ein sehr netter Gesprächspartner. Der Fahrstuhl steigt in die vierte Etage und mit ihm die Spannung. Sally klopft an die Tür von Suite 433, hinter der ein in der Rockgeschichte einzigartiger Sänger sitzt. Hümmi atmet durch. Für ihn schieben sich jahrzehntelange Heldenverehrung und unwirkliche Nähe ineinander. Und zwar: jetzt.

An der Tür steht ein älterer, graumelierter Herr, der äußerlich mit einem Rockstar so viel gemein hat wie ein Wildecker Herzbub mit Fetischklamotten. Ian Gillan, zu dem Zeitpunkt siebzig, hat kein Klischee-Gedöns aus Sonnenbrille, geschwärztem Zottelhaar oder Lederklamotten nötig. »Nice to meet you.« Der Arm fährt aus einem weißen, etwas zu weiten Hemd. Hümmi ergreift, weitgehend in Fassung bleibend, die Hand des Gegenübers. »Hi!«

Ein Mann mit Charaktergesicht voller Lebensspuren, mit ruhigem, geschultem Beobachterblick. Meiner wiederum fährt schüchtern gen Boden, und dann sehe ich es: Dieser Typ da vor uns im Ledersessel, den Generationen von Hörern vergöttern und der mit seiner Band rund 150 Millionen Platten verkauft hat, pfeift auch in Sachen Fußbekleidung auf jegliches Image: Ian Gillan schlurft in kuschlig weichen Hausschuhen durchs Zimmer. Ein Musikdenkmal in Fellpantoffeln. Und dabei selbstverständlich souverän. Vielleicht ist diese Stufe von Unabhängigkeit die Vollendung des wahren Rock’n’Roll.

Auf die Fragen antwortet der entspannte Gillan ausführlich und doch präzise, mit diesem leichten Schmirgel in der Stimme, den der Whiskey der wilden Jahre auf den Bändern hinterlassen hat. Nun initiiert Hümmi ein Fachgespräch: Warum sie vom großartigen Album »In Rock« kaum noch etwas spielten, »Flight of The Rat« beispielsweise? »Manche Sachen funktionieren auf der Bühne nicht«, begründet Gillan, »das Stück klang live immer beschissen.« Hümmi kommt langsam in Fahrt. Immerhin, merkt er an, habe man ja dafür »Hard Lovin’ Man« aus besagtem Album wieder auf die Konzertliste genommen. Gillan zögert: »Haben wir? Ach ja, stimmt. Außerdem noch ›Into The Fire‹ – und ›Maybe I’m A Leo‹.« Dann stutzt er wieder: »Oder ist das vom ›Fireball‹-Album?« Hümmis Augenblick ist gekommen: »Nee, das ist von ›Machine Head‹.« Der Sänger schmunzelt kaum merklich. »Sie wissen viel besser Bescheid über Deep Purple.«

Der nette Opa plaudert weiter. Dieser uralte Zoff mit Gitarrist Ritchie Blackmore sei längst beigelegt, sagt er und berichtet von seinem ungewöhnlichsten Konzert in den achtziger Jahren: Von einem Moment auf den anderen habe er seine Stimme verloren. »Das Publikum übernahm den Gesang und feierte weiter, es war fantastisch.« Hümmis Augen glänzen wie nach einer Politur mit AkoPads. Gillan erklärt, warum er nur ein Jahr Mitglied von Black Sabbath gewesen sei: »Ich hab in einer Kneipe volltrunken den Vertrag dafür unterschrieben«, verrät er. »Jeden Tag ging es ans Limit, ein Jahr lang. Eine tolle Zeit, aber die Party muss irgendwann enden, sonst stirbst du.«