Der Weltenfinder - Die zweite Reise ins Wolkenmeer - Bernd Perplies - E-Book

Der Weltenfinder - Die zweite Reise ins Wolkenmeer E-Book

Bernd Perplies

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Beschreibung

Das Wolkenmeer birgt viele Geheimnisse … »Der Weltenfinder – Die zweite Reise ins Wolkenmeer« ist ein eigenständiger Roman aus der Welt der »Drachenjäger« von Bernd Perplies. Lange bevor es die Menschen und ihre fliegenden Schiffe gab, herrschten die ArChaon über die Welt. Sie begründeten eine mächtige Zivilisation und enträtselten mit ihrer Magie die Geheimnisse des Kosmos. Doch ihre Wissensgier war so groß, dass sie eines Tages einen verhängnisvollen Fehler begingen – und das Wolkenmeer sie verschlang. So will es zumindest die Legende. Als dem Gelehrten und Abenteurer Corren von Dask eine Karte in die Hände fällt, auf der die mythische Stadt ThaunasRa verzeichnet ist, versammelt er die mutigsten Abenteurer der Küstenlande um sich und rüstet eine Flugschiff-Expedition aus. Es wird eine Reise in die lichtlosen Tiefen des Wolkenmeers. Doch sollte man wirklich wecken, was dort seit Äonen ruht? Ein abenteuerlicher High-Fantasy-Roman für Leser von Markus Heitz, T. S. Orgel, Tad Williams und Bernhard Hennen.

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Seitenzahl: 506

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Bernd Perplies

Der Weltenfinder - Die zweite Reise ins Wolkenmeer

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]Kapitel 1 Im Dunkel der NachtKapitel 2 Die Hüter der KarteKapitel 3 GeolathKapitel 4 Das Größte aller WunderKapitel 5 Ein nächtlicher AngriffKapitel 6 Eigentümliche EreignisseKapitel 7 Die Reise nach SkargakarKapitel 8 Im KlippenhausKapitel 9 Grimmeisen und OrsaKapitel 10 Glück im UnglückKapitel 11 Aufbruch nach ThaunasRaKapitel 12 Begegnung in ArsindairKapitel 13 Überfall in den WolkenKapitel 14 Der Herr der DrachenKapitel 15 Die Wege der MagieKapitel 16 Geheimnisse der TiefeKapitel 17 IrilKapitel 18 In die TiefeKapitel 19 Der namenlose SchreckenKapitel 20 Ieverasts FesteKapitel 21 Im Horst des AdlersKapitel 22 Flucht durch die WolkenKapitel 23 Von Fesseln und FreiheitKapitel 24 Das fremde SchiffKapitel 25 Ein Licht in der TiefeKapitel 26 ThaunasRaKapitel 27 Augen in der FinsternisKapitel 28 Der SchreinKapitel 29 Die VerräterinKapitel 30 Das Dunkel erwachtKapitel 31 Der SchattenherrKapitel 32 Der zweite Untergang von ThaunasRaEpilogDanksagung

Für Marianne & Eberhard Perplies,

die meiner Phantasie immer freien Lauf ließen.

Das habt ihr jetzt davon.

Jenseits des Landfalls, so heißt es gemeinhin, endet die Welt. Dahinter liegen nur das endlose Wolkenmeer und das Nichts. Vor Tausenden von Jahren aber gab es noch keine Wolken. Die Legenden besagen, dass eine gewaltige Zivilisation in den Tieflanden lebte, deren Reichtum nur von ihrem Wissensschatz übertroffen wurde. Die ArChaon erforschten die Magie und die Schöpfung auf eine Weise, die sich heute niemand mehr vorstellen kann – doch ihre Neugierde wurde ihr Untergang, und die Nebel verschlangen sie.

 

Aus den Aufzeichnungen des Magisters Corren von Dask

Kapitel 1Im Dunkel der Nacht

11. Tag des 3. Mondlaufs im Jahr 850

Die Steilwand zu erklimmen wäre schon bei Tage nicht ungefährlich gewesen. Bei Nacht stellte die Kletterei eine noch viel größere Herausforderung dar. Niemand, dem keine Flügel aus dem Rücken wuchsen oder der nicht über die Alte Macht gebot, war so töricht, im Dunkeln den Aufstieg zu wagen. Zwar stand der silbrig schimmernde Mond beinahe in voller Pracht am Himmel über Endar, doch immer wieder wurde er von schweren Wolkenballungen verdeckt, die das Land in tiefe Schatten tauchten – und ebenso den einsamen Berg an den Gestaden des Terrhenianischen Meers.

Aus diesem Grund rechneten die Mönche von Tahza nicht mit einem Eindringling von dieser Seite des Klosters. Das Haupttor ihres abgelegenen Refugiums an der Südküste des Landes Carthaos wurde gut bewacht, ebenso die Vorderseite der auf der Bergkuppe thronenden Anlage, die über einen sanft ansteigenden Hangweg gut zu erreichen war. Bei den drei Seiten des festungsähnlichen Bauwerks, die zum Meer wiesen, überließen es die Mönche hingegen dem Stein und dem Wind, unliebsame Besucher fernzuhalten.

Corren von Dask schreckte weder das eine noch das andere. Er war bereits die titanischen Mauern von At Ethanon hinuntergeklettert – zugegeben, nicht ganz freiwillig –, und er hatte ein halbes Jahr bei den Settländern auf den Gipfeln der Grauen Berge gelebt. Höhen und eine frische Brise um die Nase war er daher gewohnt, und sein Talent im Klettern stand seinen Reit- und Fechtkünsten in nichts nach.

Vorsichtig bewegte er sich an der Steilwand aufwärts. Dabei musste er sich nicht allein auf sein Gefühl verlassen, um Spalten und Vorsprünge zu finden, die seinen Händen und Füßen Halt boten. Das Katzenaugen-Amulett, das er mit Hilfe eines geflochtenen Tuchs an seiner Stirn befestigt hatte, verstärkte das Mondlicht, das auf die Bergflanke fiel, so merklich, dass für Corren beinahe der Eindruck eines trüben Tages herrschte.

Obwohl er sich zu nächtlicher Stunde und über einen mehr als ungewöhnlichen Weg Zugang zu dem Kloster zu verschaffen suchte, war Corren im Grunde kein Dieb. Natürlich hatte er gelegentlich Dinge mitgehen lassen – nützliche Ausrüstungsgegenstände ebenso wie seltene Artefakte –, doch all das diente allein der Wissenschaft. Der sehnige, in dunkle Kleider gehüllte Mann mit dem schulterlangen braunen Haar und den klaren blauen Augen nannte sich selbst einen Forschungsreisenden oder einen abenteuerlustigen Gelehrten. Er stand auch wirklich als Magister im Sold der Akademie von Geolath, einer Stadt, die im Land Phoekia auf der anderen Seite des Ozeans lag. Allerdings hielt er sich dort eher selten auf. Corren sah seine Aufgabe vielmehr darin, den unzähligen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, die in Jahrtausenden auf der Welt Endar und in den sie umgebenden Nebeln hinterlassen worden waren. Eines der größten beschäftigte ihn schon seit Jahren – und im Kloster von Tahza hoffte er, eine wichtige Spur zu finden.

Mit leisem Ächzen zog sich Corren über die Felskante auf die Bergkuppe. Seine Arm- und Beinmuskeln schmerzten, und seine Hände zitterten leicht. Viel länger hätte diese Kletterpartie nicht dauern dürfen. Er kroch in den Schatten eines der niedrigen Sträucher, die an dieser Stelle wuchsen, und legte den Kopf in den Nacken. Mit der Mauer des Klosters galt es, ein letztes Hindernis zu überwinden, aber sie war auf dieser Seite kaum drei Manneslängen hoch und bestand aus groben Felsquadern. Sobald er sich kurz ausgeruht hatte, war dieser Teil seines Aufstiegs kaum der Rede wert.

Dennoch wünschte sich Corren, er wäre nicht zu diesem ungebetenen Besuch gezwungen. Er schritt lieber hocherhobenen Hauptes durch die Vordertür, als sich geduckt durch den Hintereingang zu schleichen. Er hatte durchaus versucht, den ersten Weg zu gehen. Bedauerlicherweise erwiesen sich die Mönche als ausgesprochen feindselig. Sie schienen kein Interesse an Besuchern aus fremden Ländern zu haben und noch weniger an jenen, die ihre geheimen Schätze zu studieren suchten. Corren war froh, dass er diese erste Begegnung überstanden hatte, ohne mit einem Pfeil im Rücken zu enden. Man sagte den Mönchen, die einem recht unerfreulichen Geschwisterpaar aus dem Pantheon ihrer Heimat Carthaos huldigten, hohe Kunstfertigkeit im Umgang mit Waffen aller Art nach.

Rasch überprüfte Corren seine Ausrüstung. Der Rucksack saß noch immer fest auf seinem Rücken, Dolch und Kurzschwert steckten sicher in ihren Scheiden am breiten Gürtel, das Rufhorn hing an einem Riemen um seine Schulter. An ledernen Bändern baumelten ein halbes Dutzend Schutzamulette unterschiedlicher Herkunft, die er während der Kletterei sicherheitshalber in sein Hemd geschoben hatte. Und in einer Gürteltasche, die hinter der Dolchscheide saß, steckte etwa die gleiche Zahl an alchemistischen Tinkturen, die ihm bei diesem Ausflug nützlich sein mochten. Solcherlei Dinge – Amulette und Tinkturen – waren ausgesprochen kostbar, und Corren gedachte, sie nur im äußersten Notfall einzusetzen. Aber er war lieber zu gut vorbereitet als zu schlecht. Wie weise dies war, hatte er in den ersten Jahren seines Lebens als Forschungsreisender unter einigen Schmerzen und Verlusten lernen müssen.

Er holte tief Luft, dann kam er auf die Beine und glitt zur nahen Klostermauer. Aufmerksam lauschend und mit einem weiteren Blick nach oben vergewisserte sich Corren, dass keiner der Mönche zufällig auf dem Wehrgang herumspazierte, weil ihm der Schlaf verwehrt blieb. Er konnte niemanden hinter den Zinnen ausmachen. Das galt auch für die beiden nahen Türme, deren offene, säulengeschmückte Spitzen von kreisrunden Schindeldächern gekrönt waren, wie man sie häufig in diesem Teil von Carthaos sah.

Behände kletterte Corren die Mauer empor und zwängte sich zwischen zwei breiten Zinnen hindurch. In der Hocke landete er auf dem dunklen Wehrgang und sah sich um. Das Kloster bestand aus mehreren, miteinander verschmolzenen Gebäuden, die von der Außenmauer eingefasst wurden. An den Eingängen und Hausecken hingen Öllampen, deren Lichtkreise jedoch kaum ein paar Schritt weit reichten. Corren war dankbar für das Katzenaugen-Amulett, das ihn Bereiche des Hofs und der Wehranlagen erkennen ließ, die sonst in tiefem Schatten gelegen hätten.

Ein Mann ohne Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten wäre dennoch auf der Suche nach der Klosterbibliothek verloren gewesen. Zu Correns Glück vermochten sich die Mönche nicht vollständig selbst zu erhalten. Sie mussten Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Lebens in den umliegenden Dörfern erwerben und von den Bauern anliefern lassen. Auch der eine oder andere Handwerker des Umlandes hatte das Kloster in der Vergangenheit schon besucht. Corren hatte all seine Menschenkenntnis und einige Edelsteine aufwenden müssen, um die richtigen Männer zu bestechen – also jene, die zwar etwas wussten, ihn aber nicht gleich an die Mönche verrieten. Der Preis seiner Mühen war eine immerhin leidlich glaubwürdige Beschreibung des inneren Aufbaus der Klosteranlage – die, soweit er das von seinem gegenwärtigen Platz auf der Mauer aus beurteilen konnte, größtenteils der Wahrheit entsprach.

Corren zog sein Kurzschwert – und schob es nach einem Augenblick des Nachdenkens zurück in die Scheide. Er war hier, um eine Karte zu finden, nicht um Menschen zu töten. Wenn sein heimlicher Besuch wie geplant verlief, erreichte er sein Ziel und verschwand wieder, bevor irgendjemand von seiner Anwesenheit Wind bekam. Das war ihm in jedem Fall lieber, als die Tricks, die er auf Lager hatte, zur Schau stellen zu müssen.

Lautlos eilte er über den Wehrgang bis zur nächsten Treppe, die nach unten führte. Über diese gelangte er in den Hof. Von Schatten zu Schatten huschte Corren an der Mauer entlang, bis er das nächste Gebäude erreichte. Die meisten Fenster waren dunkel, nur aus einer kreisrunden Öffnung im Dachgeschoss drang ein fahles, grünliches Licht. Außerdem glaubte Corren, als er darunter vorbeischlich, monotonen, mehrstimmigen Sprechgesang zu vernehmen. Er wollte gar nicht wissen, was um diese Stunde dort oben geschah. Es hieß, dass sich die Mönche von Tahza bei der Verehrung ihrer freudlosen Götter allerlei eigentümlichen und mitunter verstörenden Praktiken hingaben.

Verstohlen warf er einen Blick um die Hausecke. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Bibliothek des Klosters, einem schmalen, hohen Bauwerk zwischen zwei größeren Gebäuden. Unglücklicherweise war die einzige frei zugängliche Tür in den Schein zweier Öllampen getaucht, die links und rechts neben dem Portal brannten. Die Tür war nicht unmittelbar vom bewachten Torbereich aus zu sehen, allerdings wiesen genug Fenster benachbarter Klosterteile in ihre Richtung. Der zufällige Blick eines ruhelosen Mönchs durch eins dieser Fenster konnte zu Correns Entdeckung führen. Doch ihm blieb kaum eine Wahl, als das Wagnis einzugehen. Der einzige andere Weg, von dem er wusste, führte aus dem Inneren des angrenzenden Haupthauses in die Bibliothek. Sich von dort aus Zugang zu verschaffen war ungleich gefährlicher.

In Momenten wie diesen wünschte er sich einen Mantel, der ihn unsichtbar machte. Geschichten erzählten gelegentlich von derartigen Artefakten, aber er hatte noch nie einen Alchemisten oder Magiegelehrten getroffen, der imstande gewesen wäre, so ein Kleidungsstück herzustellen. Corren überlegte, ob er seine Phiole mit künstlichem Nebel einsetzen sollte, um sein Vordringen zu verbergen, verwarf den Gedanken allerdings gleich wieder. Ein unvermittelt einsetzender Seenebel, der sich kaum über das Kloster hinaus erstreckte, würde das Misstrauen der Torwachen wecken.

Seine Gesichtszüge nahmen einen grimmigen Ausdruck an, als Corren alle Entschlossenheit sammelte. Er musste diese Karte haben, ganz gleich, was es kosten würde.

Ein letztes Mal ließ er den Blick über die dunklen Klostermauern und Gebäude schweifen. Bis auf das Gemurmel hoch über seinem Kopf, das gerade leicht anschwoll, herrschte die Stille, die in tiefer Nacht zu erwarten war. Corren gab sich einen Ruck und eilte los, wobei er die Scheide seines Kurzschwerts fest umklammert hielt und versuchte, leicht wie ein Sidhari aufzutreten, um möglichst wenig Geräusche zu verursachen.

Als er das Portal erreichte, drückte er behutsam die Klinke herunter. Er ging davon aus, dass die Tür verschlossen war und er sich mit dem Schlosserwerkzeug behelfen musste, das in seinem Rucksack steckte. Doch zu seiner Überraschung öffnete sich das Portal widerstandslos und unter bloß leisem Knarren. Ohne sein Glück zu hinterfragen, schlüpfte Corren durch einen Spalt ins Innere.

Erst als er das Portal behutsam wieder zugeschoben hatte, ging ihm auf, dass der Umstand, es unverriegelt vorzufinden, bedeuten mochte, einen nächtlichen Gast hier anzutreffen. Corren hielt inne und lauschte. Es war nichts zu hören, keine Schritte, kein Rascheln von Buchseiten. Dann fiel ihm auf, dass an jedem Haken im Eingangsbereich eine kleine Laterne baumelte. Keine einzige fehlte. Ohne Licht hielt sich gewiss niemand in der stockdunklen Bibliothek auf.

Da auch er trotz seines Katzenaugen-Amuletts kaum etwas ausmachen konnte – die schweren Vorhänge vor den Fenstern hielten nicht nur die feuchte Seeluft draußen, sondern auch jegliches Mondlicht –, nahm Corren eine der Lampen und entzündete sie.

Die Laterne mit der Linken vor sich in die Höhe haltend, drang Corren tiefer in die Bibliothek ein. Als er den Hauptraum betrat, verharrte er voller Staunen. Der Architekt des Gebäudes schien sich des späteren Zwecks bereits bewusst gewesen zu sein. Daher hatte er die hohe, geschwungene Decke nicht mit einer Handvoll größerer Säulen abgestützt, sondern stattdessen mehrere wabenartige Gitterwerke aus Steinziegeln bis nach oben gezogen, die sowohl das Dach stützten als auch als steinerne Regale dienten. Tausende von Schriftrollen, verschnürten Kladden und gebundenen Folianten fanden darin Platz, manche vergilbt, brüchig und offensichtlich jahrhundertealt, andere eindeutig aus jüngerer Zeit, manche offen herumliegend, andere mit dicken Metallschlössern gesichert. Die Menge an gesammeltem Wissen, die an diesem Ort aufbewahrt wurde, raubte Corren schier den Atem. Angesichts ihres fragwürdigen Rufs hätte er die Mönche von Tahza nicht für derart leidenschaftliche Sammler des geschriebenen Worts gehalten.

»Ich hoffe, es gibt hier irgendwo ein Register«, murmelte er, als er langsam in den Raum hineinschritt. Es roch nach Staub, Leder und altem Pergament. Ein Teil von ihm verzehrte sich danach, einfach die nächsten zwei Wochen hier zu verbringen und nach Geheimnissen zu forschen, denen er von diesem Ort aus in die Welt folgen konnte. Corren unterdrückte das Gefühl. Nur Unsterbliche hatten die Zeit, alle Rätsel zu lüften. Er würde sich auf das eine konzentrieren, dessen Erforschung seine Laufbahn als Gelehrter krönen sollte und seinen Namen ein für alle Mal in die Annalen der Geschichte von Endar einschreiben würde.

Corren entdeckte einen Regalbereich, in dem Dutzende gleichartiger Rollen fein säuberlich aufgereiht lagen. Ein in geschwungenen Lettern verfasster Sortierungsschlüssel nach dem carthaotischen Alphabet legte nahe, dass es sich dabei um ein Bestandsverzeichnis handelte. Nachdem er die Laterne an einen nahen Haken gehängt hatte, zog Corren wahllos eine Rolle hervor und sah seine Vermutung bestätigt. In zierlicher Schrift waren die unüberschaubaren Bestände der Bibliothek aufgelistet, wobei am Ende der Schriftrolle Erwerbungen der letzten Jahre zu finden waren, die erst in die richtige Reihenfolge gebracht werden konnten, wenn jemand die Rolle neu verfasste.

Gezielt begann er, nach Hinweisen auf die Karte zu suchen, deretwegen er sich in das Kloster geschlichen hatte. Er wusste, dass die Mönche die Karte im Kloster aufbewahrten. Mehr als eine Quelle hatte ihn hierherverwiesen. »Wo bist du?«, murmelte Corren, als er sich hastig durch die Listen arbeitete. Er fand eine Handvoll Einträge, die vielversprechend klangen, aber jeder von ihnen erwies sich als Reinfall. »Das kann nicht sein.« Nicht bereit, ein mögliches Scheitern seiner Suche auch nur in Betracht zu ziehen, zog Corren Schriftrolle um Schriftrolle aus dem Regal. Er öffnete sie, überflog sie und ließ sie zu Boden fallen. Für Ordnung mussten später andere sorgen. Ihm lief die Zeit davon.

Aber er konnte den Aufbewahrungsort der Karte nicht finden. »Wo bist du nur? Du musst hier sein!« Ein furchtbarer Gedanke überkam ihn. Was, wenn irgendein Mönch die Karte in seinem Privatgemach aufbewahrte? In dem Fall würde Corren sie niemals finden. Er konnte nicht das ganze Kloster durchsuchen, zumal die Mönche, sah man von der singenden Ritualgruppe ab, gegenwärtig alle in ihren Gemächern lagen und schliefen.

Unschlüssig griff er nach seiner Laterne, drehte sich zum Eingang um … und erstarrte. Seine Augen weiteten sich. Dort oben, eine Manneslänge über dem Eingang, hing sie – und sie war deutlich größer, als er gedacht hatte! Einem Wandteppich gleich hatte jemand die sicher zwei mal vier Schritt messende Karte dort angebracht, wo sie nun in all ihrer Pracht prangte, ein fremdartiges Schmuckstück. Die Mönche hatten offenbar keine Ahnung, was es zeigte.

Einerseits verblüffte das Corren angesichts der umfangreichen Sammlung. Andererseits ähnelte das Bildnis wirklich kaum der Art von Karten, die in den Kulturen von Endar sonst gebräuchlich waren. Die scheinbar willkürliche Ansammlung vieleckiger Blöcke, die Linien und die vollkommen fremdartigen Symbole gaben dem unwissenden Betrachter wenige Hinweise darauf, was er hier vor sich hatte. Auffällig war allein das pyramidenähnliche Symbol genau im Zentrum der Karte, von dem ein in langen Strichen ausgeführtes, beinahe überirdisch anmutendes Strahlen ausging. Wenn Corren auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, ob er tatsächlich gefunden hatte, was er suchte, wäre dieser mit dem Abbild der strahlenden Pyramide ausgeräumt gewesen.

»ThaunasRa …«, flüsterte Corren andächtig. Die Stadt am Grund des Wolkenmeers. Er hatte sie gefunden.

Kapitel 2Die Hüter der Karte

11. Tag des 3. Mondlaufs im Jahr 850

Corren verlor keine weitere Zeit. Zu seinem Glück mangelte es nicht an Leitern in der Bibliothek, schließlich mussten die Mönche regelmäßig Schriftrollen und Bücher aus den oberen Fächern ihrer gemauerten Regale holen. Er lehnte eine von ihnen an die Wand neben dem Durchgang, über dem die Karte hing. Mit der Laterne in der Hand erklomm er die Stufen. Oben angekommen, hängte er die Lichtquelle an einen dafür vorgesehenen Haken an der Leiter, bevor er sein Messer zückte und den Arm ausstreckte. Der Gelehrte in ihm wand sich vor Unbehagen bei dem Gedanken, die uralte und in ihrem Wert kaum zu beziffernde Karte einfach so von der Wand zu schneiden und zu Boden fallen zu lassen. Aber er war nicht zu Hause in der Akademie von Geolath. Einen übertrieben vorsichtigen Umgang mit diesem Schatz konnte er sich gegenwärtig nicht leisten. Und eigentlich war dies hier ja auch nur ein Wegweiser, der Beginn einer Reise. Die eigentlichen Wunder warteten an ihrem Ende.

Rasch löste Corren die Karte von ihrem hölzernen Rahmen. Leise säuselnd glitt sie zu Boden. Mit der Lampe begab er sich nach unten und strich prüfend über das Material. Die Karte schien aus Stoff zu bestehen, allerdings einem sehr eigenartigen, der nichts ähnelte, was Corren kannte. Ungeachtet ihres Alters war sie erstaunlich weich und frei von Beschädigungen durch Insekten, und sie ließ sich leicht zusammenfalten, auch wenn Corren das Paket nicht so weit verkleinern konnte, dass es ganz in seinen Rucksack passte. Er schob die Karte tief hinein und sicherte den heraushängenden Rest mit den ledernen Riemen. Dann kehrte er in den Eingangsbereich zurück und löschte die Laterne. Ihn plagte kein schlechtes Gewissen, weil er ein wenig Unordnung in der Bibliothek hinterließ, doch ein Feuer wollte er gewiss nicht versehentlich auslösen.

Corren öffnete das Portal und trat ins Freie. Ein Hochgefühl erfasste ihn. Er musste bloß noch zurück auf die Mauer und mit dem Rufhorn das vereinbarte Zeichen geben, und kurz darauf wäre er mit der wundervollen Karte des legendenumwobenen ThaunasRa verschwunden. Mit einem Lächeln auf den Lippen eilte er um die Hausecke …

… und stieß beinahe mit der vierköpfigen Gruppe schwarzgekleideter Mönche zusammen, die ihm von dort entgegenkam. Die Mönche liefen barfuß und sprachen kein Wort, weswegen Corren sie nicht hatte kommen hören. Vielleicht war er auch durch seinen Fund etwas abgelenkt gewesen. Nun standen die Klosterbewohner unmittelbar vor ihm, hagere Gestalten mit braungebrannten Gesichtern und sorgsam gestutzten Bärten, die nicht nur heilige Symbole vor der Brust trugen, sondern auch gekrümmte Dolche im Gürtel.

Einen Herzschlag lang starrten sich alle wortlos und sehr überrascht an. Dann erkannten die Mönche, was aus Correns Rucksack ragte. »Dieb!«, brüllte der vorderste in der Sprache der Carthaoten. Alle rissen ihre Dolche hervor.

Fluchend wirbelte Corren herum und floh.

Seine Gedanken überschlugen sich, während er – alle Heimlichkeit über Bord werfend – quer über den Klosterhof rannte, ein Quartett Verwünschungen ausstoßender Mönche hinter sich. Er musste unbedingt irgendwo auf die Wehrmauer. Nur von dort konnte er abgeholt werden. Oder von einem Hausdach, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber den Weg durch eines der Gebäude wollte er nur antreten, wenn alle anderen versperrt waren, denn er fürchtete, sich in den Korridoren zu verlaufen oder gar in eine Sackgasse zu geraten.

Und so hielt er auf eine zweite Steintreppe zu, die an der Mauer in die Höhe führte und die ihm bereits auf dem Hinweg ins Auge gefallen war. Fast hatte er sie erreicht, als sich in einem benachbarten Bauwerk die Tür öffnete und weitere Mönche auf den Hof strömten. Manche der Männer trugen knielange Nachtgewänder, andere weite Beinkleider und einer von ihnen hatte bloß einen um die knochigen Hüften gewickelten Lendenschurz am Leib. Bewaffnet waren sie jedoch alle, entweder mit den scheinbar zeremoniellen Dolchen oder mit verzierten Stäben und elegant geschwungenen, sehr scharf aussehenden Schwertern.

»Haltet den Frevler!«, rief einer seiner Verfolger den Männern zu, die Corren auch ohne diese Aufforderung bereits entgegeneilten.

Corren schlug einen Haken, rutschte auf dem glatten Untergrund aus, vermochte sich gerade noch zu fangen und hetzte dann in eine neue Richtung davon. Er musste aufpassen, dass dieser Hof, der sich zunehmend mit Feinden füllte, nicht zur Todesfalle für ihn wurde. Ein scharfes Zischen veranlasste ihn, schnell den Kopf einzuziehen. Im nächsten Moment prallte ein Pfeil klappernd vom Steinpflaster des Hofs ab.

»Zeit für etwas Zauberei«, murmelte Corren und öffnete im Rennen seine Gürteltasche. Mit fliegenden Fingern zählte er an den darin steckenden Phiolen entlang, zog eine Phiole heraus und betete, sich nicht vertan zu haben. Ansonsten würde es ein Blutbad geben. Er drückte mit dem Daumen das Alchemistensiegel am Korkstopfen ein und warf die Phiole unbesehen hinter sich. Rasch presste er die Augenlider zusammen und hielt sich beide Ohren zu.

Ein dröhnender Donnerschlag übertönte das Geschrei und Fußgetrappel der Klosterbewohner. Einen Moment lang fürchtete Corren, doch die falsche Phiole erwischt zu haben, aber da er weder sengende Hitze verspürte noch von einem unsichtbaren Hammerschlag zu Boden geschleudert wurde, steckte der Drachenodem wohl nach wie vor in seiner Gürteltasche. Er vernahm vielstimmiges Schreien und Wehklagen, und als Corren die Augen wieder öffnete, sah er die Mönche im Hof geblendet umhertorkeln. Der Götterblitz, wie ihn der alchemistische Meister in Geolath bezeichnet hatte, dem Corren vor jeder Reise einen Besuch abstattete, schien seine Verfolger vollkommen unvorbereitet getroffen zu haben.

Leider hatte der Krach wohl auch die letzte lebende Seele innerhalb der Klostermauern – und vermutlich mehr als nur ein paar im Umland – auf Correns Anwesenheit aufmerksam gemacht. Hölzerne Fensterläden wurden aufgestoßen, schwere Vorhänge beiseitegezogen und Laternen suchend ins Freie gehalten. Dabei erhellte jede zusätzliche Lichtquelle den Hof ein klein wenig mehr und erleichterte den Bogenschützen im Torbereich die Angriffe auf Corren. Ein zweiter Pfeil schoss knapp über seinen Kopf hinweg, ein dritter streifte ihn schmerzhaft am linken Arm. Hoffentlich verwenden die Kerle kein Gift, dachte Corren, während er im Zickzack rennend nach einem dritten Aufgang suchte.

Ein Mann stellte sich ihm in den Weg, den langen, schlanken Kampfstab zum Schlag erhoben. Corren stieß einen wilden Schrei aus und hielt, ohne zu verlangsamen, auf seinen Gegner zu. Als dieser den Stab nach unten sausen ließ, hob Corren den linken Arm und blockte den Hieb mit seiner metallenen Armschiene. Es schepperte, und Schmerz durchzuckte ihn, wenn auch nicht so stark, dass es ihn gestoppt hätte. Corren nutzte die Gunst des Augenblicks und sprang in seinen Gegner hinein, wobei er sich halb drehte und den gesenkten Kampfstab zwischen Körper und rechtem Arm einklemmte. Er drehte sich weiter und entwand dem Mönch so die Stangenwaffe. Gleich darauf versuchte er, den Schwung für einen eigenen Hieb zu nutzen, aber er hatte zu viel davon und wirbelte an seinem Gegner vorbei. Corren taumelte zwei Schritte und lief danach einfach weiter, wobei er den Stab von sich warf, ohne einen zweiten Gedanken an seinen misslungenen Gegenangriff zu verschwenden. Er wollte sich ohnehin nicht in Kämpfe verwickeln lassen.

Zur Linken tauchte der Klostergarten auf, in dem die Mönche allerdings kein Obst oder Gemüse anpflanzten, sondern lediglich dornige Büsche mit Blüten, die im Schein der Öllampen und Laternen eigentümlich blau schillerten. Auch einige niedrige, schmutzig braune Bäume mit verdrehten Stämmen und Ästen wuchsen dort, und von fremdartigen Blumen mit rotvioletten Kelchen ging ein schwerer, süßlicher Duft aus. Unwillkürlich fragte sich Corren, ob die Pflanzen einem eigenwilligen Sinn für düstere Schönheit geschuldet waren oder ob sie womöglich als Rauschmittel in Ritualen Anwendung fanden. Oder als Waffengift! Er schob diese Sorge von sich. Die Wunde brannte zwar leicht, mehr spürte er aber nicht. Der Pfeil war bestimmt nicht vergiftet gewesen.

In diesem Augenblick fiel ihm im hinteren Teil des Gartens die hölzerne Treppe auf, die zu einem weitläufigen Dachbalkon führte, der wiederum an die Wehrmauer angrenzte. Sofort änderte Corren seine Richtung und eilte in den Garten hinein. Eine Gruppe wütender Mönche folgte ihm. Die Dornenbüsche kamen ihm jetzt sehr gelegen, denn sie waren für die halbnackten Männer nur unter beträchtlichen Schmerzen zu durchqueren, und die Wege dazwischen waren so schmal, dass sich seine Verfolger gegenseitig behinderten.

Um es seinen Gegnern noch schwerer zu machen, fuhr Corren mit der Hand erneut in seine Gürteltasche und zog eine zweite Phiole hervor. Weißlicher Dunst waberte darin. Er schleuderte sie vor sich auf den Boden und noch während er an den Splittern vorbeirannte, sah er, wie sich in unfassbarer Schnelle dichter Dunst bildete, der sich in den Büschen und Baumkronen verfing und seinen Verfolgern alle Sicht nahm. Wie erwartet, stolperten die Mönche im hinteren Teil der Meute übereinander und verfingen sich im umliegenden Dorngestrüpp, was das Geschrei, das von allen Klostermauern widerhallte, nur noch verstärkte.

Dennoch blieben ihm mindestens drei oder vier der Kerle hartnäckig auf den Fersen, wie Corren mit einem raschen Blick über die Schulter feststellte. Er jagte auf die Treppenstufen zu und hatte die ersten beiden schon erklommen, als sich von hinten jemand gegen ihn warf. Dürre Arme umschlangen seinen Hals, und ein Dolch blitzte in Correns Gesichtsfeld auf. Er packte das Handgelenk des Mannes und zwang es zur Seite. Dann stieß er sich mit beiden Füßen von den Treppenstufen ab und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht nach hinten.

Der Mönch keuchte überrascht auf, als sie in seine Gefährten fielen und alle gemeinsam in einem Knäuel aus Gliedern zu Boden gingen. Corren kam als Erster wieder auf die Beine. Er fuhr herum und verpasste einem der Männer, der sich soeben aufrappelte, einen schwungvollen Stiefeltritt gegen den Kopf. Der Mönch ächzte, verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.

Corren wartete nicht, bis sich die anderen zwei von dem Sturz erholt hatten, sondern wandte sich erneut der Treppe zu. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er sie empor. Gleichzeitig griff er nach dem Rufhorn und hob es an die Lippen. Oben auf dem von Zinnen eingefassten Dachbalkon angekommen, hielt er kurz inne und stieß hinein. Ein heller, klarer und weit in die Nacht hinaustragender Laut erschallte – das Signal für Zamashuras, ihn abzuholen. Corren nahm zwar an, dass sein Gefährte, der in einigem Abstand über dem Meer wartete, den Götterblitz und den Tumult im Kloster bereits bemerkt hatte, aber er hielt sich an das verabredete Zeichen.

Er hatte den ersten Hornstoß gerade beendet und wollte zum zweiten Ruf Luft holen, als ihn unvermittelt ein gewaltiger Schlag traf. Corren wurde mehrere Schritt weit über den Dachbalkon geworfen, überschlug sich dabei und krachte dann gegen die Wehrmauer auf der anderen Seite. Etwas zerbarst knackend, und ein stechender Schmerz fuhr durch seine linke Hand. Ein gepresstes Ächzen entrang sich seinen Lippen.

Blinzelnd rollte er sich herum. Das in mehrere scharfe Bruchstücke zersplitterte und nun vollkommen nutzlose Rufhorn lag am Boden. Nur beiläufig nahm Corren das Blut an seiner Linken wahr, das ihm aus mindestens zwei Schnitten übers Handgelenk in den Ärmel seines Hemds lief. Unwillkürlich zog er die Hand an den Körper und presste die Finger auf die Handfläche, um die Blutung zu verlangsamen. Dann hob er den Kopf, um zu schauen, was ihn getroffen hatte.

Der Anblick gefiel ihm überhaupt nicht.

Der Mann, der aus der Tür eines benachbarten Gebäudes getreten war, trug eine schwarze Pluderhose und ebenfalls schwarze Stiefel. Ein breiter Gürtel schlang sich um die Hüften, und ein geflochtener Riemen wand sich um die Stirn. Er trug kein Hemd, so dass Corren die breite, braungebrannte Brust sehen konnte, die mit arkanen Tätowierungen übersät war. Mit den meisten der Symbole konnte Corren nichts anfangen, obwohl er zumindest grundlegende Kenntnisse der carthaotischen Mystik besaß. Aber er musste ihre genaue Bedeutung auch nicht kennen. Der Umstand, dass die zeremoniellen Hautzeichnungen von einem giftgrünen Glühen erfüllt waren, genügte, um ihn davon zu überzeugen, dass er sich mit diesem Gegner nicht anlegen wollte.

Zeit gewinnen, schoss es ihm durch den Kopf, als der Mann, den Corren für einen Priester hielt, mit leichtvorgestreckten, ebenfalls tätowierten Händen und einem unheilvollen Lächeln auf den bärtigen Zügen, langsam näher schritt. Der Fremde schien sich seiner Überlegenheit so gewiss zu sein, dass er Corren nicht einmal daran hinderte, aufzustehen und mit der Rechten sein Kurzschwert zu ziehen. Corren hätte lieber nach dem Drachenodem gegriffen, aber der hätte auch ihn selbst vom Dach geblasen, wenn er ihn auf seinen Gegner geworfen hätte.

Mit lautstarkem Getrappel tauchten etliche Mönche am oberen Treppenrand auf. Jetzt saß Corren endgültig fest. Das einzig Gute war, dass seine Verfolger beim Anblick des Tätowierten erschrocken innehielten und am Rand des Dachbalkons stehen blieben. Offensichtlich wollten auch sie diesem Mann nicht in die Quere kommen.

»Du«, rief der Mann und deutete mit beiden Zeigefingern auf Corren, »bist des Todes, Frevler.« Seine kraftvolle Stimme war über den ganzen Balkon und sicher auch bis in den Garten hinunter zu hören. Der Auftritt des Priesters richtete sich nicht nur an Corren, sondern auch an sein Publikum.

Corren versuchte, seine Aussichten einzuschätzen, den Gegner irgendwie zu überrumpeln. Er hielt sie für nicht besonders gut. »Können wir möglicherweise darüber verhandeln?«, fragte er, um den unvermeidlichen Angriff hinauszuzögern. »Vielleicht vermögen wir, uns gütlich zu einigen. Ich bin nicht darauf aus, Euch zu schaden.«

»Uns zu schaden?« Der Priester lachte dröhnend. »Dein Schwert vermag meine Haut nicht einmal anzuritzen. Außerdem …« Seine Miene verfinsterte sich, und seine Stimme nahm einen zornigen Klang an. »… verhandeln wir nicht mit Gottlosen! Du bist in unser Kloster eingedrungen, um uns zu berauben. Von dieser Missetat kannst du dich nicht freikaufen. Nun erfahre, was wir mit Dieben wie dir –«

Ohne Vorwarnung sprang Corren dem nur drei Schritt entfernten Mann entgegen. Dabei reckte er dem Priester – ungeachtet dessen Prahlereien – die Spitze seines Kurzschwertes entgegen, in dem Versuch, ihn aufzuspießen. Er scheiterte.

Mit einer knappen Schlagbewegung wehrte sein Gegner ihn ab. Die Symbole auf seiner Brust glühten auf, als Corren von einem weiteren, unsichtbaren Titanenhieb getroffen wurde, der ihm das Schwert aus der Hand riss und ihn nach hinten fliegen ließ, bis er erneut gegen die Zinnen bewehrte Außenmauer des Klosters prallte. Sein Kopf schlug gegen den Stein, und ein heller Blitz des Schmerzes zuckte durch seinen Schädel. In seinem Mund machte sich der metallische Geschmack von Blut breit, und vor seinen Augen tanzten bunte Flecken. Diese Geschichte nahm einen Verlauf, der ihm überhaupt nicht gefiel.

Stöhnend drehte er sich zu seinem Feind um und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Ihr seid ein Feigling«, spie er dem Priester entgegen. »Ihr versteckt Euch hinter Eurer Magie, statt Euch in einem ehrenhaften Kampf Mann gegen Mann zu messen.«

Sein Gegenüber brach in schallendes Gelächter aus. Er schien dieses Schauspiel, das sie den Mönchen boten, außerordentlich zu genießen. »Du bist kein Mann, dem ich irgendeine Ehre erweisen müsste«, erwiderte er. »Du bist eine Made, nein, geringer als eine Made, und ich werde dich zerquetschen!« Wieder vollführte der Priester eine schlagende Handbewegung, und Corren krümmte sich unter einem heftigen Treffer. Beim nächsten Hieb fiel er keuchend und vornübergebeugt auf die Knie. Er spürte, wie sein Bewusstsein zu schwinden drohte.

Seine Rechte tastete zur Gürteltasche und dort nach dem Drachenodem. Wenn er schon sterben musste, wollte er seinen Widersacher mit in die Dunkelreiche reißen. Vazar würde dann entscheiden, wer von ihnen Ehre besaß und wer nicht.

Seine Finger schlossen sich gerade um die Phiole, als ein gellender Schrei die Nacht zerriss, wie der Jagdruf eines sehr großen Raubvogels. Ein zweiter Ruf schloss sich dem ersten an, voller Wildheit und Kampfesdurst.

»Was?« Verwirrt fuhr der Priester herum.

Zwei große Schatten fielen mit weitausgebreiteten Flügeln aus dem schwarzen Himmel. Dichte weiße Wolkenbänder bildeten sich mitten im Sturz unter ihren breiten Hufen, auf denen sie wie auf festem Grund binnen zweier Herzschläge herangaloppierten. Flügelschlagend und sich aufbäumend kamen die beiden Greifen mitten auf dem Dachbalkon zum Stehen. Wieder stießen sie wütende Jagdschreie aus, und ihr ungezügeltes Toben warf nicht nur den Priester zu Boden, sondern schleuderte auch zwei der Mönche rückwärts die Treppe hinunter.

»Magister!«, rief der grauhäutige Mann mit dem kahlen, kantigen Schädel und den großen, schwarzen Augen, der auf dem ersten der beiden Vogelpferde saß. »Kommt, schnell.«

Corren zögerte keinen Moment lang. Von neuer Kraft erfüllt, sprang er auf und rannte auf den reiterlosen Greif zu. Das kräftige Tier hielt still, während er sich auf seinen Rücken schwang und über den weißbraun gefiederten Hals beugte. »Los, Ishaljir«, befahl er dem Greif. Das Tier hob den schnabelbewehrten Kopf und stieß ein weiteres Kreischen aus, während es die Flügel ausbreitete und sich mit einem mächtigen Satz in die Luft erhob. Correns Begleiter folgte ihnen, bevor auch nur einer der Klosterbewohner etwas dagegen unternehmen konnte.

»Was hat Euch so lange aufgehalten, Shur?«, fragte Corren seinen Gefährten, einen Angehörigen des heutzutage selten gewordenen Volks der Quano.

»Ich kam, so schnell ich konnte«, rief Zamashuras zurück. »Aber unser Plan sah nicht vor, dass überall Wachen mit Bögen auf den Mauern stehen.«

»Schießt sie vom Himmel!«, brüllte der Priester unter ihnen, wie um die Worte des Quano zu unterstreichen. Corren warf einen Blick über die Schulter und sah, dass der Tätowierte die Arme gehoben hatte. Die Symbole auf seiner Brust glühten hell auf.

»Heute nicht, mein Freund«, knurrte Corren und drückte das Siegel der Phiole ein, die er nun doch aus der Gürteltasche gezogen hatte. Dann warf er sie hinter sich.

Eine donnernde Explosion erschütterte die Nacht, während Corren und Zamashuras auf ihren Greifen hinaus aufs Meer flohen.

Kapitel 3Geolath

8. Tag des 5. Mondlaufs im Jahr 850

Die Akademie von Geolath gehörte zu den größten und bedeutendsten Horten des Wissens rund um den inneren Ozean – und zu den ältesten. Seit über tausend Jahren erhoben sich die mächtigen Steingebäude auf dem Hügel am Südrand der prachtvollen Handelsstadt, und weder Kriege noch Naturgewalten hatten sie schleifen können. Mehr noch als die Zitadelle unten am Hafen schien die Akademie über das Glück der Bewohner von Geolath zu wachen, und sie versprach das Licht der Zivilisation in einer Welt voller Dunkelheit und Barbarei.

Corren hielt sich so selten wie möglich auf dem Campus auf. Er mochte die Aura der Würde durchaus, die von den hohen Bauten mit ihren dicken Sandsteinmauern, den imposanten Säulen, den weiten Bogenfenstern und den prachtvollen Eingangsportalen ausging. Er wusste die Schönheit der weitläufigen Gartenanlagen mit ihren Teichen, Brunnen, Zierhecken und schattenspendenden Bäumen zu schätzen. Vor allem erfreute sich Corren daran, dass junge Wissenssuchende von nah und fern diese Gemäuer und Gärten mit Leben erfüllten und ihnen ein wenig ihrer Schwere und Stille nahmen.

All das machte jedoch nicht wett, was ihm an der Akademie von Geolath zutiefst missfiel. Wo alte Männer – und ein paar vereinzelte Frauen – zusammenkamen, die allesamt von herausragendem Intellekt und nicht minder großer Eigenliebe waren, mussten einfach Ränke und Intrigen herrschen. Wie oft hatte Corren schon erlebt, dass geflüsterte Gespräche endeten, wenn er in einem der langen Bogengänge an den Sprechenden vorbeilief? Wie viele Male waren ihm misstrauische oder missgünstige Blicke durch halbgeöffnete Türen aus den Studierzimmern der Magister zugeworfen worden? Und er war wahrhaftig nicht der Mann mit den meisten Feinden auf dem Campus. Dafür verbrachte er viel zu viel Zeit auf Reisen fern der Akademie, wobei eben diese – wie auch Correns beachtliche Erfolge bei der Erforschung der zahllosen Mysterien der bekannten Welt – bei manchen seiner Mitgelehrten durchaus der Grund für die Neidgefühle waren.

Doch so gern er der Akademie nach ein paar notwendigen Wochen des Aufenthalts wieder den Rücken kehrte, um hinaus in die Welt zu ziehen – vor jeder Reise stand die Begegnung mit dem Rat der Erzmagister. Der Rat entschied darüber, ob eine Forschungsreise von der Akademie unterstützt wurde, und auf diese Unterstützung war Corren angewiesen. Er hatte schon darüber nachgedacht, sich stattdessen an einen reichen Adligen zu wenden, der ihn förderte. Der Nachteil, wenn man von einem König Gold nahm, bestand jedoch darin, dass man sich damit zu seinem Diener machte, von dem erwartet wurde, dass er jedweden Fund zuerst seinem Herrn darbot. Und die meisten Artefakte, nach denen Corren suchte, wollte er nicht in den Händen von Männern und Frauen wissen, die sich über Familienzwist und ähnlich unbedeutende Dinge derart zu zerstreiten vermochten, dass Kriege ausbrachen. Dann schlug er sich lieber mit der selbstgerechten Art der Gelehrten der Akademie herum. Deren Fehden beschränkten sich immerhin auf Rufmord und das wissenschaftliche Überflügeln eines Kontrahenten.

Und so stand Corren wieder einmal inmitten der sonnendurchfluteten, kreisrunden Kammer, die sich auf dem flachen Dach der mächtigen Fakultät für Staatskunde und Philosophie erhob und in der der Magisterrat tagte. Der Boden des kleinen Saals war mit Marmor ausgelegt, auf dem zwölf prunkvolle Stühle einen weiten Halbkreis bildeten. Diese waren den Ratsmitgliedern vorbehalten. Corren war als Bittsteller gezwungen, seinen Fall stehend vorzutragen. Immerhin wurde er von Zamashuras und zwei Fakultätsdienern begleitet, die seine Unterlagen und die große, für den Zweck der Präsentation auf einen Holzrahmen aufgezogene Karte von ThaunasRa für ihn trugen. Über den Köpfen aller wölbte sich eine Kuppeldecke, die das unter Gebildeten verehrte Meisterwerk des cordurischen Malers Manatos zeigte: die Dreigötter, wie sie den Menschen das Wissen der Welt in Form einer Feder, einer Schriftrolle und eines Abakus überreichen.

Der Rat bestand in diesen Tagen aus zehn Männern und zwei Frauen in überwiegend fortgeschrittenem Alter, die zugleich die Köpfe der zwölf Fakultäten der Akademie waren. Geführt wurde er von Erzmagister Jovaal, einem Gelehrten aus der weitentfernten Metropole Agialon, die ganz im Nordwesten von Endar lag. Jovaal war ein hagerer Mann mit scharfen Zügen, sorgsam geschnittenem, weißem Bart und stechenden Habichtsaugen. Er stand der Handelsfakultät vor und galt als strenger Kritiker von Correns Reisen, welche er für frivole Unternehmungen hielt, die allein dem Zweck dienten, die Abenteuerlust eines gewissen Magisters von fragwürdigem Ruf zu stillen.

»Nun denn, Magister von Dask«, sagte Jovaal mit nasaler Stimme. »Erheitern Sie uns mit Ihren neusten Plänen für eine Reise in ferne Länder.«

Corren lag eine wenig schmeichelhafte Erwiderung auf der Zunge, aber er schluckte sie hinunter, richtete sich auf und nickte dem Halbrund zu. »Geschätzte Erzmagister, gestattet mir, ein wenig auszuholen. Vor sieben Jahren begegnete ich auf einer Reise in die Wüste Shaom einem alten Sidhari. Er erzählte mir von einem Ort, den er das Wolkenmeer nannte, südlich der Wüste und südlich der Wälder, die jenseits davon liegen. Er beschrieb es mir als einen außergewöhnlichen Ort, an dem Vogelmenschen auf schwebenden Inseln leben und es Drachen in einer Vielzahl gibt, die wir uns nicht vorstellen können.«

»Schwebende Inseln?« Erzmagister Valarian von der Fakultät für Kriegskunde sah Corren ungläubig an. »Gewiss habt Ihr ihm dieses Märchen nicht geglaubt.«

»Das Wolkenmeer ist kein Märchen«, widersprach Erzmagister Samnion, der den Lehrstuhl für Geschichte innehatte. »Schon alte Schriften der Sidhari künden davon.«

Corren nickte seinem früheren Mentor dankbar zu. »Schriften, die auch ich mit Neugierde untersucht habe«, fügte er an. »Es gibt viele Lande auf Endar, denen ein besonderer Zauber innewohnt. Ich denke an den alten Wald Cerashmon oder die verfluchten Ebenen von Fundur. Doch keines von ihnen ist derart gewaltig wie das Wolkenmeer, dessen Weiten, so scheint es, noch niemand vermessen hat. Dieses Wunder wollte ich verstehen. Ich reiste nach Xol, und ich reiste nach Nemred, wo ich erfuhr, dass es tatsächlich Handelsschiffe gibt, die an der Küste des Westlichen Ozeans entlang nach Süden reisen, bis sie den Rand des Wolkenmeers erreichen, wo sie Handel mit den Einheimischen treiben, die von der Drachenjagd leben.«

»Warum wissen wir nichts von diesen Handelsrouten?«, fragte Nicodaios, der Erzmagister für Arkane Studien.

»Weil sie in Nemred enden?«, sagte Valarian.

Corren verstand, was er damit meinte. Die Freundschaft zwischen Phoekia und Nemred war noch nie sonderlich groß gewesen. In den letzten Jahren hatte sie aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen weiter gelitten, was dazu führte, dass nur sehr wenig von dem, was in dem anderen Land vor sich ging, bis nach Geolath drang. Er selbst hatte Nemred nur deshalb ohne größere Zwischenfälle besuchen können, weil er aus einem Land im Norden stammte und man ihm seine Bande nach Phoekia nicht ansah.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, unterband Jovaal jede mögliche Diskussion. »Bitte, fahrt fort, Magister von Dask.«

»Gern. Die Händlerschiffe waren nicht die wichtigste Entdeckung, die ich auf dieser Reise machte. Vor allem stieß ich, als ich die Krypta einer reichen Händlerdynastie besuchte, auf eine Legende, derzufolge das Wolkenmeer nicht natürlichen Ursprungs sei, sondern vor Jahrtausenden aus einer magischen Katastrophe entstanden sein soll.«

»Habt Ihr diese Schrift kopiert?«, wollte Jovaal wissen.

»Dazu hatte ich bedauerlicherweise keine Gelegenheit. Die Umstände meines Besuchs in der Krypta waren … nun, mir blieb nicht viel Zeit vor Ort.«

»Seid Ihr etwa in diese Grabstätte eingebrochen?« Urshamnara, die Erzmagistra der philosophischen Fakultät, blickte Corren aus schwarzen Quano-Augen entrüstet an.

»Ich tat, was zu tun war, um zu erfahren, was ich erfahren musste«, sagte Corren zu seiner Verteidigung. »Ich versichere Euch, dass die Totenruhe nicht gestört wurde. Ich habe diesem Bauwerk nur eines seiner zahlreichen Geheimnisse entlockt. Und es war ein Geheimnis von faszinierenden Ausmaßen. Denn es handelte von ThaunasRa.« Mit einer vielsagenden Geste deutete er auf die Karte in seinem Rücken.

»Was ist ThaunasRa?«, wollte Jovaal wissen. »Eine Stadt?«

»Ganz recht«, antwortete Corren. »Der Legende nach lebte einst eine gewaltige Zivilisation, das Volk der ArChaon, in den Tieflanden, über denen sich heute das Wolkenmeer erstreckt. Ihr Reichtum, so heißt es, wurde nur von ihrem Wissensschatz übertroffen. Die ArChaon erforschten die Magie und die Schöpfung auf eine Weise, die wir uns nicht einmal annähernd vorstellen können – doch ihre Neugierde wurde ihr Untergang, und die Nebel verschlangen sie. Stellt Euch das vor! Was immer damals in ThaunasRa, dem Zentrum all ihres Schaffens geschah, es brachte das ganze Wolkenmeer hervor! Seitdem hat man nie mehr von diesen ArChaon gehört. Alles, was sie schufen, ging mit ihnen verloren.«

»Wenn alles verloren ging, woher habt Ihr dann dieses Artefakt?«, fragte Valarian und deutete auf die Karte.

»Aus der Bibliothek eines Klosters an der Südküste von Carthaos. Sie wurde von einem Mönchsorden verwahrt, der allerdings keinerlei Vorstellung davon hatte, was sich in seinem Besitz befand. Und bevor Ihr fragt: Von der Karte erfuhr ich durch einen nondurischen Abenteurer, dem ich vor einem Jahr begegnete.«

»Ein bemerkenswerter Zufall«, sagte Jovaal.

»Nein, ein Glücksfall!«, verbesserte Corren ihn. »Ein Zufall wäre es gewesen, hätte ich nicht nach ihm gesucht.«

»Und wie kamt Ihr darauf, ihn zu suchen?«

»Ich konnte nicht glauben, dass meine Spur in Nemred enden sollte. Also begann ich, meine Suche nach ThaunasRa und den ArChaon auszudehnen. Über die Stadt fand ich keine weiteren Geschichten. Aber ich fand Hinweise auf eine weitere Stadt: GongaThar, in den Tieflanden von Nondur.«

Jovaals Augen verengten sich. »Diesen Namen kenne ich von irgendwoher, nur etwas anders betont.«

»Es gibt Geschichten«, sagte Samnion, »dass vor beinahe hundertfünfzig Jahren eine gewaltige Schlacht vor den Toren einer uralten Stadt namens Gongathar geschlagen wurde. Menschen sollen an der Seite von Nonduriern, Alben und Drachen gegen Dämonenbrut gekämpft haben.«

»Richtig! Die Legende von den Kristalldrachenrittern. Ein Märchen, das man Kindern erzählt, die noch von edlen Heldentaten träumen.«

»Das ist kein Märchen«, widersprach der Magister für Geschichte. »Es gibt zahlreiche Aufzeichnungen aus jenen Tagen, die von der Schlacht künden, einige aus sehr glaubwürdiger Quelle.«

»Aber keine dieser Aufzeichnungen verknüpfte Gongathar – oder vielmehr GongaThar – mit den ArChaon«, nahm Corren den Faden wieder auf. »Es scheint damals niemand gewusst zu haben, welchen Ursprung jene Stadt einst hatte, denn sie stand schon vor hundertfünfzig Jahren seit Ewigkeiten leer. Ich selbst vermochte GongaThar nur deshalb den ArChaon zuzuschreiben, weil mir auf Abbildungen beider Städte architektonische Ähnlichkeiten auffielen.«

»Und seid Ihr nach GongaThar gereist?«, wollte Urshamnara wissen.

Corren schüttelte den Kopf. »Meine Fahrt führte mich nur bis nach Nonuada, eine Hafenstadt an der Südküste von Nondur. Tatsächlich versuchte ich, eine Expedition nach GongaThar zusammenzustellen, aber ich fand niemanden, der mich dorthin begleiten wollte. Ich wäre womöglich allein, oder vielmehr nur in Begleitung meines treuen Adlatus Zamashuras, in die Wildnis vorgedrungen, aber das Unterfangen wurde hinfällig, als ich von besagtem nondurischen Abenteurer erfuhr, der GongaThar bereits erforscht hatte. Ich suchte ihn auf und überzeugte ihn, mir Einblicke in seine Funde zu gestatten. Viel besaß er nicht mehr, denn er hatte das meiste schon vor Jahren verkauft, um für eine bedauerliche Sucht nach Glücksspielen aufkommen zu können. Der Besuch bei ihm war dennoch ein wichtiger Schritt für mich, denn er führte mich, wie schon erwähnt, auf die Spur der Karte von ThaunasRa.«

Jovaal legte die Fingerspitzen seiner Hände zusammen und beugte sich leicht vor. »Es ist bemerkenswert, wie viele Mühen und zweifellos auch Geldmittel Ihr in diese persönlichen Forschungen gesteckt habt, Magister. Ich will mir gar nicht ausrechnen, was das diese Akademie bereits gekostet hat, ohne dass wir darüber unterrichtet wurden.«

Corren runzelte unwillig die Stirn. »Glaubt mir, Erzmagister, ich habe stets darauf geachtet, meine eigentliche Arbeit von dieser Nebenbeschäftigung nicht stören zu lassen. Das ist ja der Grund dafür, warum alle Vorbereitungen bis zu diesem Augenblick so lange gedauert haben. In offiziellem Auftrag wäre ich vermutlich binnen Jahresfrist an den Punkt gelangt, an dem ich jetzt stehe, statt mehr als ein halbes Jahrzehnt mit der Suche zu verbringen.«

»Und warum genau steht Ihr nun heute vor uns?«

»Ich möchte die Erzmagister darum ersuchen, eine Expedition ins Wolkenmeer zu unterstützen. Die Karte von ThaunasRa soll mir helfen, diese uralte Stätte am Grund der Nebel zu finden. Zum einen hoffe ich, dort die Antwort auf eines der größten Mysterien unserer Zeit zu erhalten. Wie ist das Wolkenmeer entstanden? Welche wundersamen Künste betrieben die ArChaon, die solch gewaltige Auswirkungen auf unsere Welt hatten? Wer weiß, was wir von ihrer uralten Kultur lernen können. Abgesehen davon erwarte ich, dass diese Reise auch sehr viel unmittelbareren Gewinn einbringt; Schätze, die dieser Akademie zu besonderem Ruhm verhelfen werden, denn immerhin besitzt bisher keine Sammlung Artefakte der ArChaon. Meine Forderungen sind nicht groß, gemessen an der Bedeutung dieser Reise, die Ihr sicher erkennen werdet: Gebt mir nur die Mittel, um mit meinem Adlatus Zamashuras und drei Akademiedienern die Reise nach Skargakar anzutreten. Das ist die größte Stadt am Rand des Wolkenmeers. Dort will ich zwei Flugschiffe mit fähigen Mannschaften, Söldnern und reichlich Proviant ausstatten, um in die weißen Weiten aufzubrechen.«

»Warum Söldner?«, fragte Jovaal. »Ihr wollt doch keinen Krieg führen.«

»Das Wolkenmeer wird von den Taijirin bewohnt, Vogelmenschen«, antwortete Corren. »Es heißt, dass nicht alle ihrer Kolonien jenen freundlich gesinnt sind, die in ihr Reich eindringen. Außerdem soll es Drachen in großer Zahl in diesen Breiten geben. Ortskundigen Schutz halte ich für dringend geboten.«

»Ich sage, wir sollten Magister von Dask unterstützen«, meldete sich Samnion zu Wort. »Der Ertrag dieser Expedition klingt ausgesprochen verlockend.«

»Wie groß ist dieses Wolkenmeer?«, wollte Valarian wissen.

»Dem Vernehmen nach sehr groß«, gestand Corren.

»Eure Karte sieht nicht sehr genau aus. Was lässt Euch glauben, dass Ihr ThaunasRa überhaupt findet, zumal es von Nebeln verhüllt wird?«

Corren sah ihn eindringlich an. »Ich werde es finden. Habe ich in all den Jahren nicht schon oft genug bewiesen, dass ich mein Ziel immer finde? Es mag manchmal länger dauern, als anfangs gedacht, und ich behaupte auch gar nicht, dass diese Expedition von raschem Erfolg gekrönt sein wird. Aber wenn ThaunasRa mehr ist als eine Legende, werde ich auf seinen Straßen wandeln und seine Geheimnisse ergründen.«

»Ich glaube Magister von Dask«, sagte Urshamnara ruhig.

Jovaal schnaubte abfällig. »Und ich glaube, dass er einmal mehr den Blick auf die Wolken richtet – und diesmal im wahrsten Sinne des Wortes –, statt sich um näherliegende Rätsel zu kümmern. Warum untersucht Ihr nicht die alten Siedlungsruinen am Rand der Shaom oder erforscht die Ruinen von Pryphos?«

»Weil es andere Männer für diese Aufgaben gibt«, gab Corren zurück. »Männer, deren Wurzeln in Phoekia liegen und deren Blick am Horizont innehält. Ich will damit nicht sagen, dass die von Euch vorgeschlagenen Unterfangen keiner Aufmerksamkeit wert wären. Dennoch werdet ihr dort nichts finden, das mit dem Wissen und den Artefakten vergleichbar ist, die in ThaunasRa warten.«

»Ich möchte vorschlagen, dass wir die Beratungen über den Antrag des Magisters in kleiner Runde fortführen«, mischte sich Nicodaios ein und nickte Corren zu. »Wir unterrichten Euch von unserer Entscheidung.«

Obwohl es Corren lieber gewesen wäre, weiter für sein Anliegen zu kämpfen, wusste er, dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich zu fügen. Das Vorgehen des Rats war nicht ungewöhnlich. Er neigte den Kopf. »Wünscht Ihr, dass ich vor den Türen warte, oder kann ich mich in mein Studierzimmer zurückziehen?«

»Geht nur zu Euren Studien, Magister«, sagte Samnion. »Ich werde Euch später aufsuchen und Euch die hoffentlich frohe Kunde von der Zusage des Rats, Euer Unterfangen zu unterstützen, überbringen.«

»Ich danke Euch, Erzmagister. Ehrenwerte Ratsmitglieder.« Mit einem letzten Blick in die Runde verabschiedete sich Corren.

 

Sein Studierzimmer im ersten Stock der Fakultät für Geschichte war ein kleiner Raum mit einem schmalen Fenster, vor dem ein verzierter Sonnenschutz aus lackiertem Holz hing. So herrschte auch tagsüber, wenn die Sonne hell und heiß vom Himmel über Geolath brannte, ein angenehmes Halbdunkel im Raum. An den Wänden reihten sich schwere Holzregale, in denen Corren Folianten und Schriftrollen aufbewahrte, Texte, die teilweise aus eigener Feder stammten. Dazwischen standen und lagen einige verstreute Erinnerungen an seine Reisen, darunter ein Sidhari-Jagdmesser, eine bemalte Schale aus Xol, ein traditionelles Meditationswindspiel der Quano und eine kleine Statuette, die Crimsha zeigte, eine der legendären Rudelführerinnen der Wolflinge aus den Steppenreichen nördlich von Atlesia.

Die linke Raumseite wurde von einem großen Studiertisch eingenommen, an dem zwei Sitzgelegenheiten standen: ein breiter, schalenförmiger Sessel, wie er in Phoekia üblich war, und ein hochlehniger Stuhl, den Corren sich extra nach dem Vorbild der Möbel aus seiner alten Heimat hatte anfertigen lassen. Anders als im Rest des Raums, den Zamashuras in leidlicher Ordnung zu halten versuchte, lag auf dem Tisch ein Durcheinander an Dokumenten. Mehr als einmal hatte der Quano Corren darum gebeten, die Unterlagen aufräumen zu dürfen, aber Corren verweigerte ihm diesen Wunsch beharrlich. Das Chaos auf dem Tisch war seiner Meinung nach genau so, wie es sein musste, um erfolgreich arbeiten zu können.

Derzeit beschäftigten sich die meisten Bücher, Schriftrollen und sonstigen Papiere mit dem Wolkenmeer, den ArChaon und Correns geplanter Expedition. Eines nämlich stand für ihn fest: Ganz gleich, ob der Rat der Erzmagister seine Fahrt nach Süden befürwortete oder nicht – er würde dem Geheimnis von ThaunasRa auf den Grund gehen. Oder vielmehr: Ich werde für das Geheimnis von ThaunasRa auf den Grund gehen, dachte Corren schmunzelnd, nachdem er die Fakultätsdiener, die seine gerahmte Karte an eins der Regale gelehnt hatten, hinausgescheucht hatte.

»Braucht Ihr mich noch, Magister?«, fragte Zamashuras, der im Türrahmen stehen geblieben war.

»Nein, Shur. Geht nur. Ich warte hier auf den Richtspruch der Erzmagister. Sollte ich Euch benötigen, lasse ich nach Euch schicken.«

Zustimmend neigte sein Adlatus den Kopf und zog sich zurück. Die Tür ließ er hinter sich offen. Die meisten Magister pflegten ihre Türen offen stehen zu lassen, damit die Kühle des Gangs die Wärme in ihren Studierzimmern etwas linderte. Corren setzte die zeremonielle Haube ab und öffnete den Kragen seines bodenlangen Magistergewandes. Dann schob er die Ärmel hoch und benetzte Hände und Unterarme mit dem Wasser der Waschschale, die in einer Ecke des Raums auf einem kleineren Tisch stand. Der Sommer in Phoekia war unangenehm heiß, und selbst nach all den Jahren, die er nun schon in Geolath lebte, hatte er sich nicht daran gewöhnt.

Er setzte sich auf den hochlehnigen Stuhl und ließ seinen Blick auf der großen Stadtkarte ihm gegenüber ruhen. »Der Grund des Wolkenmeers«, murmelte er. Er wusste so gut wie nichts darüber. Einer der Händler in Nemred hatte behauptet, es gäbe gar keinen Grund, sondern die Wolken würden bis in die Nebel reichen, die jenseits des Weltenrands lagen. Das hielt Corren für ein Märchen, denn die Legenden über die ArChaon – die schriftlich niedergelegten und durch Abbildungen belegten Legenden – sprachen ganz eindeutig davon, dass diese ihre Stadt ThaunasRa auf festem Grund errichtet hatten. Es hatte eine Zeit vor dem Wolkenmeer gegeben, als sich jenseits des Landfalls, einer gewaltigen Felsstufe, die das Land teilte, eine weite Tiefebene erstreckt hatte und eben kein Ozean aus weißem Dunst.

Ein anderer Händler hatte diese Version der Geschichte bestätigt. Allerdings wusste er seine ganz eigenen Schauermären zum Grund des Wolkenmeers zu erzählen. Gewaltige Schrecken hausten angeblich tief in den Nebeln, bleiche, aufgedunsene Geschöpfe voller Grausamkeit. Und lebende Tote gäbe es dort unten, glücklose Seelen, die es einst in diese stille Welt verschlagen habe. In einem Punkt waren sich beide Männer von der Küste des Landfalls übrigens einig gewesen: Wer einmal von den Wolken verschlungen wurde, den gaben sie nie wieder frei.

Corren seufzte. Wenn er für jede Schauergeschichte, die er im Laufe seines Lebens über abgelegene und verwunschene Stätten gehört hatte, eine Silbermünze erhalten hätte, wäre er heute der reichste Mann in allen Landen rund um den Inneren Ozean.

Er ordnete einige Schriftrollen, während er darauf wartete, dass Samnion ihn aufsuchte, um ihm Nachricht vom Rat zu überbringen. Als der ältere Mann schließlich eintrat, hatte sich der Stapel auf Correns Schreibtisch merklich gelichtet.

»Das hat lange gedauert«, stellte er fest.

»In der Tat«, betätigte Samnion. »Erzmagister Jovaal und zwei andere trugen sehr wortreich ihre Zweifel am Erfolg Eurer Reise vor, nachdem Ihr uns verlassen hattet. Letztendlich hat Euch der Rat allerdings, nicht zuletzt dank meiner Fürsprache, einen Begleiter und die Mittel für ein Schiff samt Besatzung für die Expedition zugestanden – aber es wird kein großes Schiff sein.«

Corren trat vor und legte eine Hand auf die Schulter seines alten Lehrers. »Ich danke Euch, Samnion. Ihr habt mich noch nie enttäuscht. Und mit dem Ergebnis dieser Beratungen kann ich durchaus leben. Ich mag überschaubare Reisegruppen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich meine Forderungen nur deshalb so hoch angesetzt, weil ich wusste, dass Jovaal sie mir mindestens um die Hälfte kürzen würde, ganz gleich, was ich erbitte.« Er grinste, und der andere Mann antwortete mit einem verschmitzten Lächeln.

»Ich dachte mir schon so etwas, Corren. Ich kenne Euch einfach schon zu lange.«

»Lange, doch noch nicht zu lange.«

Beipflichtend neigte Samnion das weise Haupt. »So ist es recht.« Dann wurde seine Miene ernst. »Und weil wir uns schon so lange kennen, wünschte ich mir, dass Ihr mir reinen Wein einschenken würdet.«

Verwirrt schaute Corren seinen früheren Mentor an. »Wie meint Ihr das?«

Samnion begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. »Ihr habt Eure Gründe für diese Expedition gut dargelegt. Ihr sucht nach Wissen und nach Reichtümern, habt Ihr gesagt. Die anderen Erzmagister habt Ihr damit durchaus überzeugt, mich jedoch nicht.«

»Aber es ist wahr!«, verteidigte sich Corren.

»Wahr schon, nur nicht die ganze Wahrheit, oder?« Samnion blieb stehen und sah ihn mit prüfendem Blick an. »Vergesst nicht, wie gut ich Euch kenne. Ihr seid kein Mann, der einfach nur nach Goldmünzen und alten Schriften sucht. Dazu reist man nicht an alle vier Enden der bekannten Welt. Euch hat schon immer mehr getrieben. Ihr habt nach dem Lehrbuch der Zauberer des Silbernen Kreises gesucht und nach dem Schattenzepter von Zahadhul. Derlei Artefakte wecken Euren Forschergeist. Also, was glaubt Ihr in ThaunasRa zu finden?«

Kapitel 4Das Größte aller Wunder

8. Tag des 5. Mondlaufs im Jahr 850

Corren nickte langsam. »Ihr kennt mich in der Tat gut. Also schön, ich will Euch ins Vertrauen ziehen. Gesellt Euch zu mir.« Er trat an seinen Tisch und zog eine in verwittertes graues Leder gebundene Kladde aus einem der Dokumentenstapel. Vorsichtig löste er die Kordel, mit der er sie zugebunden hatte, und schlug sie auf. Im Inneren befanden sich einige sehr alt wirkende Pergamentbögen, die mit schwungvollen Symbolen und eigenartigen Zeichnungen gefüllt waren.

Neugierig beugte Samnion sich vor. »Was ist das?«

»Ich weiß es selbst nicht genau«, gestand Corren. »Ich erhielt die Kladde vor acht Jahren in Aidranon.«

»In der Hauptstadt von Cordur?«

»Ja. Ich war dort zu einem Gastvortrag an die Akademie eingeladen, wie Ihr Euch möglicherweise erinnert.«

Samnion schüttelte den Kopf. »Acht Jahre sind eine lange Zeit für ein so altes Gedächtnis wie das meine.«

»Es ist auch nicht von Bedeutung. Jedenfalls vertrieb ich mir den Abend in der Stadt und stieß dabei unweit des Hafenviertels auf einen kleinen Straßenmarkt. An einem Stand verkaufte ein Mann sichtlich alte Bücher und Schriftrollen. Ich weiß noch, wie mir damals auffiel, dass er augenscheinlich blind war, aber dennoch sehr genau zu wissen schien, was um ihn herum vorging.«

»Ein Diener der Alten Macht vielleicht?«, vermutete Samnion.

»Ja, ich hatte auch den Gedanken, dass es sich um einen Zauberkundigen handeln könnte«, sagte Corren. »Er bezeichnete sich als Wanderer und Chronisten, und erstaunlicherweise behauptete er, mich zu kennen. Er habe meinem Gastvortrag am Vormittag gelauscht und mit besonderer Freude mein Interesse an den größten Geheimnissen unserer Welt erkannt. Und dann überreichte er mir diese Kladde. Er wollte nicht einmal Geld dafür. Er sagte bloß, ich solle versuchen, dieses Geheimnis zu lüften. Erst als ich wieder in der Akademie weilte, wurde mir klar, wie alt und eigentümlich der Inhalt der Kladde wirklich war, doch als ich den Mann am nächsten Tag erneut aufsuchen wollte, waren er und sein Stand verschwunden.«

»Höchst seltsam«, bemerkte Samnion.

»Ja, das war es wohl. Ich wollte ihn für einen Scharlatan halten, der sich einen Spaß mit mir erlaubt hatte, aber die Pergamente wirkten echt. Meine Neugierde war geweckt. Diese Schriftsymbole erinnerten mich an die der Sidhari, und so begann ich, kaum dass ich wieder in Geolath weilte, mit der Entzifferung. Bis heute ist es mir nicht vollständig gelungen, aber ich fand Hinweise auf einen Ort, der Meer aus Wolken – oder so ähnlich – heißen musste.«

Samnion hob eine Hand. »Wartet, mein Freund. Sagtet Ihr nicht, ein alter Sidhari habe Euch erstmals von dem Wolkenmeer erzählt?«

»Das entspricht auch der Wahrheit, wenn man meine Aussage wörtlich nimmt.« Correns Mundwinkel verzogen sich zu einem hintergründigen Lächeln. »Erzählt hat mir wirklich erstmals ein alter Sidhari davon. Ich nutzte eine Expedition an eine Ruinenstätte in der Shaom, um mir Hilfe beim Verständnis der Pergamente zu holen. Ein Weiser aus dem Volk der Wüstenelfen bestätigte mir, dass diese Dokumente einst von Elfenhand verfasst worden waren, allerdings vor mehr als tausend Jahren. Selbst er konnte diese Texte nicht viel besser lesen als ich, aber er erzählte mir die Legende vom Wolkenmeer.«

»Schön und gut«, sagte Samnion. »Ihr habt also diese Schriften im Rat verschwiegen, die Ihr unter fragwürdigen Umständen erworben habt. Und vor mir habt Ihr sie während all der Jahre im Übrigen auch verborgen.« Eine unterschwellige Anklage schwang in seiner Stimme mit.

»Das ist wahr«, gestand Corren, der zögerte, bevor er weitersprach. »Ich kann Euch die Gründe dafür nur schwer erklären, aber ich hatte immer das Gefühl, dass diese Suche allein die meine sei, dass dieser Fremde in Aidranon mir und niemandem sonst dieses Rätsel aufgegeben hat. Außerdem hatte ich lange Jahre nur bruchstückhaftes und, wie Ihr selbst sagt, fragwürdiges Wissen gesammelt. Ich musste daraus ein Bild zusammensetzen, das ich den Erzmagistern präsentieren konnte, ohne mich der Lächerlichkeit preiszugeben. Irgendwie schloss das Euch mit ein. Doch handelte ich damit so viel anders als die anderen Gelehrten der Akademie? Verfolgt hier nicht jeder seine eigenen, geheimen Forschungen, die er erst darbieten möchte, wenn ihm niemand mehr den Ruhm dafür nehmen kann?«

Samnion seufzte. »Ja, vermutlich habt Ihr recht. Ich vergesse manchmal, dass Ihr schon seit zehn Jahren nicht mehr mein Schüler seid, sondern ein Magister wie ich selbst. Natürlich seid Ihr mir keine Rechenschaft schuldig, solange Ihr mich nicht in meiner Funktion als Mitglied des Rats um Geldmittel der Akademie bittet. Und so spreche ich auch nicht als Euer einstiger Mentor, sondern als Euer langjähriger Freund, wenn ich sage, dass ich noch immer nicht ganz erkenne, was Euch wirklich antreibt, ThaunasRa zu finden. Die Worte dieses blinden Zauberers waren es gewiss nicht.«

»Nein. Zunächst hatte mich tatsächlich die Entdeckerlust gepackt. Diese führte mich, wie geschildert, nach Nemred. Dort erfuhr ich nicht bloß von den ArChaon, ThaunasRa und dem magischen Ursprung des Wolkenmeers. Die Legenden dienten mir darüber hinaus als Schlüssel, der mir beim Entziffern weiterer Textteile dieser alten Pergamente half. Ihr könnt Euch meine Aufregung vorstellen, als ich auch in den Schriften Verweise auf die ArChaon und ihre Stadt entdeckte. Und ich fand noch mehr.«