Der wilde Schmerz in mir - Ada Mea - E-Book
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Ada Mea

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Beschreibung

Der Neue ist einer von den bösen Jungs … das ist Mirjam klar, bevor sie Said kennenlernt. Der geheimnisvolle Südländer wird nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ihrer Station zugeteilt, um seinen gemeinnützigen Sozialdienst zu verrichten. Mit seinen Tattoos und der arroganten Art stößt Said bei der selbstbewussten Mirjam sofort auf Widerstand. Ein aufregendes Machtspiel beginnt. Je länger die beiden zusammenarbeiten, umso schwerer können sie sich der Anziehungskraft des anderen entziehen. Eines Tages findet Mirjam heraus, welcher schwere Schicksalsschlag Said zu dem machte, der er heute ist. Und plötzlich kennt ihr Herz nur noch eine Richtung …

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DER WILDE SCHMERZ IN MIR

ADA MEA

INHALT

1. Said

2. Mirjam

3. Said

4. Mirjam

5. Said

6. Mirjam

7. Said

8. Mirjam

9. Said

10. Mirjam

11. Said

12. Mirjam

13. Said

14. Mirjam

15. Said

16. Mirjam

17. Said

18. Mirjam

19. Said

20. Mirjam

21. Said

Die Autorin

Sehnsucht:Schwerelos

Die Loge des Verführers

Date Night

1

SAID

Ich stehe im Schatten einer Kastanie und rauche eine selbstgedrehte Zigarette. Missmutig blinzle ich in den stahlblauen Himmel, der einen herrlichen Tag verspricht. Das taufeuchte Gras glitzert, die Erde dampft. Am liebsten würde ich die Schuhe von meinen Füßen streifen und eine Runde über den Rasen sprinten. Aufseufzend nehme ich einen tiefen Zug. Der billige Tabak fährt wie Feuer in meine Lungen. Ich huste erstickt und fasse mir an die Brust.

Wie viel schöner wäre es jetzt am See, denke ich wehmütig. Schwimmen, abtauchen, in der Wiese liegen …

Mit dem Handballen reibe ich mir über die rot geäderten Augen. Der Zigarettenrauch steigt mir scharf in die Nase. Ich hätte mir besser ein paar Filter zulegen sollen. Wieder schüttelt mich ein Hustenkrampf durch. Ich sammle den Speichel und spucke auf den Boden, dann stemme ich den Fuß in den Baumstamm, strecke den Hals durch und blase den Rauch in die Luft. Ich will nicht hier sein, aber ich muss. Die Richterin, die meine Verhandlung geführt hat, zeigte sich gnadenlos.

Neun Monate gemeinnützige Arbeit liegen vor mir. Neun Monate!

Und das ausgerechnet in dieser Bude, beim allerfeinsten Sommerwetter. Wenn ich die Konsequenzen meines Handelns nur ansatzweise erahnt hätte, wäre der Gefallen, den ich Dragan schulde, anders ausgefallen. Ganz anders. Himmelherrgott, für diesen Shit sind wir quitt bis in alle Ewigkeit. Ich überfliege den Schriftzug an der Fassade des Altenheims und verdrehe die Augen.

Haus der friedlichen Taube

Wer hat sich diesen bescheuerten Namen für ein Altenheim ausgedacht?

Haus der friedlichen Taube

Klingt nach einer Sekte, in der die Mitglieder mit wallenden Gewändern herumlaufen und ein Guru alle mit seinen Prophezeiungen bekehrt. Der Schuppen sieht bei genauerer Betrachtung tatsächlich wie ein Sektenstützpunkt aus. Die Fassade erstrahlt in unschuldigem Weiß, zwischen den Fenstern sind goldene Kruzifixe aufgemalt. Ein Heiliger ziert die Front des Westflügels. Den Spruch darunter kann ich kaum entziffern, zu verwittert sind die Buchstaben. Ich betrachte den gepflegten Garten. Blühende Rosen- und Lavendelbüsche säumen die gewundenen Pfade. Erhabene Engelsstatuen, bunte Glaskugeln und lauschige Brunnen verteilen sich auf dem Grundstück. Es ist offensichtlich, dass der Gärtner jeden Grashalm mit der Nagelschere stutzt, um das perfekte Gesamtbild zu erhalten. Mein Blick schweift weiter, bleibt an der Kapelle hängen, die auf einer malerischen Anhöhe steht. Das Kirchlein wirkt wie handgemalt. Als hätte Granny eines ihrer kitschigen Zahlenbilder fabriziert. Der Weg zur Kapelle ist mit Parkbänken und einer Marienandacht bestückt. Einsam und verlassen liegt das Altenheim inmitten des Waldes, in einer gottverlassenen Gegend. Was zur Hölle tue ich hier? Ich fische das Handy aus der Hosentasche und starre auf die Uhr. Nicht mal Empfang hat man in dieser Einöde. Seufzend schiebe ich das Telefon wieder in meine Jeans. Warum ruft Jasmin nicht an? Seit Dienstag habe ich nichts von ihr gehört.

Haus der friedlichen Taube

Ich schüttle den Kopf. Ich hasse diese Flatterviecher. Aber noch mehr verabscheue ich alte Menschen. Sie labern wirres Zeug, stinken, sabbern und warten aufs Sterben. Lieber wäre ich im Knast geblieben, als in diesem Altenheim zu arbeiten, aber die Richterin wollte von meinem Einspruch nichts hören. Als sie das Urteil verkündete, sprang ich auf und brüllte ein verzweifeltes »Nein!« durch den Saal.

»Sie haben einen Einwand, Herr Smajić?«

»Nein, hat er nicht«, unterbrach mein Anwalt, ehe ich selbst antworten konnte. »Wir nehmen das Urteil an und bedanken uns für die Einstellung des Strafverfahrens. Danke, Frau Richterin Müller.«

»Sie können froh sein, dass Sie so glimpflich davongekommen sind. Wollen Sie lieber zurück ins Gefängnis und dort Ihre Zeit absitzen?«

Ja, das will ich. Wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, hätte ich nie meinen Kopf hingehalten. Egal.

Ich werfe die Kippe zur Erde und trete mit dem Schuh darauf. Meine Hände schwitzen, also wische ich sie an meinen zerrissenen Jeans ab. Habe ich etwa Angst? Ich schließe die Augen und lausche meinem Herzschlag, der wie wild geworden durch meine Brust trommelt.

Scheiße, ich bin tatsächlich nervös.

Mit den Fingerspitzen fahre ich mir über die Stirn und atme tief durch. Ich bin so aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Nicht einmal der Knast hat meinen Puls so hochgetrieben, wie die Aussicht gemeinnützige Arbeit zu verrichten. Im Gefängnis, in dem ich die Zeit bis zu meiner Verhandlung absitzen musste, war es im Grunde nicht so übel. Da war ich wenigstens in der Gesellschaft anderer Jungs, hatte die Fitnesskammer, die Pokerrunde und das Baseball-Team von Sektor A. Man ist eingesperrt, das stimmt, aber in gewisser Weise ist man auch gut versorgt und wenn man kein Weichei ist, hat man seine Ruhe und wird von anderen Häftlingen nicht angemacht.

Mir bleiben nur noch wenige Minuten. Ein Zuspätkommen kann ich mir nicht leisten. Mit festen Schritten nähere ich mich dem Haupteingang. Die Wärme lodert unter meinen Füßen. Das wird ein heißer Sommer werden. Der Juni zeigt sich von seiner besten Seite. Die Meteorologen sprechen von einem Jahrhundertsommer und wie es scheint sind ihre Prognosen diesmal nicht so verkehrt. In den letzten Tagen hat das Thermometer jeden Tag die 30-Grad-Marke geknackt. Herrlich! Ich liebe diese Hitze. Mein Körper saugt sie gierig auf und wandelt sie eins zu eins in Kraft um. Ursprünglich stamme ich aus der Stadt Mostar. Durch die Kessellage zwischen den Bergmassiven zählt Mostar zu den heißesten Städten Europas. Die ungnädigen Sommer haben die Erinnerungen an meine Kindheit geprägt. Im Juli und August werden in Mostar nicht selten 40 Grad erreicht. Die Luft flirrt, kein Windzug verirrt sich ins Tal, alles erstarrt unter den Mordstemperaturen. Ich wurde mitten in dieses Glühen hineingeboren. Meine Mutter mühte sich in stundenlangen Wehen ab, schwitzte Wasser und Blut, während das Krankenhaus kochte, da durch die brütende Hitze der Strom und die Klimaanlagen ausgefallen waren. Mit einem wilden Schrei kam ich nach 20 Stunden zur Welt. Ich flutschte von einer Hitze in die andere. Mama war überglücklich, als sie mich nach den Strapazen in ihre Arme schließen konnte. Sie bekam nach mir noch zwei weitere Söhne, aber niemals wieder einen im berühmten Sommer von Mostar. Ich war der erste und einzige, dem sie das Leben schenkte … in dieser Glut.

Ach, Mostar!

Kein Ort in Bosnien und Herzegowina weist so viele Sonnenstunden auf. Plötzlich bekomme ich Heimweh nach meiner Familie, nach dem Land meines Herzens, nach dem Glühen meiner Herkunft. Ein deutsches Mädchen hat mich einst von Bosnien nach Deutschland gelockt. Sie ist der Grund, warum ich bleibe. Es sind die verdammten Erinnerungen, die ich nicht loslassen kann.

Ich verlangsame meine Schritte und halte an einem der Rosenbüsche inne. Die Blumen sind prachtvoll, duften schwer und süßlich. Ihre durchdringende Farbe brennt sich auf meine Netzhaut ein. Leider nicht nur sie. Wie aus dem Nichts schwebt das Abbild von Carina heran. Meine Kehle wird eng. Die plötzlich auftauchende Vergangenheit foltert mich. Sie hat mehr Wucht als sonst, kommt gepaart mit dem üppigen Duft der Rosen. Carina vergötterte Rosen. Sie waren ihre Lieblingsblumen. Mit Hingabe hat sie den Garten ihrer Großmutter gepflegt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie noch vor mir. Sie ruft: Mio! Sind diese Rosen nicht wunderschön! Mio!

Oh fuck, wieso muss ich ausgerechnet jetzt an Carina denken?

Rasch verdränge ich den Hass in den Tiefen meiner Seele, bevor er mir das Herz zerfetzt. Der Verlust von Carina war der Grund, warum ich in zwielichtige Kreise geraten bin. Ohne sie machte mein Leben keinen Sinn mehr. Ich pumpte mich lieber mit Drogen voll, um den Schmerz zu betäuben, anstatt mich ihm zu stellen. Wie lange das noch gutgehen kann, steht in den Sternen. Ich presse die Zähne aufeinander und balle die Hände zur Faust. Der Geruch der Rosen hüllt mich ein und benebelt mir die Sinne.

Wann hört das auf?WANN?

Zornig hole ich aus und schlage mit der Faust auf eine prachtvolle Blüte ein. Sie zersplittert unter der Wucht, die Blätter segeln verletzt zu Boden. Mein Temperament geht mit mir durch. Sehr zum Leidwesen meiner Mitmenschen koche ich schnell über. In mir steckt das Blut aller Bosnier, die in der Hitze Mostars zur Welt gekommen sind. Die Wut ist leichter zu ertragen als die Trauer. Die Wut ist mein Freund. Ich fürchte mich vor der Herausforderung, vor der Arbeit in diesem Heim, aber ich würde das nie jemandem eingestehen, am allerwenigsten mir selbst. Lieber bin ich wütend als ängstlich. Ich bin keine Memme, ich bin ein Mann. In meiner Brust braut sich ein Sturm zusammen, alles schwappt über. Dieses Heim mit seinen friedliebenden Tauben geht mir tierisch auf den Sack. Der Sozialdienst nervt mich. Die Gruftis nerven mich. Alles nervt mich. Am allermeisten nervt mich mein Leben. Wieder taucht Carinas Gesicht vor mir auf. Ich sehe sie mit einer blauen Gießkanne durch den Garten ihrer Granny tanzen. Sie lächelt und gießt Rosen. Ihr süßes Lachen klingt in meinen Ohren… ein Echo aus längst vergangener Zeit.

Bitte nicht!

Ich presse die Handflächen auf die Ohren und kneife die Augen zu. Die Visionen von Carina rauben mir die Kraft, die ich ohnehin kaum noch habe.

Hau ab, Carina! Geh endlich! Hau ab! Lass mich in Ruhe!

Aber, Mio, was hast du denn? Es sind doch nur Rosen.

Mit dem Arm fege ich durch den Strauch und zerstöre die lieblichen Blumen. Eine nach der anderen schlage ich kaputt, bis die Erde mit Blütenblättern übersät ist. Zweimal trete ich noch mit dem Fuß nach, dann wird es ruhiger in mir. Stöhnend fahre ich mir mit den Händen durchs Haar und stampfe ein paar Mal mit dem Fuß auf. Meine Wut verraucht.

So, jetzt fühle ich mich besser und bereit für den Irrsinn.

Ich wirble herum und erstarre mitten in der Bewegung. Eine Frau steht an der geöffneten Eingangstür und funkelt zornig mit vor der Brust verschränkten Armen in meine Richtung. Ihr Bild überlagert das von Carina, die zierlich, sommersprossig und blond war. Mit Carina hat diese Frau nichts gemeinsam. Sie ist groß, kurvig und hat dunkles Haar, das in ungestümen Locken weich über ihre Schultern fällt. Ihr Gesichtsausdruck ist der einer wütenden Löwin.

»Sag mal, hast du sie noch alle?«, brüllt sie ohrenbetäubend laut. »Antonio wird dich umbringen, wenn er sieht, was du mit seinen Rosen gemacht hast. Diese Blumen sind preisgekrönt.«

Ich straffe die Schultern und setze auf Knopfdruck meine Maske der Ignoranz auf. Lässig schlendere ich auf sie zu.

»Ich hasse Rosen«, sage ich gelangweilt.

Bemüht cool nehme ich Stufe für Stufe, bis wir uns auf dem Plateau in Augenhöhe begegnen.

Alter Schwede, wie groß ist diese Frau?

Sie ist fast so groß wie ich und ich bin 1 Meter 90. Wir starren uns an. Ich falle in ihre braunen Augen, die rebellisch glühen. Für ein paar Sekunden bleibt mir die Luft weg, weil das Feuer der Fremden das meine erstickt. Ihre Schönheit raubt mir den Atem.

»Was soll das?«, faucht sie.

Ich kann kaum ihrem Blick standhalten und gucke schnell zur Seite, ehe ich wieder ihren wütenden Augen begegne.

»Rosen beschwören böse Erinnerungen in mir herauf«, murmle ich düster.

Sie hebt verächtlich eine Augenbraue.

»Böse Erinnerungen?«, wiederholt sie. »Das rechtfertigt doch nicht, wie Rambo alles platt zu machen. Dieser Garten ist Privateigentum. Den Schaden wirst du ersetzen. Hast du das verstanden? E-r-s-e-t-z-e-n! Das wird bestimmt nicht billig. Was hast du überhaupt hier zu suchen? Hast du dich verlaufen?«

Ihr Blick fegt verächtlich über mich hinweg, screent mich von oben bis unten. An den Tattoos auf meinen Armen bleiben ihre Augen haften. Einer ihrer Mundwinkel zuckt verächtlich. Unter ihren offensichtlichen Vorurteilen verhärten sich meine Muskeln. Ich weiß, wie ich auf andere wirke und das ist auch meine volle Absicht. Ich starre ihr provokant ins Gesicht.

»Ich bin hier, um meinen gemeinnützigen Dienst zu verrichten«, sage ich düster.

Ihr Mund klappt vor Erstaunen auf. Sie hat sich aber schnell wieder unter Kontrolle.

»Dann bist du Mio Smajić?«

»Ja, der bin ich, aber mein Name ist nicht Mio, sondern Said.«

»Said?«, fragt sie ungläubig. »In den Unterlagen steht, du heißt Mio.«

»Das ist mein Geburtsname, nicht der Name, den ich trage. Ich heiße Said. So und nicht anders.«

»Nun gut, Said«, sagt sie augenrollend. »Dann komm rein. Wir haben dich schon erwartet.«

2

MIRJAM

Ich lasse Said eintreten und schließe geräuschlos die Tür. Meine eben noch gute Laune sinkt in den Keller. Ich kann mir nicht vorstellen, mit diesem Typen zusammenzuarbeiten.

No way!

Vielleicht kann ich mit Brigitte einen Handel abschließen und die Aufgabe einer Heimhelferin zuschanzen? Neun Monate sind eine verdammt lange Zeit. Wie soll ich die bloß überstehen? Ich ärgere mich über mich selbst. Warum habe ich Brigitte so vorschnell zugesagt, ohne Tag X abzuwarten? Meine Einsatzbereitschaft rächt sich nun. Es ist das erste Mal in der Geschichte des Altenheims, dass es mit einem ortsansässigen Gericht zusammenarbeitet. Das Haus der friedlichen Taube wurde noch nie zur Rehabilitation eines Straftäters genutzt. Brigitte fand die Idee so spannend, dass sie die neue Herausforderung und die zusätzlichen Fördermittel mit offenen Armen entgegengenommen hat. Als Stationsleiterin kam ich als perfekte »Aufpasserin« in Frage.

»Machst du es, Mirjam?«, hatte sie mich bei der Dienstbesprechung angefleht. »Kümmerst du dich um den Straftäter?«

»Überlass ihn ruhig mir«, hatte ich großkotzig getönt. »Ich zeig dem Bürschchen schon, was Sache ist. Der wird nie wieder was klauen, wenn ich mit ihm fertig bin.«

»Vielen Dank, Liebes«, hatte sie erleichtert erwidert und etwas in ihr Notizbuch gekritzelt.

Als wir später in ihrem Büro bei einer Tasse Kaffee zusammensaßen, schob sie eine Mappe über den Tisch.

»Magst du reingucken? Um zu prüfen, was auf dich zukommt?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das alles kein Problem ist. Du weißt, ich komme mit Menschen und Herausforderungen gut klar.«

»Das weiß ich, meine Liebe und ich bin erleichtert, dass du dich der Sache annimmst, aber lies dir bitte trotzdem durch, mit wem du es zu tun hast.«

Ohne auf Details zu achten, hatte ich den Gerichtsakt überflogen. Foto war keines angehängt gewesen. Warum eigentlich nicht? Wieso wird ein Straftäter ohne Foto an ein Altenheim vermittelt? Hätte ich vorab gewusst, was mich erwartet, dann würde ich jetzt nicht so dumm aus der Wäsche gucken. Womit habe ich überhaupt gerechnet? Bestimmt nicht mit einem attraktiven Kerl, der in meinem Alter ist. In meiner Vorstellung war Mio Smajić ein Jugendlicher mit Hühnerbrust und dem ersten Hauch eines Bartflaums, der in purer Verzweiflung einen Kiosk ausgeraubt und den Besitzer niedergeschlagen hatte, um seine Eltern zu ärgern. Zur Strafe musste er nun gemeinnützige Arbeit verrichten. Ja, das war meine Idee von Mio Smajić gewesen. Die Realität sah anders aus. Leider.

Said dreht sich um. Sein durchdringender Blick reißt mich aus den Grübeleien.

»Wohin?«, fragt er knapp.

»Äh, wir gehen in das Büro der Direktorin. Da drüben.«

Ich deute auf Brigittes Tür, deren Zimmer sich genau neben dem großen Speisesaal befindet. Selbstbewusst steuert er darauf zu. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf seinen sportlichen Hintern starre, der in den ausgewaschenen Jeans zum Anbeißen aussieht. Sein Rücken ist breit, die Hüften sind schmal. Ich schlucke lautlos. Said Smajić entspricht genau dem Typ Mann, den ich anziehend finde. Er ist groß, muskulös, dunkelhaarig und tätowiert. Wahnsinnig sexy. Sein Blick ist hart und dominant, seine Erscheinung so südländisch, dass mein Blut davon in Wallung gerät. Ich hatte schon immer eine Schwäche für temperamentvolle Männer aus dem Süden. Meine letzte Beziehung führte ich mit einem Sizilianer, der in seiner Freizeit Autorennen fuhr und Faustkämpfe gegen Bezahlung führte.

Said hämmert mit der Faust gegen Brigittes Bürotür. Will er sie zertrümmern?

»Vorsichtig, Sträfling«, spotte ich. »Sonst musst du nicht nur die hübschen Blümchen im Garten, sondern auch das Inventar ersetzen.«

Er dreht sich zu mir um, den Arm immer noch in der Luft erhoben. Ich beäuge unauffällig die Sehnen, die unter seiner Haut hervortreten. Um seinen Bizeps schwingt sich ein Wort in krakeliger Schrift.

»Das mit den Rosen musst du mir erst mal beweisen«, erwidert er verschlagen. »Bestimmt war es nur der Wind, der die hübschen Blümchen zerfleddert hat.«

Verärgert ziehe ich die Brauen zusammen. Der Mistkerl lässt doch tatsächlich nach nur fünf Minuten seine kriminelle Ader raushängen.

»Ich habe seit Tagen kein Lüftchen bemerkt«, erwidere ich kühl. »Und unser Gärtner kennt das Grundstück wie seine eigene Westentasche. Der glaubt nicht an einen Sturm, davon kannst du ausgehen. Außerdem steht mein Wort gegen deines und ich bin mir sicher, dass Antonio mir mehr vertraut als dir.«

Brigitte reißt die Tür auf.

»Guten Morgen!«, ruft sie freudig.

Die nächsten Worte bleiben ihr im Hals stecken. Hilfesuchend sieht sie mich an.

»Das ist Herr Smajić, unsere neue Hilfskraft«, erkläre ich gelassen. »Er war gerade dabei, die Rosen im Garten zu bewundern, als ich ihn dort aufgelesen habe.«

»Äh … wunderbar«, flötet Brigitte. »Na, dann kommen Sie mal rein in die gute Stube.«

»Man spricht es Smajić aus«, verbessert Said mich. »Nicht c, sondern tsch.«

»Gut, dann Smajitsch«, murmle ich.

Wir betreten Brigittes Büro.

»Setzen Sie sich«, sagt Brigitte höflich und nimmt ihrerseits hinter dem Schreibtisch Platz.

Said lässt sich auf den Stuhl plumpsen und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich bleibe im Hintergrund und platziere mich halb sitzend auf dem Rollschrank, in dem die Bewohnerakten aufbewahrt werden. Schweigend höre ich zu, wie Brigitte über das Altenheim erzählt und ein paar der Gepflogenheiten erklärt. Ich nutze die Zeit, um Saids Profil zu studieren. Seine Wimpern sind für einen Mann unglaublich dicht und lang. Er hat schmale Lippen und der kleine Haken an seiner Nase sieht aus, als ob sie ein paar Mal gebrochen worden wäre. Ein hübscher Dreitagebart rundet seinen herben Look ab. Eindeutig ist er einer der bösen Jungs, seine Wirkung auf mich ist frappant. Ich darf ihn auf keinen Fall merken lassen, wie gut er mir gefällt.

»Mirjam, ich möchte, dass du Herrn Smajić durchs Haus führst«, sagt Brigitte. »Zeig ihm das Heim und stell ihm das Team vor.«

Ich schrecke hoch.

»Wie? Ja, selbstverständlich.«

»Wir sind übrigens alle per Du. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich, wenn wir uns beim Vornamen rufen. Ich bin Brigitte.«

Sie streckt Said die Hand entgegen.

»Ist okay«, nuschelt er und ergreift ihre Finger.

Brigitte schüttelt seine Hand auffällig lange und durchbohrt ihn mit ihrem Psychologen-Blick. Schließlich lässt sie ihn los, ruckelt ihre Lesebrille zurecht und beugt sich tief über die Mappe auf dem Tisch.

»Mio«, liest sie vor.

»Nicht Mio«, fällt er ihr ins Wort. »Mein Vorname ist Said.«

Brigitte hebt den Kopf und begegnet meinem Blick. Ich verdrehe die Augen und deute einen Vogel. Sie verkneift sich ein Grinsen.

»Okay, Said. Willkommen im Haus der friedlichen Taube. Mirjam wird dir den Ablauf erklären und dir alles zeigen. Du bist bei ihr in besten Händen. Ich habe dich ihrem Team zugeteilt, damit du von ihr lernen kannst. Ihr werdet die nächsten neun Monate auf Station 2 arbeiten. Dein Dienst dauert bis 19 Uhr.«

»19 Uhr!«, entfährt es Said. »Wieso so lange?«

Brigitte greift nach dem Telefonhörer. Für sie ist das Gespräch beendet und sie will wieder ihrer täglichen Arbeit nachgehen.

»Wir absolvieren hier 12-Stunden-Dienste«, erklärt sie ihm. »Die Hilfskräfte allerdings nur zehn Stunden. Von 9 bis 19 Uhr ist dein Dienst, von Montag bis Freitag. Ist das ein Problem für dich?«

Said verzieht das Gesicht, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.

»Ich … na ja … ich wollte nachmittags noch zum … Schwimmen gehen«, stammelt er.

»Tja, daraus wird leider nichts«, schalte ich mich ein. »Du kannst aber abends mit uns an den Waldsee radeln. Unser Team fährt nach Dienstschluss gern dahin. Es hilft uns, nach einem brütend heißen Tag den Kopf freizukriegen.«

Nach der letzten Silbe beiße ich mir auf die Lippen. Warum habe ich Said zu unserem Treffen eingeladen, ohne das mit den anderen zu besprechen? Vielleicht wollen sie den Neuen nicht dabeihaben.

Said runzelt die Stirn und guckt finster. Entweder verabscheut er Fahrräder oder den Gedanken mit uns nach Dienstschluss schwimmen zu gehen. Insgeheim hoffe ich, er kommt nicht mit. Unsere Radtouren zum Waldsee sind legendär und haben bisher noch jedem Teammitglied Spaß gemacht. Ein Spielverderber in unseren Reihen würde die gute Stimmung verderben.

»Said«, füge ich übertrieben süßlich hinzu.

Es macht mir einen Heidenspaß seinen selbstgewählten Vornamen zu betonen. Said ist nicht blöd, er bemerkt meinen Spott. Aus zusammengekniffenen Augen sieht er mich drohend an. Ich versuche seine respekteinflößende Erscheinung auszublenden. Dass er sich so Mühe gibt, mir seine dunkle Seite zu demonstrieren, zeigt mir sowieso nur eines: Er ist in Wahrheit ein sensibler Kerl, der nur nach außen hin den Harten mimt.

Ich führe Said in die Garderobe von Station 2 und steuere das offene Regal mit der Dienstbekleidung an.

»Hier findest du was Passendes zum Anziehen«, erkläre ich ihm wichtig. »Die Angestellten von Station 2 tragen gelbe Polo-Shirts. Damit wir uns von den anderen Pflegekräften unterscheiden und von den Heimbewohnern erkannt werden. Station 1 hat die Farbe grün, Station 3 trägt rote Shirts.«

»Heißt das, ich muss den ganzen Tag mit dieser dottergelben Scheiße rumlaufen?«, unterbricht er mich mürrisch.

Sein Blick legt sich verächtlich auf mein knallgelbes T-Shirt und verweilt dort für einige Sekunden. Er leckt sich über die ausnehmend hübschen Zähne und grinst. Ich ahne, dass er meinen Busen ins Visier genommen hat und dass nun dreckige Gedanken sein Gehirn durchwandern. Männer! Genervt drehe ich mich weg, fasse in den Stapel mit den Shirts, ziehe wahllos eines heraus und knalle es ihm an die Brust.

»Random Age ist out«, zische ich in Anspielung auf sein eigenes Shirt.

»Ich mag ihre Musik«, erwidert er und bohrt den Finger in den Bandnamen.

»Trotzdem sind sie out.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Tja, das ist mir ziemlich egal.«

Ich schüttle den Kopf. Was hat mich zu dieser Lüge verleitet? In Wahrheit liebe ich Random Age. Ihre Musik ist toll.

»Falls du denkst, die dottergelbe Scheiße ist schlimm«, zitiere ich Said und male Gänsefüßchen in die Luft, »dann freu dich auf die tolle Diensthose. Die ist super schick.«

Ich zeige auf den Stapel mit den weißen Hosen und fächere sie auf, bis ich eine in Größe L entdecke. Prüfend werfe ich einen Blick über die Schulter zurück und mustere seine trainierten Oberschenkel. L oder XL? Ich entscheide mich für L.

»Die sollte passen«, sage ich und wedle mit dem Stoff vor seinem Gesicht. Said schüttelt den Kopf und weigert sich, danach zu greifen.

»Die ziehe ich nicht an«, brummt er.

»Wieso nicht?«

»Ich trage keine Unterhosen.«

»Oh!«

Mein Gesicht läuft heiß an. Ich spüre es. Vom Hals aufwärts schießt die Hitze nach oben, bis zum Haaransatz. In meinem Magen breitet sich pures Feuer aus. Was ist los mit mir? Die Reaktion irritiert mich. Ich kann nur hoffen, dass Said von meiner Verlegenheit nichts bemerkt hat. Wenn meine Wangen so rot sind, wie sie sich anfühlen, dann bin ich geliefert. Wie soll er mich als Autorität ernst nehmen, wenn ich mich in seiner Gegenwart wie ein verlegenes Schulmädchen aufführe? Ich verstehe selbst nicht, wieso mich sein Geständnis aus der Bahn wirft. Ich bin weder prüde, noch auf den Mund gefallen. Ein Mann ohne Unterhosen kostet mich normalerweise ein müdes Lächeln. Said verwirrt mich. In Blitzgeschwindigkeit reiße ich die Stoffhose wieder an mich.

»Wenn das … so ist …«, stottere ich. »Dann wirst du heute ausnahmsweise Jeans tragen. Aber morgen tanzt du bitte in Unterhosen an. Wir haben strenge Vorschriften, was die Kleidung angeht. Da geht es nicht nur um ein einheitliches Erscheinungsbild, sondern um klare Hygiene-Richtlinien, die wir einhalten müssen.«

»Klar.«

»Und Hausschuhe trägst du bitte auch ab morgen. Heute kannst du Saschas Schuhe nehmen. Der ist gerade im Urlaub.«

Mit dem Fuß schiebe ich die Sandalen zu Said hinüber, die herrenlos unter Saschas Spind stehen. Said schüttelt den Kopf.

»Vergiss die Schlappen.«

Er streckt die Hand aus und greift nach der Hose, die ich wie einen Schutzschild an mich gepresst halte. Grinsend reißt er sie an sich.

»Ich will keine Probleme machen«, säuselt er falschfreundlich. »Nicht am ersten Tag. Ich trage die weiße Hose. Vorschrift ist Vorschrift. Oder?«

»Bist du sicher?«, hauche ich.

Meine Worte klingen viel zu atemlos, viel zu erregt, viel zu … ach Scheiße. Ich straffe die Schultern und räuspere mich.

»Zieh dich um!«, herrsche ich im Befehlston einer Soldatin. »Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren. Die Bewohner brauchen mich. Dein Spind ist der letzte da hinten am Fenster. Ich warte draußen. Leg einen Zahn zu!«

Ich will mich aus dem Staub machen, aber Said hält mich mit einer Frage zurück.

»Wo ist der Schlüssel?«

»Wie?«

»Na, der Schlüssel für den Spind. Wo ist der?«

»Der liegt im Fach ganz oben.«

»Alles klar«, murmelt er. »Hey, von mir aus musst du nicht abhauen. Die Garderobe ist für Frauen und Männer, wenn ich das Schild richtig gedeutet habe. Mich stört es nicht, wenn du mir beim Umziehen zusiehst. Immerhin sind wir ja Kollegen.«

Aber mich stört es, will ich blaffen, ändere aber rasch meine Meinung.

Auf jeden Fall bleibe ich. Männer wie Said glauben nicht an die Existenz selbstbestimmter Frauen. Ich werde ihm das Gegenteil beweisen. Mit verschränkten Armen lehne ich mich gegen Antonios Spind und starre herausfordernd in seine Richtung. Er zögert und einen Wimpernschlag lang flackert Unsicherheit über seine harten Züge.

»Mach schon«, sage ich lässig und begutachte scheinbar gelangweilt meine Fingernägel. »Ich erzähle dir inzwischen etwas über unsere tägliche Routine.«

Er zuckt die Achseln und schlüpft aus den Schuhen. Im Schneckentempo streift er die Socken von den Füßen und stopft sie in die Sneakers.

»Um 7 Uhr morgens startet mein Dienst«, schwadroniere ich vor mich hin. »Er beginnt mit der Dienstübergabe, bei der mich der Kollege aus der Nachtschicht updatet. Danach folgt die Essensausgabe an der Küche. Üblicherweise ist Ralf dafür zuständig. Er ist unser Koch. Ralf wirkt auf den ersten Blick etwas furchteinflößend, ist aber in Wahrheit sehr nett und hat das Herz am rechten Fleck. Man darf ihm nur nicht blöd kommen. Immer schön freundlich sein, höflich grüßen und lächeln, dann hast du bei Ralf ein Stein im Brett. Wenn du ihm ab und zu eine Wurstsemmel mitbringst, bist du außerdem bald sein bester Freund. Da ich unter anderem für die bettlägerigen Bewohner zuständig bin, bekomme ich das Frühstück auf dem Rollwagen angerichtet. Den Wagen karre ich dann in die jeweiligen Zimmer, wo ich den Bewohnern das Essen eingebe und danach …«

Ich stocke mitten im Satz. Said legt sein Handy und ein Päckchen Tabak in den Spind, öffnet seinen Gürtel und streift die Hose über seinen Hintern. Er steigt aus den Hosenbeinen und pfeffert die verwaschenen Jeans in das Kästchen. Mein Blick stürzt in seinen Schritt. Wo hätte ich auch sonst hinsehen sollen? Ich kann gar nicht anders, als dahin zu starren. Sofort habe ich das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ich reiße die Augen auf. Mein Gott, ist dieser Mann gut bestückt. Ich bin wie hypnotisiert, kann nicht weggucken. Mein Mund vertrocknet wie die Wüste Nevadas im Hochsommer. Said beachtet mich nicht. Er schüttelt seelenruhig die weiße Diensthose aus, begutachtet sie von allen Seiten und schlüpft naserümpfend hinein. Mit einem Ruck zieht er das Bändchen des Gummibunds um seine schmalen Hüften und verknotet es. Lasziv zieht er sein Shirt über den Kopf und wirft es ebenfalls in den Spind. Sein nackter Oberkörper ist ein echter Hingucker. Schwarze Engelsflügel zieren den rechten und linken Brustmuskel. Oh mein Gott! Sein Nabel wird von einem verschnörkelten Ornament umrandet, das mich magisch einsaugt. Ein Wort verläuft quer über sein beachtliches Sixpack. Ich neige den Kopf und bewege lautlos die Lippen.

IKARI.

Was bedeutet das? Ikari?

Sein Blick schnellt zu mir.

»Du sagst ja gar nichts mehr«, raunt er. »Hat es dir bei meinem Anblick die Sprache verschlagen?«

»Ich prüfe, ob die Hose gut sitzt«, entgegne ich schlagfertig.

»Und? Sitzt sie gut? Bist du zufrieden?«

Mamma Mia, denke ich atemlos. So kann ich ihn nicht durchs Heim stolzieren lassen. Die Flure werden in Flammen aufgehen.

Saids bestes Stück drückt sich verlockend gegen den engen Stoff der weißen Diensthose. Sie ist nicht gerade durchsichtig, aber es ist trotzdem klar erkennbar, dass der neue Mitarbeiter keine Unterhose trägt und dass er gut ausgestattet ist.

»Nun ja«, würge ich hervor. »Ich weiß nicht, ob du so …«

»Hey, die alten Omis werden sich nicht daran stören, wenn meine Arschritze unter dem Stoff hervorblitzt«, sagt er und grinst schief. »Wahrscheinlich sehen die sowieso keinen Meter mehr weit mit ihrem grauen Star.«

Er lacht über seinen eigenen Witz. Es ist das erste Mal, dass ich ihn lachen höre. Ich versinke ich diesem Ton, ertrinke in seinem männlichen Timbre. Meine Hormone drehen auf Knopfdruck durch und alles in meinem Magen wirbelt durcheinander. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Noch nie habe ich auf einen Mann dermaßen intensiv reagiert. Verdammt, der Typ ist zum Verrücktwerden.

Und er ist ein Arsch.

In diesem Moment fliegt die Tür der Garderobe so schwungvoll auf, dass sie mit einem Wumm gegen die Wand kracht. Ich zucke erschrocken zusammen.

»Mirjam!«, höre ich Antonio, unseren Gärtner, kreischen. »Bist du hier? Brigitte telefoniert gerade, also musst du dir meine Beschwerde anhören. Jemand hat meine heißgeliebte Albert-Georg-Pluta plattgemacht. Es ist entsetzlich. Entsetzlich … dieser Schaden …«

Antonio stürmt um die Ecke und prallt gegen mich. Vor Aufregung stehen ihm die schwarzen Locken zu Berge. Er trägt seine grüne Gärtneruniform und hält einen Rosenkugel-Stab wie einen Taktstock in den Händen. Als er den halbnackten Said erblickt, bleibt er wie angewurzelt stehen.

»Was ist hier los, Miri?«, fragt er schrill.

Ich war noch nie so dankbar, Antonio zu sehen. Noch nie. Unauffällig schnappe ich nach Luft, während mein Herzschlag einen allerletzten Salto nachlegt. Ich muss mich wieder sammeln und professionell verhalten. Sonst wird das nichts mit dem Sträfling und der guten Zusammenarbeit.

»Darf ich vorstellen«, krächze ich. »Das ist Said, der …«

»… der Verbrecher«, vollendet Antonio meinen Satz und langt sich theatralisch an die Kehle. »Wir haben dich erwartet.«

Ich seufze. Antonio und sein Hang zur Dramatik sind legendär und im ganzen Heim bekannt. Er prescht nach vorne und versetzt mir fast einen Kinnhaken, als er Said eifrig die Hand entgegenstreckt.

»Sehr erfreut, ich bin Antonio.«

Mit gerunzelter Stirn ergreift Said die Hand des Gärtners. Eine Sekunde später lässt er sie wieder los, als ob er sich an ihr verbrannt hätte. Antonios Blick streift bewundernd über Saids sexy Statur.

»Aber hallo«, säuselt er entzückt. »Ist das die neue Dienstuniform? Daran könnte ich mich gewöhnen. Ganz zauberhaft.« Er leckt sich die Lippen.

An Saids entsetztem Blick kann ich ablesen, dass er spätestens jetzt Antonios Homosexualität geschnallt hat.

»Liebes, so kannst du ihn nicht durchs Haus laufen lassen«, wendet sich Antonio an mich.

»Denk an das schwache Herz der alten Studienrätin Hunkeböller. Sie wird diesen Anblick nicht verkraften. Wir dürfen ihr das nicht antun. Wo sie es doch geschafft hat, bis ins hohe Alter von 89 jungfräulich zu bleiben.«

»Was soll ich ihm denn sonst anziehen?«, frage ich barsch. »Der Typ hat allen Ernstes seine Unterhose vergessen. Soll ich ihn in einen deiner Jute-Säcke wickeln?«

Antonio stützt das Kinn in die Handfläche und betrachtet Said wie das Objekt einer Versteigerung.

»Miri, man trägt heute keine Unterhosen mehr«, belehrt er mich flüsternd. »Unterhosen sind out.«

»Igitt«, flüstere ich zurück. »Ist das nicht … schmutzig?«

»Und ob«, wispert Antonio und gluckst vergnügt. »Das ist so was von schmutzig.«

»Hast du vielleicht einen Reserve-Slip dabei?«, frage ich bewusst lauter, damit Said mich hören kann. »Den du dem Sträfling borgen kannst?«

Es macht Spaß über Said zu reden, als ob er nicht anwesend wäre. Leider findet er das überhaupt nicht witzig.

»Das reicht!«, poltert er zornig. »Gib mir dieses dottergelbe Fucking T-Shirt und dann legen wir los mit der Scheiße.«

Antonio schlägt die Handflächen zusammen und knallt mir fast die Rosenkugel an die Stirn.

»Wie motiviert er ist«, schwärmt er.

»Wahnsinnig motiviert«, erwidere ich sarkastisch.

Ich stapfe zum Schrank und packe ein Polo-Shirt in der Größe XXXL, das eigentlich nur unser fettleibiger Koch Ralf trägt. Mit Schwung werfe ich Said das gelbe Zelt an den Schädel.

»Zieh das an!«, befehle ich. »Das wird dir bis zu den Knien hängen.«

Said packt das Shirt mit der Faust und zieht es von seinem Gesicht. Er funkelt mich erbost an.

»Wie alles andere auch«, kontert er bissig.

Antonio gibt einen undefinierbaren Laut von sich, der schwer nach einem Grunzen klingt.

»Ich freue mich auf die kommenden Monate«, juchzt er. »Kommst du heute nach Dienstschluss mit uns an den See?«, lädt er Said ohne Umschweife ein. »Wir schwimmen, grillen Stockbrot am Lagerfeuer und … betrinken uns.«

»Nein, er kommt nicht mit«, herrsche ich. »Er hat keine Badehose dabei.«

»Ich schwimme nackt«, erwidert Said trocken.

»Wunderbar!«, ruft Antonio.

Ich klatsche energisch in die Hände.

Genug ist genug!

»Männer! An die Arbeit!«, rufe ich. »Wir haben schon genug Zeit verplempert.«

Antonio salutiert.

»Sehr wohl, Frau Aufseherin Graf.«

Er stolziert davon und wackelt dabei aufreizend mit dem Hintern. Ich wirble herum und verlasse die Garderobe. Am liebsten würde ich Antonio in den Garten folgen. Die frische Morgenluft würde mir guttun und mein erhitztes Gemüt erfrischen.

»Hier wohnt Herr Pohl«, sage ich, als wir vor dem Zimmer mit der Nummer 22 stehen bleiben. Wir haben bereits zwei Bewohner aufgesucht und für den Tag fertig gemacht. Herr Pohl ist bei seinen Wegen immer auf meine Hilfe angewiesen, daher mache ich ihn als letztes zurecht.

»Er ist mein absoluter Liebling«, gestehe ich Said flüsternd. »Herr Pohl ist ein feiner Kerl, ganz ein Lieber. Sein Hobby ist das Sammeln von Postkarten, die ihm seine Frau Nelly von ihren Reisen schickt. Leider hört er nicht mehr sehr gut und er sieht auch kaum bis zu seinen Füßen. Herr Pohl lebt schon seit fünfzehn Jahren in diesem Heim und ich kenne ihn, seit ich hier arbeite. Er ist dement.«

Said steht mir gegenüber und lauscht konzentriert meinen Worten. Er sieht ein wenig nervös aus. Von Bewohner zu Bewohner ist er immer ruhiger geworden, bis seine klugen Sprüche gänzlich versiegt sind. Mit den Zähnen knabbert er an seiner Unterlippe und saugt sie in den Mund ein. Ich habe das Gefühl, er wiederholt in Gedanken meine Worte, um sie sich einzuprägen.

»Kennst du dich mit Demenz aus?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf.

»Für mich ist das alles Neuland«, gibt er zu. »Ich habe wirklich keine Ahnung von alten Menschen und … ich mag sie auch nicht besonders.«

Ich runzle die Stirn.

Wenigstens ist er ehrlich.

»Was machst du denn beruflich?«, hake ich nach. »Wenn du nicht gerade einen Kiosk ausraubst und den Angestellten niederknüppelst.«

Said schnauft und zieht die Augenbrauen zusammen.

»Muss der Seitenhieb sein?«, zischt er. »Ich bin doch hier, um mich zu bessern.«

Seine dunklen Augen glitzern. In den Tiefen seiner Pupillen brodelt ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Mir werden die Knie weich.

»Entschuldige vielmals«, sage ich. »Du bist der erste Strafgefangene, den wir bei uns aufgenommen haben. Ich muss mich erst an den Umstand gewöhnen.«

»Vielleicht war der Kiosk nicht die einzige Straftat, die ich begangen habe«, raunt Said mir zu. »Schon daran gedacht, dass ich viel schlimmere Dinge angestellt habe, mich die Bullen aber nie erwischt haben?«

Ich schlucke lautlos. Oh Gott, was hat er verbrochen? Die wirrsten Bilder schießen durch meinen Kopf. Said hebt die Hand und greift nach einer meiner Locken, die mir widerspenstig vor die Augen hängen. Mit zwei Fingern zwirbelt er die Haarsträhne.

»Ich bin nicht stolz auf meine Vergangenheit«, flüstert er. »Du willst nicht wissen, was ich alles getan habe. Du hast übrigens wunderschöne Haare.«

Ich erschauere unbemerkt. Das klingt einschüchternd, aber gleichzeitig spannend.

»Was?«, hauche ich. »Was hast du getan?«

Said lässt meine Haarsträhne wieder los. Ein Zittern durchläuft meinen Körper. Mir wird mulmig im Bauch. Ist er gewalttätig? Ein Schläger? Ein Vergewaltiger? Wie steht er zu Frauen? Ich nehme mir vor, später mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Bestimmt kann Brigitte als Direktorin weitere Unterlagen vom Gericht anfordern. Um dem Spannungsfeld, das sich zwischen uns aufgebaut hat, zu entfliehen, klopfe ich an die Tür von Herrn Pohl und reiße sie im selben Moment auf. Ich weiß, dass der alte Mann das Klopfen nicht hören kann. Said folgt mir in den Raum, in dem es muffig riecht.

»Herr Pohl!«, schreie ich laut. »Es ist Zeit für den Garten. Wir haben so wunderbares Wetter!«

Herr Pohl sitzt in seinem Ohrensessel und wirft mir ein mildes Lächeln zu. Ich trete ans Fenster und öffne es weit, damit frische Luft hereinströmen kann. Prüfend begutachte ich den Servierwagen und überfliege die Reste des Frühstücks auf dem Tisch. Herr Pohl hat kaum einen Bissen zu sich genommen. Das geht schon seit Tagen so. Ich beuge mich zu dem alten Mann hinunter und streiche ihm liebevoll über das schüttere Haupt. Mütterlich zupfe ich an seinem Hemdkragen.

»Das ist Said!«, schreie ich. »Er arbeitet seit heute hier.«

Herr Pohl blinzelt. Er lächelt und sieht mich unverwandt an. Die Anwesenheit von Said hat er nicht registriert.

»Ist es schon Zeit für die Arbeit?«, fragt er verträumt.

»Ja, es ist höchste Zeit für die Arbeit«, erwidere ich fröhlich. »Wo ist denn Ihr Koffer? Ah, da ist ja das gute Stück.«

In einer Ecke des Raumes, halb versteckt unter dem langen Vorhang, steht ein schwarzer Aktenkoffer, der leer ist. Mit ihm auf dem Schoß fühlt sich Herr Pohl sicher und geborgen. Ich drehe mich zu Said um.

»Bringst du mir bitte den Rollstuhl?« Saids Augen folgen meinem ausgestreckten Arm. »Er steht da in der Ecke.«

»Okay«, murmelt er und setzt sich in Bewegung. Er packt die Griffe des Rollstuhls und rüttelt vergeblich an dem Gefährt.

»Du musst die Bremsen lösen«, instruiere ich ihn und eile ihm zu Hilfe. »Einfach hier den Hebel lösen. Siehst du? Und jetzt schieb ihn bitte so nah wie möglich an den Sessel heran.«

Said folgt meiner Anweisung. Er wirft einen unsicheren Blick auf den alten Mann.

»Du kannst ruhig Hallo sagen«, ermuntere ich ihn. »Nur keine Scheu.«

»Hallo, Herr Pohl«, murmelt er.

Der alte Mann hört ihn nicht. Er starrt auf die Wand, die zugekleistert ist mit Postkarten aus aller Welt.

»Hat Nelly heute schon geschrieben?«, fragt er.

»Nein!«, brülle ich. »Der Postbote kommt erst am Nachmittag.

»Sie ist gerade in Ägypten.«

»Dort soll es ja wundervoll sein.«

»Ich vermisse sie so. Sie ist schon seit vier Wochen unterwegs. Wir waren noch nie so lange getrennt.«

Said tritt von einem Bein auf das andere. Er versenkt die Hände in den Seitentaschen der weißen Diensthose. Das übergroße XXXL-Shirt verdeckt weitgehend seine Hüften. Zum Glück! Mit gerunzelter Stirn studiert er die Postkartensammlung.

»Beachtlich. Sind das alles seine?«, hakt er nach. »Das sind ja an die hundert Karten.«

Mit geübtem Griff hieve ich Herrn Pohl aus dem Sessel und in seinen Rollstuhl. Nachdem ich ihn mit einem Gurt fixiert habe, stelle ich den leeren Aktenkoffer auf seinem Schoß ab.

»Wer ist das?«, fragt der alte Mann. »Ist das Roger?«

Ich entschließe mich, vorerst bei der Wahrheit zu bleiben.

»Nein, das ist Said. Er arbeitet hier.«

»Roger studiert in Amerika«, krächzt Herr Pohl. »Er wird einmal ein berühmter Anwalt.«

»Amerika!«, rufe ich beeindruckt aus. »Das ist ja toll! Da hat er bestimmt eine aufregende Zeit. Er wird sicherlich ein Spitzenanwalt werden.«

»Der Junge kommt ganz nach seiner Mutter«, sagt Herr Pohl. »Sie ist Auslandskorrespondentin und immer unterwegs. Ich bekomme Nelly kaum zu Gesicht. Was machst du hier, Roger?«, wendet er sich an Said. »Wieso studierst du nicht?«

Said massiert verwirrt seinen Nacken.

»Äh … also … ich arbeite hier«, antwortet er leise.

»Wie bitte?«, fragt der alte Mann. »Ich kann dich nicht verstehen. Du musst lauter sprechen. Hast du deine Mutter heute schon angerufen?«

»Roger ist hier, um Sie zu besuchen, Herr Pohl«, schreie ich. »Er hat gerade Ferien.«

»Mein Junge«, murmelt Herr Pohl und umklammert den Koffer auf seinem Schoß. »Leider habe ich keine Zeit für dich. Ich muss zur Arbeit. Aber am Abend können wir zusammen Fußball spielen und ein Eis essen.«

»Auf geht’s zur Arbeit«, trällere ich und schiebe Herrn Pohl in seinem Rollstuhl durch den Raum. »Hältst du mir die Tür auf, Said? Danke.«

Als wir durch den Flur schreiten, neigt Said das Gesicht zu meinem Ohr.

»Ich weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll«, flüstert er mir zu. »Ein paar Instruktionen wären durchaus hilfreich.«

»Roger ist Herr Pohls Sohn«, erkläre ich leise. »Er lebt seit Jahrzehnten in Amerika. Nelly ist seine verstorbene Frau. Sie ist vor zwanzig Jahren an den Folgen eines Attentats gestorben.«

»Krass«, murmelt Said. »Verstehe ich das richtig? Herr Pohl denkt, dass seine Frau noch lebt und ihm Postkarten aus Ägypten schreibt?«

Ich nicke. »So ist es.«

»Und er hält mich für seinen Sohn Roger?«

»Anscheinend.«

»Soll ich das Spiel mitmachen?«

»Es erleichtert das Leben eines Demenzkranken, wenn man ihm nicht widerspricht. Diese Menschen leben nicht in der Gegenwart, sondern hängen irgendwo in ihren Erinnerungen fest.«

Said lässt einen Pfiff los.

»Wo arbeitet Herr Pohl denn?«, fragt er spöttisch. »Bringen wir ihn nun in eine Art Kulissenstadt, in der die Oldies ihrem daily business nachgehen?«

Wut braut sich in meinem Magen zusammen. Saids Hohn ärgert mich. Dabei sollte ich wirklich Nachsicht mit ihm haben. Es ist sein erster Arbeitstag und er hat keine Ahnung vom Leben im Altenheim, kennt die Erkrankungen und ihre Auswirkungen nicht. Eigentlich ist es eine Zumutung, unausgebildete Strafgefangene ohne Einschulung auf die hier lebenden Menschen loszulassen. Ich muss mit Brigitte darüber reden. Wenn wir in Zukunft weiter an dem Programm Rehabilitation teilnehmen, müssen wir der Praxis im Heim ein paar theoretische Stunden voranstellen. Die Sozialdienstleistenden sollten wissen, worauf sie sich einlassen und wie sie sich zu verhalten haben.

»Wir bringen Herrn Pohl in den Garten«, murre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Dort kümmert sich Isolde um sein Wohl.«

»Und Isolde ist wer?«, hakt Said nach.

»Die Sozialpädagogik-Studentin, die unter der Woche für die Unterhaltung der Bewohner sorgt.«

Meine Stimme klingt viel zickiger als normal. Dabei bin ich gar keine Zicke.

»Ach, es gibt Animation?«, feixt Said. »Spielen wir auch Bingo mit den Oldies?«

Ich halte den Rollstuhl abrupt an und kralle die Finger um den Griff.

»Dein Spott ist so was von unangebracht«, schimpfe ich los. »Wenn du nicht ernsthaft an die Arbeit rangehst, dann sorge ich dafür, dass du hochkant rausfliegst und wieder ins Gefängnis wanderst. Ist dir das lieber? Willst du lieber im Knast deine neun Monate absitzen?«

Saids Gesicht versteinert.

»Du wirst es nicht glauben, aber mir wäre der Knast tatsächlich lieber, als mit diesen Irren abzuhängen.«

Der Zorn lähmt meine Zunge und gleichzeitig fährt Schmerz durch mein Herz. Ich liebe meine Arbeit und ich liebe die Bewohner des Heims. Dass Said sie als Irre bezeichnet, macht mich fuchsteufelswild. Er tut mir weh damit. Meine Arbeit ist mein Leben und in gewisser Weise bin ich meine Arbeit. Ja genau, ich bin das Haus der friedlichen Taube! Was bildet sich dieses kriminelle Arschloch ein, hier aufzutauchen und Witze darüber zu reißen? Er gebärdet sich wie ein arroganter Teenager, der nicht mal die Spur von Reue für seine Verbrechen zeigt. Ich bin so aufgebracht, dass vor meinen Augen rote Lichtpunkte tanzen. Ein weiteres Wort von ihm und ich gehe ihm an die Gurgel. Mit unterdrückter Wut schiebe ich Herrn Pohl über die Rampe ins Freie hinaus. Da ich viel zu schnell unterwegs bin, hüpft der alte Mann in seinem Rollstuhl auf und nieder. Er gluckst, was mir zumindest zeigt, dass er Freude an der rasanten Fahrt findet. Ich versuche Said auszublenden, sprinte förmlich über die asphaltierten Gartenwege, bis wir am Pavillon hinter dem Heim ankommen. Isolde ist bereits mit einer Gruppe Heimbewohner da und hat ihre Malutensilien auf dem Tisch ausgebreitet. Ihr fröhliches Lachen weht zu mir herüber.

»Guten Morgen, Mirjam!«, ruft sie mir zu. Sie beugt sich zu Herrn Pohl hinunter. »Sie sind ja heute überpünktlich zur Arbeit erschienen.«

Als ihr Blick auf Said fällt, erstarrt sie. Sofort fliegen ihre Hände an den Kopf und sie ordnet ihre langen, blonden Haare.

»Ich bin Isolde«, stellt sie sich vor und reicht Said die Hand. »Und du bist sicherlich Said, der Verbrecher. Ich hab schon einiges von dir gehört.«

»Ach ja?«, erwidert er. »Hoffentlich nur Gutes.«

»Davon kannst du ausgehen«, erwidert sie lachend. »Antonio war ganz verwirrt nach eurer Begegnung in der Garderobe.«

Als ich beobachte, wie Isolde auf Said reagiert, krampft sich jeder Muskel in mir zusammen. Said leckt sich über die Zähne. Die beiden scheinen Gefallen aneinander zu finden. Mich wundert das nicht. Jeder liebt die zarte und sanfte Isolde, die mit ihrer süßlichen Stimme ganze Heerscharen verzaubern kann. Ihr Puppengesicht und ihre hammermäßige Traumfigur runden ihr perfektes Erscheinungsbild ab.

»Was machst du denn heute mit diesen …« Said zögert und macht eine ausufernde Bewegung mit dem Arm. »… netten alten Menschen?«, führt er seinen Satz zu Ende.

»Wir malen Bilder mit Acrylfarben«, flötet Isolde und errötet leicht.

»Auf einmal sind diese netten alten Menschen keine Irren mehr?«, ätze ich aus dem Hintergrund.

Ich bin immer noch geladen wie eine Handgranate. Isolde sieht mich unsicher an.

»Alles okay bei dir, Mirjam?«, fragt sie. »Du siehst sauer aus.«

»Alles gut«, murre ich. »Ich will, dass Said dir heute zur Hand geht. Ich muss dringend ein Gespräch mit Brigitte führen und hab noch Bürokram zu erledigen.«

Isoldes Augen leuchten auf.

»Sehr gerne«, sagt sie. »Said kann mir gerne zur Hand gehen.«

»Gut, dann lasse ich ihn bei dir. Beschäftige ihn!«

»Kannst du malen, Said?«, fragt Isolde mit hochroten Wangen.

Said legt ein verführerisches Lächeln auf sein Gesicht, das ich noch nie an ihm gesehen habe. Es ist sinnlich und lässt meine Knie zu Butter werden.

»Ich kann sehr gut malen«, sagt er rau. »Ich bin gelernter Maler und Lackierer von Beruf.«

»Du bist Maler?«, entschlüpft es mir.

Said dreht sich um.

»Ja, bin ich. Und? Ist das ein Problem für dich?«

Ich schüttle hastig den Kopf. Im Geiste visualisiere ich die schäbigen Wände des Heims, die seit Jahrzehnten nach einem neuen Anstrich dürsten. Plötzlich weiß ich, wie ich Said sinnvoll beschäftigen kann, und zwar für den gesamten Zeitraum, den er mir zugeteilt wurde.

»Du bleibst bei Isolde und hilfst ihr mit den Bewohnern«, befehle ich barsch. »Ich hole dich später wieder ab.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, eile ich davon. Isoldes glückliches Kichern begleitet mich auf dem Weg durch Antonios Feng-Shui-Garten.

Brigitte und ich stehen nebeneinander am geöffneten Fenster und blicken in den Garten. Brigitte hat eine Kanne Filterkaffee aufgebrüht und mir großzügig eingeschenkt. Wir nippen abwechselnd an unseren Jumbotassen und genießen das beruhigende Schweigen, das zwischen uns herrscht. Wir sind über die Jahre beste Freundinnen geworden. Die Hierarchie, die uns trennt, ist längst verwischt und hat an Bedeutung verloren. Auch der Altersunterschied stört uns nicht. Brigitte vertraut meinem Urteil und ich ihrem. Wir gehen immer offen miteinander um.

»Kaffee ist schon was Feines«, murmelt sie zufrieden.

»Hmmm«, schnurre ich. »Ich liebe deinen Kaffee. Er ist schön stark.«

Genießerisch schließe ich die Augen. Das Koffein treibt meinen Puls in die Höhe. Beim nächsten Schluck verbrenne ich mir die Zunge und fluche.

Brigitte kichert.

»Weil du immer so gierig bist«, rügt sie mich.

»Der Sträfling ist unmöglich«, sage ich nach einem weiteren vorsichtigen Schluck und deute mit der Tasse auf den Pavillon hinaus. »Sein Umgangston ist dermaßen ungehobelt. Er zeigt keinerlei Respekt. Stell dir vor … er bezeichnet die Heimbewohner als Oldies und Irre.«

Brigitte wirft mir einen prüfenden Seitenblick zu und schmunzelt.

»So kenne ich dich gar nicht, Mirjam. Du bist doch sonst auch geduldig und nachsichtig, wenn es um neue Menschen geht.

---ENDE DER LESEPROBE---