Der wundersame Mandarin - Aslı Erdoğan - E-Book
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Der wundersame Mandarin E-Book

Aslı Erdoğan

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Beschreibung

Die Altstadt von Genf um Mitternacht: Gepflasterte Straßen, Statuen, Brunnen, Straßenlaternen mit gelblichweißem Licht, Läden mit beleuchteten Schaufenstern, Antiquariate, Galerien, Bücher, die im letzten Jahrhundert gedruckt wurden, Kerzenständer, Kronleuchter, Klaviere, Schreibmaschinen, Grammophone, Porzellanfiguren, chinesische Schachteln, Skulpturen aus Afrika, venezianische Masken, Maria und ihr gekreuzigter Sohn, silberne Aschenbecher, beleibte Buddhas, Elefanten aus Kristall, indische Stoffe. Unter diesen tausend Gegenständen ist, warum auch immer, kein einziger dabei, der mich an Istanbul, an meine Kindheit und meine zweifellos unglückliche, unbewegte und vertane Jugend erinnert. Einzig und allein die Rosskastanien, denen ich hin und wieder auf den Bürgersteigen begegne …

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Seitenzahl: 115

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Über dieses Buch

Unter tausenden von Gegenständen in der Altstadt von Genf ist, warum auch immer, kein einziger dabei, der mich an Istanbul, an meine Kindheit und meine zweifellos unglückliche, unbewegte und vertane Jugend erinnert. Einzig und allein die Rosskastanien, denen ich hin und wieder auf den Bürgersteigen begegne …

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Aslı Erdoğan (*1967) studierte Informatik und Physik. In ihren Werken erkundet sie stets das Fremde, das andere vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und der globalen Entwicklungen. 2010 wurde sie mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Türkei ausgezeichnet. Als Kolumnistin und Beiratsmitglied der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wurde sie im August 2016 verhaftet, seit 2017 lebt sie in Deutschland im Exil.

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Recai Hallaç, geboren 1962 in Istanbul, absolvierte in Brüssel eine Ausbildung zum Simultandolmetscher. Seit 1990 ist er als Redakteur, Verleger und literarischer Übersetzer in Deutschland tätig.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Aslı Erdoğan

Der wundersame Mandarin

Roman

Aus dem Türkischen von Recai Hallaç

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 in der Edition Galata. Dieses E-Book erscheint in Kooperation zwischen Galata und Unionsverlag.

Lektorat: Maja Otten

Originaltitel: Mucizevi Mandarin

© dieser Ausgabe by Galata Verlag, 2008

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Udo Tremmel, Müjde Karaca, Heike Ossenkop

ISBN 978-3-293-30970-8

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Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 22.06.2022, 08:47h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DER WUNDERSAME MANDARIN

Ich hatte auf den ersten Blick gesehen …Meine nächtlichen Reisen in den Straßen von Genf …Genf ist ein Ort ohnegleichen, um sich nachts …Wenn die Nacht sich wie ein Gefängniswärter vor …Jemanden zu lieben, nicht weil er dieses oder …Beim Eintreten in das Sprechzimmer stieß ich wieder …Ich bin in einem Cafe mit kleinen Korbstühlen …Eine LiebesgeschichteEs waren genau zwei Wochen her, seitdem Sergio …Sergio und MichelleKaffeehäuser der Melancholie… Teegärten, Cafes, Teestuben für Männer …Eine einäugige Frau ist sogar beängstigender als ein …Der wundersame MandarinGespräche mit SergioDas serbische Restaurant und MichelleIn der Leere des verlorenenen AugesEine TrennungsgeschichteDie BrückePaquisDabei hatte die letzte Nacht nicht mit meinem …WorterklärungenZur Aussprache des Türkischen

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Über Aslı Erdoğan

Über Recai Hallaç

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Ich hatte auf den ersten Blick gesehen, daß sie Türken sind. In diese französisch sprechende, historische mitteleuropäische Stadt waren sie mit großer Wahrscheinlichkeit gekommen, um an einer Ausstellung oder einem Filmfestival teilzunehmen. Alle vier sahen nach Künstlern aus, das heißt, sie hatten lange Haare, Brillen, Bärte und Kordhosen. Sie waren so betrunken, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Sie hatten sich in einer der engen steilen Gassen der Altstadt vor dem Nachtclub, in dem Punks der neuen Generation verkehrten, postiert und mit ihren vielen Dosen Bier, ihrem Lärm und Krach und ihrer Ungezügeltheit im wahrsten Sinne des Wortes den Weg belagert.

Die Sorglosigkeit, die sie empfanden, weil sie in einem fremden und freieren Land waren, hatte sich mit Alkohol vermengt und die Entfernung von dreitausend Kilometer zu einer Gesellschaft, in der sie jeden Augenblick beurteilt und dem Zwang ausgesetzt wurden, ihr »Image« zu bewahren, hatte ihnen den Kopf verdreht. Kurz, sie waren völlig außer Rand und Band. Sie machten jedes Mädchen an, das an ihnen vorbeilief, und weil sie davon ausgingen, daß hier kein Mensch Türkisch versteht, riefen sie ihnen die zügellosesten Worte hinterher und erlaubten sich jede Frechheit. Ihre künstlerischen Sorgen waren jenseits des Sonnenuntergangs geblieben, die Nacht hatte grundsätzlichere und lebenswichtigere Probleme, mit einem Wort die Sexualität, in den Vordergrund gerückt. Sie verfolgten die Spur der Beglückung der Haut, der leichten Siege.

Als sie mich bemerkten, hatte ich sie schon eine ganze Weile beobachtet. Deswegen wurde mir klar, daß alle vier, fast im gleichen Atemzug, meiner Erscheinung in der Dunkelheit gewahr wurden. In einer Samstagnacht war ihnen eine schlanke schmächtige Frau begegnet, die auf den kopfsteingepflasterten, sehr spärlich beleuchteten steilen Gassen der Altstadt wie ein Geist herumschlich. In dem faden Licht der Straßenlaternen, eine blonde, eine, obwohl nicht einmal dreißig, gealterte, ein wenig mysteriöse, ein wenig tragische erschöpfte Frau. Fast eine Romanheldin.

Ich konnte nicht mehr hören, was sie sagten, sie waren instinktiv leiser geworden, meine Anwesenheit hatte sie beunruhigt. Von einem Moment auf den anderen war ich zum Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit geworden. Das Quartett fing an, sich mir allmählich zu nähern und wie eine Amöbe sich zu teilen.

Auf einmal erhellte die Straßenlaterne mein Gesicht und legte die Bandagen, die ich vergeblich in der Finsternis zu verbergen suchte, bloß. Bandagen, die mein linkes Auge ganz verschluckt und in der Mitte meines Gesichts eine tiefe Furche gegraben hatten.

»Hey, guck mal, das Auge des Mädchens!«

»Das Mädchen hat kein Auge, guck dir das mal an!«

»Ach Meeensch, die Arme!«

»Was ist denn wohl passiert? Sie hatte bestimmt einen Unfall oder so.«

(Und dann Sätze, Ausrufe, Vermutungen, die ich nicht hören konnte.)

»Schade, ein schönes Mädchen eigentlich!«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen letzten Satz wirklich gehört habe. Vielleicht ist er ein Geschenk meines so armseligen, nach Komplimenten hungernden Egos für meine Ohren.

Einer von ihnen, der mutigste, kam auf mich zu, achtete jedoch sorgfältig darauf, sich nicht zu sehr zu nähern. Mein verletztes Auge könnte sich ja wie ein Drache auf ihn stürzen und ihn mit einem tödlichen Virus anstecken. Mit einer samtweichen Stimme und auf Türkisch sagte er »ge£miş olsun«, gute Besserung! Und ich antwortete in meiner Muttersprache:

Danke schön, »teşekkür ederim«.

Während ich, ohne auch nur einen Moment stehen zu bleiben, meinen Weg fortsetzte, sah ich, daß er vor Verblüffung die Bierdose aus der Hand gleiten ließ. Kurz danach trug der Wind noch ein paar türkische Worte zu mir herüber.

»Das Mädchen hat Türkisch gesprochen, nicht wahr? Habe ich mich verhört? Hat das Mädchen Türkisch gesprochen?«

Die Altstadt von Genf um Mitternacht: Gepflasterte Straßen, Statuen, Brunnen, Straßenlaternen mit gelblich weißem Licht, Läden mit beleuchteten Schaufenstern, Antiquitätengeschäfte, Antiquariate, Galerien, Alte Landkarten, Briefmarken, Bücher, die im letzten Jahrhundert gedruckt wurden, Kerzenständer, Kronleuchter, Klaviere, Schreibmaschinen, Grammophone, Porzellanfiguren, chinesische Schachteln, kleine Skulpturen aus Afrika, venezianische Masken, Maria und ihr gekreuzigter Sohn, Lampen aus Reispapier, Schreibtische, Teegarnituren aus Porzellan, silberne Aschenbecher, beleibte Buddhas, Elefanten aus Kristall, indische Stoffe… Unter diesen tausend verschiedenen Gegenständen ist, warum auch immer, kein einziger dabei, der mich an Istanbul, an meine Kindheit und meine zweifellos unglückliche, unbewegte und vertane Jugend erinnert. Einzig und allein die Roßkastanien, denen ich hin und wieder auf den Bürgersteigen begegne.

Der Hof meiner Grundschule im Stadtteil Göztepe, ehemals ein herrschaftlicher Holzbau, füllte sich im Herbst von einem Ende zum anderen mit Roßkastanien. Vermutlich, weil ich mich mit ihr identifizierte, übte diese stachelige Frucht mit ihrem derben, abweisenden Namen, die man weder essen noch herunterschlucken kann, eine irrationale Anziehungskraft auf mich aus. Eigentlich hatte ich seit einem Hufschlag, den ich als Fünfjährige erhalten hatte, eine Höllenangst vor Pferden, und Kastanien nahm ich nie in den Mund. Und der Herbst war eine langweilige Jahreszeit, die nichts anderes bedeutete, als daß die Sommerferien zu Ende waren. Ich war ja noch ein kleines Kind, ich hatte noch keine Ahnung von Begriffen wie Sehnsucht an vergangene Zeiten, Romantik oder Liebe, die herabfallendes Laub in Erwachsenen hervorruft.

Aber jetzt kehre ich, sobald ich Roßkastanien erblicke, diese Fremdlinge der nördlichen Klimazonen, mich überschlagend, mich im Gebüsch verfangend, so, wie man einen felsenübersäten Hang hinabstürzt und den Fluß erreicht, in meine Vergangenheit zurück.

Als ich ein kleines Kind war – es klingt, ehrlich gesagt, seltsam für mich, aber ich war auch mal ein kleines Kind –, wollte ich wissen, ob die Welt für braunäugige anders aussieht. Meine Augen sind blau-grau, eigentlich eher grau als blau. Die männlichen Helden der meistverkauften Liebes- und Spionageromane haben einen strengen und schneidenden Blick, sie haben »Charakter« und, warum auch immer, graue Augen. Wahrscheinlich könnte man auch statistisch belegen, daß der Großteil der Mörder in den Kriminalromanen graue Augen hat; Grau wird als Farbe des Verdachts, des Geheimnisses und eines wie geölt funktionierenden, tödlichen Gehirns präsentiert. Heute bin ich groß genug um zu wissen, daß es nicht an meiner Augenfarbe liegt, wenn ich die Welt anders sehe als andere. Je größer ich wurde, um so mehr verwandelte sich die Farbe meiner Augen von blau zu grau. Das blaugefärbte Kind von damals ist heute eine rauchfarbene Frau und ziemlich undurchsichtig, wenn auch nicht so sehr wie die geheimnisumwitterten Romanhelden.

Zu meiner Kindheit muß noch etwas gesagt werden, nämlich, daß ich schon damals eine Prise Wahnsinn in mir trug. Ich gehöre nicht zu jenen, die die Enttäuschungen unserer leidgeprüften, fruchtbaren, ruinösen Welt nicht mehr aushalten und sich in den schmerzbeständigen Trost des Wahnsinns flüchten, also zu den Spätwahnsinnigen. Ich habe meine eigenen Wahnsinnskategorien, die keinerlei objektiv oder wissenschaftlich sind: die aristokratischen Wahnsinnigen, diejenigen, die eine Markt- oder Imageforschung betreiben, bevor sie ihren Wahnsinn vermarkten, solche, die sich den Wahnsinn aufzwingen, weil sie das als die wichtigste Voraussetzung der Kreativität betrachten… Ich aber gehöre zu denen, die hin und wieder an den Grenzen entlangspazieren und sich wieder und wieder nicht trauen, die verminten Felder zu überschreiten. Der Wahnsinn ist keine Geschichte, die ich erzählen könnte. Nicht einmal eine Geschichte.

Ich bin kein kleines Kind mehr, aber ich habe immer noch nicht erfahren, wie andere Augen die Welt sehen. Dabei ist mein rechtes Auge, mein intaktes Auge, viel weiser als andere Einzelaugen, die ihr Paar nicht verloren haben, es ist sozusagen ein alter Hase, der schon viel gesehen und erlebt hat. Man könnte sogar sagen, es sei ein wenig altklug, es verleibt sich auch die Wirklichkeit, die dem anderen Auge gehört, gleich mit ein – und das wäre, grob gerechnet, die Hälfte der Wirklichkeit.

»Der König Ödipus hatte ein Auge zu viel.« Das soll Hölderlin gesagt haben, während er im Irrenhaus war. Nun beschäftigt mich seit einigen Monaten die Frage: War das Auge zu viel, bevor oder nachdem ihm bereits eines ausgestochen war? Ich kann natürlich diesen äußerst geheimnisvollen Satz Hölderlins nicht kommentieren, aber ich erahne, daß mein verlorenes Auge, mein linkes, das Rätsel gelöst und ohne den Verstand, das Gedächtnis und die Legenden zu Hilfe zu rufen, das Geheimnis gelüftet hat.

»Die Liebe hat ein Auge zu viel«, sagt Mahabharata. »Die Liebe hat ein Auge zu viel.«

Meine nächtlichen Reisen in den Straßen von Genf, die bis zur Morgendämmerung dauerten, hatte ich angefangen, als ich mit Sergio zusammen war. Wir liebten uns ganze Nächte lang oder wanderten durch die Gassen und führten endlose Gespräche. Die stillen, menschenleeren, geheimnisvollen Gassen von Genf, seine kleinen, von trüben Straßenlaternen nie wirklich erhellten Brücken, seine gepflegten, nach Wiesen duftenden Parks am Lac Leman, dem Genfersee, seine bis in den Morgen hinein geöffneten Bars und Kioske, seine Paare, die sich unter den Brücken lieben und Haschisch rauchen, seine Alkoholiker, die am Bahnhof übernachten, Latinoviertel, wo das Geschrei und Gepolter vierundzwanzig Stunden lang niemals aufhören, das Viertel, das portugiesische und spanische Saisonarbeiter beherbergt und überall nach Gitarren und Fausthieben klingt, La Jonction, wo zwei Flüsse sich kreuzen, das alles habe ich von ihm gelernt. Eine Stadt fängt nur dann zu leben an, wenn in ihr jemand ist, den Sie lieben.