Der Zauber von Somerset - Pippa Watson - E-Book
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Der Zauber von Somerset E-Book

Pippa Watson

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Beschreibung

Im schönsten Teil Südenglands will Amber über den Sommer die zurückliegende schwere Zeit in London vergessen. Doch schon am ersten Morgen steht plötzlich der zerzaust wirkende Schriftsteller Finian samt Koffern in der Tür des Cottages, das er ebenfalls gemietet hat. Auch ihn umgibt die Aura des frisch Verlassenen, und sie beschließen eine Wohngemeinschaft auf Probe.Als die scheue Hündin Faye ihrem fiesen Besitzer entkommt und bei ihnen Schutz sucht, müssen die zufälligen Gefährten zusammenhalten ...

Mirjam Müntefering, Autorin der"Kalle und Kasimir"-Romaneund von "Hund aufs Herz",schreibt als Pippa Watson ergreifende Liebesgeschichten vor der atmosphärischen Kulisse Englands.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Amber

2. Finian

3. Amber

4. Finian

5. Amber

6. Finian

7. Amber

8. Finian

9. Amber

10. Finian

11. Amber

12. Finian

13. Amber

14. Finian

15. Amber

16. Finian

17. Amber

18. Finian

19. Amber

20. Finian

21. Amber

22. Finian

23. Amber

24. Finian

25. Amber

26. Finian

27. Amber

Über das Buch

Im schönsten Teil Südenglands will Amber über den Sommer die zurückliegende schwere Zeit in London vergessen. Doch schon am ersten Morgen steht plötzlich der zerzaust wirkende Schriftsteller Finian samt Koffern in der Tür des Cottages, das er ebenfalls gemietet hat. Auch ihn umgibt die Aura des frisch Verlassenen, und sie beschließen eine Wohngemeinschaft auf Probe. Als die scheue Hündin Faye ihrem fiesen Besitzer entkommt und bei ihnen Schutz sucht, müssen die zufälligen Gefährten zusammenhalten …

Über die Autorin

Pippa Watson, Jahrgang 1969, lebt in Nordrhein-Westfalen auf dem Land, ist aber seit ihrer Kindheit innig mit Großbritannien verbunden. So oft wie möglich streift sie mit ihren Hunden durch die Landschaft der romantisch rauen Küsten und traumhaften Gärten. Besonders die Herzlichkeit und die große Tierliebe der Briten nehmen die Autorin immer wieder für die Menschen dort ein. Und so liebt sie es, die Welt zwischen Cream Tea und Linksverkehr auch in ihren Romanen lebendig werden zu lassen.

PIPPA WATSON

Der Zauber von Somerset

ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Daniela JarzynkaUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock: Roman Rudyak | majeczka | AXL | Triff | Gallinago_media | schankz | Anna Grigorjeva | Kazakov Maksim; © hundefotografie-workshops.de: Nele Goetz; © incamerastock: Alamy Stock FotoE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7204-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

1. Amber

Ich habe davon gehört, von diesem Spruch, dass man weggehen muss, um anzukommen.

Aber ernsthaft darüber nachgedacht habe ich nie.

Weil es einfach nicht infrage gekommen wäre.

Wie sollte das denn auch funktionieren? Du kannst nicht weggehen, wenn da jemand ist, mit dem du dich so eng verbunden fühlst wie über eine Nabelschnur. Jemand, der dich braucht. Den du brauchst.

Ich lege den fünften Gang ein und fahre vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn.

So früh am Morgen bin ich dem dicksten Londoner Verkehr entkommen, ehe er in seiner üblichen Gewohnheit zur lärmenden, stinkenden Zeitfressmaschine heranwachsen kann, in der man nur schrittweise vorwärtskommt. Alle behaupten immer, wer in London lebt, besitzt kein Auto. Ich frage mich aber jeden Morgen, wenn ich aus meiner Wohnung den Weg zur Tube-Station gehe, wer denn dann um Himmels willen Tag für Tag unsere Straßen verstopft. Das können doch nicht alles Touristen sein!

Obwohl ich eine der Londonerinnen bin, die tatsächlich kein Auto besitzt, bin ich jetzt gerade ziemlich froh darüber, dass meine kleine Schwester Phoebe mir für die nächsten drei Monate ihren Mini Cooper geborgt hat.

Als ich ihr vor drei Wochen von meinem Plan erzählte, den Sommer in Somerset zu verbringen, bot sie mir sofort ihren fahrbaren Untersatz an, als könne sie durch diesen Vorschlag meine Abreise beschleunigen. Was nicht bedeutet, dass sie mich dringend loswerden wollte. Eher zeugt es von ihrer Verzweiflung darüber, dass sie selbst wohl nicht mehr weiß, wie sie mir helfen könnte.

Phoebe und ich verstehen uns wirklich gut. Obwohl – oder vielleicht auch weil – ich schon neun Jahre alt war, als sie vor sechsunddreißig Jahren zur Welt kam. Seitdem sind wir beste Freundinnen, und ich liebe ihre Kinder Jacob und Evie und schätze meinen Schwager Logan sehr.

Weil wir uns so eng verbunden fühlen, vermute ich, dass Phoebe in den letzten Monaten mehr oder weniger das Herz gebrochen ist, wann immer sie aus Kingston zu mir heraufkam und gesehen hat, wie es mir ging. Daher war sie begeistert, als ich endlich wieder etwas Initiative zeigte und von der Reise sprach.

In den letzten Tagen hat mich auch tatsächlich so etwas wie ein vorfreudiges Kribbeln ergriffen, das jetzt immer noch in meinem Magen sitzt. Die Stadt für eine Weile zu verlassen fällt mir wirklich nicht schwer. Mein Herz hängt nicht an überfüllten Tube-Stations, hippen Bars und Tourischwärmen im St James’s Park.

Phoebe hat es richtig gemacht, sie ist in Kingston geblieben, wo wir aufgewachsen sind, und wohnt nur einen Steinwurf von Mum und Dad entfernt. Kingston ist nah genug am Zentrum der großen Stadt und doch ein wenig ländlich, kleiner, beschaulicher, und beinahe ohne den Fluglärm, den die Maschinen veranstalten, die alle paar Minuten in Heathrow landen.

Während ich Phoebes Mini beschleunige und über die Kraft staune, die unter der kleinen, niedlich anmutenden Motorhaube vibriert, frage ich mich, wieso ich selbst nicht einfach wieder dorthin zurückgekehrt bin – nach meiner Ausbildung zur Steuerberaterin.

Aber dann taucht ein Paar blauer Augen vor mir auf, lächelt mich verschmitzt an.

Wie hätte ich denn weggehen können?

Ich schalte das Radio ein, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

In der Talksendung am Morgen wird dem Unterschied zwischen preiswürdiger Literatur und sogenannter Konsumbelletristik auf den Grund gegangen.

Die Moderatorin bemüht sich wirklich um wertfreies Vorgehen, aber der Literaturprofessor aus Oxford, den ihr der zuständige Redakteur vor die Nase gesetzt hat, zerschlägt ihre Anstrengungen mühelos mit blasiertem Gefasel.

»Bleiben wir noch einmal bei der bereits zitierten Mary-Anne Price«, schlägt sie gerade vor. »Die große Fangemeinde ihrer Liebesromane zeugt davon, dass fiktive Storys mit Happy End heutzutage gefragter sind als je zuvor. Die Themenhintergründe in ihren Büchern sind durchaus sorgfältig recherchiert. Die Figuren besitzen Tiefe und dürfen sich entwickeln …«

»Genau das ist es ja, was die Konsumbelletristik ausmacht«, fällt ihr der Professor ins Wort, als sei er mindestens ein katholischer Erzbischof und Unterhaltungsromane seien nichts anderes als die Saat des Teufels. »Es spiegelt eben nicht das reale Leben wieder.«

»Ist das der Anspruch der Literatur?«, hält die Moderatorin tapfer dagegen. »Macht Qualität sich fest an der Spiegelung der Realität?«

»Ich bitte Sie!«, antwortet er mit einem dünnen Lachen, bei dem sich mir automatisch die Hände ums Lenkrad krampfen. »Wenn Mary-Anne Price selbst von der Qualität ihrer Publikationen überzeugt wäre, würde sie doch unter ihrem Klarnamen veröffentlichen und nicht unter diesem geheimnisvollen und bestens gehüteten Pseudonym. Das zeigt doch nur …«

Ich schalte um.

In der Steuerkanzlei hatte ich drei oder vier Klienten, die genau dem Typ dieses Professors entsprechen. Unerträgliche Besserwisser, die keine andere Meinung gelten lassen als ihre eigene – selbst, wenn sie von neuen Steuergesetzen weniger Ahnung haben als eine Kuh vom Stricken.

Auch ein Grund, warum ich meinen Job gekündigt habe und nun mit dem Gedanken spiele, mich nach meiner Rückkehr selbstständig zu machen. Denn dann könnte ich mir meine Klienten selbst aussuchen. Diese Selbstständigkeit ist etwas, womit mir Phoebe schon seit Jahren in den Ohren liegt. Sie meint, allein mit ihren Freunden und Bekannten könnte ich mir einen wunderbaren Stamm an Klienten aufbauen, die alle heilfroh darüber wären, wenn ihre Steuerberaterin klar verständlich mit ihnen redet und nicht automatisch den höchst möglichen Vergütungssatz berechnet.

Aber auch darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Vor mir liegen drei Monate Auszeit. Die will ich nicht damit beginnen, bereits Pläne für die Zeit danach zu schmieden.

Der nächste Sender spielt Musik aus den Neunzigern. Wer hätte gedacht, dass ich die Songtexte noch auswendig kenne? Laut schmettere ich Zombie von The Cranberries und What is love? von Haddaway mit.

Nachdem ich Basingstoke passiert habe, wechsle ich von der M3 auf die A303. Jetzt muss ich nur noch stur geradeaus Richtung Westen fahren, die Morgensonne im Rückspiegel.

Es dauert nicht lange, bis die Gegend, durch die die Autobahn mich führt, immer ländlicher wird. Ich fahre mitten durch Andover, lasse Salisbury südlich liegen und wechsle auf die A36. In Somerset ist es sogar schön, über die Autobahnen zu fahren. Links und rechts, so weit das Auge reicht, liegt die wunderbare Landschaft dieser Region Südenglands.

Es gibt Felder, auf denen jetzt, Ende Mai, bereits das Korn hochsteht und sich im Wind wiegt, der vom Bristolkanal herunterweht. Auf den saftig grünen Wiesen, eingegrenzt durch die typisch englischen Hecken, grasen Kühe, Pferde und Schafe. Sogar ein paar Rehe haben den Weg aus den mit Laubbäumen bewaldeten Hängen der sanften Hügel gefunden.

Irgendwann schalte ich das Radio aus. Versuche, die Stille zu ertragen.

»Weißt du, wenn man erst mal gelernt hat, die Stille auszuhalten«, hat Eddy neulich noch gesagt, die blauen Augen unverwandt in eine Ferne gerichtet, in die ich ihm nicht folgen konnte, »dann ist sie ein großes Geschenk.«

Seitdem habe ich mich oft gefragt, was genau er damit gemeint hat. Ich habe es immer mal wieder ausprobiert, so wie jetzt. Aber ich kann darin kein Geschenk entdecken. Mich macht Schweigen eher nervös. Daher bin ich regelrecht erleichtert, als mein Handy sich über die Freisprechanlage meldet.

»Phoebe, hast du etwa Angst um dein Auto?«, begrüße ich meine kleine Schwester lachend.

»Wie fährt er sich?«, will sie wissen.

»Erste Sahne!«

»Wunderbar! Ich wusste, dass ihr gut miteinander auskommen würdet!«

»Vermisst ihr den Wagen schon?«, frage ich, und es regt sich ein kleines schlechtes Gewissen, weil sie mir zuliebe auf ihr heiß geliebtes Auto verzichtet.

»Ich nicht die Bohne!«, kommt es ohne Zögern. »Ich baue es in meinen Diätplan ein – Bewegung ist dabei das A und O.«

»Und die Kids?«

»Ach, Evie und Jacob tut es gut, mal nicht zur Schule, zum Gitarrenunterricht oder zu den Pfadfindern chauffiert zu werden. So können sie endlich selbstständig werden.«

»Sie sind acht und zehn Jahre alt«, werfe ich kichernd ein.

»Alt genug«, entgegnet sie betont kaltherzig.

»Du bist eine wunderbare Mutter!«

»Im Ernst, wo bist du gerade, Amber?«

Genau in diesem Augenblick passiere ich ein Ortseingangsschild.

»Glastonbury.«

»Geil!«, quietscht Phoebe.

»Du stehst auf eine ehemalige Hippiehochburg, in der auch heute noch lauter verrückte Leute leben, die behaupten, ihr Ort sei das damalige Avalon und im Park der ehemals gewaltigen Abbey sei König Artus begraben?«

Sie grunzt. »Ich stehe auf das alljährliche Musikfestival, Schwesterchen.«

»Oh, daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Wie immer absolut hip unterwegs.«

»Danke.«

»Hast du dir schon überlegt, was du unternehmen willst?«

»Phoebe, ich bin noch gar nicht angekommen«, sage ich lachend.

Wie kann es nur sein, dass meine neun Jahre jüngere Schwester derartig temperamentvoll ist, während ich so ruhig und eher beschaulich durchs Leben gehe?

»Jaaa. Aber hast du denn gar nichts geplant? Sogar du musst aufgeregt sein vor einem dreimonatigen Urlaub!«

In dem Moment verlasse ich den Ort in westlicher Richtung, und mir fällt ein Hinweisschild auf.

»Ich werde ganz sicher Hestercombe Gardens besuchen«, sage ich schnell. »Darüber hab ich jede Menge gelesen. Rund um das große Herrenhaus sind fantastisch angelegte Gartenanlagen zu besichtigen, ein wahrer Besuchermagnet. Um diese Jahreszeit blühen die Rosen und wahrscheinlich Hunderte anderer Blumen, die dort kultiviert werden.«

»Und wer weiß, vielleicht findest du da ja auch die eine oder andere Anregung?«

Damit spielt sie darauf an, dass das Ferienhaus, in dem ich die kommenden drei Monate verbringen werde, einen kleinen Haken hat. Na ja, wahrscheinlich ist es nicht fair, von einem Haken zu sprechen. Das Häuschen liegt nämlich nicht nur wunderbar eingebettet in die herrliche südenglische Landschaft, einsam an einem idyllischen Bachlauf, sondern ist auch noch zu einem spottbilligen Mietpreis zu haben. Ist es da nicht verständlich, dass der Besitzer dafür eine Gegenleistung erwartet?

Die besteht darin, dass ich mich als Mieterin um den kleinen Garten kümmere, Unkraut jäte, notfalls wässere, Stauden stütze, Obst und Gemüse ernte, eben alles, was man so in einem Garten auf dem Land tun muss.

»Du meinst, weil ich gesagt habe, ich verfüge über massig Gartenbegeisterung, sollte das mehr enthalten als rudimentäre Erinnerungen an Mums kleinen Küchenacker?«

Ja, könnte sein, dass ich ein wenig geschwindelt habe, als ich für das Häuschen angefragt habe …

»Hm. Genauso, wie man das Jahr deiner Reitstunden, die du mit zwölf nehmen durftest, wohl nicht als Pferdeerfahrung bezeichnen kann«, setzt Phoebe, wahrscheinlich breit grinsend, hinzu.

Okay. Jetzt hat sie es geschafft. Wenn ich mich in den letzten Tagen anlässlich meiner Reise angenehm kribbelig gefühlt habe, setzt sich nun echte Aufregung durch.

Die von ihr angesprochene Pferdeerfahrung sollte ich nämlich auch vorweisen, darauf hatte der Verwalter des Häuschens, Mr. Rogers, mich aufmerksam gemacht. Denn ebenso wie die Pflege des Gartens würde auch die Versorgung des einzigen, zum Haus gehörenden Pferdes zu meinen Aufgaben zählen.

Mr. Rogers hatte am Telefon berichtet, das kleine Cottage gehöre zum ehemaligen großen Landsitz einer verarmten Adelsfamilie, die früher große agile Irish-Hunter-Pferde für die Jagd züchtete. Der einzige noch verbliebene Sprössling der Sippe lebt heute als Jurist in London und stattet dem Anwesen offenbar nur wenige, kurze Besuche im Jahr ab. Aus purer Sentimentalität hat er sich vor Jahren zu der Anständigkeit durchgerungen, den alten Pferden der Zucht das Gnadenbrot zu gewähren. Nun ist nur noch eines übrig, mit dessen Dahinscheiden hoffentlich nicht ausgerechnet in den nächsten drei Monaten zu rechnen ist.

»Mr. Rogers hat mir versichert, dass der alte Wallach unkompliziert ist«, sage ich. »Das Tier verbringt den Sommer einfach auf den Weiden rund ums Haus. Ich muss nur die Wasserversorgung kontrollieren und das Pferd alle vier Wochen von einer umzäunten Wiese zur nächsten bringen. Das wird ja wohl zu schaffen sein.«

Zittert meine Stimme etwa ein wenig?

Meine Schwester hat es wohl auch gehört.

»Natürlich, Liebes«, antwortet Phoebe, plötzlich ernst. »Lass dich von mir bloß nicht aufziehen. Du kannst alles schaffen, was du willst. Nach dem, was du die letzten Monate geleistet hast, steht das außer Frage. Ich mache mir nur ein bisschen Sorgen, ob du … ob du auch klarkommen wirst, weißt du?!«

Ich muss schlucken.

»Hey, wenn du sehen könntest, was ich gerade sehe, würdest du das nicht sagen«, erwidere ich möglichst heiter. »Ich werde die nächsten drei Monate in dieser traumhaft schönen Landschaft verbringen!«

»Und das hast du dir mehr als verdient!«, sagt Phoebe, die meinen Versuch, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, natürlich durchschaut, aber so lieb ist, einfach darauf einzugehen. »Schick mir Fotos! Machst du?«

»Logisch!«

»Ich hab dich lieb!«

»Und ich dich!«

Wir legen auf.

Ich schalte das Radio erneut ein und suche einen Klassiksender. Die Musik, die Eddys Meinung nach seiner heiligen Stille am nächsten kommt.

Mit irgendeiner Sonate von Beethoven im Ohr fahre ich durch Bridgwater, die kleine Stadt, zu der das Dörfchen Aisholt gehört.

Und das leise aufgeregte Kribbeln macht sich wieder bemerkbar.

Da das Navi ab jetzt versagen würde, wie Mr. Rogers mir nach Erfahrung diverser Feriengäste geweissagt hat, blicke ich immer wieder auf den kleinen Zettel mit der Wegbeschreibung, den ich während unseres letzten Telefonats bekritzelt habe.

Ich lenke den Wagen am eigentlichen Dorf vorbei, um ein kleines Eichenwäldchen herum. Dann überquere ich auf einer urig wirkenden Steinbrücke den Bachlauf und fahre am dreistöckigen, mit Zinnen und Erkern versehenen Herrenhaus vorbei, das ganz offensichtlich schon bessere Tage gesehen hat.

Noch eine Kurve, und da liegt es vor mir, genauso idyllisch wie auf den Bildern im Netz: Meadows Cottage. Ein wunderschönes, kleines Häuschen aus sandfarbenem Bruchstein samt reetgedecktem Dach, das sich so weit herunterzieht, dass es das hübsche Gebäude zu beschützen scheint. Ein idyllisch wirkender Staketenzaun, an den sich hohe Stockrosen und Buschmalven lehnen, trennt den reich blühenden Garten von den angrenzenden Wiesen.

Ja, der Name Meadows Cottage, das Haus in den Weiden, passt wirklich haargenau zu diesem zauberhaften Ort.

Ich halte im Kies vor der Tür, steige aus und bewundere mein Zuhause für die nächsten Monate, während ich mich ausgiebig strecke.

Die weißen Fenster des eingeschossigen Häuschens sind mit Sprossen unterteilt. Der aus roten Ziegeln gemauerte Kamin leuchtet im Sonnenschein. Eine wunderschöne alte Rotbuche beschattet momentan die Terrasse, die sich ums Haus herumzieht. Ein paar Birken verbreiten weiter hinten im Garten neben all dem bunten Blühen flirrende Partystimmung.

Ich hole tief Atem, so traumhaft schön ist es. Dann lache ich. Einfach so.

Und kann es kaum erwarten, das Haus zu betreten.

Mich nach allen Seiten umschauend, gehe ich raschen Schrittes hinüber zu dem kleinen Gartenschuppen. Darin, so hat Mr. Rogers mir erklärt, findet sich neben allen notwendigen Arbeitsgeräten auch der Schlüssel für das Cottage.

Eigentlich habe ich das Häuschen erst ab morgen gebucht. Doch Mr. Rogers, der im fünfundzwanzig Minuten entfernten Taunton lebt, hat mir vor ein paar Tagen per E-Mail versichert, es sei vollkommen in Ordnung, wenn wir spontan entschieden, schon heute, am Donnerstag, anzureisen – bevor rund um London der Wochenendverkehr losbricht. Nur leider sei er beruflich verhindert und könne uns dann nicht persönlich in Empfang nehmen.

Wir. Uns. Na, sicher geht er davon aus, dass ich nicht allein anreise. Wer bucht schon für zwölf Wochen ein Ferienhaus und kommt dann allein?

Den Schlüssel fest in der Hand, eile ich zum Haus hinüber, schließe auf. Einen Moment lang halte ich inne. Beinahe feierlich ist mir zumute, als ich den ersten Schritt hinein mache.

Obwohl es zur frühen Mittagszeit draußen vor der Tür schon sommerlich heiß ist, ist der Flur angenehm kühl. Die Wände sind rau verputzt und in hellen Gelbtönen gestrichen.

Links und rechts liegen die beiden Schlafzimmer hinter massiven Holztüren.

Die Räume sind in etwa gleich geschnitten und verfügen jeweils über ein eigenes Bad. Ich entscheide mich für das Zimmer, dessen Fenster nach Westen geht. Dann werde ich morgens nicht so zeitig von den ersten Sonnenstrahlen geweckt. Und auf die leuchtend roten Sonnenuntergänge hier freue ich mich jetzt schon.

Der Flur läuft auf eine Wand mit einem großen Spiegel zu.

Hey, was ist das denn? Ich lächle ja!

Fast ein bisschen verlegen halte ich inne und zupfe an der ärmellosen Bluse, die ich heute über meiner Jeans trage. Meine milchkaffeebraunen Arme ragen heraus, ein wenig dünn vielleicht, derzeit. Nun, das wird sich schon wieder regeln. Mein schwarzes Haar wird im Nacken in einem losen Zopf zusammengehalten. Ich habe mir beim Biofriseur tatsächlich noch Farbe besorgt, um hier in aller Muße die verdächtig vielen silbern schimmernden Härchen zu überdecken, die ich in den letzten Monaten einfach übersehen habe. Meine dunkelbraunen Augen schimmern unter den dichten Wimpern hervor.

Phoebes und meine Urgroßmutter, die Oma unserer Mum, war Inderin. Mum war immer traurig darüber, dass sie selbst die rothaarigen Gene unseres Opas geerbt hatte. So sah sie echt englisch aus, anstatt schick exotisch zu wirken. Was für eine Überraschung war es da, als ihre erste Tochter zur Welt kam und aussah wie eine zarte Mokkabohne. Phoebe hingegen sieht Dad sehr ähnlich: groß, mittelblond und ein wenig grobknochig. Kein Wunder, dass unser unterschiedliches Aussehen in der Nachbarschaft anfangs für ein paar Spekulationen sorgte.

Ich zwinkere mir im Spiegel zu, wende mich nach links und lande in der kleinen, praktikabel eingerichteten Küche.

Der Herd und die Spüle liegen unter einem großen Fenster, vor dem ein Fliegengitter gespannt ist und das auf eine der umliegenden Weiden hinausgeht. Hinter mir befindet sich eine Anrichte, hinter der wiederum der Esstisch mit vier Stühlen seinen Platz gefunden hat. Die Möbel und Schränke sind offenbar alt, aber mit weißer Farbe neu gestrichen worden. Auf den Stühlen liegen bunte Sitzkissen, und auf dem Tisch ist eine hübsche Decke, auf die jemand eine Vase mit Rosen aus dem Garten gestellt hat.

Hinter dem Essbereich befindet sich das Wohnzimmer, ausgestattet mit zwei großen Sofas und einem flauschigen Teppich. Durch die doppelflügelige Terrassentür und das große Fenster hat man einen wunderschönen Blick hinaus in den Garten.

Von der Küche aus führen eine weitere Tür und drei Stufen hinunter in einen Wintergarten, in dem zwei uralte Eisengitterbetten mit einem Haufen Kissen zu kuscheligem Gelage einladen. An der Wand zum Haus, der einzigen unverglasten des schmucken Raumes, zieht sich ein großes Bücherregal vom Boden bis zur Decke. Es ist vollgestopft mit Taschenbüchern der Marke Sie lieben und sie kriegen sich. Was wohl der Literaturprofessor aus Oxford dazu sagen würde? Ein Regal ist jedoch Sachbüchern zum Thema Pferdehaltung und -training vorbehalten.

Ich trete hinaus in den Garten.

Die Dutzenden von Blüten am alten Rosenstamm, der sich an die Hauswand lehnt, duften betörend. Die Blätter der Buche über mir rauschen sanft.

Von dem Pferd, das sich doch angeblich irgendwo auf den Weiden am Haus aufhalten soll, ist weit und breit nichts zu sehen. Dafür mache ich in der Entfernung bläulich schimmernde Hügel aus. Das sind bestimmt die Quantock Hills, die sich bis zum Bristolkanal erstrecken.

Das Haus, der Garten, die Düfte, das Licht und der laue Wind, das alles ist so atemberaubend, dass ich ganz automatisch nach meinem Handy in der Jeanstasche fingere.

Doch dann fällt es mir wieder ein.

Ich sinke auf die niedrige Steinmauer, die die Terrasse vom Garten trennt. Mit einem Schlag ist meine freudige Aufregung vollkommen verschwunden.

Stille umfängt mich. Und mir wird plötzlich klar, dass ich sie bisher gar nicht kannte. Meine Stille war immer begleitet von Motorendröhnen, Flugzeugen, den Geräuschen der Nachbarn nebenan oder den Menschen unten auf der Straße. Doch dies hier ist wahre Stille.

»Wenn du erst mal gelernt hast, sie zu ertragen …«, hat Eddy gesagt. Und mir wird klar, dass ich davon weit entfernt bin.

Ja, nun bin ich also weggegangen. Aber ich bezweifle, dass ich hier, dass ich irgendwo werde ankommen können. Denn der einzige Ort, an dem ich das so gern wollte, existiert nicht mehr.

Ich lehne das Gesicht in meine Hände und beginne zu weinen.

2. Finian

»Finian, wo ist das Happy End?« Norman sieht mich mit einer Mischung aus Vorwurf und Besorgnis im Blick an.

»Mir war nicht danach«, antworte ich.

Wir sitzen in Normans Büro, wo wir beinahe in den beiden exorbitanten Ledersofas versinken. Wieso muss das Büro eines Verlegers aussehen, als wolle er seine Autoren in Polstermöbel verschwinden lassen?

Gott sei Dank kenne ich Norman Young, der seit zwanzig Jahren hier in London mein Verleger und mittlerweile auch bester Freund ist, so gut, dass ich sicher sein kann: Ihm liegt nichts ferner, als mich von einer Couch verschlucken zu lassen. Schließlich bin ich sein bestes Pferd im Stall, wie er immer behauptet.

Er seufzt tief und legt seine Hand auf das Manuskript, das zwischen unseren Sitzplätzen auf dem niedrigen Tisch liegt.

»Ich verstehe dich, ich verstehe dich wirklich, das weißt du. Ich war auch ein ganzes Jahr lang nicht ich selbst, als Uma und ich uns damals trennten …«

»Es steht noch gar nicht hundertprozentig fest, dass wir uns wirklich endgültig trennen«, unterbreche ich ihn.

Norman hebt eine Braue. »Ich dachte, das würde es bedeuten, wenn die eigene Ehefrau sich einen Scheidungsanwalt nimmt?«

»Ja, na ja, weißt du, Madeleine hat genauso hohe Moralvorstellungen wie ich. Treue in der Ehe und so, das gehörte für uns ganz selbstverständlich dazu. Eine Affäre kam nie infrage. Wir waren immer der Meinung, wenn einer von uns mal was mit jemand anderem anfängt, dann haben wir uns schon so weit voneinander entfernt, dass wir uns auf jeden Fall trennen würden.«

»Aber das siehst du heute anders?«, fragt er skeptisch.

Damit nimmt er mir den Wind aus den Segeln, denn in Wahrheit sehe ich es immer noch ganz genauso.

»Siehst du«, sagt er, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen. »Deine Hoffnung auf Madeleines Einsicht und Rückkehr in Ehren, Finian, aber du kannst eben doch nicht aus deiner Haut.«

»Und genau deswegen hat das neue Manuskript kein Happy End.«

Der Punkt ging nun wohl an mich, denn Norman seufzt ergeben.

Dann beugt er sich vor und sagt empathisch: »Du steckst in jedes deiner Bücher einen Teil von dir. Und genau das schätze ich so. Deine Leserinnen lieben diese Authentizität, die man beim Lesen spürt. Das Auf und Ab, das das Leben eben so mit sich bringt. Sie lieben die Höhen und Tiefen, die kleinen und … ja, auch die großen Dramen, die deine Figuren durchleben. Aber …« Er macht eine Pause, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »… sie wollen ein Happy End.«

»Tut mir leid. Geht grad nicht.«

Norman betrachtet mich genauer.

Ich weiß, was er sieht.

Einen Kerl, der früher stets rausgeputzt in feinen Anzügen und glatt rasiert wie ein Babypopo daherkam und nun ein zerknautschtes Jackett und einen ungepflegten Dreitagebart trägt. Dessen braune Haare bereits über den Hemdkragen zu wachsen drohen und dessen hellgrüne Augen in der letzten Zeit hin und wieder unnatürlich gerötet sind.

Wahrscheinlich kann er als mein bester Freund auch in mich hineinsehen. Erkennt in mir die Verwunderung und zunehmende Resignation darüber, dass die Frau, von der ich bei unserer Heirat vor fünfzehn Jahren glaubte, ich würde mit ihr den Rest meines Lebens verbringen, mir in den letzten Jahren immer fremder wurde.

Und selbstverständlich weiß er als mein Verleger auch um die Schreibblockade, die mich in der letzten Zeit lediglich um meinen Laptop herumschleichen lässt, über dessen Tasten üblicherweise meine Finger fliegen.

»Und was hast du vor, um diese Pattsituation zu beenden?«, will er schließlich wissen.

»Darüber habe ich die letzten Wochen gründlich nachgedacht. Dabei kam mir immer wieder dieser Spruch in den Sinn: ›Wenn du jemanden liebst, lass ihn frei. Wenn er zu dir zurückkommt, gehört er wirklich zu dir.‹ Du weißt schon.«

»Aber …?«

»Das Problem bei der Sache ist, dass es mit dem Loslassen nicht so einfach ist, wenn deine Irgendwie-nicht-mehr-so-ganz-aber-hoffentlich-bald-wieder-richtig-Ehefrau mit dem muskelprotzigen Leiter des bekanntesten Fitnessstudios der Stadt gleich nebenan wohnt. Du siehst sie gemeinsam das Haus verlassen. Du siehst sie im Garten bei einer Grillparty mit einer fröhlichen Schar von Gästen: seine Gewichtheber-Kumpels, engste Shopping-Freundinnen deiner Frau und eine erschreckend große Anzahl von Menschen, von denen du bisher angenommen hattest, sie seien eigentlich auch deine Freunde. Die ehemalige Ehefrau tatsächlich loszulassen, das funktioniert nicht, wenn man so dicht beieinander wohnt und sich täglich sieht. Deswegen gehe ich für eine Weile weg.«

»Du willst verreisen?«, ruft Norman begeistert aus.

Er selbst ist ein wahrer Weltenbummler. Wann immer bei ihm irgendwas im Argen liegt, packt er seine Koffer und fliegt nach Südfrankreich, Venedig oder Vancouver, nach Kapstadt, Melbourne und Stockholm. Wenn er zurückkehrt ist er wie ausgewechselt, voller Energie und Tatkraft. Für mich wären diese Reisen an immer andere, weit entfernte Orte die reinste Folter. Ich bin in meinen Büchern so viel unterwegs, dass ich in meinem Leben einen Ort brauche, an dem ich mich zu Hause fühlen kann.

Da Norman das genauso gut weiß wie ich, ist ihm sein Erstaunen anzusehen, als ich antworte: »Du wirst lachen, aber genau das werde ich morgen tatsächlich tun!«

Er reißt die Augen auf. »Wohin geht’s? Nein, warte, sag nichts, lass mich raten!«

Er legt den Finger an die Nasenspitze und überlegt.

»San Francisco!«, sagt er dann und liest an meiner Miene umgehend das Entsetzen ab. »Nein, nein, warte, du bist ziemlich blass – na ja, kein Wunder nach dieser Geschichte –, jedenfalls würde dir Sonne guttun … Die Kanaren!«

Ich starre ihn an.

»Nein? Sizilien!«

Ich schüttle den Kopf.

»Auch nicht? Oh, ich weiß, du bist diesmal mutig! Nigeria!«

»Somerset«, werfe ich ein, ehe er noch abstrusere Reiseziele für mich in den Raum wirft.

Normans Mund bleibt einen Moment lang offen stehen. »Somerset!?«, wiederholt er dann ungläubig.

»Ja, auf dem Land, vollkommen ungestört. Ich werde tagelang niemanden sehen und mich voll und ganz auf mein neues Buch konzentrieren können.«

Norman schaut mich noch immer an, als zweifle er insgeheim an meinem Verstand.

Dann sagt er schulterzuckend: »Finian, als dein bester Freund muss ich mich wirklich wundern. Südengland? Nur drei, vier Autostunden entfernt? Mein Gott, wie langweilig! Aber als dein Verleger stimme ich dir zu. Abgeschiedenheit. Ruhe. Keinerlei Ablenkung. Großartige Idee! Wo sonst sollst du Ideen für ein neues Buch finden, wenn nicht in … Somerset! – Diesmal aber bitte wieder mit Happy End!«

»Das kann ich dir nicht versprechen«, sage ich und setze rasch hinzu, als ich das aufblitzende Entsetzen in seinen Augen sehe: »War ein Scherz.«

Er atmet auf.

»Du machst dich also für ein paar Wochen aus dem Staub, in der Hoffnung, dass Madeleine dann zur Besinnung kommt, sobald sie kapiert, dass du nicht mehr zur Verfügung stehst?«

»Drei Monate, um genau zu sein. Und ja, irgendwie schwelt bei mir im Hinterkopf wohl auch dieser Gedanke. Der angenehme Nebeneffekt wird aber sein, dass ich bei meiner Auszeit auf dem Land, mitten in der Pampa, auch Madeleines Geturtel mit unserem Nachbarn nicht länger ertragen muss. Ich meine, warum um Himmels willen konnte sie sich nicht wenigstens jemanden suchen, der ein paar Straßen weiter wohnt und dem ich nicht ins Schlafzimmerfenster schauen kann«, sage ich. »Stell dir vor, dieser Kerl behauptet, der Charakter eines Mannes lasse sich an der PS-Zahl seines Autos erkennen. Und ich habe noch nicht mal ein Auto! Es ist irre, in London ein Auto zu besitzen. Aber was bedeutet das für meinen Charakter, frage ich dich?«

Norman lacht. »Finian, ich bin erleichtert, dass du über all dem deinen Humor nicht verloren hast.«

»Das war kein Witz«, erwidere ich.

Als wir uns an der Tür verabschieden, dauert Normans Umarmung ein wenig länger als üblich. Er klopft mir auf die Schulter und entlässt mich aus der vertrauten Polsterlandschaft seines Büros, in dem wir schon so viele Geschichten und Figuren besprochen haben, in mein reales, momentan leider ziemlich verkorkstes Leben.

Ich durchquere sein Vorzimmer.

Als ich am Schreibtisch seiner neuen Sekretärin vorbeikomme, bemerke ich ihr leichtes Zucken. So, als wolle sie etwas sagen, schrecke aber im letzten Augenblick doch zurück.

Ich bleibe stehen und schaue sie an.

»Wie geht’s Ihnen, Kathy?«, frage ich sie und lese die Überraschung in ihren haselnussbraunen Augen.

Sie hat nicht damit gerechnet, dass ich ihren Namen noch weiß. Sie ist erst seit ein paar Monaten bei Norman angestellt, und wir haben uns vielleicht zwei- oder dreimal gesehen.

»Mr. Anderson?«, setzt sie mit einem kleinen Kieksen in der hellen Stimme an. »Würden Sie vielleicht …?«

Unter ihrem Tisch hervor zieht sie meinen zuletzt erschienenen Roman und hält ihn mir zusammen mit einem Kugelschreiber hin.

»Oh, Sie haben die Probezeit überlebt und bestanden!«, stelle ich fest.

Denn nur wessen Vertrauen Norman sich absolut sicher sein kann, bringt diese Bücher und mich miteinander in Verbindung.

»Herzlichen Glückwunsch!«

»Danke.«

Sie lächelt schüchtern – sie ist noch jung, vielleicht Ende zwanzig –, doch da blitzt etwas in ihren Augen auf. Rasch schlägt sie die Lider nieder.

Während sie mir das Buch zuschiebt, murmelt sie: »Es ist … für eine Freundin.«

»Wie heißt Ihre Freundin?«, erkundige ich mich und greife nach dem Stift, der in ihrer Hand ein wenig zittert.

Sie zögert.

Aha. Verstehe.

Ich schreibe: Für eine, die meine Geschichten zu schätzen weiß.

Und setze die üblichen Initialen darunter.

»Okay so?«

»Es ist … perfekt!«, haucht Kathy.

Sie greift nach dem Buch, als sei es etwas Kostbares. Wieder dieser Blick von unten herauf.

Ich kenne das. Manchmal sehen mich Frauen, wenn sie über mein Geheimnis Bescheid wissen und meine Bücher mögen, genau so an. Sie sehen in mir den Romantiker, den Beschützer, den leidenschaftlichen Liebhaber, von dem sie gerade noch zwischen den Buchdeckeln gelesen haben. Sie denken, ich bin genau wie meine männlichen Helden.

Wenn ich jetzt etwas sagen würde. Wenn ich ihr meine private Nummer geben würde. Wenn ich vorgeben würde, jemanden zu suchen, mit dem ich den Lunch einnehmen kann …

»Wiedersehen!«, sage ich rasch und ergreife die Flucht.

Unten auf der Straße stürze ich aus dem Verlagshaus Young Books und überquere eilig die Sloane Street zur Knightsbridge Tube-Station, die man über das Erdgeschoss eines hübschen Altbauhauses erreicht, das den Krieg überlebt hat.

Als ich auf dem Bahnsteig ankomme, fährt gerade ein Zug der Piccadilly Line ein. Ich steige ein und schiebe mich durch die stehenden Fahrgäste zur anderen Wagenseite.

Ich bin umgeben von so vielen Gesichtern. Weißen, schwarzen, braunen. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Ein Mädchen mit Burka sitzt zwei kichernden Punks gegenüber. Ein Anzugträger unterhält sich mit einem Jungen in Jogginghosen.

Das ist London. Meine Stadt. Mein Herzschlag.

Wenigstens dachte ich das immer. Doch in den letzten Wochen, seit Madeleines überraschender Bekanntmachung, scheint mir das alles irgendwie zu viel. Zu viele Menschen. Zu viele Stimmen. Zu viele Reklametafeln. Zu viel Lärm.

Ich schaffe es nicht mehr, meine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Fortwährend bombardieren sie mich mit Fragen. Besonders mit dieser einen, alles umfassenden.

So kann ich aber nicht arbeiten. So kann ich nicht eintauchen in ferne Welten, in fremde Köpfe und vor allem nicht in andere Herzen.

Deswegen die Idee mit Somerset. Auch wenn es bestimmt seltsam sein wird, so ganz allein irgendwo auf dem Land. Ich hoffe, mir fällt nicht schon nach zwei Tagen die Decke auf den Kopf.

Als ich kurze Zeit später in die kleine Einfahrt zu unserem Haus einbiege, fällt mein Blick sofort auf die beiden Koffer, die vor der angelehnten Tür stehen.

Ich halte abrupt inne und werfe einen Blick auf die Uhr.

Verdammt, das ist mal wieder typisch. Wir hatten abgemacht, dass sie um diese Uhrzeit schon wieder fort ist.

In dem Augenblick wird die Tür ganz geöffnet, und Madeleine kommt heraus.

Sie ist wie immer tadellos gekleidet, in einen weich fallenden taubenblauen Hosenanzug, der die Farbe ihrer Augen unterstreicht. Die Bluse trägt sie lässig, ein Stückchen aufgeknöpft. Die blonden Haare fallen in weichen Wellen auf ihre Schultern.

Sie sieht mich hier stehen und zögert.

»Bin ich zu spät dran?«, fragt sie.

Ihre Stimme klingt fremd. Hoch und angespannt.

»Im vertrauten Rahmen«, antworte ich und kann selbst hören, wie staubig meine Kehle ist.

»Na ja, ich bin jedenfalls fertig. Bin schon wieder weg«, sagt sie und greift nach den Koffern.

Mir entgeht jedoch nicht, dass ihr Blick rasch über die niedrige Hecke zur Haustür des Nachbarhauses huscht.

»Okay.«

Die Koffer scheinen schwer zu sein. Madeleine ist zwar groß, hungert sich aber stets an der gerade noch zulässigen Gewichtsuntergrenze entlang und ist daher nicht besonders kräftig, sie muss sich anstrengen. Eine Sekunde lang zucken meine Finger, aber gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, wie sie vor acht Wochen vor mir stand.

»Dieses ewige Gentlemangehabe«, hatte sie gezischt. »Weißt du, wie sehr mich das ankotzt?!«

Mit der Erinnerung an diese Worte schaffe ich es, sie einfach vorbeigehen zu lassen, ohne ihr meine Hilfe anzubieten.

Ich will schon weiter, die Tür hinter mir zuschlagen, denn in mir regt sich bereits wieder die inzwischen bekannte Wut – oh ja, die kenne ich neben all dem Schrecken und der Resignation durchaus auch! –, als sie kurz den Kopf wendet und sagt: »Danke, Fin, dass ich kurz ins Haus konnte.«

Ihre leise Stimme, wie sie die Kurzform meines Namens ausspricht, so wie immer, entwaffnet mich vollkommen. Vielleicht, weil darin zum ersten Mal seit unserer Trennung wieder ein Gefühl mitschwingt, das nichts mit Enttäuschung und Zorn zu tun hat.

Ich starre sie an, doch sie geht schnell an mir vorbei, ohne mir einen weiteren Blick zu schenken. Eine feine Wolke Parfüm weht ihr nach, als sie das schwere Gepäck aus der einen Einfahrt hinaus- und in die nächste hineinschleppt.

Warum bewege ich mich nicht? Ich sollte einfach weitergehen. Brauche nicht mal nach dem Schlüssel zu kramen. Die Tür steht noch halb offen.

Als Madeleine gerade die Tür des Nachbarhauses erreicht, wird die von innen aufgerissen.

»Ich sag doch, ich mach das«, brummt der Klotz von einem Mann namens Dustin.

Madeleine wirft einen Blick zu mir herüber.

Ich stehe immer noch wie angewurzelt.

Auch Dustin sieht her.

»Ach so«, knurrt er. »Na, dann komm rein, Schatz!«

Er nimmt die Koffer, als seien sie mit Daunen gefüllt, und schiebt Madeleine ins Haus.

Erst als die Tür zufällt, bin ich wieder fähig, mich zu rühren.

Meine Wut ist verraucht, umhüllt mich nur noch wie ein dünner Schleier.

Ich gehe ins Haus, schließe die Tür und atme im Flur den vertrauten Geruch ein.

Wie lange habe ich ihn als selbstverständlich betrachtet, ohne das geringste Kribbeln im Bauch, die Vorfreude, sie zu sehen, zu umarmen, zu lieben?

Doch keine Zeit für weitere traurige Gedanken, ich muss packen! Wenn ich morgen früh loswill, bevor hier das Verkehrschaos vor dem Wochenende ausbricht, sollte ich schon alles vorbereitet haben. Der Mietwagen wird noch heute Abend hergebracht. Ich habe geplant, mein Gepäck gleich reisefertig darin zu verstauen – dann kann ich morgen früh aus dem Bett fallen und sofort losfahren.

Während ich die Stufen in die erste Etage nehme und im Ankleidezimmer die neuen Koffer öffne, die ich extra für diese Reise gekauft habe, herrscht in meinem Kopf aber alles andere als planvolle Ordnung.

Diese eine Frage, die mir seit sechs Wochen nicht aus dem Kopf geht, die meine verletzte Eitelkeit stets wieder zur Seite schiebt und die doch nicht loszuwerden ist, stellt sich plötzlich hartnäckiger denn je. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand. Ich will es nur nicht wahrhaben.

Die Frage lautet: Wenn ich es monatelang nicht merke, dass meine Frau mich betrügt, zeigt das nicht, dass ich zumindest die Hälfte der Schuld daran selbst trage?

3. Amber

Nachdem ich die Koffer ausgepackt und die Inhalte der Küchenschränke überprüft habe, sollte ich wohl meinen ersten Pflichtbesuch bei dem Pferd antreten, das ich in den kommenden drei Monaten versorgen werde.

Ein Blick in den Ausdruck der letzten Mail von Mr. Rogers. Aha, Brandon heißt der Wallach. Und weiter heißt es dort, dass das Großpferd sich auf den Weiden und im großen Stall frei bewegen kann.

Ich spähe in alle Himmelsrichtungen über die Wiesen, die sich sowohl den sanften Hügel hinauf bis zum Waldrand ziehen als auch abfallen in Richtung Bachlauf im Tal, doch es ist kein Pferd in Sicht. Also verschiebe ich den Spaziergang rund um die umliegenden Weiden auf später und marschiere erst einmal festen Schrittes zum Stallgebäude hinüber.

Auf dem Weg dorthin sehe ich, dass alle der sechs riesigen Koppeln über streckenweise schmale Wege einen Zugang zum Stall haben. Auf diese Weise kann das Pferd sich also problemlos unterstellen, wenn es mal regnen sollte oder der englische Süden ausnahmsweise eine Hitzeperiode erlebt, vermute ich. Die Tränke befindet sich auch hier. Ich muss nur täglich nachschauen, ob sie intakt ist. Für den Fall, dass sie ausfällt, hängt am Kühlschrank ein Zettel mit der Nummer eines Klempners. Ganz leicht zu bewerkstelligen also.

In den Bäumen, die rund um das alte Stallgebäude Schatten spenden, sitzen ein paar Krähen und krächzen sich gegenseitig zu. Die Blätter rascheln leise in der sanften Brise. Eine muntere Gruppe Sperlinge hüpft tschilpend auf dem Boden herum. Schwalben sausen mit hohen Schreien durch die Luft und immer wieder zum großen Scheunentor, das halb aufsteht, hinein und wieder hinaus.

Man kann nicht behaupten, dass dies eine enorme Geräuschkulisse ist. Und doch fällt mir sofort die Stille auf, die mich augenblicklich umgibt, als ich die Stallgasse betrete.

Nur meine Schritte sind auf dem sauber gefegten, leicht staubigen Boden zu hören, während ich zwischen den Dutzenden rechts und links liegenden, leeren Boxen hindurchgehe.

Plötzlich kann ich mir vorstellen, dass hier früher etliche Pferde ihr Zuhause hatten. Der Geruch ihrer warmen Körper erfüllte bestimmt die Luft, in der kleine Staubpartikel in den durch die Oberlichter hereinfallenden Sonnenstrahlen tanzten. Man hörte ganz sicher ihr Schnauben, das Mahlen ihrer großen Kiefer, nachdem sie Heu aus der Raufe gerupft hatten. Wenn hier jemand entlangging, gab es bestimmt etliche neugierige Augen, die diesem Menschen folgten, immer in der Hoffnung auf eine Leckerei oder einen Spazierritt.

Jetzt aber regt sich nichts. Es herrscht eine irgendwie gespenstische Atmosphäre.

Meine Schritte verlangsamen sich ganz von allein. Noch ein letzter Blick in den großen, offenen Bereich des Stalles am Ende der Gasse. Ich gehe ein paar Schritte hinein.

Hm, nein, hier ist das Pferd auch nicht. Vielleicht ist es hinunter an den Bach gegangen? Den Bereich kann ich vom Haus aus nicht sehen. Mit diesem Gedanken im Kopf erschrecke ich umso mehr, als ich mich umdrehe und ein paar Meter hinter mir ein dunkler Schatten an der Wand lehnt.

Der kleine Schreckenslaut, der mir entfährt, lässt das Pferd den Kopf wenden.

Der Wallach ist groß. Viel größer, als ich dachte. Vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, weil er so dicht vor mir steht.

Es ist ein Brauner mit schwarzer Mähne und Schweif, einem sternförmigen, weißen Fleck auf der Stirn und weißen Socken an dreien seiner Beine, nichts Besonderes also.

Als ich erfuhr, dass es ein Irish-Hunter-Pferd sein würde, um das ich mich kümmern müsste, hatte ich im Internet ein bisschen recherchiert, denn die Rasse war mir unbekannt.

Doch dieses Pferd hier hat nichts gemein mit den Bildern von seinen stolzen, auf Hochglanz polierten Artgenossen, deren Fell in der Sonne glänzt, die in wilden Galoppsprüngen über Gräben setzen oder in einer ganzen Herde über eine Wiese galoppieren. Dieses Pferd hier trauert. Das ist mir mit erstaunlicher Gewissheit und gleich darauf einsetzender Bestürzung sofort klar.

Als ich zögernd die Hand ausstrecke, wendet es mit leicht zurückgelegten Ohren den Kopf wieder ab.

»Hallo Brandon«, sage ich und komme mir verflixt dumm vor.

Dieses Pferd kennt seinen Namen wahrscheinlich nicht. Und meine Begrüßung scheint den Wallach auch nicht die Bohne zu interessieren.

Warum ist er nur so traurig?

Denn dass er traurig ist, steht außer Frage, oder irre ich mich?

Sein Rücken hängt durch. Der Blick aus seinen braunen Augen ist stumpf. Sein ganzer Körper, die Rippen sind unter dem glanzlosen Fell deutlich zu erkennen, drückt Hoffnungslosigkeit aus. Ihn umgibt eine Aura von Resignation und Fügung in eine ausweglose Situation.

Oder ist dieses Pferd einfach nur furchtbar alt, vielleicht auch krank, und ich bin gerade dabei, meine eigene Lage in schönster Psychomanier auf das Tier zu projizieren?

Ich schneide mich an seinem Anblick hier im dunklen Stall, mit hängendem Kopf und ohne einen Funken Lebensfreude, wie an einer Glasscherbe, die ich unachtsam aufgehoben habe.

Ehe ich michs versehe, haben meine Beine mich aus der Tür getragen, in raschem Tempo die Stallgasse entlang, an der ehemaligen Sattelkammer vorbei und hinaus. Hinaus ins Sonnenlicht.

Als ich um die Ecke des Ziegelsteingebäudes schieße, das mir gerade noch so idyllisch und nostalgisch erschienen war, sehe ich einen Mann von der anderen Seite her über den Hof schlurfen.

Bei meinem Anblick bleibt er kurz verwundert stehen, setzt seinen Weg dann fort. An einem groben Strick führt er einen mittelgroßen Hund mit unglaublich langem Fell, der geduckt neben ihm herschleicht und sich beständig nach allen Seiten umsieht, sodass ihm das beigebraune Fell um die Ohren fliegt.

Als der Mann bis auf ein paar Meter heran ist, zieht er kurz seine abgetragene Tweedmütze vom Kopf und nickt kantig.

»Tag auch, Madam, sind Sie die neue Mieterin vom Cottage?«

Ich nicke ebenfalls.

Dieser Mann in den abgenutzten Arbeitssachen eines Farmers ist mir auf Anhieb unsympathisch. Vielleicht ist es der leicht verschlagene Blick aus den wässrig blauen Augen. Oder es sind die dunklen Adern, die seine gerötete, knollenartige Nase überziehen.

»Cox«, stellt er sich mir vor und reicht mir eine schwielige Hand mit dreckigen Fingernägeln, die unangenehm fest zugreift, als ich meine hineinlege.

Als er die Hand endlich zurückzieht, weicht der Hund an seiner Seite so weit nach hinten wie der Strick es eben zulässt. Angstvoll blickt er zwischen seinem Herrn und mir hin und her. Mr. Cox rückt die Schirmmütze auf seinem verbliebenen Haarkranz auf dem Kopf zurecht.

»Bin Ihr nächster Nachbar hier.« Er nickt vage Richtung Osten.

Erst jetzt fällt mir der Trecker auf, der vor der Hofeinfahrt steht.

»Amber Reed«, erwidere ich und reibe mir heimlich die Finger.

»Tja, Mrs. Reed, dachte, Sie kämen erst morgen an. Da wollt ich nach dem Rechten sehen«, brummt er. »Mach ich immer, wenn kein Mieter im Cottage ist. Einer muss sich ja um den Klepper kümmern. Alles okay mit dem?«

Ich brauche ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass er das Pferd meint. Er ist also derjenige, der den alten Wallach versorgt, wenn sonst niemand hier ist.

»Ja«, sage ich schnell. »Alles bestens.«

Obwohl ich mir da ja wirklich nicht sicher bin. Aber irgendwie habe ich das Bedürfnis, Mr. Cox so schnell es geht wieder loszuwerden. Etwas an der Art und Weise, wie er mich so unverhohlen mustert, gefällt mir überhaupt nicht.

Der Hund, der geduckt und wie erstarrt hinter ihm steht, scheint ihn nicht zu kümmern. Er scheint aber auf ein Schwätzchen aus zu sein, denn er schaut zum klarblauen Himmel hinauf und scharrt mit einem Fuß im Staub.

»Haben Sie sich ja ’n feines Wetter ausgesucht für Ihre Ankunft«, floskelt er. »Wie lange bleiben Sie denn?«

»Eine ganze Weile«, antworte ich ausweichend.

»Sie kommen wohl aus der Stadt, hm? Mal bisschen Auszeit vom hektischen London nehmen?«

»Genau.«

Mir entgeht nicht, dass sein Blick neugierig über mein Gesicht wandert. Als könne er anhand meines Aussehens erkennen, wer ich bin. Doch die Gene meiner Urgroßmutter haben schon viele getäuscht. Hin und wieder ist es mir passiert, dass Männer bei meinem Anblick etwas Exotisches erwarten und verwundert sind, wenn sie nur eine typische Engländerin kennenlernen. Oje, ich hoffe doch, dass mein nächster Nachbar nicht auf einen Flirt mit dem Sommergast aus ist!?

»Entschuldigen Sie, aber ich wollte gerade …«, sage ich und deute zum Cottage hinüber.

»Nur zu! Nur zu!«, sagt er und winkt mich großzügig hinüber. »Und wenn mal was sein sollte mit dem Ollen, kommen Sie rüber. Ich wohn gleich da drüben.«

Gleich da drüben würde in London bedeuten: hinter der nächsten Wohnungstür, im übernächsten Haus, ganz sicher aber in derselben Straße. Hier jedoch erkenne ich in der angedeuteten Richtung nur den leicht ansteigenden Hügel mit dem Eichenwäldchen darauf. Er muss die Farm meinen, an der ich auf dem Hinweg vorbeigekommen bin.

»Vielen Dank für das Angebot. Sehr freundlich!«, sage ich und versuche ein besonders herzliches Lächeln, um meine Wortkargheit wieder wettzumachen.

Mr. Cox tippt sich an die Mütze und geht breitbeinig zum Traktor hinüber, den sich sträubenden Hund mehr oder weniger hinter sich herziehend.

Ohne ihm länger nachzusehen, eile ich zum Cottage, schlüpfe durch das Törchen im Gartenzaun und verschwinde hinter der Hausecke. Ich kann hören, wie der Motor gestartet wird und der Traktor sich entfernt.

Ich hole tief Luft.

Na, toll. Ich werde mich nun drei Monate um ein Pferd kümmern müssen, das wirkt wie ein Traumaopfer, und mein nächster Nachbar ist ein saufnasiger Farmer, der wenig Verständnis für das Tier zu haben scheint und stattdessen weibliche Touristen mit glasigem Blick anstiert.

»Oh, Eddy«, seufze ich.

Jetzt ein Anruf bei ihm, das wäre schön.

Ich gehe über die Terrasse ins Haus, verlaufe mich auf dem Weg ins Schlafzimmer noch kurz. Doch schließlich stehe ich vor der kleinen, hübsch aufgearbeiteten Kommode, in die ich vor einer Stunde noch meine Wäsche geräumt habe.

Ich ziehe die oberste Schublade auf und sehe hinein.

Neben meinen BHs liegt ein leuchtend blauer Briefumschlag. Eddys Farbe. Die Farbe seiner Augen.

Ich nehme den Umschlag heraus und halte ihn einen Augenblick in der Hand.

In Eddys krakeliger Handschrift – katastrophal zu lesen, aber eben Eddys Schrift – steht dort Am mit schwarzer Tinte geschrieben. Sein Name für mich.

Das Kuvert ist noch fest verschlossen.

Ich schiebe die Spitze meines Zeigefingers in die kleine Lücke. Doch dann entscheide ich mich um, reiße ihn nicht auf. Stehe einfach nur hier und starre auf meinen Finger, der ein wenig im Blau verschwindet.

Den Brief zu lesen wäre nicht dasselbe, wie mit ihm zu sprechen.

Ich könnte ihm nichts erzählen. Nicht von der kribbelig aufregenden Fahrt hierher, nicht von dem wunderschönen Häuschen, den duftenden Blumen in allen Beeten, den Bäumen, den Vögeln. Auch nichts von dem katatonischen Pferd, zu dem er bestimmt sofort alles Mögliche googeln, von dem unsympathischen Nachbarn, über den er Witze reißen würde, sodass wir gemeinsam darüber lachen könnten. Eddy zu erzählen, was immer mir wiederfährt, hat von Anfang an alle Dinge noch schöner, noch bunter, noch lebendiger gemacht, hat allem Traurigen die Dunkelheit, allem Schmerzlichen die Schärfe genommen.

Einen Brief zu lesen wird nicht dasselbe sein.

Vorsichtig ziehe ich meinen Finger zurück aus dem Umschlag.

Ich streiche den Knick glatt, den ich verursacht habe, und lege das Kuvert zurück in die Schublade.

Nicht jetzt.

Nicht heute.

Vielleicht irgendwann, während ich hier sein werde.

Ich werde den rechten Augenblick schon erkennen.

*

In meiner ersten Nacht im Haus in den Weiden kann ich nicht gut einschlafen. Zu still ist es um das kleine Cottage herum. Kein Autolärm, keine Nachbarsstimmen, nicht einmal Flugzeuge am Himmel.

Ich schließe die Vorhänge nicht, so kann ich vom Bett aus hinauf in den sternenklaren Himmel schauen. Einmal fliegt ein großer Vogel vorbei. Es wirkt, als habe er keinen Kopf, das muss eine Eule sein.

Ein paar Mal ist ein seltsam klagendes Geräusch zu hören. Es erinnert mich an die Krimiabende mit Phoebe, bei denen wir uns über die abstrusen Mordfälle in Midsomer Murders amüsiert haben. Inspector Barnaby löst skurrile Fälle, und in jeder Folge bellt irgendwann einmal ein Fuchs. Das ist genau das Geräusch, was ich nun auch höre. Aber hier kommt es sicher nicht vom Tonband. Hier gibt es Füchse. Sicher gibt es hier Füchse. Es kommt mir sonderbar vor, dass ich im Vorfeld nicht daran gedacht habe.

Irgendwann, zwei Uhr ist bestimmt schon vorüber, schlafe ich schließlich ein.

Keine Träume, an die ich mich erinnern kann.

*

Helligkeit draußen vor dem Fenster.

Ein Blick auf die Uhr. Ein leichter Schreck. Schon neun.