Der Zinnmann - Eric Seger - E-Book

Der Zinnmann E-Book

Eric Seger

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Beschreibung

Am Strand eines kleinen irischen Dorfes wird eine männliche Leiche gefunden. Drohendes Unheil wird mit dem Namen des Toten verbunden. Der Zinnmann, so wurde er im Dorf genannt, wird zum Synonym für einen geächteten Menschen. Sein Sohn, Elliot O'Connor, der nach dem Tode der Mutter als Vierzehnjähriger nach Amerika zu seinem Onkel in Pflegschaft gegeben wurde, kehrt als Pathologe nach fünfundzwanzig Jahren zur Beerdigung seines Vaters in die Heimat zurück und wird in den Strudel der Ereignisse um das Verbrechen an seinem Vater hineingezogen. Die traurige Arbeit am toten Körper seines Vaters nach den Spuren eines Verbrechens zu suchen, ohne dabei im Strudel der Gefühle unterzugehen, verlangt Übermenschliches von Elliot. Es wird eine Zeitreise, in der sein bis dahin gelebtes Leben segmentartig an ihm vorbeigleitet.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2019

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In memoriam David Lean

Credits

dank schulde ich all denen,

die mich zum schreiben

angehalten haben, mich

aufmunterten, wenn ich

verzweifelt war, mir bei

terminen den rücken freihielten

und zuspruch erteilten,

wenn ich’s am nötigsten hatte.

danke, dagmar, dass du mir

den spiegel vorgehalten hast,

olivia für den liebevollen

umgang.

danke allen für rat, geduld

und liebe.

Eric Seger

Der Zinnmann

© 2019 Eric Seger

Autor: Eric Seger

Umschlag, Illustration: Eric Seger

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7469-6991-6

Hardcover 978-3-7469-6992-3

e-Book 978-3-7469-6993-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Ein kühler Wind fegte über den Strand und nahm mit, was sich ihm in den Weg stellte, schob es ein Stück vor sich her und deponierte seine Fracht kunstvoll an Dünen, die sich wie Wellentäler über den Strand verteilten. Sandkörner wirbelten durch die Luft und lagerten sich wie kleine, verborgene Kunstwerke auf Treibholz, vertrockneten Algen und von Menschenhand weggeworfenem Müll ab. Dabei verharrten sie eine Weile, um dann, von der nächsten Windböe erfasst, in die andere Ecke des Strandes transportiert zu werden. Unermüdlich deckten sie Strandgut zu, liessen Seegras, das wie aufrecht stehende Haarbüschel aus den Dünen schaute, spurlos verschwinden. Hinter einem grossen schiefergrauen Stück Felsen, an der windgeschützten Seite, fielen sie zu Tausenden auf eine irdische Hülle und bildeten eine neue Sanddüne. Vom Sand halb zugedeckt, lag eine männliche Leiche auf dem Rücken und starrte mit offenen Augen in die Sandkörner, die über die Felskante auf sein Gesicht rieselten. Vom Haaransatz weg klaffte eine grosse Wunde quer über den Schädel, und an der blutverschmierten Öffnung machten sich Hunderte von kleinen Krabben emsig zu schaffen.

Constabler Angus O’Malley schaute ekelerregend auf die Tiere. Zuweilen überfiel ihn der Wunsch, mit seinen derben Stiefeln auf die Viecher einzutreten, sie plattzuwalzen, ihre Schädel ebenso zu malträtieren wie denjenigen, mit dem sie sich beschäftigen, er drehte sich aber abrupt ab und überliess ihnen den Toten, schon aus Gründen der Pietät.

„Verdammt“, sagte er und noch einmal: „Verdammt!“, stampfte mit dem Stiefel auf den Boden und wirbelte dabei neue Sandkörner in den Wind.

Sein Deputy, Wachtmeister Michael O’Keefe, hockte derweil mehrere Meter von der Leiche entfernt im Sand und kotzte sich das Essen der letzten drei Tage aus dem Magen. O’Malley wusste nicht mehr, auf welche Seite er sich wenden sollte, auf der einen übergab sich sein Deputy, dessen Gestank der Wind zu ihm hertrieb, auf der anderen gammelte eine mindestens zwei Tage alte Leiche vor sich hin und verbreitete den süsslich - sauren Duft eines chinesischen Essens.

Angus O’Malley war übel riechende Düfte gewohnt, besonders dann, wenn er an den Pub im Dorf dachte, aber das hier wurde ihm eindeutig zu viel. Wütend stampfte er durch den losen Untergrund auf sein Dienstfahrrad zu, das er bei der Ankunft am Strand achtlos in den Sand geworfen hatte, hob es am Lenker hoch und schwang sich, auf der Strasse angekommen, behände in den Sattel. Er trat in die Pedale, als gäbe es am Ende der Strecke einen Preis zu gewinnen, dabei versuchte er jedem Schlagloch in der Strasse auszuweichen, was ihm nur sehr schlecht gelang und jedes Mal mit einem Fluch begleitet wurde. Seine Hände packten den Fahrradlenker, bis die Knöchel weiss hervortraten. Von aussen sah es so aus, als würde er den Drahtesel demnächst in Stücke zerreissen, dabei versuchte O’Malley sich nur an den Augenblick zu erinnern, als die Kleine vom Bäcker O’Ryan vor einer Stunde in seiner Wachstube erschienen war, um ihm klarzumachen, dass unten am Strand ein Mann liege mit einem Loch im Kopf und er doch bitte nachschauen möge.

„Verdammt!“ Die Pfütze riss ihm den Lenker fast aus den Händen, und das Wasser drang durch den Stiefel an seine Socke. Endlos schien der Weg bis zum Dorfeingang. Mit seinen knapp fünfzig Jahren schnaufte O’Malley dem Bauernhof entgegen, so, als hätte er den Berg des Heiligen Patrick in Rekordzeit bestiegen.

Keuchend lehnte er sein Dienstfahrrad an die Scheunenmauer und schüttelte sein Haupt wiegend hin und her, als ihn Bauer Reily, der vor dem Scheunentor auf seinem Traktor sass, fragte:

„He, Angus, ist ein Gespenst hinter dir her?“ Er kletterte von dem Gefährt herunter und ging auf O’Malley zu.

„Du darfst gleich wieder aufsteigen und mit mir an den Strand fahren“, keuchte der Polizist und trocknete mit dem Ärmel der Uniform sein mit Schweissperlen übersätes Gesicht und die leicht ergrauten Haare, die pitschnass an seinem Kopfe klebten.

„Warum sollte ich das tun, hä?“, fragte Bauer Reily und kratze dabei seinen Hintern.

„Weil ich es dir sage. Schnapp dir den Anhänger, und gib Gas, dass wir an den Strand kommen!“ O’Malley kletterte auf die Maschine und hielt nach dem Bauern Ausschau, der immer noch am selben Fleck stand und ihn blöd angrinste.

„Na los, eine Leiche wartet auf dich!“

„Eine Leiche? …Am Strand?“

„Nun mach schon, oder willst du auf die Reinkarnation des Toten warten?“

O’Malley feixte, als er den starren Gesichtsausdruck bei Sam Reily bemerkte, der mit mechanischen Bewegungen den Anhänger ankuppelte, dann mit Vollgas aus der Hofeinfahrt fegte und über den Löchern im Asphalt zu schweben schien.

Unten am Strand angekommen, sah O’Malley über den Zaun hinweg, der die Strasse von dem Strand trennte, dass sich nichts verändert hatte. Die graugrünen Wellen kämpften immer noch gegen den Strand an, und sein Wachtmeister hockte immer noch in der gleichen Stellung, wie er ihn verlassen hatte, und auch die Leiche war noch am selben Ort, sosehr er es sich auch gewünscht hatte, sie wäre nicht mehr da, wenn er zurückkäme.

„Wie kommt denn der hierher? Wurde er angeschwemmt?“, schrie Sam in den absterbenden Motorenlärm und schaute betroffen auf den Leichnam.

„Warum, kennst du ihn?“, fragte O’Malley, in der Annahme, Sam hätte die Leiche erkannt.

„Nein, nein… ich glaube nicht!“ Er machte einen Schritt näher auf den Toten zu. „Oder doch? Nein, ich bin mir sicher, ich habe den Kerl noch nie gesehen. Jedenfalls nicht hier bei uns in Lahinch!“ Sam kratzte seinen Hintern. O’Malley beobachtete ihn dabei und dachte darüber nach, dass gewisse Menschen, wenn sie nervös waren, sich am Kopf kratzten oder an den Fingernägeln kauten, bei Sam war das anders, er befingerte seinen Allerwertesten.

„Du bist dir also sicher. O.k., dann hilf mir, den Mann aufzuladen!“

„Wie? Was, aufladen? Ich fasse doch keine Leiche an, ich bin doch nicht verrückt! So was bringt Unglück. Ruf doch deinen Deputy…, was treibt denn O’Keefe da hinten?“ Sam hatte ihn erst jetzt bemerkt und winkte hinüber. „Sitzt da wie ein alter Cocker beim Scheissen!“ An O’Malley gewandt: „Nun komm schon, du wirst gebraucht, es gibt Arbeit für dich!“, brüllte Sam gegen den Wind an, der jetzt wieder stark auffrischte und das Spiel mit dem Sand in alter Manier wieder neu entfachte.

O’Keefe kam langsam auf sie zu, schaute kurz auf den Leichnam, wobei die Mundwinkel vibrierten und der Adamsapfel wilden Zuckungen unterworfen war. An seinem Hals baumelte ein Fotoapparat, und seine Kleider rochen stark nach Erbrochenem. Der Deputy drehte auf dem Absatz um, hielt die Hand vor seinen Mund und begab sich dorthin zurück, wo er hergekommen war.

„Was ist denn mit dem los? Sieh dir das an!“ Sam schaute von einem zum anderen. „Stinkig wie ein Lord verweigert er die Arbeit! Na so was aber auch“

„Lass ihn und hilf du mir.“ O’Malley schleifte den Toten an den Stiefeln zum Anhänger.

„Kein Gedanke“, Sam wedelte abwehrend mit den Händen.

„Leichen berühren bringt Unglück. Ich würde nicht einmal meine alte Betty, verpackt in einem Sarg, irgendwohin tragen und schon gar nicht einen, den ich nicht mal kenne.“

Inzwischen hatte O’Malley den Toten, der ihn mit gebrochenen Augen anstierte, an den Anhänger gelehnt, während sich die kleinen Krabben an der Wunde still verhielten.

„Ach, aber besoffen auf sie drauflegen, wenn sie vor lauter Asthma keine Luft mehr bekommt, das schon!“ O’Malley wuchtete den Leichnam auf die Ladebrücke und keuchte wie eine halbe Stunde zuvor.

„Wer sagt das?“, wollte Sam wissen.

„Nicht so wichtig. Schmeiss jetzt deine Mühle an, dass wir von hier wegkommen, bevor das ganze Dorf wegen deines Lärms zusammenläuft.“ Angus O’Malley zog eine alte Plane über den Körper der Leiche, so dass er die aufgebrachten Gliederfüssler, die sich wiederum an der Wunde zu schaffen machten, nicht mehr anschauen musste, während Sam den Traktor startete und mit wildem Gesichtsausdruck den Heimweg unter die Räder nahm. In der Hälfte des Weges kam ihnen ein Mann auf einem Fahrrad entgegen, der den Blick über den Anhänger schweifen liess und dabei die halb zugedeckte Leiche zu sehen bekam. Er stockte, bremste scharf ab, geriet dabei in ein besonders tiefes Schlagloch und stürzte über den Lenker auf die Strasse. Halb vom Sturz, halb vom Gesehenen benommen, faselte er wirres Zeug, als der Deputy ihn Minuten später am Strassenrand sitzend vorfand.

„Wohin damit?“, wollte Sam wissen, als sie am Dorfrand ankamen. Er nahm seinen Fuss vom Gaspedal und schaute O’Malley fragend an.

„Ins Spritzenhaus, da findet ihn so schnell keiner.“ O’Malley deutete mit dem Finger in die Richtung, wo eine alte Scheune stand, die zum Feuerwehrdepot umgebaut worden war. Sam grinste und setzte seinen schweren Stiefel wieder aufs Pedal, was die Maschine mit einer schwarzen Rauchwolke aus dem hochstehenden Auspuff quittierte.

Die altersschwachen Scheunentore, die vom ständigen Wetterwechsel wie gegerbt aussahen, heulten in ihren Angeln und gaben den Eingang nur widerwillig frei. O’Malley drückte und schob die Tore so weit auf, dass Sam den Anhänger rückwärts einparken, abkuppeln und den Schuppen wieder verlassen konnte, und schloss dann von draussen sorgfältig die Tore ab.

„Wenn du das nächste Mal bei meinem Revier vorbeifährst, schmeiss doch bitte mein Fahrrad vom Hänger, und… dass du den Mund hältst, versteht sich ja von selbst, oder?“, wandte sich O’Malley mit dienstlichem Unterton in der Stimme an Sam. Dieser schluckte schwer und brachte ein Nicken zustande, bevor er seinem Traktor die Sporen gab und in einer Russwolke verschwand.

Als Angus O’Malley durch die Hauptstrasse zu seinem Revier ging, wurde er den Verdacht nicht los, dass man ihn beobachtete. Obwohl die Strasse verlassen vor ihm lag, registrierten seine Augen leichte Bewegungen an den Vorhängen der Fenster. Haustüren wurden bei seinem Näherkommen hektisch verschlossen, was ihn zu dem Gedanken veranlasste, ob die Dorfeinwohner vielleicht etwas mit der Geschichte am Strand zu tun hatten. Er hatte den Gedanken längst verworfen, als er die Klinke zum Polizeirevier aufdrückte. Leichter Gestank nach Erbrochenem, vermischt mit Tabakrauch, lag bleiern im Raum. Von seinem Deputy war nichts zu sehen, nur aus der Toilette vernahm er dumpfe Scheuergeräusche, und danach wurde die Klosettspülung betätigt. Michael O’Keefe trat aus der Tür, kreidebleich mit nassen Flecken auf der Uniform gab er ein verletzliches Bild von menschlicher Schwäche ab.

Er steuerte, ohne seinen Vorgesetzten anzuschauen, den Schreibtisch an und machte sich mit linkischer Gestik an ihm zu schaffen. O’Malley beobachtete ihn mit argwöhnischem Grinsen.

„Nun, sind die Fotos schon entwickelt? Kann ich sie mal anschauen?“

„Nein, natürlich nicht. Ich bin gerade erst gekommen und musste mich zuerst waschen, aber in etwa einer Viertelstunde habe ich sie entwickelt…“ O’Keefe stand auf, schnappte sich die Kamera und verschwand in der am Ende des Flures liegenden Dunkelkammer.

Der alte, leicht vergammelte Bürostuhl ächzte unter dem Gewicht von O’Malley, als er sich hineinplumpsen liess. Die Augen von Angus schweiften über die gegenüberliegende Wand und blieben am Bild, das leicht schräg an einem Nagel hing und den amtierenden Präsidenten der Republik Irland porträtierte, hängen. Wie vergänglich, dachte er, ohne den Blick abzuwenden. Den einen Fuss auf dem Schreibtisch drapiert, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte O’Malley auf die Gestalt, die ihn mit weichgezeichneten Augen unverhohlen betrachtete. Warum werden die Wände aller Amtsstuben auf der Welt mit Porträts von Personen zugepflastert, die den Menschen, die dort arbeiten, nichts bedeuten, dachte er, und wieso hängt man nicht Bilder der Angehörigen der Beamten, zum Beispiel Vater und Mutter oder das Bild von der Frau des Reviervorstehers auf, dann würde jetzt seine Frau Imelda dort an der Wand hängen und ihm vielleicht intuitiv verraten, wie er den Fall zu lösen hätte. O’Malley suchte mit der linken Hand nach dem Telefonbuch, das schräg unten in einer Schublade lag. Er hatte den Entschluss gefasst, dass diese Angelegenheit wohl eine Nummer zu gross war für einen Dorfpolizisten in einem kleinen Revier am Ende der Welt. Seine Arbeit hatte nichts mit Recherchieren über anderer Leute Leben zu tun, sein Tun bestand darin, die Ordnung im Dorf aufrechtzuerhalten und Auswüchse von Kerlen zu unterbinden, die im Pub dem dunklen Starkbier allzu häufig Gelegenheit gaben, ihre Hirnmasse zu ertränken. Er begann, die Wählscheibe am schwarzen Apparat zu drehen, als sein Deputy aus der Dunkelkammer kam und ihm die Fotos auf den Tisch knallte. O’Malley liess den Hörer fallen ob dem, was er sah.

„Was soll das? Sind das die Fotos, die du am Strand gemacht hast? Das ist doch nicht dein Ernst?“ Angus schaute mit weit geöffneten Augen auf seinen Untergebenen. „Das ist wirklich dein Ernst, ich glaub’ es nicht. Was soll ich mit den Bildern machen?“ Dabei hielt er vier Fotos in die Höhe. „Und dann noch so viele? Du bist wirklich talentiert, das muss man dir lassen. Wer bringt es schon fertig, an einem Morgen einen Film zu verknipsen, von dem nur vier Bilder zu gebrauchen sind? Auf dem ersten ist ein Bein zu sehen, wahrscheinlich von dem Toten, auf dem zweiten ein verschwommener Schädel, ich nehme an, auch von der Leiche, und jetzt kommt das schönste Foto, Numero drei…, deine Kotze in Grossaufnahme gestochen scharf! Schade, dass es nur in Schwarzweiss ist und nicht in Farbe, da würde es einem so richtig schlecht werden beim Betrachten. Ach, und die Nummer vier, eine wirklich schöne Landschaftsaufnahme, ich gratuliere, du bist der geborene Fotograf!“

„Ich kann doch auch nichts dafür, wenn mir beim Anblick von Leichen schlecht wird. Ich kann auch in kein Spital, ohne dass es mir den Magen umdreht“, mäkelte O’Keefe und sah dabei noch genauso aschfahl im Gesicht aus wie am Strand.

Der dreiminütige Regen, der über Lahinch niederging, roch nach Fisch und Salz. Trotzdem wagte sich O’Malley vor die Reviertür, um nach dem Auto des Detektivs, der von Tralee herkommen sollte, Ausschau zu halten. Nachdem er vor Stunden mit dem Bezirksrichter telefoniert und ihm die Sachlage präzise geschildert hatte, versprach dieser, ihm seinen fähigsten Mann zu schicken. O’Malley hielt nichts von Stadtmenschen, die in sein Revier eindrangen, keine Ahnung von Land und Leuten hatten, dafür aber ihr loses Mundwerk nicht unter Kontrolle brachten. Der Gedanke war nur halb zu Ende gedacht, als ein Auto auf ihn zuhielt und mit schaukelnder Karosserie vor der Amtsstube zu stehen kam. Die Tür der schwarzen Limousine öffnete sich einen Spalt breit, um gleich danach wieder geschlossen zu werden. Angus O’Malley versuchte einen Blick ins Innere, auf die Passagiere, zu erhaschen, sah aber zu seinem Leidwesen nur einen Regenschirm, der zu früh, also schon im Auto, aufgespannt wurde. Hektik brach aus, Stimmen wurden laut, bis endlich die Tür ein zweites Mal geöffnet wurde und sich ein hagerer Mittfünfziger unter dem Schirm als der beste Mann von der Kriminalpolizei in Tralee zu erkennen gab. Grau war die Farbe des Gesichts, stechende Augen hinter einer randlosen Brille, deren Gläser bei jeder Kopfbewegung spiegelten, liessen den schwarzhaarigen Mann, dessen messerscharfe Stimme kommandierend klang, auch nicht sympathischer erscheinen.

„Sind Sie der Reviervorsteher, oder machen Sie hier nur den Portier?“

Ein leichter Schauer lief über O’Malleys Rücken. Die Stimme hatte einen besonderen Akzent, und er glaubte, sie schon irgendwo gehört zu haben. Ohne zu antworten, aber mit einer kleinen Seitwärtsbewegung mit dem Kopf öffnete O’Malley die Tür zu seiner Amtsstube.

„Mein Name ist King, Charles King. Ich bekleide den Rang eines Chefinspektors bei der irischen Kriminalabteilung und soll hier einen unaufgeklärten Mordfall bearbeiten. Frage: Wer sind Sie, und wo ist die Leiche?“

Das sind zwei Fragen, du blöder Trottel, dachte O’Malley und schlenderte betont langsam hinter seinen Schreibtisch. Er hatte schon den Namen Bond, James Bond, auf den Lippen, verkniff sich aber die Anspielung. Sehr wahrscheinlich hätte der Kerl den Scherz noch in den falschen Hals gekriegt und den Aufstand geprobt. Typen wie dieser King waren O’Malley ein Gräuel. Sie kamen aus der Stadt angetanzt, versuchten ihr Imponiergehabe durchzusetzen und betrachteten alle auf dem Lande samt und sonders als verblödet. O’Malley fühlte sich verletzt in seiner Anerkennung, doch war er klug genug, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen, und versuchte diplomatisch seinen Gegner, als den er King betrachtete, zu umgarnen.

„Mein Name ist O’Malley, Angus O’Malley. Ich bin der Reviervorsteher in diesem Ort. Das dahinten ist mein Deputy Michael O’Keefe…“, sein gestreckter Zeigefinger deutete auf den geschäftig wirkenden O’Keefe, der sein Haupt tief in irgendwelchen unwichtigen Papieren vergraben hatte. „Die Leiche liegt im alten Spritzhaus, eine halbe Meile von hier, aufgebahrt auf einem Anhänger des Bauern Reily…“

„Na, so ausführlich wollte ich’s ja nicht wissen, es genügt, wenn Sie mir Anhaltspunkte mitteilen! Etwas wie und wo hat man den Leichnam gefunden, wie heisst die Person, männlich oder weiblich, so in der Art, dafür präzise.“

Die Magenschleimhäute von O’Malley begannen zu rebellieren. Er hatte es gewusst, dieser Kerl würde ihm Ärger bereiten. Nur, dass es schon so bald sein würde, überraschte ihn dann doch.

„Nun, die männliche Leiche wurde heute Morgen von der kleinen Tochter des Bäckers O’Ryan unten am Strand gefunden. Den Namen des Toten wissen wir nicht, auch nicht die Umstände, die zu seinem Tode führten.“

„Gibt es Fotos von der Fundstelle, Zeichnungen oder dergleichen?“

„Deputy O’Keefe hat Fotos gemacht, aber…“

„Kann ich die Zeugin sprechen, oder wurde sie schon verhört? Gibt es ein Protokoll?“

„Welche Zeugin, was für ein Protokoll? Von wem sprechen Sie? O’Ryans Tochter ist sechs Jahre alt und hat die Leiche beim Spielen entdeckt, sie war keinesfalls bei der Tat dabei oder hat irgendetwas beobachtet!“ O’Malley wurde leicht nervös über so viel Stumpfsinn, den dieser Kerl von sich gab, trotzdem bemühte er sich, dem Chefinspektor die Fragen exakt zu beantworten.

„Kann ich mit der Kleinen sprechen, oder gibt es da auch irgendein Problem?“

„Über der Strasse, da liegt die Bäckerei.“ O’Malley machte Anstalten zu gehen, der Chefinspektor hielt ihn am Ärmel der Uniformjacke zurück.

„Sprechen tu’ ich mit dem Kinde, und nur ich. Haben wir uns da verstanden!“ Seine Augen stachen in das Gesicht von O’Malley.

„Sicher“, sagte O’Malley und wiederholte es ein zweites Mal. „Sicher.“

Vor der Tür der Bäckerei hielten sie einen Augenblick inne. Schauten die Strasse rauf und runter, ehe der Chefinspektor die Klinke niederdrückte und in den Laden stapfte. Weit hinten im Raum girrte eine Glocke, die sich anhörte, als würde sie mit ausgelaugten Batterien betrieben. Über dem Verkaufstresen, der den kleinen Raum beherrschte und mit kleinen Fenstern aus Glas eingerahmt war, die die spärliche Auslage mehr verdeckten als präsentierten, hingen wie an einer Perlenschnur ausgerollte, klebrig anzuschauende Fliegenfänger, die ihren Dienst schon längst eingestellt hatten, da auf der Fläche des schmalen Bandes kein Platz für Neuzugänge mehr frei war. Gestelle, die den Wänden entlangliefen, quollen über von Dingen des täglichen Gebrauchs, ein Sammelsurium von menschlichen Bedürfnissen. Über und unter den Brettern der Gestelle herrschte ein heilloses Durcheinander von Artikeln, deren Bedeutung wohl nur der Inhaber dieses Gemischtwarenhandels kannte. Hinter dem Tresen kam Leben in die Bude, als ein korpulenter Mann plötzlich aus dem Nichts auftauchte und die Besucher argwöhnisch fixierte.

„Ach Angus, du bist das?“, richtete er das Wort an O’Malley, dabei verschnürte er die beiden Leinen seiner alten, seit Wochen nicht mehr gewaschenen Schürze dreimal um seinen dicken Bauch, bevor er sie in der Mitte seiner Körperwölbung verknotete. „Was kann ich für dich tun?“, meinte er nach seiner anstrengenden Tätigkeit, die ihm den Hals anschwellen liess.

„Chefinspektor King aus Tralee hat noch ein paar Fragen an die kleine Rachel…, du weisst schon, wegen der Leiche am Strand.“

„Ich kenne keinen Inspektor. Wie, sagtest du, heisst er?“

„Chefinspektor King ist mein Name!“, meldete sich der Mann von Tralee aus der Trance zurück, in der er sich befand, seit er den Raum betreten hatte. Diese Flut von Gebrauchsartikeln bis hin zu Illustrierten und Zeitungen verwirrte ihn so sehr, dass er seinen Auftrag kurzerhand vergass und erst durch das Palaver der beiden wieder in die Realität zurückfand.

„Ich möchte mich mit Ihrer Tochter unterhalten, wenn es möglich wäre, sofort!“

„Oh, das ist nicht möglich, tut mir leid.“

„Ach, ist sie nicht zu Hause?“

„Doch, doch, zu Hause ist sie schon. Aber mit Ihnen sprechen kann sie nicht. So leid es mir tut.“

„Was soll das heissen! Sie ist zu Hause, kann aber nicht mit mir sprechen. Holen Sie Ihr Kind her, ich sprech’ dann schon mit ihm.“

„Sind Sie taub? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nicht geht. Angus, sag’s du ihm, mich versteht der Kerl offenbar nicht!“

O’Malley trat von einem Fuss auf den anderen. Blöde Situation, in der er sich befand. Chefinspektor King enthob ihn einer Antwort.

„Jetzt hören Sie mir einmal gut zu. Wenn ich das Kind nicht sofort zu sehen kriege, dann…“

„Was dann? Wollen Sie mir etwa drohen?“ Tom O’Ryan kam hinter dem Tresen hervor und bewegte sich auf King zu. O’Malley trat mit einer Seitwärtsbewegung zwischen die Kampfhähne.

„Niemand will hier jemandem etwas antun, wir wollen uns nur unterhalten. Stimmt’s, meine Herren!“

Die Situation entspannte sich erst, als die Türglocke schepperte und eine Frau mit Einkaufstasche am Arm das Geschäft betrat.

Draussen auf der Strasse stampfte King widerwillig mit dem Fuss auf die Pflastersteine. Der Geruch nach frischem Brot, vermischt mit Rauchschwaden aus Torffeuer, begleitete seinen Gefühlsausbruch. O’Malley zog sein Taschentuch aus der Hose, hielt es an seine Nase und schnäuzte kräftig dagegen.

„Was war das denn“, King malträtierte die Pflastersteine weiter. „Ist dieser Kerl verrückt? Oder einfach nur blöde?“

„Sie sind nicht aus Irland, hab’ ich recht?“ O’Malley verstaute sein Tuch zusammengefaltet in der Hosentasche.

„Nein, ich komme aus England. Aber was hat das damit zu tun?“

„Sehr viel. Die Mentalität eines Irländers unterscheidet sich von anderen Inselbewohnern extrem. Seine Freundlichkeit gegenüber Fremden bedeutet nicht zwangsläufig, dass er sie an seinem Seelenchaos teilhaben lässt. Was sein Innerstes betrifft, darüber schweigt er sich aus.“

„Nun kommen Sie mir nicht damit. Von wegen Mentalität. Ich lebe schon viele Jahre auf dieser Insel, aber noch niemand wollte mit mir über sein verkorkstes Innenleben sprechen. Und was diesen Kerl betrifft…“, sein Daumen zeigte auf die, vom Schmutz blinde Fensterscheibe, der Eingangstüre. „Dazu brauche ich keinen unterbezahlten Reviervorsteher in einem öden irischen Dorf und keinen verblödeten Seelenklempner, der mir verrät, dass dieser Typ verrückt ist. Und jetzt lassen Sie uns nach der Leiche sehen, vielleicht ist die ja ein bisschen umgänglicher als der Rest hier.“

O’Malley versuchte Schritt zu halten mit dem losstürmenden Chefinspektor. Dieser wusste zwar nicht, wohin, hatte aber die Richtung zum Feuerwehrdepot eingeschlagen, und so liess ihn O’Malley vor sich hertraben und dirigierte den Mann mit wenigen hinterhergerufenen Worten ans Ziel.

Am Spritzenhaus angekommen, rüttelte King als erstes an den alten Toren, um nachher spitzfindig festzustellen, dass sie verschlossen waren. O’Malley schüttelte den Schlüssel aus der Hosentasche und sperrte die Tore auf. Sam Reilys Anhänger stand wie verlassen in der umgebauten Scheune, und King schaute blöd grinsend auf seinen Adjutanten.

„Wo ist denn nun die Leiche? Doch nicht etwa abgehauen oder gestohlen?“ Durch die hohen Bordwände des Anhängers konnte man den Leichnam nicht einsehen, was den Chefinspektor zu dieser Äusserung veranlasste. Angus O’Malley wünschte sich nichts sehnlicher herbei als die Stunde, an der dieser Idiot wieder sein Dorf verlassen würde. Ohne zu antworten, stieg er auf den Hänger und schlug die Plane so weit zurück, dass man die Füsse der Leiche sehen konnte. Chefinspektor King tat es ihm gleich, wuchtete seinen mageren Körper über ein Rad und hangelte sich an der Bordwand hoch, wobei seine Flüche irgendwo in der Scheune verlorengingen.

„Der fängt ja schon an zu stinken!“, war die einzige Beileidsbekundung seinerseits, als er die Leiche erblickte, und: „Wie lange liegt der schon hier?“

Er riss die Plane ganz vom Körper des Toten. Die kleinen Krabben, die sich immer noch unter der Plane befanden, begannen ihr Spiel aufs Neue. Durch die plötzliche Helligkeit verharrten sie einen Moment in Abwartestellung bevor sie ihr hektisches Tun wieder aufnahmen, nur um O’Malley damit zu ärgern.

„Wie ich schon sagte, seit heute Morgen!“ O’Malleys Worte fielen heftiger aus, als er wollte, einerseits der Krabben wegen, andererseits hatte er es satt, sich ständig zu wiederholen. Konnte sich der Kerl denn nichts merken? Wie war der bloss zu seinem Titel gekommen, fragte er sich insgeheim, als er die Menschen unter dem Torbogen erblickte. Zwanzig oder dreissig Männer und Frauen drängelten sich unter der Tür und schauten verwundert auf ihn und den Inspektor.

„Was wollt ihr denn hier!“ O’Malley stieg vom Anhänger herunter und ging auf die Menschen zu.

„Ach, Herr Reviervorsteher, bitten Sie die Herrschaften doch näher zu treten“, hörte O’Malley im Rücken den Chefinspektor plärren. Die Neugier als Antriebsmotor liess bei vielen die angeborenen Hemmungen vergessen. Was als Aufforderung gedacht war, endete mit einem Run auf die besten Plätze. O’Malley konnte sich gerade noch mit einem Sidestep aus der Angriffslinie retten, sonst wäre er kaltblütig überrannt worden. Abwartend stand die Menge vor dem Anhänger und schaute zu einem Chefinspektor auf, der wie ein Feldherr auf der Brücke stand und die Leute von oben herab dirigierte.

„Hat jemand von den Herren ein Fläschchen Whiskey dabei?“ King schaute erwartungsvoll in die Runde. Zuhinterst in der Reihe streckte ein alter Mann seine Hand hoch, in der sich eine kleine, blecherne Flasche mit einem farbig aufgedruckten Markenzeichen befand. Viele Hände beförderten den Flachmann eilig in die ausgestreckte Hand von King.

„Hier Herr Kommissär!“ Eine junge Frau drückte sich an den Anhänger, mit gerötetem Gesicht vor lauter Aufregung.

„Chefinspektor! Soviel Zeit muss sein!“ Das Gesicht der Frau glühte, diesmal wegen der tadelnden Worte des Fremden.

„Constabler O’Malley! Würden Sie mir bitte die hintere Lade öffnen, damit die Leute den Mann sehen. Vielleicht erkennt ihn jemand, das würde uns eine Menge Laufarbeit und Zeit ersparen.“

Chefinspektor King war in seinem Element. Von oben herab fremde Menschen zu kommandieren, zusehen, wie sie seine Befehle ausführten, und dafür noch bewundert zu werden, das liebte er geradezu.

Umständlich öffnete er die Blechflasche, indem er mit zwei Fingern den Korken aus dem Hals zog, und stürzte den Inhalt theatralisch in die Kopfwunde der Leiche. Ein Raunen ging durch die Menge. King hatte eigentlich einen Applaus erwartet, doch nur der Besitzer der Flasche beschwerte sich lauthals über so eine üble Verschwendung der kostbaren Flüssigkeit. Die Krabben verharrten ruhig in ihrer jeweiligen Lage in der Annahme, dass es sich um Wassertropfen handele, versuchten sich dann hektisch von dem Alkohol zu befreien, um nachher fluchtartig die Umgebung zu verlassen. Aus der Öffnung sprudelten kleine Tierchen wie Menschen aus dem U-Bahn-Schacht während der Rushhour. O’Malley nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis und fragte sich, wieso ihm diese Idee nicht schon längst gekommen war, wurde dann aber in seinen Gedankengängen gestört, als ihn der Chefinspektor zu Hilfe rief.

„Helfen Sie mir, den Toten auszurichten, damit die Leute das Gesicht sehen können!“

Vereint wuchteten sie den Oberkörper des Leichnams hoch, dessen Haupt durch die eingetretene Leichenstarre leicht schief am Halse hing, die angewinkelten Arme grotesk vom Körper wegstanden und dem Toten das Aussehen einer Marionette gaben.

„Wer kennt diesen Mann, wer weiss seinen Namen und wo er herkommt?“, rief King in die Runde und suchte in jedem Gesicht nach einer Antwort.

Sam Reilys Frau Betty machte den Anfang mit Vermutungen über Herkunft und Namen der Leiche, wurde aber von den Mitbürgern darüber aufgeklärt, dass dieser Mann mit diesem Namen schon längst auf dem Gottesacker der Nachbargemeinde ruhen würde. Beleidigt verzog sie sich in die hinterste Reihe, zu dem alten Mann, der dem verschütteten Whiskey nachtrauerte. Daraufhin versuchte Kate, die Frau des Bäckers O’Ryan, ihr Glück und spekulierte mit Namen wie andere mit Aktien an der Börse. Bei jedem Namen, den sie aufrief, ging ein verneinendes Blöken durch die Menge und liess die Hoffnung beim Chefinspektor, doch noch ein brauchbares Resultat zu kriegen, auf den Nullpunkt sinken. Als die Bäckersfrau endlich den letzten falschen Namen ausgesprochen hatte und sich alle mit der Realität abgefunden hatten, eben nichts zu wissen, löste sich aus dem Halbdunkel der hintersten Ecke eine Frau mit Kopftuch und Regenmantel.

Mitte sechzig, gegerbtes Gesicht von der vielen Arbeit auf dem Felde, gekrümmte Wirbelsäule vom Tragen schwerer Lasten, bewegte sie sich am Stock gehend auf den Anhänger zu und schaute zuerst in das Antlitz des Toten, dann in das Gesicht von O’Malley.

„Sie sind noch nicht genug lange in diesem Dorf als Reviervorsteher, um diesen Mann zu kennen. Aber die Älteren unter euch…“, sie drehte sich zu den Menschen hinter ihrem Rücken um. „Ihr alle kennt den Namen des Mannes, der jetzt tot auf dem Anhänger liegt, und ihr wisst alle um seine unrühmliche Geschichte. Tut jetzt nicht so, als würdet ihr ihn nicht erkennen.“ Dann drehte sie sich wieder zu Chefinspektor King um, fixierte seine Augen, bevor sie weitersprach: „Es gibt Menschen, die vergisst man nie, heisst es. Sei es, weil man sie liebte oder weil man sie hasste. Doch geliebte Menschen bleiben in Erinnerung, nur die, die gehasst wurden, die verblassen mit der Zeit im Gedächtnis. Aber diesen hier…“, sie stiess mit ihrem Stock gegen die Leiche, „…werden wir wohl alle niemals vergessen.“

„Sie kannten ihn also?“ Die Frage von King ging an alle Anwesende, obwohl er nur die betagte Frau beobachtete.

„Gekannt? Wer kennt schon seine Mitmenschen? Nein, so richtig gekannt hat ihn niemand. Aber die Geschichten, die sich um ihn rankten, die kenne ich…“

„So, was denn für welche?“

„Wenn Sie Details hören wollen, Herr Inspektor, pardon, Herr Chefinspektor, dann müsse Sie die Damen im Dorf und auf dem Lande befragen, die können Ihnen genauere Auskunft über diesen Mistkerl geben!“

„Interessant. Aber den Namen, gute Frau, den könnten Sie mir doch wenigsten verraten. Oder muss ich zuerst aufs Land, um den zu erfahren?“ Hämisches Gelächter folgte auf die Frage des Inspektors.

„Nein, den gebe ich Ihnen mit auf den schweren Weg, den Sie gehen müssen, um diesen Fall zu klären, damit Sie wissen, welchem Teufel Sie hinterherrennen. Seine Eltern tauften ihn auf den Namen…“ Die Frau hielt inne.

Vor dem Tor kam ein Wagen zum Stillstand. Durch das von toten Insekten verschmutzte Glas der Autoscheibe glotzten zwei Männer irritiert auf die Gruppe von Menschen, die sich im Spritzenhaus drängten. Deputy O’Keefe und der Fahrer des Leichenwagens wähnten sich schon auf der Beerdigung der Leiche über diesem Anblick. Die Ankunft der beiden brachte die Ermittlung zum Stoppen, indem sich alle nach ihnen umdrehten und den schwarzen Wagen mit den hinten angebrachten Milchglasfenstern anstarrten. Als dann der Fahrer auch noch ausstieg, um die Klappe zu öffnen, der den Blick auf den Blechsarg freigab, war es mit der Disziplin der Anwesenden vorbei. Alles drängelte nach draussen, um den Wagen samt Inhalt zu bestaunen.

O’Malley und die Frau im Regenmantel blieben bei der Leiche zurück, während Chefinspektor King mit einem Satz vom Anhänger sprang, hatte er doch einen Namen vernommen, der im allgemeinen Tumult untergegangen war. Ein Name, der sein vorangegangenes Leben penetrant verfolgt hatte.

„O’Connor, Paddy O’Connor!“, sagte die Frau. „Verabscheut und von allen geächtet als der Zinnmanrt“

Paddy O’Connor

Dunkelgraue Wolken tobten über dem Meer, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, bauschten sie sich zu Türmen hoch, um nacheinander wieder zu verflachen. Sturmböen trieben die Wellen mit hoher Geschwindigkeit an den Strand. Zwischen den Felsen verfingen sich unzählige Luftblasen, die komisch anzusehende Schaumgebilde produzierten. Über Felder und Wiesen strich der Wind, als hätte eine gigantische Walze alles plattgedrückt. Dicke Regentropfen klatschten an die Fenster des weissen, riedgedeckten Cottages mit den lustig grünen Fenstereinrahmungen, das sich einsam an eine Felsklippe kurz vor dem Abgrund schmiegte und Gefahr lief, von einer Sturmböe erfasst in die kochende See zu stürzen.

Paddy O’Connor kämpfte sich durch den vom vielen Regen aufgeweichten Boden, gegen den Wind stemmend, zur Haustüre vor. Schlüpfte trotz grösserer Menge Matsch an den Stiefeln und vorprogrammiertem Ärger mit seiner Frau durch die Tür ins Haus. Vorsichtig zog er an den Lederstiefeln, um möglichst wenig Spuren auf dem Fussboden zu hinterlassen, und hängte seinen Mantel an den Haken der Garderobe.

Drinnen war es wohlig warm. Im Kamin brannte ein Torffeuer, und um den gedeckten Tisch sassen seine Frau Hazel mit den beiden Kindern Elliot und Sarah. Paddy O’Connor erfreute sich immer wieder seiner Familie, wenn er nach getaner Arbeit nach Hause kam.

„Wo bleibst du denn so lange? Wir warten mit dem Abendessen schon eine Stunde auf dich!“ Hazel O’Connor zog ihr Gesicht in Falten. „Warst wohl wieder im Pub?“

„Benny Moore hat mir heute zwei Schafe angeboten, ein Pärchen. Vielleicht steck’ ich’s zu den anderen.“ Paddy ging nicht auf die zänkische Frage seiner Frau ein, sondern schnappte sich ein Stück Brot und begann die Suppe zu löffeln, die dampfend vor ihm auf dem Tisch stand und mit ihrem Geruch den Raum erfüllte.

„Was willst du denn mit noch mehr Schafen, wenn das Futter für die, die wir haben, schon zu wenig ist? Das bisschen Weide neben dem Haus reicht doch hinten und vorne nicht aus.“

„Benny hat gesagt, er gibt mir seine kleine Weide am Südzipfel der Bucht noch dazu. Dann würde es reichen. Niall O’Flynn sagt übrigens dasselbe.“

„Ach, Benny und Niall sind sich wieder einmal einig, ich höre immer nur von ihnen. Hast du denn dazu keine eigene Meinung? Verlässt dich immer nur auf andere…, und dann, zwei Monate später, jagt er dich wieder davon. Auf Benny Moore ist kein Verlass, das weisst du genauso gut wie ich.“

Hazel O’Connor war eine klug denkende Frau, die ihrem Mann Paddy die Flausen aus dem Kopf trieb, ohne dass er sich untergeordnet vorkam. Sie hielt die Familie zusammen, mit dem wenigen, das sie besassen.

„Ich überleg’s mir noch, obwohl ich so gut wie zugesagt habe.“ Er zwinkerte seinen Kindern über den Tisch zu, lächelte dabei verschmitzt und steckte damit seine Jungen an, die ebenfalls in sein Gefeixe einstimmten.

„Was ist los, lacht ihr über mich?“ Hazel liess argwöhnisch ihre Augen über die hämisch grinsenden Gesichter der Familie wandern.

„Nein, nein“, beruhigte Sarah ihre Mutter. „Es ist bloss… aua!“ Sie bekam von ihrem Bruder einen Tritt an ihr Schienbein und versuchte mit den Beinen wild zappelnd Elliot ebenfalls zu treffen. Dabei stiess sie den Milchkrug um und hinterliess auf dem Tisch einen kleinen weissen See.

„Muss das sein! Könnt ihr nicht besser aufpassen. Müsst ihr euch immer bei Tisch zanken? Die schöne Milch…, sag du auch mal was!“

„Kinder, ihr habt gehört, was eure Mutter gesagt hat. Hol ein Tuch, Sarah, und wisch das weg.“

Paddy konnte somit von seinem Problem ablenken, was ihm sehr recht kam, da er die Meinung seiner Frau über Neuanschaffungen kannte und den Zwistigkeiten aus dem Weg gehen wollte. Seine schwere Arbeit unter Tage, der Abbau von Zinn, Kupfer und Eisenerz in halbdunklen, feuchten, unterirdischen Stollen, bereitete ihm in letzter Zeit viel Mühe und verursachte depressive Zuständen, die in Albträumen endeten. Er hasst die Nächte, in denen er im Bett auf dem Rücken lag und wirres Zeug seine Gehirnwindungen erfasste. Böses Spiel, von dunklen Mächten getrieben, abgrundtiefe Verwirrnisse, die in schweissgebadeten Laken ein abruptes Ende fanden. Seit geraumer Zeit flüchtete Paddy O’Connor in den Alkohol. Hazel, die ihn darauf ansprach, beschwichtigte er mit Ausflüchten über harte Arbeit, Ärger mit den Kumpels und dergleichen. Doch der Konsum an Alkohol nahm ständig zu, und der Arbeitslohn floss mehr oder weniger in den Pub am Ort. Als die Lohntüte immer kleiner wurde, reagierte Hazel, indem sie zum Arbeitgeber ging und den Lohn jede Woche selber abholte. Paddy tobte über so viel Unverfrorenheit, schickte sich aber der Familie willen in den alkoholfreien Zustand. Eine Zeitlang ging es sehr gut, und Hazel schöpfte Hoffnung für ihren Mann, wurde aber bitter enttäuscht, als sie merkte, wie das Übel von vorne begann, indem Paddy wieder mit der Sauferei anfing. Eines Tages ging sie in den Pub, zahlte die ausstehende Rechnung und stellte dem Wirt das Ultimatum. Entweder gab er ihrem Paddy nichts mehr auf Kredit, ansonsten sie mitsamt ihrer Familie bei ihm einziehen würde und bei ihm Kost und Logis erwarte, natürlich ohne Bezahlung derselben.

Paddy kam von diesem Moment an immer pünktlich nach der Arbeit nach Hause, und Hazel hoffte damit die Talsohle überwunden zu haben. Es ging auch tatsächlich mit ihnen aufwärts. Sie hatten keine Schulden, genug Geld für Essen und Kleider und Hazel brachte sogar noch ein wenig in den Sparstrumpf. Damit schaffte Paddy sich vier Schafe und sechs Hühner an, davon war, wie sich später herausstellte, ein Huhn gar kein Huhn, sondern ein Hahn, der dann auch rasch in den Kochtopf wanderte.

Um sechs Uhr morgens rasselte der Wecker auf dem aus ein paar Brettern zusammengezimmerten Nachtkästchen. Paddy setzte sich im Bett auf, wartete eine Moment und, erdrückt von einem Albtraum der übelsten Sorte, suchte nach Hemd und Hose auf dem Boden, streifte die Hosenträger beim Runtergehen in die Küche über und holte aus der Speisekammer ein Glas kalte Milch zum Frühstück. Er gähnte dabei ausgiebig in die hohle Hand. Das Mittagessen, das aus Brot und einem Apfel bestand, steckte er in die Hosentasche und machte sich auf den Weg zur Mine. Draussen vor der Tür empfing ihn die Morgendämmerung, dazu leichtes Nieseln und der Rauch von Torf aus dem Kamin, in den er vorher zwei ziegelsteingrosse Stücke geworfen hatte. Paddy O’Connor nahm jeden Tag in der Woche, ausser sonntags, denselben Weg über das Moor unter die Füsse, um an seine Arbeit zu kommen. Gegenüber seinen Arbeitskollegen, die bis zu drei Tagen Fussmarsch zur Mine hatten, war er in gut einer Meile dort. Er konnte nach Feierabend zu seiner Familie zurück, während andere nur einmal im Monat Frau und Kinder sahen.

Den Nebel, der bleiern auf der Moorlandschaft lag und ihn auf Kniehöhe begleitete, nahm Paddy gar nicht mehr wahr. Er hing seinen Gedanken nach, versuchte eine Ausrede für die Schafe zu erfinden, damit er vor seinen Kumpels nicht als Memme dastand. Hazel, so lieb er sie auch hatte, konnte manchmal richtig eklig sein mit ihren Verboten.

Die riesengrosse weisse Aufschrift Mathieu & Sons, die am Maschinenhaus prangte, rückte in sein Blickfeld, er war da. Am Horizont zeigte sich das fahle Licht der aufgehenden Sonne, während die Flut sich langsam zurückzog. Paddy hatte für die überwältigende Aussicht von der Plattform, auf der die Zinnmine stand, kein Auge, denn Benny und Niall erwarteten ihn mit schiefem Grinsen.

„Na, wie steht’s mit unserem Geschäft?“, meinte Niall O’Flynn mit gelassener Häme, als Paddy nah genug an sie herangetreten war. Benny Moore stand feixend daneben und hielt seine Hände in der Hosentasche vergraben. Paddy wusste genau, auf wen der Spott abzielte, liess sich aber auf keine Konfrontation mit den beiden ein.

„Lass Hazel aus dem Spiel, sie hat damit nichts zu tun! Und jetzt macht Platz, ich muss zur Arbeit.“ Er zwängte sich mittendurch und ging zur Umkleidebaracke. Benny und Niall folgten ihm. Als Paddy die Arbeitskleidung aus dem Umkleideschrank holte, sie mit seiner vertauschte, flog mit einem Knall die Tür zu, und dahinter stand Niall mit finsterem Gesicht.

„Hatte dein Auftritt vorhin etwas damit zu tun, dass du die Schafe nicht mehr haben willst? Oder ging es nur darum, den Preis zu drücken?“ Nialls Nase war schneeweiss und stach spitz aus seinem Gesicht.

„Niall, wenn du oder Benny partout etwas verkaufen wollt, dann ist bestimmt etwas nicht in Ordnung! Ich geh’ jede Wette ein, die Tiere haben die Räude oder sind sonst wie krank.“

„Das nimmst du zurück. Wir lassen uns nicht Betrüger schimpfen, von dir schon gleich gar nicht!“ Benny machte Anstalten, auf Paddy loszugehen: Niall schob sich dazwischen.

„Lass mal, Benny! Von dem lassen wir uns nicht beleidigen. Mit dem werden wir noch allemal fertig“, und zu Paddy geflüstert: „Du Hund, wirst mich noch kennenlernen!“

Paddy liess sich sehr viel Zeit mit dem Umkleiden, er wollte nicht hinter Niall und Benny den Eingang zum Stollen betreten. Die Drohung steckte noch in seinen Gliedern, als er steifbeinig den Weg in den Tunnel ging, der ihn nach unten bringen sollte. Ein letzter Blick zum grossen Rad, an dem das Transportseil hing, ein flüchtiges Bekreuzigen mit Blick gegen den Himmel war das Ritual, das er jeden Tag beim Einstieg zelebrierte.

Langsam näherte Paddy sich dem Hohlgang und wurde von klaustrophobischer Enge erfasst, die in die nächsten zwölf Stunden begleiten würde. Der säuerliche Gestank von ätzendem Karbid; die nassen Granitwände, unregelmässig in Höhe und Breite herausgehauen, liessen ihn einmal aufrecht gehen, um ihn nachher in einen affenartigen Gang verfallen zu lassen. Meile um Meile in jahrelanger Arbeit in den Berg gehauene Hohlgänge gingen links und rechts von ihm ab. Über glitschige Eisentreppen fanden seine derben Stiefel den Weg nach tief unten. Um ihn herum tobte der Kampf von Maschine und Mensch gegen den Berg. Lange Schatten, hervorgezaubert durch die Karbidlampen auf jedem Helm, gaben der Umgebung den mystischen Eindruck von Scherenschnitten.

Paddy befand sich jetzt hundert Meter unter dem Meeresspiegel. Sein Arbeitsplatz war die unterste von fünf Plattformen, die schräge versetzt über seinem Kopf in schwindelerregender Höhe aufgebaut waren. Stickig feuchte Luft hing über dem Stollen und liess den feinen Staub, der die Gänge überzog wie goldbraunen Funkenregen auf die Arbeiter niedergehen. Nase, Lungen, alles wurde damit zugedeckt und nach der Schicht wieder ausgehustet.

Paddy stolperte über Holzbohlen und Eisenschienen zum Arbeitsplatz, den er gestern Abend todmüde verlassen hatte, und fand seine Arbeitsgeräte an die Wand gelehnt vor. Schaufel, Hacke und ein Holmann-Pressluftbohrer schimmerten im Schein der Karbidlampe. Mit der Wut im Bauch, die nur ein Mann nach grober Beleidigung zum Ausleben fähig war, fasste er mit schwieligen Händen nach dem Bohrer und stiess ihn tief in den Berg. Gesteinsbrocken flogen um seine Ohren, die den infernalischen Lärm seit einiger Zeit ignorierten und Paddy die ersten Anzeichen von Taubheit zeigten. Seine Arbeit verlangte keinen hohen Intelligenzquotienten, keine millimetergenaue Arbeit, darum flüchtete Paddy sich in Tagträume, verlor sich in Vergangenem und suchte seine Identität in der Zukunft. Nach dem Streit mit Niall und Benny, wegen seiner Frau, fand er sich in Gedanken um Jahre zurückversetzt, an einem Erntedankfest von New Milltown, wo er seine Hazel kennengelernt hatte.

Übermütig und frohgelaunt vom vielen Genuss von Guinness, dem dunklen, malzhaltigen Starkbier, stakste Paddy O’Connor über den, mit Girlanden geschmückten, Festplatz. An den unzähligen Ständen vorbei, die mit Produkten von den Feldern der umliegenden Bauern überhäuft waren, die zum Verkauf angeboten wurden. Pferde, Schafe und Kühe wechselten nach stundenlangem Gefeilsche per Handschlag ihre Besitzer. Paddy konnte sich nicht sattsehen an den Tieren, die auf einer matschigen Strohunterlage in umzäunten Gehegen einer ungewissen Zukunft entgegenfieberten.

Handbetriebene, mit lauter Kirmesmusik versehene Kinderkarussels drehten vollbeladen mit fröhlichem Kinderlachen ihre vorgezeichneten Kreise. Zuckerbäcker, deren phantasievoll bemalte Bretterbuden den Duft nach gerösteten Mandeln und Honig verbreiteten, Verliebte in Hochzeitsstimmung, all dies und ein Teil des genossenen Alkohols, liessen Paddy in einem Sinnenrausch der unterschiedlichsten Genüsse baden. Durch die Umgebung in Hochstimmung versetzt, taumelte er auf einen grossen Festtisch zu, an dem die Honoratioren der kleinen Stadt sich mit Biergläsern zuprosteten, und dann sah er unter der johlenden Menge das Gesicht, das er, wie er glaubte, in seinem Leben nie zu sehen bekommen würde. – Paddy sah Hazel zum ersten Mal.

Allein, wie sie hinter dem Tisch sass, herausgeputzt in ihrem neuen Sonntagsstaat, schmal und verletzlich, zwischen mächtigen Männern und trotzdem würdevoll und stolz.

Paddy glotzte nur auf den einen Punkt, zwischen den anderen Menschen, ja er gierte geradezu nach dem Wesen, das seine immer wiederkehrenden Träume mit Leben erfüllte. Er glaubte sich am Ziel seiner Odyssee nach dem langgesuchten Glück, seine Träume wurden erhört, sein Verlangen gestillt. Paddy wollte hintreten an ihren Tisch, wollte seine Gefühle darlegen, seine beste Seite offenlegen, werben, bar jeder Vernunft. Nach dem ersten zögernden Schritt stand plötzlich ein baumlanger Kerl vor ihm, aggressiv, wild gestikulierend.

„Was willst du hier? Verschwinde, mach, dass du fortkommst!“ Und noch einmal: „Los, verschwinde!“

Paddy wusste nicht, wie ihm geschah. Völlig perplex aus einer Vorstellung gerissen, versuchte er instinktiv sich zur Wehr zu setzen. Mit erhobenen Fäusten stellte er sich seinem Gegner, um anschliessend zu der Erkenntnis zu gelangen, dass er sich der Lächerlichkeit preisgab. Brüllendes Gelächter vom Tisch her begleitete seinen Abgang, und trotzdem fühlte sich Paddy als Sieger, denn als er sich zum Kampf stellte, sah er aus dem Augenwinkel, wie erschrocken seine Angebetete reagierte, wie sie ihn fixierte und in sich aufnahm. Er sah für den kurzen Moment eines Wimpernschlages das Aufflackern in ihren Augen, registrierte beim Weggehen, dass sie als einzige am Tisch nicht lachte, und verbuchte den Sinnestaumel als persönliches Geschenk.

Paddy setzte alles daran, ihren Namen herauszufinden, ihre Familie zu orten, die Gewohnheiten zu ergründen, er wollte ihr nicht nur im Geiste nah sein, sondern sie mit jeder Faser seines Körpers besitzen. Jeden Sonntag eine Stunde zu früh zur Kirche, erhaschen eines Blickes beim Aufgang, den Geruch ihres Körpers herausfinden, wenn sie, eingeklemmt zwischen Vater und Mutter, in seiner Nähe durch das Kirchenportal trat, und das Sitzen auf der gleichen Höhe in der Kirchenbank wurden die ganze Woche an der Arbeit als Ritual zelebriert.