Der zweite Mord - Helene Tursten - E-Book
SONDERANGEBOT

Der zweite Mord E-Book

Helene Tursten

3,8
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 2

Als im Privatkrankenhaus Löwanderska in Göteborg in einer eisigen Februarnacht der Strom ausfällt und der Alarm des Beatmungsgerätes durch die Gänge hallt, eilt Dr. Löwander auf die Intensivstation. Vergebens. Der Patient ist nicht mehr zu retten. Die Krankenschwester, die bei ihm Wache halten sollte, liegt ermordet auf dem Stromaggregat. Eine weitere Schwester ist spurlos verschwunden.

Als Inspektorin Irene Huss mit ihren Kollegen am Tatort erscheint, behauptet die einzige Zeugin hartnäckig, Schwester Tekla auf dem Flur gesehen zu haben. Doch das ist unmöglich, denn Schwester Tekla hat sich vor 50 Jahren auf dem Dachboden des Krankenhauses erhängt...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 498

Bewertungen
3,8 (34 Bewertungen)
12
10
6
6
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Buch

In einer kalten Februarnacht fällt im Privatkrankenhaus Löwanderska in Göteborg der Strom aus. Doktor Sverker Löwander hört den Alarm des Beatmungsgeräts aufheulen und eilt in die Intensivstation. Aber zu spät – der Mann im Respirator ist nicht mehr zu retten. Die Krankenschwester, die bei ihm sein sollte, liegt ermordet auf dem zerstörten Stromaggregat, eine weitere ist spurlos verschwunden. Als Inspektorin Huss und ihre Kollegen ins Löwanderska kommen, behauptet die einzige Zeugin hartnäckig, eine gewisse Schwester Tekla sei in dieser Nacht auf den Fluren zu sehen gewesen. Was schlichterdings unmöglich ist, denn Schwester Tekla hat sich vor fünfzig Jahren auf dem Dachboden des Krankenhauses erhängt …

Autorin

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren. Bereits mit ihrem ersten Kriminalroman »Der Novembermörder« eroberte sie Schwedens Kritiker und Leser im Sturm. Auch im zweiten, vorliegenden Buch stehen Inspektorin Irene Huss und ihr Team im Zentrum der Ermittlungen.

Bei btb bereits erschienen

Der Novembermörder. Roman

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinBei btb bereits erschienenPROLOGKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4Copyright

PROLOG

Sie sind sich also ganz sicher, dass es die Krankenschwester auf diesem Bild hier war, die Sie heute Nacht gesehen haben?«

Kriminalkommissar Sven Andersson sah die magere Frau vor seinem Schreibtisch skeptisch an. Sie presste die Lippen zusammen und schien in ihrer Strickjacke aus dicker Wolle versinken zu wollen.

»Ja!«

Langsam und mit einem resignierten Seufzer ging der Kommissar auf den Gang. Zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt er das vergilbte Schwarzweißfoto.

Bei jedem der Fenster zögerte er etwas. Schließlich blieb er vor einem stehen. Abwechselnd schaute er auf das Foto, das er in der Hand hielt, und durch das Fenster. Im Licht des neblig grauen Februarmorgens erschienen alle Konturen verschwommen, aber zweifellos war die Aufnahme einmal durch dieses Fenster gemacht worden.

Neben den drei Personen auf dem Bild war links eine junge Birke zu sehen. Als er den Blick hob und durch das Sprossenfenster schaute, hatte er eine riesige Baumkrone vor sich.

Mit zögernden Schritten ging er zu der Frau im Schwesternzimmer zurück. In der Tür hielt er inne und räusperte sich verlegen.

»Also, Schwester Siv. Sie können mein Zögern sicher verstehen. «

Sie wandte ihm ihr mageres, aschfahles Gesicht zu.

»Ich hab sie aber gesehen.«

»Aber zum…«

Er verschluckte das letzte Wort, ehe er fortfuhr:

»Die Frau auf dem Bild ist schon seit fünfzig Jahren tot!«

»Ich weiß. Aber sie war es.«

KAPITEL 1

Die Nachtschwester Siv Persson war gerade auf den Gang getreten, als das Licht erlosch. Die Straßenlaternen warfen einen so schwachen Schein durch die hohen Fenster, dass man sich nur mit Mühe zurechtfinden konnte. Es schien nur im Krankenhaus dunkel geworden zu sein.

Die Schwester blieb wie angewurzelt stehen und sagte in das Dunkel hinein:

»Meine Taschenlampe.«

Sie tastete sich zurück ins Schwesternzimmer. Mithilfe des spärlichen Lichts der Straßenbeleuchtung kam sie bis zum Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl sinken.

Als auf der kleinen Intensivstation der Alarm des Beatmungsgeräts zu schrillen begann, schreckte sie auf. Das Geräusch wurde von der geschlossenen Flügeltür am Ende des Korridors gedämpft, die zwischen Station und Intensivstation lag. Trotz der stabilen Türen war der Alarm in der Stille ohrenbetäubend.

Von ihrem Platz im Schwesternzimmer konnte die Nachtschwester die Tür sehen, die vom Treppenhaus auf die Station führte. Gewohnheitsmäßig warf sie einen Blick über den Korridor. Dann schrie sie auf.

Auf der anderen Seite der Glastür war ein dunkler Schatten aufgetaucht. Dann wurde die Tür aufgerissen.

»Ich bin’s nur!«

Die Stimme des Arztes brachte sie zum Verstummen. Sie stand auf.

Wortlos rannte der Arzt durch den Korridor weiter auf die Tür der Intensivstation zu. Die Schwester folgte ihm und orientierte sich im Dunkeln an seinem wehenden weißen Kittel.

Auf der Intensivstation war der Alarm unerträglich schrill.

»Schwester Marianne! Stellen Sie den Alarm ab!«, schrie der Arzt.

Die Nachtschwester auf der Intensivstation antwortete nicht.

»Schwester Siv! Holen Sie eine Lampe!«

Mit schwacher Stimme sagte Schwester Siv:

»Ich … ich habe vorhin meine Taschenlampe hier vergessen, als ich Schwester Marianne dabei geholfen habe, Herrn Peterzén zu betten. Sie liegt auf dem Wäschewagen …«

»Dann holen Sie sie!«

Stolpernd ging sie ein paar Meter auf die Tür zu. Nachdem sie ein paar Sekunden im Dunklen herumgetastet hatte, stießen ihre Finger auf eine harte Plastikoberfläche. Sie griff sich den schweren Koffer und ging mit ihm auf den Arzt zu.

»Bin … bin ich jetzt in Ihrer Nähe?«

Eine Hand auf ihrem Arm ließ sie zusammenzucken. Er riss den Koffer an sich.

»Was ist das? Der Notfallkoffer! Was sollen wir denn damit? Es ist ja pechschwarz!«

»Im Deckel sind der Ambu-Beutel und das Laryngoskop. Das Laryngoskop ist aufgeladen. Damit können Sie leuchten.«

Murrend riss der Arzt den Notfallkoffer auf. Nach einigem Suchen fand er die Lampe, mit deren Hilfe betäubten oder bewusstlosen Patienten der Beatmungstubus in die Luftröhre eingesetzt wurde. Er klappte sie mit einem Klick auf und richtete den schmalen, intensiven Lichtstrahl auf den Mann im Bett.

Jetzt konnte er sich leichter im Zimmer orientieren. Schwester Siv ging langsam auf das Beatmungsgerät neben dem Bett zu und fand den Abstellknopf für den Alarm. Die Stille war ohrenbetäubend, nur die Atemzüge des Arztes und der Schwester waren zu hören.

»Herzstillstand! Wo ist Schwester Marianne? Marianne!«, schrie der Arzt.

Er drückte dem Patienten die Maske des Beatmungsbeutels über Mund und Nase.

»Sie kümmern sich um die Beatmung, ich mache die Herzmassage«, zischte er verbissen.

Die Schwester begann Luft in die reglosen Lungen zu pumpen. Mit den Handballen massierte der Arzt rhythmisch das Brustbein. Während des Wiederbelebungsversuchs wechselten sie kein Wort. Obwohl der Arzt direkt in den Herzmuskel Adrenalin spritzte, gelang es ihnen nicht, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Schließlich gaben sie auf.

»Es hat keinen Sinn! Verdammt! Wo ist nur Schwester Marianne? Und wieso ist das Notstromaggregat nicht angesprungen? «

Der Arzt nahm das Laryngoskop vom Nachttisch und leuchtete mit seinem dünnen Lichtstrahl in dem kleinen Zimmer der Intensivstation herum. Plötzlich sah Schwester Siv den Wäschewagen. Vorsichtig ging sie, die beiden Hände in Hüfthöhe vor sich ausgestreckt, darauf zu. Mit der rechten Hand stieß sie gegen einen Stapel Laken. Sie ertastete Plastikhandschuhe und Nierenschalen. Schließlich bekam sie ihre Taschenlampe zu fassen und knipste sie an.

Das Licht traf den Arzt direkt in die Augen. Er unterdrückte einen Fluch und hob die Hände.

»Entschuldigung … ich wusste nicht, wo Sie stehen«, stotterte Schwester Siv.

»Ja, ja. Schon in Ordnung. Gut, dass Sie endlich eine richtige Taschenlampe gefunden haben. Leuchten Sie mal, ob Schwester Marianne irgendwo auf dem Boden liegt. Vielleicht ist sie ohnmächtig geworden.«

Aber die Schwester der Intensivstation war nirgends zu sehen.

Im Licht der Taschenlampe entdeckte der Arzt ein Telefon. Er ging darauf zu und nahm den Hörer ab.

»Tot. Funktioniert nicht.«

Nachdem er eine Weile lang nachgedacht hatte, sagte er: »Mein Handy liegt oben im Zimmer des Dienst habenden Arztes. Ich nehme die Taschenlampe und rufe von dort aus den Rettungsdienst an. Dann mache ich mich auf die Suche nach Marianne. Haben Sie sie weggehen sehen?«

»Nein. Seit wir zusammen Herrn Peterzén frisch gebettet haben, habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Sie muss also durch die Hintertür verschwunden sein. Ich nehme denselben Weg und laufe eben durch den OP-Trakt nach oben. Das geht am schnellsten.«

Der Arzt leuchtete auf die Tür, hinter der die Treppe und der Aufzug zum OP im nächsten Stockwerk lagen. Fuhr man mit dem Aufzug in das Stockwerk darunter, kam man dort im Erdgeschoss zur Aufnahme, chirurgischen Ambulanz und Krankengymnastik. Im Keller lagen die Röntgenabteilung, Umkleideräume für das Personal und Maschinenräume, große Flächen, die durchkämmt werden mussten. Aber wenn jemand geeignet war, die Löwander-Klinik zu durchsuchen, dann der Oberarzt der Chirurgie Sverker Löwander.

Er ließ die Schwester im Dunkeln allein. Diese tastete sich zur Tür. Mit zitternden Knien ging sie durch den Flur. Ehe sie ins Schwesternzimmer trat, schaute sie gewohnheitsmäßig durch die Glastür auf die Station.

Das schwache Licht der Straßenlaternen wurde vom bleichen Schein des Vollmonds noch verstärkt. Das kalte Licht strahlte durch die großen Fenster des Treppenhauses herein. Und in diesem Licht bewegte sich eine Frau mit dem Rücken zur Tür. Sie ging die Treppe hinunter. Ihr weißer Kragen hob sich hell vom dunklen Stoff ihres wadenlangen Kleides ab. Auf dem straff zurückgekämmten Haar trug sie eine weiße, gestärkte Haube.

KAPITEL 2

Dr. Sverker Löwander blieb vor der Tür der Intensivstation stehen und ließ den Lichtkegel über die Treppen streichen. Nichts. Rasch stieg er die Stufen zum Obergeschoss hinauf. Auf der letzten blieb er stehen und bewegte den Lichtstrahl langsam über den Treppenabsatz vor den Operationssälen. Alles war wie immer. Zwei Liegen standen links vor der Tür zum Lager. Neben der Treppe lag der Aufzugsschacht. Er ging darauf zu, leuchtete durch das kleine Fenster der Tür und stellte fest, dass sich der Aufzug nicht in diesem Stockwerk befand. Dann machte der Arzt eine halbe Kehrtwende und richtete den Strahl auf die Tür, die zu den Operationssälen führte. Sein Schlüsselbund klapperte, bis er endlich den Generalschlüssel gefunden hatte.

Hinter der Tür zum Operationstrakt war alles still. Der Geruch von Desinfektionsmitteln kitzelte ihn in der Nase. Er schaute hastig in die zwei Vorräume der Operationssäle. Auch dort war alles wie immer.

Eilig ging er durch den OP-Trakt, öffnete die Tür am entgegengesetzten Ende des Korridors und befand sich jetzt im kleineren Treppenhaus. Er blieb stehen und leuchtete durch das Fenster des zweiten Aufzugs. Wenn er die Taschenlampe nach unten hielt, konnte er das Aufzugdach sehen.

Auf der anderen Seite des Treppenhauses lag der Verwaltungsflur. Er rüttelte an den Türen der Oberschwester, der Sekretärin und seines eigenen Büros. Alle waren verschlossen. Die letzte Tür führte zu einer kleinen Wohnung für den Arzt, der Bereitschaft hatte.

Er trat ein und suchte in seiner Aktentasche nach seinem Handy. Mit leicht zitternden Händen wählte er 112.

Die Notrufzentrale versprach ihm, so schnell wie möglich einen Streifenwagen zu schicken. Sie wollten auch dem Notdienst der Stadtwerke Bescheid geben, es war jedoch nicht sicher, wann der Elektriker kommen würde.

Sverker Löwander langte nach dem Telefonbuch, das erfreulicherweise auf dem Schreibtisch lag. Mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen, ging er die unzähligen Bengtssons Göteborgs durch. Zum Schluss glückte es ihm, Folke Bengtsson, Hausmeister, Solrosgatan 45, zu finden. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, die Situation zu erklären, erst der schlaftrunkenen Frau Bengtsson und dann Folke Bengtsson selbst. Dieser verstand schnell, wie ernst die Lage war, und versprach, sich sofort hinters Steuer zu setzen.

Als Sverker Löwander das Telefon weglegte, merkte er, dass ihm der Schweiß herunterlief. Er holte ein paar Mal tief Luft, ehe er die Tür öffnete und wieder auf den Gang trat. So schnell er es wagte, ging er die Treppe hinunter. Vor dem Stationstrakt blieb er stehen. Vorsichtig öffnete er die Tür der im Dunkel liegenden Station. Schwester Siv saß vor dem Schwesternzimmer auf dem Fußboden und schluchzte. Sie hatte die Knie eng an die Brust gezogen und wiegte sich hin und her. Als sie den Arzt sah, wurde aus dem Schluchzen ein lautes Heulen.

»Sie… sie! Ich habe sie gesehen!«

»Wen?«, fragte der Arzt etwas schärfer als beabsichtigt.

»Das Gespenst! Schwester Tekla!«

Sprachlos sah Sverker Löwander auf die tränenüberströmte Krankenschwester hinab. Ein paar Sekunden lang stand er reglos da und dachte nach.

»Hier! Nehmen Sie die Taschenlampe und gehen Sie ins Schwesternzimmer.« Willenlos trottete sie hinter ihm her und ließ sich auf den Schreibtischstuhl drücken.

Sverker Löwander stürmte durch die Tür der Station die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Der helle Mondschein erleichterte sein Vorwärtskommen. In der großen Eingangshalle sah er sich gezwungen, seine Schritte zu verlangsamen. Hier zwischen den Pfeilern des Jugendstilgewölbes war das Dunkel undurchdringlich. Als er sich zur Eingangstür vorgetastet hatte und diese gerade öffnen wollte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Er wurde beobachtet. Er hatte das Gefühl, jemand stehe zwischen den Pfeilern und sehe ihn an. Er tastete sich zum Schloss vor. Als sich die schwere Tür endlich öffnete, hätte er beinahe vor Erleichterung geschrien. Die frische Nachtluft kühlte seine feuchte Stirn, und er holte tief Luft.

»Ich habe das gesamte Obergeschoss durchsucht. Nirgends auch nur eine Spur von Schwester Marianne. Sie scheint auch nicht im Zwischengeschoss zu sein. Wahrscheinlich ist sie im Untergeschoss oder im Keller. Wenn sie nicht in den Park gegangen ist.«

Dr. Löwander versuchte die Polizisten schnell auf den letzten Stand zu bringen, was seine Suche nach Marianne Svärd anging. Bengtsson, der Hausmeister, hatte seine eigene Taschenlampe dabeigehabt, und war bereits im Keller, um nachzusehen, was mit der Stromversorgung und dem Notstromaggregat los war.

Auch die beiden Polizisten hatten starke Taschenlampen. Die drei Männer standen in der großen dunklen Eingangshalle und sprachen miteinander. Der ältere der beiden Polizisten hatte sich als Polizeihauptmeister Kent Karlsson vorgestellt. Er ließ den Lichtkegel über die Wände der großen Eingangshalle gleiten. Dr. Löwander konnte sich mit einer gewissen verärgerten Erleichterung davon überzeugen, dass sich niemand zwischen den Pfeilern verbarg.

»Wenn Sie uns die Schlüssel geben, drehen Jonsson und ich hier oben auf dem Stockwerk eine Runde und…«

»Hallo! Hilfe! Da ist sie!«

Ein Ruf aus der Unterwelt unterbrach den Polizeihauptmeister. Ein schwankendes Licht wurde auf der Kellertreppe sichtbar, stolpernde Schritte waren zu hören. Die Taschenlampe des Hausmeisters kam über der letzten Treppenstufe zum Vorschein, sie blendete sie so, dass sie ihn im Gegenlicht nicht sehen konnten. Umso deutlicher war seine aufgeregte Stimme zu hören:

»Hier ist Schwester Marianne!«

»Wo?«, fragte Dr. Löwander scharf.

»In der Elektrozentrale … Ich glaube … ich glaube, sie ist … tot.«

Bei den letzten Worten versagte Bengtssons Stimme, nur ein heiseres Keuchen war zu hören. »To … ot!«, flüsterte das Echo zwischen den Pfeilern.

Sie lag über dem Notstromaggregat vornübergebeugt. Die Männer in der Tür sahen nur ihre Beine und ihren Hintern. Sie trug lange Hosen. Kopf und Arme hingen über die andere Seite. Ihre kurze Kittelbluse legte einen Teil des Rückens frei. Dr. Löwander sah, dass ihr ein Schuh fehlte. Vorsichtig ging er um das Aggregat herum. Er beugte sich vor und fühlte pflichtschuldigst nach dem Puls der Halsschlagader. Aber die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Ihr dicker, dunkler Zopf schleifte auf dem Boden. Ein scharfer, rotblauer Streifen lief um ihren Hals herum.

»Sie ist tot«, sagte er tonlos.

Polizeihauptmeister Karlsson übernahm das Kommando.

»Wir verlassen jetzt diesen Raum. Fassen Sie nichts an. Ich lasse Verstärkung kommen.«

Dr. Löwander nickte und trottete gehorsam hinter den anderen her.

»Wir müssen zu Schwester Siv auf die Station. Sie ist da oben ganz allein«, sagte er.

Polizeihauptmeister Karlsson sah ihn erstaunt an.

»Nachtschwestern sind es doch wohl gewöhnt, nachts allein zu sein?«

»Natürlich. Aber sie hat einen Schock erlitten.«

»Warum das?«

Dr. Löwander zögerte.

»Sie glaubt, dass sie ein Gespenst gesehen hat.«

Er sagte das unbeschwert, in der Hoffnung, dass die Polizisten dem nicht allzu viel Bedeutung beimessen würden. Hastig drehte er sich zu Bengtsson um und meinte:

»Begleiten Sie mich doch bitte nach oben zu Schwester Siv.«

Er streckte die Hand nach Bengtssons Taschenlampe aus und eilte auf die Treppe zu. Folke Bengtsson ging dankbar hinter ihm her.

Bereits gegen sieben Uhr morgens trafen Kommissar Sven Andersson und Inspektorin Irene Huss in der Löwander-Klinik ein.

Die beiden Kriminalbeamten stiegen aus dem blauen Volvo, den der Kommissar direkt vor dem großen Eingang der Klinik geparkt hatte. Beide blieben stehen und betrachteten eingehend das imposante Gebäude. Das Krankenhaus war aus braunroten Ziegeln erbaut. Das protzige Entree führte in ein Treppenhaus, das in einer halbrunden Ausbuchtung in der Mitte des Bauwerks lag. Portal und Fenster waren von aufwendigen Stuckaturen umgeben. Auf beiden Seiten des geschnitzten Portals wachten griechische Götter. Beide waren aus Marmor.

Sie stießen das schwere Portal auf. Inspektor Fredrik Stridh saß auf einem Stuhl im Entree und erwartete sie bereits. Er saß nicht einfach nur da, um seine müden Beine auszuruhen, sondern weil er etwas auf einem Block notierte. Als er seine Kollegen sah, sprang er schnell auf und kam ihnen entgegen.

»Hallo. Guten Morgen«, sagte Kommissar Andersson zu seinem jüngsten Inspektor.

Energisch begann Stridh Bericht zu erstatten:

»Morgen! Der Tatort ist von der Streife gesichert. Der Mann von der Spurensicherung war bereits bei der Arbeit, als ich gegen halb vier ankam. Malm sagt, es wirke so, als sei die Frau erwürgt worden.«

Der Kommissar nickte.

»Warum warst du erst um halb vier hier?«, fragte er.

»Ich war noch auf einen Sprung in Hammarkullen und habe mir einen Burschen angeschaut, der kurz vor Mitternacht aus dem achten Stock gefallen ist. Es waren mehrere Personen in der Wohnung, und das Fest war noch in vollem Gange. Entweder haben sie ihn alle aus dem Fenster geworfen, oder er ist selbst gesprungen. Mal abwarten, was die Gerichtsmedizin dazu sagt. Apropos Gerichtsmediziner, da kommt gerade einer.«

Sie sahen durch die dicke Glasscheibe der Außentür. Ein weißer Ford Escort sauste durch die Einfahrt und blieb mit quietschenden Reifen hinter dem Wagen des Kommissars stehen. Die Fahrertür öffnete sich, und eine feuerrote Mähne kam über dem Autodach zum Vorschein.

»Yvonne Stridner!«, stöhnte Kommissar Andersson.

Inspektorin Irene Huss war irritiert, als sie den Tonfall ihres Chefs hörte. Sie hoffte nur, dass er sein Temperament zügeln konnte, sodass sie auch wirklich alle Auskünfte von Yvonne Stridner erhalten würden. Sie war unerhört tüchtig und wusste das auch. Vermutlich war sich der Kommissar darüber ebenfalls im Klaren, denn er trottete vor und hielt Frau Professor Yvonne Stridner die Tür auf. Diese nickte gnädig.

»Guten Morgen. Jaha, Herr Andersson, die Mordkommission ist also auch schon hier.«

Der Kommissar murmelte etwas vor sich hin.

»Wo ist die Leiche?«, fragte Frau Professor Stridner geschäftsmäßig.

Fredrik Stridh führte sie die Treppe hinunter in den Keller.

»Das Opfer wurde als die Krankenschwester Marianne Svärd identifiziert, achtundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, graziler Körperbau. Liegt auf dem Bauch quer auf einem Motor… aha … dem Notstromaggregat der Klinik. Die Kleider sind in Ordnung. Ihr fehlt der Schuh am rechten Fuß. Der Rigor mortis lässt darauf schließen, dass sie schon seit mindestens sechs Stunden tot ist. Wahrscheinlich etwas länger. Der Livores mortis der am weitesten unten liegenden Körperteile spricht ebenfalls dafür. Ich messe die Körpertemperatur gleich vor Ort. Die Zimmertemperatur ist laut Thermometer an der Wand neunzehn Grad.«

Yvonne Stridner schaltete ihr Taschendiktiergerät ab und begann, den toten Körper zu untersuchen. Der Polizeitechniker Svante Malm versuchte, ihr dabei nicht im Weg zu stehen. Kommissar Andersson zog seine beiden Untergebenen nach draußen in den Korridor und zischte:

»Mit Malm da drinnen geht es ja noch, aber mit der Stridner bekomme ich keine Luft mehr. Was hast du rausgekriegt?«

Die Frage war an Fredrik Stridh gerichtet. Dieser nahm seinen Block aus der Tasche, leckte sich am Daumen und fing an zu blättern.

»Alarm bei der Notrufzentrale um null Uhr siebenundvierzig. Dr. Sverker Löwander ruft auf dem Handy an und meldet, dass es in der Löwander-Klinik einen Stromausfall gebe. Das Notstromaggregat sei ausgefallen. Gleichzeitig werde eine Schwester vermisst. Die Streife war um zehn nach eins bei der Klinik. Dr. Löwander empfing sie im Eingang. Gleichzeitig kam der Hausmeister der Klinik Folke Bengtsson. Da Bengtsson eine Taschenlampe dabeihatte, bat ihn Dr. Löwander, gleich runterzugehen und nachzuschauen, was mit dem Notstromaggregat nicht in Ordnung sei. Die Schwester wurde also vom Hausmeister in dem Kellerraum gefunden, in dem sich die Elektrozentrale und das Notstromaggregat befinden.«

Hier sah sich Fredrik Stridh gezwungen, Atem zu holen. Der Kommissar warf rasch eine Frage ein:

»Was war mit dem Licht nicht in Ordnung? Jetzt sind doch alle Lampen an?«

Er deutete mit der Hand auf eine der Leuchtstoffröhren an der Decke.

»Bengtsson entdeckte den Fehler. Er leuchtete auf den Sicherungskasten und sah, dass jemand den Hauptschalter umgelegt hatte. Er schaltete den Strom einfach wieder ein.«

»Und was war mit dem Notstromaggregat?«

»Jemand hatte alle Kabel abgeknipst. Da war nichts zu machen. «

Andersson zog die Augenbrauen bis zum nicht vorhandenen Haaransatz hoch.

»Noch mehr von Interesse?«

»Der fehlende Schuh des Opfers wurde im Aufzug gefunden. Von mir. Eine stabile Sandale, Marke Scholl.«

»Das Opfer. Was weißt du über sie?«

»Dr. Löwander hat sie als Marianne Svärd identifiziert. Eine der Nachtschwestern der Löwander-Klinik.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja. Offenbar war er über Nacht in der Klinik geblieben, weil einer der Patienten beatmet werden musste. Ein alter Mann, der am Vormittag operiert worden war. Er starb übrigens infolge des Stromausfalls.«

Der Kommissar holte tief Luft.

»Noch eine Leiche!«

Inspektor Stridh verlor den Faden und sagte etwas verwirrt:

»Nun … also… das Beatmungsgerät hörte auf zu funktionieren. Er bekam keine Luft mehr. Er lag auf der Intensivstation. Dr. Löwander und die alte Schwester, die nachts auf der Station Dienst tut, haben versucht, ihn zu reanimieren. Vergeblich. Dabei haben sie auch bemerkt, dass das Opfer … Schwester Marianne … nirgendwo zu finden war.«

Inspektorin Irene Huss sah ihren Kollegen nachdenklich an.

»Das deutet darauf hin, dass sie schon vor dem Stromausfall nicht mehr an ihrem Platz war«, stellte sie fest.

Fredrik Stridh zuckte mit den Achseln und meinte:

»Offenbar. Es hat ganz den Anschein.«

Kommissar Andersson sah grimmig aus.

»Es sind hier in der Klinik heute Nacht also zwei Menschen gestorben.«

»Was hatte die andere Schwester zu sagen?«, fragte Irene.

Fredrik Stridh schnaubte, unüberhörbar:

»Als ich kam, wirkte sie noch ziemlich gesammelt. Aber als ich sie nach den Ereignissen der Nacht befragte, begann sie laut zu heulen. Die Dame heißt übrigens Siv Persson. Sie behauptet, dass hier heute Nacht ein Gespenst umgegangen sei und Schwester Marianne ermordet habe! Sie hat sogar ein Foto geholt, das in irgendeinem Schrank lag, und hat es mir gezeigt. Eine der Personen auf dem Foto ist ihr offenbar erschienen. «

Fredrik Stridh wurde von der Pathologin unterbrochen, die auf den Korridor trat.

»Jetzt können Sie sie abtransportieren lassen. Der Techniker ist gleich mit der Spurensicherung fertig«, sagte Professorin Stridner.

Irene sah, wie Svante Malm breite Klebestreifen auf Marianne Svärd befestigte. Weder sollten wichtige Spuren versehentlich verloren gehen noch neue hinzukommen.

Die Pathologin sah Andersson scharf an, dieser duckte sich unbewusst.

»Ein außerordentlicher Fall, Herr Andersson. Deswegen wollte ich mir den Tatort auch ansehen. Manchmal sagt einem der eine ganze Menge.«

»Und was sagt uns dieser? Wie ist sie gestorben?«, erdreistete sich Irene zu fragen.

Yvonne Stridner sah sie erstaunt an, als würde sie erst jetzt bemerken, dass sie mit dem Kommissar nicht allein in dem Kellergang stand. Dann antwortete sie mit hochgezogenen Brauen:

»Sie wurde erdrosselt. Mit einer Schlinge. Der Raum, in dem sie gefunden wurde, ist wahrscheinlich nicht der Tatort. Der Schmutz auf den Fersen lässt darauf schließen, dass sie hergeschleift wurde. Wahrscheinlich hat der Mörder nur die Tür geöffnet und sie in den Raum gestoßen. Deswegen ist sie auch auf dem Notstromaggregat gelandet. Sie ist irgendwann um Mitternacht gestorben.«

Es wurde still im Kellerkorridor. Nach einer Weile fragte Irene:

»Liegt die Schlinge noch um ihren Hals?«

»Nein. Aber sie hat einen tiefen Abdruck hinterlassen. Der Mörder hat kräftige Finger. Ich fahre jetzt in die Pathologie. Ich obduziere sie heute Nachmittag.«

Der Kommissar versuchte es mit seiner üblichen aussichtslosen Charmeoffensive:

»Sie können nicht schon mal am Vormittag einen Blick auf sie werfen?«

»Nein. Bis zum Mittagessen obduziere ich mit meinen Doktoranden. «

Die Gerichtsmedizinerin eilte mit klappernden Absätzen die Kellertreppe hinauf und ließ eine Wolke teuren Parfüms zurück.

Irene fragte sich, was der Kommissar wohl sagen würde, wenn sie ihn darüber aufklärte, dass das Parfüm von Frau Professor Stridner Joy hieß …

Bei dem Polizistentrio machte sich nachdenkliches Schweigen breit. Schließlich wurde es von Andersson gebrochen:

»Außer Marianne Swärd haben heute Nacht offenbar nur noch zwei Personen in der ganzen Klinik Dienst gehabt. Dr. Löwander und die Krankenschwester … Siv Persson. Stimmt das, Fredrik?«

»Ja. Aber sie waren nicht allein. Auf der Station liegen sechs Patienten. Plus der Alte am Beatmungsgerät.«

»Irene und ich reden mit dem Doktor und Schwester Siv. Fredrik, du fährst ins Präsidium und schickst zwei, drei von unseren Leuten hierher. Sie sollen sich in der Gegend umhören und außerdem die übrigen Patienten vernehmen. Dann kannst du nach Hause fahren und dich hinlegen.«

»Aber ich bin nicht müde.«

»Kein Aber. Die Anweisung von oben ist mehr als klar. Weniger teure Überstunden!«

Der Kommissar wedelte Stridh mit dem Zeigefinger vor der Nase herum. Der Inspektor widersprach nicht und zog ab.

Dr. Sverker Löwander sah erschöpft aus. Der Schlafmangel hatte tiefe Furchen um seine Augen hinterlassen. Er schien unter seinem Arztkittel nichts anzuhaben, außerdem war er falsch zugeknöpft. Mit geschlossenen Augen saß er tief im Sessel der Bereitschaftswohnung und hatte den Kopf gegen die hohe Lehne gestützt. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, und er bewegte unruhig den Kopf hin und her. Offenbar hatte er Mühe, eine entspannte Stellung zu finden. Schweigend standen Kommissar Andersson und Inspektorin Huss in der Tür und betrachteten ihn. Schließlich räusperte sich der Kommissar laut und trat ins Zimmer. Der Arzt zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Hastig fuhr er sich mit den Fingern durchs volle Haar. Was nicht viel half. Er sah immer noch gleich verschlafen aus.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie geweckt habe. Ich bin Kriminalkommissar Sven Andersson. Das hier ist Inspektorin Irene Huss.«

»Natürlich … wie spät ist es?«

Der Kommissar schaute auf seine Armbanduhr. Es war eine Digitaluhr, ein Geschenk von der Tankstelle, bei der er Stammkunde war.

»Viertel nach acht.«

»Danke. In einer Viertelstunde kommt mein erster Patient.«

»Wollen Sie sich heute Morgen wirklich in den Operationssaal stellen?«

»Ja. Ich muss. Ich muss an die Patienten denken. Gott sei Dank sind für heute keine größeren Sachen geplant.«

»Schaffen Sie das? Nach so einer Nacht?«

Sverker Löwander warf ihm einen müden Blick zu und rieb sich das eine Auge.

»Ich muss. Die Patienten kommen zuerst. Viele haben sich extra freigenommen. Sie würden es nicht verstehen.«

Eine Weile betrachteten die beiden Beamten den Arzt schweigend. Schließlich zog der Kommissar einen zerknitterten Block aus der Manteltasche und begann erfolglos alle anderen Taschen zu durchwühlen. Sverker Löwander verstand, was das bedeutete und reichte ihm einen Stift aus seiner Brusttasche, einen Reklamekuli aus dunkelblauem Plastik mit einer goldenen Aufschrift: »Löwander-Klinik — für erfolgreiche Behandlung! «

»Geht das, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«

»Ja. Natürlich. Wenn es nicht so lange dauert. Wir können für heute Nachmittag einen Termin ausmachen. Da habe ich mehr Zeit. Nach halb fünf wäre optimal.«

»Okay. Dann lassen Sie mich jetzt nur eine kurze Frage stellen. Warum haben Sie unter Ihrem Kittel nichts an?«

Sverker Löwander zuckte zusammen und sah bestürzt auf seinen falsch geknöpften Baumwollkittel.

»Danke, dass Sie mich darauf hinweisen! Das hatte ich vollkommen vergessen. Ich muss etwas anziehen, ehe ich gehe …«

Er war bereits halb aus dem Sessel, als er wieder zurücksackte. Langsam fuhr er fort:

»Ich hatte geduscht und dann habe ich noch im Bett gelesen. Gestern war wirklich ein anstrengender Tag mit vielen Operationen. Gar nicht zu reden von der Komplikation bei Nils Peterzén. Gerade als ich das Licht ausmachen wollte, fiel der Strom aus. Mein erster Gedanke war natürlich das Beatmungsgerät. Auch wenn ich mir keine allzu großen Sorgen gemacht habe. Schwester Marianne ist… war eine sehr tüchtige Intensivschwester.«

Er unterbrach sich und seufzte laut. Der Kommissar schob eine Frage ein:

»Haben Sie in Kleidern auf dem Bett gelegen?«

»Nein. Ich hatte tatsächlich die Absicht zu schlafen. Peterzéns Zustand war stabil. Wo war ich? Ach so. Der Strom fiel aus. Ich lag da und wartete darauf, dass das Notstromaggregat anspringen würde. Aber das tat es nicht. Und als ich hörte, dass der Alarm des Beatmungsgeräts losschrillte, sprang ich aus dem Bett. In aller Eile zog ich Hosen und Kittel an. Seitdem habe ich keine ruhige Minute mehr gehabt. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie ich aussehe.«

Löwander stand auf und kniete sich gleich wieder hin. Er spähte unter das Sitzmöbel und unter das Bett und entdeckte, was er suchte. Das T-Shirt war unter das Bett geraten.

»Entschuldigen Sie. Ich muss mich beeilen. Um halb fünf können wir uns weiterunterhalten.«

Der Arzt hielt den Polizisten die Tür auf.

Irene setzte sich auf einen Holzstuhl neben der Tür, um bei der ersten Vernehmung der Nachtschwester Siv Persson dabei zu sein.

»Schwester Siv, Sie verstehen vermutlich, wie schwer es uns fällt, an ein Gespenst als Mörder zu glauben«, begann Andersson vorsichtig.

Siv Persson presste die Lippen zusammen, ohne zu antworten. Der Kommissar sah nachdenklich auf die Fotografie, die er immer noch in der Hand hielt.

»Wie würden Sie sie beschreiben, Schwester Siv?«, fuhr der Kommissar fort.

»Sie brauchen mich nicht mit Schwester anzureden, Herr Kommissar. Sie können auch Frau Persson sagen.«

»Gut.«

Er sah wieder auf das alte Foto.

»Sah sie so aus wie auf diesem Bild?«

»Ja, genauso.«

Das Bild war von oben und aus großer Entfernung aufgenommen. Der Kommissar wusste sogar, von welchem Fenster des Korridors aus es gemacht worden war. Das hatte er gerade erst überprüft. Ganz rechts war ein großer schwarzer Wagen zu sehen. Ein kräftiger Mann hielt einer bedeutend kleineren Frau die Beifahrertür auf. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, da sie ihren Hut fest hielt. Offensichtlich ging ein starker Wind. Die Hand und der Mantelärmel verdeckten ihr Gesicht. Dass es sehr stark windete, war auch daran zu erkennen, dass der helle Mantel des Mannes flatterte und die Äste der kleinen Birke ganz links im Bild zur Seite gedrückt wurden. Zwischen dem Baum und den beiden am Auto stand die Krankenschwester.

Sie wendete dem Betrachter das Profil zu. Obwohl das Bild von oben aufgenommen worden war, konnte man sehen, dass sie eine große Frau war. Sie trug eine Schwesterntracht: weiße Haube mit gekräuselter Borte und einem schwarzen Band, weißer Kragen, weiße Manschetten, wadenlanges schwarzes Kleid und schwarze Schuhe mit kräftigem Absatz. Es war zu erkennen, dass das hoch gesteckte Haar unter der Haube blond war. In beiden Händen trug sie eine Reisetasche.

Langsam drehte der Kommissar die Karte um und las das Datum in schwarzer Tinte und zierlicher Handschrift. »2. Mai 1946.« Das war alles.

»Wo haben Sie dieses Bild her?«, fragte Andersson.

»Das existiert, seit ich hier auf der Station arbeite. Schwester Gertrud hat es mir gezeigt.«

»Arbeitet sie immer noch hier auf der Station?«

»Nein, sie ist letztes Jahr gestorben. Sie wurde exakt neunzig. «

Schwester Siv sah dem Kommissar direkt in die Augen, die von den dicken Gläsern eines unmodernen Brillengestells unnatürlich vergrößert wurden. Zögernd fuhr sie fort:

»Schwester Gertrud fing im Herbst ’46 in der Löwander-Klinik an. Sie übernahm den Dienst der Stations- und Oberschwester von Schwester Tekla. Gertrud ist Schwester Tekla nie im Leben begegnet. Nur als Toter.«

Siv Persson machte eine Pause und streckte die Hand nach dem Foto aus. Der Kommissar reichte es ihr. Nachdenklich betrachtete sie es.

»Gertrud fing natürlich den Klatsch auf und erzählte ihn mir weiter. Schwester Tekla war eine elegante Frau.«

Schwester Siv verstummte. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme eindeutig verlegen.

»Das hier habe ich nur aus zweiter Hand… aber Dr. Löwander und Schwester Tekla sollen eine Affäre gehabt haben.«

Kommissar Andersson zuckte zusammen.

»Augenblick! Mit Dr. Löwander habe ich doch eben erst geredet. Er kann noch kaum auf der Welt gewesen sein, als Schwester Tekla hier gearbeitet hat!«

Siv Persson schüttelte den Kopf.

»Ich meine natürlich den alten Doktor, Hilding Löwander, den Vater von Sverker Löwander.«

Natürlich. Liegt doch nahe, dachte Irene. Kommissar Andersson kam sich sicher genauso dumm vor, wie er jetzt aussah. Schließlich hieß das Krankenhaus Löwander-Klinik.

»Offenbar bekam seine Frau Wind von der Affäre und verlangte, dass Schwester Tekla das Krankenhaus umgehend verlassen sollte. Das Krankenhaus gehörte nämlich Frau Löwander. Sie hatte es von ihren Eltern geerbt.«

»Die Mutter von Sverker Löwander war also sehr reich?«

»Ja.«

»Und wie war sein Vater … Hilding?«

»An Hilding Löwander kann ich mich noch sehr gut erinnern. Er war einer der Ärzte der alten Schule. Niemand wagte ihm zu widersprechen. Er operierte noch mit fast fünfundsiebzig Jahren.«

»Und was wurde aus Schwester Tekla?«

»Gertrud sagte, dass Hilding Löwander etwas mit Schwester Tekla gehabt hätte. Sie war etwas über dreißig, und er war fast zwanzig Jahre älter. Das Merkwürdige ist, dass sich Frau Löwander zunächst nicht weiter darum kümmerte, das sagt jedenfalls der Klatsch. Die drei fuhren sogar übers Wochenende weg und machten zusammen Ferien. Laut Gertrud wurde dieses Bild heimlich bei einer solchen Gelegenheit aufgenommen.«

Andersson nahm das Bild wieder in Empfang und schaute es sich mit erneutem Interesse an. Siv Persson fuhr fort:

»Löwanders waren schon viele Jahre verheiratet, als die Frau plötzlich schwanger wurde. Sie war bestimmt schon über vierzig. Damals verlangte sie auch, dass Schwester Tekla das Feld räumen sollte. Irgendwie gelang es Schwester Tekla, eine Arbeit in Stockholm zu finden. Im Herbst ’46 zog sie um. Danach hörte niemand mehr etwas von ihr, bis März ’47. Da wurde sie erhängt hier auf dem Dachboden gefunden. Sie hatte Selbstmord begangen.«

In dem kleinen Zimmer wurde es still. Irene merkte, dass der Kommissar nicht recht wusste, wie er mit der Schwester und ihrer Geschichte umgehen sollte. Offenbar glaubte sie wirklich, die tote Schwester Tekla in der Nacht gesehen zu haben. Mehr um das Schweigen zu brechen, fragte Irene:

»Wie sind Sie an dieses Foto gekommen?«

»Gertrud hat es gefunden, als der alte Medizinschrank umfunktioniert werden sollte. Sie und eine Kollegin räumten die ganzen alten Medikamente aus. Da fand sie dieses Bild unten im Schrank unter einem Reservebrett. Sie wussten nicht, was sie damit anfangen sollten, daher legten sie es einfach zurück. Seither ist es gewissermaßen Geheimgut der Schwestern. Das Bild hat dort all die Jahre gelegen, und allen neu anfangenden Schwestern wurde es gezeigt. Allen hat man natürlich vom Krankenhausgespenst erzählt. Und dann hat man immer dieses Bild hervorgesucht.«

»Um zu zeigen, dass die Geschichte wahr ist?«

»Das ist sie auch! Gertrud hat selbst dabei geholfen, Schwester Tekla abzuschneiden. Sie hatte einige Tage oben auf dem Speicher gehangen, und schließlich war jemand… der Geruch aufgefallen.«

»Und Sie glauben wirklich, dass sie hier umgeht?«

»Viele haben sie in all den Jahren gesehen. Ich selbst habe sie nur gehört… heute Nacht habe ich sie zum ersten Mal gesehen. «

Sie verstummte und sah den Kommissar aus den Augenwinkeln an. Irene beeilte sich zu fragen:

»Was meinen Sie damit, dass Sie sie gehört haben?«

Schwester Siv antwortete nur zögernd:

»Die Steckbecken klappern im Spülraum, ohne dass jemand dort ist. Kittel rascheln in den Korridoren. Einmal habe ich selbst einen eiskalten Luftzug neben mir gespürt. Niemand vom Personal ist zwischen zwölf und eins gern auf den Gängen. «

»Verstehe. Was machen Sie in dieser Zeit?«

»Normalerweise trinken wir Kaffee. Im Schwesternzimmer der Station.«

»Sie und die Schwester der Intensivstation?«

»Ja.«

»Sind Sie dann allein hier?«

»Ja.«

»Aber nach zwölf bekommen Sie Verstärkung von der guten Tekla?«

»Zwischen zwölf und eins. Sie zeigt sich nie nach eins.«

»Ein klassisches Gespenst, das sich an die Geisterstunde hält. Was passiert, wenn Sommerzeit ist? Kommt sie dann zwischen eins und zwei?«, warf Andersson ein.

Schwester Siv war sich bewusst, dass er sich über sie lustig machte. Missbilligend verzog sie den Mund.

Um von den Gespenstern abzulenken, fragte Irene:

»Wie lange hat Marianne Svärd hier gearbeitet?«

Erst hatte es den Anschein, als wolle Siv Persson nicht antworten. Nach einer Weile putzte sie sich mit einem Papiertaschentuch die Nase und sagte:

»Fast zwei Jahre.«

»Was hatten Sie für ein Verhältnis zu ihr?«

Schwester Siv dachte lange nach, ehe sie antwortete:

»Sie war eine sehr tüchtige Krankenschwester. Sie konnte mit all diesen neumodischen Apparaten umgehen. Ich gehe bald in Rente und kann das nicht.«

»Wie war sie als Mensch?«

»Sie war freundlich und nett. Hilfsbereit.«

»Kannten Sie sich gut?«

Die Schwester schüttelte den Kopf.

»Nein. Man konnte sich gut mit ihr unterhalten, aber wenn wir anfingen, über Familie und solche Dinge zu reden, war sie ausweichend.«

»War sie verheiratet?«

»Nein. Geschieden.«

»Hatte sie Kinder?«

»Nein.«

Irene fielen keine weiteren Fragen mehr ein. Die kleine, graue Schwester schien noch weiter in ihrer Wolljacke zu versinken. Ihr Gesicht war müde und mitgenommen. Das sah sogar der Kommissar und sie schien ihm Leid zu tun.

»Soll ich jemanden bitten, Sie nach Hause zu fahren?«, fragte er mit seiner freundlichsten Stimme.

»Nein, danke. Ich wohne nur einen Steinwurf von hier entfernt. «

KAPITEL 3

Irene stellte bald fest, dass keiner der stationären Patienten etwas zur Ermittlung beitragen konnte.

Alle vier Patientinnen waren vom Alarm des Beatmungsgeräts geweckt worden. Benommen von Schmerz- und Schlafmitteln waren sie aber bald wieder eingeschlafen. Zwei Frauen hatten bandagierte Brüste, die anderen beiden hatten gewaltige Verbände um den Kopf. Aus den Verbänden hingen Wunddrainagen, die mit Blut gefüllt waren.

Die beiden männlichen Patienten der Station waren überhaupt nicht aufgewacht.

Die Schwester, die tagsüber Dienst hatte, Ellen Karlsson, war eine robuste Frau mittleren Alters. Mit ihrem grau melierten Pagenkopf und ihren braunen Augen machte sie einen freundlichen Eindruck.

»Wie schrecklich! Die kleine, süße Marianne … nicht zu fassen! Wer konnte sie nur ermorden wollen?«, rief sie und schluchzte auf.

Irene Huss hakte schnell nach.

»Das ist genau die Frage, die wir uns auch stellen. Sie haben keine Vorstellung?«

»Nein. Sie wirkte immer so umgänglich. Aber ich kannte sie kaum, da sie nur nachts arbeitete. Ich bin tagsüber hier. Außerdem waren wir auf verschiedenen Stationen. Sie können natürlich Anna-Karin fragen. Sie arbeitet tagsüber auf der Intensiv. Sie kennen sich … kannten sich etwas besser.«

Gemeinsam gingen sie aus dem Schwesternzimmer. Irene fiel die Ruhe auf dem Klinikkorridor auf. In allen Krankenhäusern, in denen sie bisher gewesen war, war das anders gewesen. Um überhaupt etwas zu sagen, fragte sie:

»Warum gibt es hier so wenige stationäre Patienten?«

»Die meisten Operationen werden heute ambulant durchgeführt. Hauptsächlich aus Kostengründen sowohl für die Patienten als auch für uns. Wie Sie sicher wissen, ist die Klinik ganz privat. Als ich vor dreiundzwanzig Jahren hier angefangen habe, gab es noch zwei Stationen. Vier Chirurgen arbeiteten Vollzeit. Damals waren die Stationen und die Intensivstation immer belegt. Wir haben natürlich auch an den Wochenenden gearbeitet. Jetzt ist die Klinik am Wochenende geschlossen, und wir sind nur noch vier Schwestern, zwei am Tag und zwei in der Nacht, eine für die Station und die andere für die Intensiv. Auch im OP und am Empfang hat man das Personal halbiert.«

»Warum dieser rigorose Personalabbau?«, fragte Irene.

»Sparmaßnahmen. Die großen OPs machen wir Anfang der Woche, Mittwoch und Donnerstag nur ambulant. Am Freitag ist nur Konsultation und Wiedervorstellung.«

»Wie viele Betten haben Sie?«

»Zwanzig auf der Station und zwei auf der Intensiv. Zehn Betten auf der Station befinden sich allerdings im Aufwachraum. Wir haben einen der größeren Säle neben der Intensivstation zur Wachstation für ambulante Operationen umgewandelt. Um diese Patienten kümmert sich die Intensivschwester.«

»Dort liegen die Patienten also einige Stunden und kommen zu sich, ehe sie nach Hause gehen?«

»Genau.«

»Was machen Sie, wenn es Komplikationen gibt und ein Patient nicht übers Wochenende nach Hause kann?«

»Wir haben einen Vertrag mit einer größeren Privatklinik in der Stadt. Sie kennen doch sicher die Källberg-Klinik. Dorthin schicken wir die Patienten, die noch nicht nach Hause entlassen werden können.«

»Die Löwander-Klinik ist also nie am Wochenende geöffnet? «

»Nein.«

Sie standen vor der großen Doppeltür zwischen Station und Intensivstation.

Schwester Ellen öffnete den einen Türflügel, und sie traten ein.

In der Mitte von zwei Betten stand ein winziger Tisch. In einem der Betten lag die Leiche von Herrn Peterzén. Auf seinem Nachttisch brannte eine Kerze, deren stille Flamme ein mildes Licht auf sein friedliches Gesicht warf. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet, und das Kinn war mit einer elastischen Binde hoch gebunden. Neben dem Bett stand eine Frau mittleren Alters und betrachtete den Toten. Als Irene und Schwester Ellen eintraten, zuckte sie zusammen.

»Entschuldigung … wir wussten nicht… wir suchen Schwester Anna-Karin«, stotterte Schwester Ellen verwirrt.

»Sie kommt gleich. Sie musste irgendwelche Papiere ausfüllen. «

Die Frau am Bett kam auf sie zu. Sie hatte offenbar geweint, wirkte aber gesammelt.

»Mein Beileid. Ich bin Kriminalinspektorin Irene Huss.«

Die Frau zuckte erneut zusammen.

»Kriminalinspektorin? Was machen Sie hier?«

»Haben Sie nicht gehört, dass … hier in der Klinik heute Nacht einige Dinge vorgefallen sind?«

Verwundert zog die Frau die Brauen hoch. Sie sah wirklich sehr überrascht aus.

»Einige Dinge? Dass Nils gestorben ist?«, fragte sie.

Sie war offenbar weder vom Stromausfall noch vom Mord an der Krankenschwester informiert worden. Da davon bald eh in den Abendzeitungen zu lesen sein würde, beschloss Irene, fortzufahren.

»Dass Nils Peterzén starb, war leider eine direkte Folge dieser Ereignisse. Darf ich nach ihrem Namen fragen?«

»Doris Peterzén. Nils ist mein Mann.«

Nur ein leichtes Beben der Stimme verriet ihre Gefühle.

Irene schaute die beherrschte Frau an. Sie waren fast gleich groß. Das bedeutete, dass die Frau vor ihr fast ein Meter achtzig war. Für ihr Alter war sie ungewöhnlich groß und ungewöhnlich elegant. Obwohl sie ungeschminkt war und geweint hatte, war sie zweifellos eine schöne Frau. Das Haar war in einem ausgesuchten Platinblond ergraut, wahrscheinlich mit diskreter Hilfe eines geschickten Friseurs. Die Haut war glatt und makellos. Die großen grau-blauen Augen wurden von langen Wimpern umrahmt, und die Gesichtszüge waren perfekt. Irene kannte sie, wusste aber nicht, woher. Aus der Nähe sah sie, dass die Frau um die fünfzig war, aus der Entfernung hätte sie sie für bedeutend jünger gehalten. Sie trug einen dunkelblauen Wollmantel mit schwarzem Pelzkragen und einen passenden Hut.

»Ihr Mann musste gestern nach der Operation beatmet werden«, fing Irene an.

»Das weiß ich. Dr. Löwander hat mich gestern persönlich angerufen, um es mir zu erzählen. Aber Nils wusste selbst, dass er schlechte Lungen hat. Er hat über fünfzig Jahre lang geraucht, aber vor zehn Jahren aufgehört. Wir … Dr. Löwander glaubte, dass die Operation gut gehen würde. Sie war nötig. Der Bruch war sehr groß.«

»Wie alt war Ihr Mann?«

»Er ist dreiundachtzig.«

Sie drehte sich langsam um und ging wieder zum Bett. Mit gesenktem Kopf stand sie am Fußende und schniefte.

Die Tür zur Treppe und zum Bettenaufzug wurde aufgerissen. Eine junge Schwester mit blondem, ultrakurzem Haar platzte herein. Auf den Wangen hatte sie hektische rote Flecken.

»Sind sie schon da?«, sagte sie gehetzt zu Schwester Ellen.

Die ältere Schwester runzelte die Stirn und antwortete schroff:

»Nein.«

Irene fragte sich verwirrt, wer da wohl erwartet wurde, und erhielt schon im nächsten Moment die Antwort. In der Türöffnung hinter der blonden Schwester tauchten zwei Männer in diskreten dunklen Anzügen auf. Zwischen sich hatten sie eine Liege auf Rollen, auf der ein dunkelgrauer Sack mit einem Reißverschluss lag.

Schwester Ellen trat an Doris Peterzén heran und sagte leise:

»Das sind die Herren vom Bestattungsdienst.«

Doris Peterzén zuckte zusammen. Als sie die Männer mit der Bahre sah, wurde ihr Schluchzen lauter. Schwester Ellen legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie durch die Flügeltür nach draußen. Wahrscheinlich nimmt sie die junge Witwe ins Schwesternzimmer mit, dachte Irene. Sie selbst wollte noch etwas bleiben und mit der jungen Intensivschwester sprechen.

Die Leiche von Nils Peterzén wurde auf die Bahre gehoben und in den Sack gelegt. Der Reißverschluss wurde geschlossen, und die Männer verschwanden, wie sie gekommen waren.

Irene ging zu einem der beiden Fenster. Sie führten beide auf den großen Park an der Rückseite der Klinik hinaus. Irene lehnte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Sie sah, wie die Trage durch die Hintertür gerollt wurde und im dunkelgrauen Kombi des Bestattungsdienstes verschwand. Er hatte ein erhöhtes Dach und getönte Scheiben. Das Ganze dauerte weniger als eine Minute. Weder das Personal noch die Patienten der Klinik hatten vermutlich etwas bemerkt.

Irene öffnete die Tür, durch die die Männer des Bestattungsdienstes verschwunden waren. Über der Tür leuchtete ein Schild mit der Aufschrift »Notausgang«. Die Tür war aus Stahl und sehr schwer. Auf beiden Seiten gab es jedoch einen automatischen Türöffner. Irene sah hinaus ins Treppenhaus und stellte fest, dass es sich um einen späteren Anbau handeln musste. Die Jugendstilornamente, die das übrige Krankenhaus auszeichneten, fehlten hier. Die Treppenstufen waren breit und aus Stein. An der cremegelben Wand war ein schlichter Handlauf aus Eisen. Die Treppe wand sich um einen Aufzug. Dieser hatte graue Metalltüren mit kleinen Fenstern und der Aufschrift »Bettenaufzug« in schwarzen Lettern.

Irene schloss die Tür und wandte sich an Schwester Anna-Karin, auf deren Wangen immer noch hektische rote Flecken glühten. Kraftvoll und frenetisch riss sie die Laken aus dem Bett, in dem Nils Peterzén bis vor drei Minuten gelegen hatte. Die Bettwäsche stopfte sie in einen weißen Wäschesack.

Irene räusperte sich und sagte:

»Schwester Anna-Karin, ich würde gerne einige Minuten mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Irene Huss, und ich bin von der Kriminalpolizei. Es geht um den Mord an Ihrer Kollegin Marianne Svärd.«

Die Schwester hielt inne und drehte sich blitzschnell zu Irene um.

»Ich habe keine Zeit! Die ersten Ambulanten kommen gleich!«

»Ambulante … was sind das?«

»Untersuchungen, die ambulant durchgeführt werden. Zwei Koloskopien und eine Gastro. Kommen jede Minute. Und dann haben wir eine Rhinoplastik. Wahnsinn, eine Rhino an so einem Tag.«

Diese junge Dame ist eindeutig nicht mehr Herr ihrer Sinne, dachte Irene. Fahrig und gestresst wirkte sie außerdem. Das war vielleicht nicht weiter erstaunlich, wenn man bedachte, dass ihre Kollegin in der vergangenen Nacht ermordet worden war. Irene sah ein, dass es nicht nur der gewöhnliche Stress war, sondern auch der Schock, der Anna-Karin so hin und her rennen ließ. Sie trat an die Krankenschwester heran und legte ihr behutsam eine Hand auf den Arm.

»Ich muss mich einen Augenblick mit Ihnen unterhalten. Wegen Marianne«, sagte sie ruhig.

Schwester Anna-Karin hielt inne. Sie ließ die Schultern sinken und nickte resigniert.

»Okay. Wir können uns im Empfang hinsetzen.«

Mit einer hastigen Geste zeigte sie Irene, dass sie sich auf den Schreibtischstuhl setzen sollte. Sie selbst nahm auf einem Hocker aus rostfreiem Stahl Platz.

»Ich weiß, dass Sie Anna-Karin heißen, weiß aber weder Ihren Nachnamen noch Ihr Alter«, begann Irene.

»Anna-Karin Arvidsson. Ich bin fünfundzwanzig.«

»Wie lange arbeiten Sie schon in der Löwander-Klinik?«

»Seit anderthalb Jahren.«

»Sie sind fast ebenso alt wie Marianne Svärd und haben auch fast ebenso lange hier gearbeitet. Hatten Sie auch privat viel miteinander zu tun?«

Anna-Karin sah aufrichtig erstaunt aus.

»Überhaupt nicht.«

»Nie?«

»Nein. Doch. Einmal waren wir zusammen unterwegs, zum Tanzen. Marianne, Linda und ich.«

»Wann war das?«

»Vielleicht vor einem Jahr.«

»Und dann sind Sie nie mehr zusammen weggegangen?«

»Nein. Abgesehen von der Weihnachtsfeier. Das ist das Betriebsfest, zu dem wir eingeladen werden, ehe die Klinik über die Feiertage schließt.«

»Kannten Sie Marianne gut?«

»Nein.«

»Was hielten Sie von ihr?«

»Freundlich. Zurückhaltend.«

»Wissen Sie etwas über ihr Privatleben?«

Anna-Karin schien sich mit dem Nachdenken wirklich Mühe zu geben.

»Nur, dass sie geschieden war. Sie ließ sich scheiden, ehe sie bei uns anfing.«

»Wissen Sie etwas über ihren Ex-Mann?«

»Nein. Doch. Er ist Rechtsanwalt.«

»Hat sie Kinder?«

»Nein.«

»Wo hat sie vorher gearbeitet?«

»Im Krankenhaus-Ost. Ebenfalls auf der Intensiv.«

»Wissen Sie, warum sie nach der Scheidung den Arbeitsplatz wechselte?«

Anna-Karin Arvidsson dachte nach und fuhr sich mehrmals mit den Fingern durch ihre hellen Stoppeln.

»Sie hat nie etwas gesagt… Aber ich hatte das Gefühl, dass sie einem Mann aus dem Weg gehen wollte.«

»Wem?«

»Keine Ahnung. Aber das eine Mal, als wir zusammen aus waren, haben wir uns erst zu Hause bei mir getroffen. Wir aßen eine Kleinigkeit und tranken Wein. Ich fragte Marianne, warum sie im Östra aufgehört hätte, und sie antwortete: ›Ich brachte es einfach nicht fertig, ihm jeden Tag zu begegnen und so zu tun, als sei nichts.‹ Aber dann wollte sie nicht weiter darüber reden.«

»Hatten Marianne und diese andere Schwester, Linda, mehr Kontakt zu ihr als Sie und Marianne?«

»Nein. Mit Linda bin ich öfters zusammen.«

»Arbeitet Linda auch hier auf der Intensiv?«

»Nein. Auf der normalen Station.«

»Aber nicht im Moment?«

»Nein. Jetzt arbeitet Ellen vormittags.«

»Wissen Sie, wann Linda das nächste Mal zur Arbeit kommt?«

»Ihre Schicht beginnt nachmittags um zwei.«

Sie wurden dadurch unterbrochen, dass sich die Tür des Bettenaufzugs öffnete und eine Liege mit einem betäubten Patienten herausgerollt wurde. Eine grün gekleidete OP-Schwester mit Papiermütze und Mundschutz sagte gestresst:

»Erste Koloskopie. Die Gastro kommt auch gleich.«

Schwester Anna-Karin sprang von ihrem Hocker hoch. Die beiden Schwestern raschelten mit Papier und standen flüsternd über den schlummernden Patienten gebeugt.

Irene beschloss, nach Schwester Ellen und Doris Peterzén zu suchen.

Die frisch gebackene Witwe saß im Schwesternzimmer kerzengerade auf einem Stuhl und hatte die Hände auf den Knien gefaltet. Den Hut hatte sie abgenommen und auf den Schreibtisch gelegt. Ihren eleganten Mantel trug sie immer noch.

Irene blieb auf der Schwelle zum Schwesternzimmer stehen, unsicher, wie sie die Vernehmung von Doris Peterzén beginnen sollte. Immerhin war ihr Mann gerade gestorben. Andererseits hatte sie noch nicht die Gelegenheit gehabt, mit ihr über die Vorfälle jener Nacht zu sprechen.

Die Betroffene wandte ihr ihr makelloses Profil zu und sagte müde:

»Schwester Ellen wollte einen Patienten nach Hause entlassen oder was auch immer. Sie kommt gleich.«

»Gut. Ich muss mit ihr sprechen. Aber inzwischen kann ich Ihnen vielleicht erzählen, was hier in der Klinik heute Nacht vorgefallen ist?«

Irene wählte ihre Worte mit Bedacht und versuchte behutsam zu sein. Aber Doris Peterzén geriet vollkommen außer sich, als sie vom Mord an Marianne Svärd erfuhr. Sie begann wieder zu weinen, und Irene wusste nicht so recht, was sie machen sollte. Um die anderen Patienten nicht zu beunruhigen, zog sie die Tür zu und setzte sich neben die weinende Frau. Vorsichtig legte sie ihr die Hand auf die Schulter, ohne dass dies eine sichtbar beruhigende Wirkung gehabt hätte.

Schwester Ellen trat ein. Sie warf einen Blick auf Frau Peterzén und sagte:

»Es ist wohl das Beste, wenn ich ein Taxi rufe.«

Irene nickte. Sie beugte sich zu der Frau vor und fragte:

»Soll ich irgendwelche Angehörigen verständigen? Haben Sie Kinder?«

Doris Peterzén schluchzte, aber schließlich gelang es ihr zu antworten:

»Gö … ran. Er ist in… nicht zu Hause. London … er ist in London.«

KAPITEL 4

Den Rest des Vormittags verbrachte die Polizei damit, mit dem Personal zu sprechen, das tagsüber arbeitete. Als alle vernommen waren, beschlossen sie, zum Mittagessen zu gehen. Die Spätschicht würde ohnehin erst um zwei Uhr nachmittags anfangen.

Kommissar Andersson und Irene entdeckten einen Pizzabäcker auf der Virginsgatan. Im Laden stand ein kleiner Tisch, und sie setzten sich, dankbar dafür, dass sie nicht im Auto essen mussten.

Sie bestellten beide Pizza und jeweils ein Leichtbier. Leise sprachen sie darüber, was die Vernehmungen des Vormittags ergeben hatten. Irene fand die Geschichte von Schwester Siv über das Krankenhausgespenst äußerst merkwürdig. Sie hatte keine brauchbare Hypothese, wen oder was die Schwester gesehen haben könnte, meinte jedoch, es sei nicht auszuschließen, dass es sich dabei wirklich um den Mörder gehandelt hatte. Aufgewühlt hatte die alte Schwester in ihrer überdrehten Phantasie die Gestalt mit der alten Gespenstergeschichte in Verbindung gebracht. Das sei am wahrscheinlichsten, meinte Irene.

Ihr Chef nickte und murmelte eine Antwort, den Mund voll von Calzone. Mit Wonne ging er auf seine Pizza los, woraufhin seine Plastikgabel abbrach. Als er sich zur Seite drehte, um den Pizzabäcker hinter dem Tresen um eine neue zu bitten, musste er feststellen, dass ihnen dieser ungeniert zuhörte. Der Kommissar konnte sich gerade noch bremsen, seinem Ärger Luft zu machen. Es war ihre eigene Schuld, die Pizzabäckerei war für solche Diskussionen nicht geeignet. Hochrot stand er auf und starrte den freundlich lächelnden Pizzabäcker finster an.

»Komm!«, sagte er zu Irene, ohne seinen wütenden Blick vom Mann hinter der Theke zu wenden.

Auf dem Weg nach draußen hielt er kurz inne, ging zum Tisch zurück und klaubte das Pizzastück, das übrig geblieben war vom Teller.

Sie fuhren zum Harlanda Tjärn. Irene hatte das Gefühl, dass eine Dosis frische Luft ihre Gedanken klären könnte. Ein Spaziergang würde ihr hoffentlich dabei helfen, die Pizza zu verdauen.

Sie stellten ihren Wagen ab und gingen in die von Raureif bedeckte Natur. Irene stampfte versuchsweise mit dem Fuß auf die steinharte Erde und sagte:

»Das ist wirklich ein Problem mit dieser Kälte. Heute Nacht waren es minus fünfzehn Grad. Die Erde um die Klinik herum ist gefroren, da werden keine Spuren zu finden sein. Und Schnee liegt noch keiner.«

»Das ist wahr. Ich frage mich, ob Malm drinnen irgendwelche Spuren gesichert hat. Er hat versprochen, morgen früh bei der Lagebesprechung aufzutauchen.«

»Vielleicht stößt die Stridner heute Nachmittag bei der Obduktion auf was.«

Anderssons Miene verfinsterte sich, als der Name der Professorin fiel.

»Ich ruf sie an, obwohl ich mir Schöneres vorstellen kann«, seufzte er.

Schweigend gingen sie den zugefrorenen See entlang. Die Sonne schien schwach durch einen dünnen Wolkenschleier, und die Eisdecke des Sees glitzerte. Die Kälte schmerzte an Nase und Wangen. Irene holte tief Luft. Eine Weile lang glückte es ihr tatsächlich, sich vorzustellen, dass die frische und schneidende Luft, die sie in die Lungen bekam, vollkommen sauber war. Fast wie die beim Sommerhaus ihrer Schwiegereltern tief in den Wäldern von Värmland. Doch dann riss sie die Stimme des Kommissars aus ihren Naturträumen.

»Lass uns zurückfahren. Die Spätschicht müsste bald da sein.«

Nur auf der Station und auf der Intensiv gab es eine Spätschicht. Diese arbeitete bis halb zehn, dann übernahmen die Nachtschwestern.

»Arbeitet Siv Persson heute Nacht auch?«, begann der Kommissar.

»Nein. Sie hat sich krankschreiben lassen, ehe sie heute Morgen nach Hause gegangen ist. Wir haben eine Vertretung besorgt. Aber es sieht so aus, als käme meine Ablösung ebenfalls nicht«, sagte Schwester Ellen.

Ihre Stimme klang müde und bekümmert.

»Linda?«, warf Irene ein.

»Ja. Sie hätte um zwei hier sein sollen. Jetzt ist es fast halb drei. Ich habe gerade bei ihr zu Hause angerufen. Da nimmt niemand ab.«

»Wie heißt sie mit Nachnamen?«, wollte Irene wissen.

»Svensson.«

»Hat sie Familie?«

»Ja. Einen Freund. Aber der ist auch nicht zu Hause. Wenn sie nur keinen Unfall hatte. Sie fährt immer Fahrrad.«

»Auch bei minus fünfzehn Grad?«

»Ja.«

»Aha. Dann müssen wir wohl auf Schwester Linda warten. Wir können so lange auf die Intensiv gehen und dort mit der Ablösung sprechen«, schlug Irene ihrem Chef vor.

Schnell sagte der Kommissar:

»Tu du das, dann warte ich auf Schwester Linda. Ich würde gerne einen Moment mit Schwester Ellen sprechen. Ist das in Ordnung?«

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Nattrond« bei Anamma Böcker, Göteborg

Die im Buch zitierten Gedichtzeilen stammen von folgenden Dichtern: S. 308 von Gustaf Fröding aus »Hinauf nach Salem«, S. 308 von Harriet Löwenhjelm, S. 309 von Hjalmar Gullberg aus »Der küssende Wind«, S. 310 von Edith Södergran aus »Wir Frauen« und S. 310 von Hjalmar Gullberg aus »Ich denke daran, mich auf eine lange Reise zu begeben«.

btb Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann

Deutsche Erstveröffentlichung März 2001

Copyright © 1999 by Helene Tursten

Published by agreement with Anamma Böcker AB, Göteborg, represented by Leonhardt & Høier Literary Agency, Copenhagen Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen RK · Herstellung: Augustin Wiesbeck

eISBN 978-3-641-07099-1

www.btb-verlag.de

www.randomhouse.de

Leseprobe