Feuertanz - Helene Tursten - E-Book

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Helene Tursten

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Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 6

Eine mörderische Familie – und eine verteufelt gute Polizistin, die einer Spur in die Vergangenheit folgt...

Als Irene Huss mit der Leiche der jungen Tänzerin Sophie konfrontiert wird, schrillen bei der Kommissarin alle Alarmglocken. Zu sehr erinnert sie dieser Fall an ein anderes Verbrechen, das nie aufgeklärt werden konnte. Der Stiefvater der damals achtjährigen Sophie war auf ganz ähnliche Weise ermordet worden wie nun sie selbst. Damals stand das Mädchen unter dringendem Tatverdacht. Was haben die beiden Fälle miteinander zu tun?

»Tursten tut es wieder! Ein Top-Krimi, top erzählt.« (Bild am Sonntag)

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Seitenzahl: 440

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Buch

Eine mörderische Familie?

Als Irene Huss mit der Leiche der jungen Tänzerin Sophie konfrontiert wird, schrillen bei der Kriminalinspektorin die Alarmglocken. Zu sehr erinnert dieser Fall an ein anderes Verbrechen, das nie aufgeklärt werden konnte. Der Stiefvater der damals achtjährigen Sophie war auf ganz ähnliche Weise ermordet worden. Was haben die beiden Fälle miteinander zu tun? Sind die Malmborgs einfach vom Pech verfolgt? Viel eher scheint es sich um eine wahrhaft mörderische Familie zu handeln. Sophies Bruder, der Tänzer ist, scheint etwas zu verbergen. Geht es um eine von Sophies Choreografien? Und wieso ist die Mutter der Toten so gelassen? Irene Huss sucht verbissen nach der Lösung des Rätsels. Aber noch ein weiteres Unglück muss geschehen, ehe die Inspektorin auf der richtigen Spur ist . . .

Autorin

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Mit ihren Kriminalromanen um Inspektorin Irene Huss begeisterte sie Schwedens Kritiker und Publikum auf Anhieb und schrieb sich auch in Deutschland in die Herzen der Krimileser und -leserinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin wurde jetzt erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Ex-Polizisten.

Helene Tursten

Feuertanz

Roman

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Eldsdansen« bei AlfabetaAnamma, Stockholm.

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Helene Tursten, published by agreement with Alfabeta Bokförlag, Stockholm and Leonhardt & Høier Literary Agency, Copenhagen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: LW

ISBN 978-3-641-06648-2V003

www.btb-verlag.de

Für meine Nichten Karin, Sara und Lisa

Prolog

Das Stimmengewirr und die Wärme der vielen Menschen stiegen an die Decke und legten sich zusammen mit dem Rauch der Zigaretten wie schwerer Nebel um die Kronleuchter. An der langen Bar herrschte Gedränge. Es war nicht einfach, vom gestressten Barmann wahrgenommen zu werden. Die Stimmung war ausgelassen, fast überdreht, wie immer in der Bar des Park Aveny Hotels in Göteborg zum Zeitpunkt der jährlichen Buch-und Bibliotheksmesse. Einige Gäste ließen bereits eine gewisse Müdigkeit erkennen. Ein paar bekannte und weniger bekannte Kulturpersönlichkeiten hingen am Tresen oder zusammengesunken in einem Clubsessel und dösten.

Die Drehtür war unentwegt in Bewegung. Zwischen der Bar und den Grüppchen an den Tischen herrschte reger Verkehr. Jeder behielt die Tür im Auge – für den Fall, dass eine richtige Berühmtheit hereinkommen sollte (was nicht ausgeschlossen war, denn die meisten Promis wohnten in diesem Hotel), aber meist waren es nur Verlagsleute oder Bibliothekare sowie angesäuselte Dichter und Schriftsteller.

Deswegen konnten sich später auch viele an den Moment erinnern, als sie durch die Drehtür in die Lobby kam und dann stehen blieb. Selbst wenn der übrige Abend verschwommen war – oder in gewissen Fällen gänzlich weg –, registrierten viele Menschen ihren Auftritt. Sie hatte etwas an sich, was weit über gutes Aussehen hinausging. Mehrere Zeugen sprachen später von »Ausstrahlung« und »Aura«.

Sie war groß gewachsen und schlank, trug einen schwarzen Minirock, der nur knapp über den Po ging, und knallrosa glänzende Strumpfhosen. Ihre schwarzen, gestrickten Stulpen waren bis zu den flachen Schuhen hinuntergerutscht. Trotz der niedrigen Absätze wirkten ihre Beine aufsehenerregend lang. Über dem dünnen rosa T-Shirt, das ihre kleinen, spitzen Brüste eher noch betonte als verbarg, trug sie eine kurze, schwarze, mit Nieten übersäte Lederjacke. Sie war ausgesprochen auffallend gekleidet, aber trotzdem war es ihr bleiches Gesicht, das alle Blicke auf sich zog. Es war herzförmig mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen, einem Mund wie zum Küssen gemacht. Der gespannte Zug um ihre Lippen gab jedoch deutlich zu erkennen, dass jeglicher Versuch sinnlos wäre, und ihre Augen verstärkten diesen Eindruck noch. Sie waren leicht mandelförmig mit langen, dichten Wimpern, und sie hatte sie mit Hilfe eines kräftigen schwarzen Eyeliners betont.

Ihre braunen Augen ließen keinerlei Gefühle erkennen. »Die endlose Tiefe ihrer dunklen Augen führte geradewegs zum Eiskeller ihrer Seele«, umschrieb es später ein verkaterter Poet beim Verhör.

Sie drehte ihren Kopf in alle Richtungen und sah sich im Gewimmel um. Schließlich entdeckte sie das gesuchte Gesicht und begann sich zielbewusst ihren Weg zu einem Tisch ganz hinten im Lokal zu bahnen. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und grazil.

Ein Mann, der mit dem Rücken zu ihr gestanden hatte, als sie hereingekommen war, ließ einen Moment lang sein beschlagenes Bierglas los, als sie an ihm vorbeiging. Er blies sich auf die Hand und bewegte die Finger, als sei ihm plötzlich kalt geworden. Ein stockbesoffener Kinderbuchautor zog sich umständlich sein fleckiges Jackett an und schwafelte etwas über die Kälte von der Drehtür. Tatsächlich gelang es der jungen Frau ohne größere Mühe, die dichte Menge zu durchschreiten. Bewusst oder unbewusst wichen alle zur Seite.

Als sie den Tisch erreicht hatte, blieb sie stehen und betrachtete schweigend die lärmende Gesellschaft. Nach und nach bemerkten die schwarz gekleideten jungen Männer und Frauen ihre Anwesenheit, verstummten und sahen sie fragend an. Nur einer schien sie nicht zu bemerken, sondern sang unverdrossen weiter:

»Poeira, poeira, poeira. Levantou poeira.«

Seine Stimme klang tief und angenehm, was ganz seiner Erscheinung entsprach, die sich von der schwarzen Uniformität seiner Freunde unterschied. Ein leuchtend rotes, enges T-Shirt brachte seinen durchtrainierten Oberkörper zur Geltung, und um seine schmalen Hüften schmiegten sich enge Jeans. Eine breite Goldkette funkelte auf seiner milchkaffeefarbenen Haut. Mehrere kleine Goldringe in seinen Ohrläppchen glänzten mit seinen Zähnen um die Wette. Sie sahen sehr weiß aus in dem sonnengebräunten Gesicht.

Nachdem er sein Lied beendet hatte, betrachtete er gelassen die schweigende Frau, die vor ihm stand, während gleichzeitig ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht glitt.

»Olá!«, rief er fröhlich.

Mit einer einladenden Handbewegung bedeutete er ihr, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.

Eine verlebte Blondine mit geschwärzten Lidern und schwarzem Lippenstift warf dem Neuankömmling einen missmutigen Blick zu. Anschließend erhob sie sich von ihrem Stuhl, um sich auf unsicheren Beinen einen Weg zu den Toiletten zu bahnen.

Die schweigende Frau setzte sich steif auf den freien Stuhl und blickte den Schwarzhaarigen unverwandt an. Dieser schien ihre eisige Ausstrahlung gar nicht zu bemerken. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Widerwillig ließ sie sich von ihm an sich ziehen. Ihr Gesicht und ihr Körper verloren etwas von seiner Anspannung. Einer der jungen Männer deklamierte lautstark ein Gedicht, das stark vom Poetry Slam beeinflusst war. Die Dunkeläugige saß da und betrachtete ihn. Obwohl sie das Gedicht nicht zu verstehen schien, applaudierte sie höflich, als sein Vortrag zu Ende war. Sie lächelte sogar über einen Scherz des schwarz gekleideten Poeten.

 

Ein Wachmann in dunklem Anzug machte die Runde und teilte den verbliebenen Gästen mit, es sei Feierabend. Der Gruppe am Tisch ganz hinten im Lokal hatten sich inzwischen einige ältere Menschen angeschlossen. Ein großer Mann mit weißem Kurzhaarschnitt schien der Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein. Er war doppelt so alt wie die meisten der jungen Leute hier, war aber ein bekannter Schriftsteller und kannte offenbar jemanden aus der Clique. Die Blondine mit dem verschmierten schwarzen Make-up kehrte von einem auffallend langen Toilettenbesuch zurück.

»Wir gehen hoch zu mir und machen da weiter. Ich habe eine Suite im obersten Stockwerk«, lallte der weißhaarige Autor.

Die Gesellschaft erhob sich und steuerte die Fahrstühle an. Als sich die Lifttüren öffneten, drängten alle lärmend und lachend in den Aufzug. Alle, mit Ausnahme der Frau im Minirock und den rosa Strumpfhosen.

»Ich geh zu Fuß«, sagte sie.

Das waren ihre ersten Worte an diesem Abend. Die anderen versuchten sie mit Zurufen in den bereits überfüllten Fahrstuhl zu locken. Davon unbeeindruckt ging sie auf die breite Treppe zu. Der Wachmann ließ sie vorbei, er wusste ja, dass sie zur Gesellschaft des Schriftstellers gehörte. Das Letzte, was sie von ihr sahen, ehe sich die Aufzugtüren schlossen, war das Licht der Kronleuchter, das sich in ihrem kurz geschnittenen Haar widerspiegelte.

Erster Teil 1989 – 1990

Kapitel 1

Sie musste dringend aufs Klo, versuchte aber nicht daran zu denken. Sie radelte so schnell sie konnte, um rechtzeitig den kleinen Laden zu erreichen. Tessans Mutter würde nicht warten, das war nicht ihre Art. Kam man nicht pünktlich, nahm sie einen nicht zum Training mit. Sie war aber darauf angewiesen, denn sonst schaffte sie es zeitlich nicht. Mit dem Bus dauerte es mehr als doppelt so lang. Die Trainingsstunde wäre vorbei, bevor sie dort eingetroffen wäre. Es hatte keinen Sinn, diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen.

Ihr Fahrrad war fast neu, und sie trat mit aller Macht in die Pedale. Der schmale, unbefestigte und unbeleuchtete Weg erstreckte sich dunkel vor ihr, was keine Rolle spielte, denn sie kannte hier jeden Stein. Sie war hier unzählige Male entlanggefahren. Das dichte Gebüsch beidseits des Weges war allerdings furchteinflößend. Mama hatte sie vor bösen Männern gewarnt. Wenn jetzt hinter einem der Büsche ein böser Mann stand?

Böse Männer – böse Männer – böse Männer – böse Männer… diese zwei Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf, während sie mit mechanischer Regelmäßigkeit in die Pedale trat.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie, als sie die Laternen der großen Straße sah. Sie musste anhalten, um einige Autos vorbeizulassen, stieg von ihrem Fahrrad und schaute auf die erleuchtete Fassade des Lebensmittelladens auf der anderen Seite. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das rote Auto von Tessans Mutter auf dem Parkplatz vor dem Laden entdeckte. Rasch schwang sie sich wieder auf den Sattel. Beinahe wäre sie von einem Lastwagen überfahren worden, als sie die Straße überquerte. Ganz knapp kam sie vorbei. Der Laster bremste hupend und laut quietschend ab. Atemlos blieb sie vor dem roten Audi stehen und warf ihr Fahrrad in die Büsche. Mit steifen Fingern öffnete sie eine der hinteren Türen und warf sich auf die Rückbank. Tessan saß wie immer auf dem Beifahrersitz neben ihrer Mutter.

»Aber Sophie! Das hätte ins Auge gehen können! Der Laster hätte dich fast überfahren! Außerdem solltest du dein Fahrrad abschließen!«

Das Herz pochte Sophie bis zum Hals. Sie hörte gar nicht, was Tessans Mutter sagte. Keuchend saß sie da und rang nach Luft.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du musst dein Rad abschließen«, sagte Tessans Mutter.

Ihre Stimme klang streng und verärgert wie meistens, aber normalerweise versuchte sie ihre schlechte Laune mit freundlichen Worten zu kaschieren. Sophie stieg aus dem Auto und zog ihr Fahrrad aus dem Gebüsch. Rasch schob sie es zu dem Fahrradständer vor dem Laden, schloss es ab und rannte zurück zum Auto.

Fahr endlich – fahr endlich – fahr endlich – fahr endlich… begann es in ihr.

Erst als das Auto rollte und auf die Landstraße einbog, wagte sie es, sich zurückzulehnen und aufzuatmen.

Geschafft – geschafft – geschafft – geschafft…

 

Ein eisiger Wind wehte vom Meer. Die Kälte biss ihr in Ohren und Finger, als sie einige Stunden später den unbefestigten Weg zurückradelte. In der Eile hatte sie natürlich sowohl Mütze als auch Handschuhe vergessen.

Bereits von weitem erblickte sie die rotierenden Blaulichter in der Dunkelheit. Im Scheinwerferlicht bewegten sich Menschen. Ein Stück weiter hoben sich dunkle Silhouetten vor einem roten Schein ab, der die schwarze Dunkelheit erhellte.

Plötzlich wurden ihre Beine ganz kraftlos. Sie schaffte die letzten hundert Meter nicht mehr. Sie wollte nicht… wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht — wollte nicht…

 

»Wir haben das Mädchen am Wegrand gefunden. Wahrscheinlich ist sie vom Fahrrad gefallen. Es lag neben ihr im Graben. Wir kamen von der Brandstelle, unsere Arbeit war erledigt, und da sahen wir sie plötzlich im Scheinwerferlicht sitzen. Seltsam, dass der Krankenwagen sie nicht gesehen hat.«

»Hat sie was gesagt?«

»Nein. Sie hat uns nur angestarrt.«

»Stand sie unter Schock?«

»Ganz offensichtlich. Wir haben sie ins Östliche Krankenhaus gefahren. Ihr kleiner Bruder und ihre Mutter waren bereits auf dem Weg dorthin.«

»Hast du im Auto mit ihr geredet?«

»Nein. Ich habe sie in eine Decke gewickelt und mich zu ihr auf die Rückbank gesetzt. Ich habe versucht, sie zu beruhigen… aber sie hat nichts gesagt. Das war merkwürdig.«

»Was meinst du?«

»Tja… dass sie überhaupt nichts gesagt hat. Dass sie nicht nach ihrer Mutter oder ihrem Bruder gefragt hat. Sie hat auch nicht geweint.«

»Sie starrte nur?«

»Genau.«

Kommissar Sven Andersson betrachtete seine neue Inspektorin nachdenklich. Sie gehörte erst seit einem knappen Monat zu seinem Dezernat. Er unternahm nichts, um seinen Ärger darüber zu verbergen, dass man ihm eine Frau zugeteilt hatte. Zwei kleine Kinder hatte sie außerdem, das gefiel ihm nicht. Der Kommissar seufzte laut, und seine frischgebackene Kriminalinspektorin warf ihm einen fragenden Blick zu.

Irene Huss hatte große Achtung vor ihrem neuen Chef, der den Ruf genoss, ein richtig guter Polizist, dafür aber etwas unwirsch zu sein. Es war bekannt, dass ihm oft der Kragen platzte. In den ersten Tagen war sie noch etwas nervös gewesen, hatte sich dann aber zusehends entspannt. Wenn sie ihre Arbeit nur gewissenhaft machte, würde er seine Einstellung schon noch ändern. Außerdem waren Ermittlerinnen bei der Polizei auch nichts so Seltenes mehr.

»Es ist jetzt fast drei Monate her, seit ihr dieses Mädel auf dem Weg gefunden habt, und nach wie vor starrt sie nur vor sich hin und schweigt.«

Ohne es zu merken, hatte er seine Stimme erhoben. Die Entrüstung war ihm deutlich anzuhören. Vielleicht handelte es sich ja auch eher um Frustration. Irene wusste, dass er keine Kinder hatte.

Sie zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber, da ihr keine passende Erwiderung einfiel. Mit dem Brand in Björlanda hatte sie nur insofern zu tun gehabt, als ihr Kollege Håkan Lund und sie die erste Streife vor Ort gewesen waren. Das Wenige, was sie über die Ermittlung wusste, hatte sie aus den Zeitungen.

»Hasse und ich haben versucht, sie zum Reden zu bringen, aber es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen! Sie sitzt einfach nur da und schweigt und schaut einen mit ihren großen braunen Augen an!«

»Kann sie überhaupt sprechen? Ich meine… sie ist doch nicht etwa stumm oder so was?«

»Nein. Sie kann sprechen. Aber offenbar war sie immer sehr verschlossen. Also schon vor dem Feuer.«

»Wie alt ist sie?«

Andersson sah sie lange an, ehe er antwortete:

»Das kannst du in den Akten nachlesen. Nur zu! Du übernimmst die Verhöre von Sophie Malmborg.«

Er erhob sich und schob eine dicke Mappe über den Schreibtisch. Ratlos sah Irene erst ihren Chef und dann die Mappe an.

»Aber warum ich…? Wenn sie nicht mit dir oder Hans reden will…«

»Damit hast du deine Frage schon selbst beantwortet. Sie will nicht mit uns reden. Warum? Vielleicht weil wir Männer sind. Das vermuten zumindest die Seelenklempner. Deswegen versuchen wir’s jetzt mal mit dir, weil du eine Frau bist. Außerdem hast du selbst Kinder.«

Irene fühlte sich ganz schwach. Das hier war ein großer Fall, den man plötzlich auf sie abwälzte. Ein Mann war im Feuer umgekommen, und es gab noch jede Menge offener Fragen. Vieles deutete darauf hin, dass Sophie möglicherweise wichtige Informationen besaß. Und vielleicht sogar mehr…

»Oder meinst du, dass du damit nicht klarkommst?«, setzte Andersson nach.

In seinem spöttischen Tonfall schwang eine deutliche Drohung mit. »Kommst du mit solchen Aufgaben nicht klar, dann hast du hier beim Dezernat nichts zu suchen«, lautete die unausgesprochene, aber doch deutlich vernehmbare Warnung.

Sie spürte einen eisigen Kloß im Magen, dann überlief es sie siedendheiß. Sie zwang sich dazu, seinen Blick zu erwidern, und antwortete mit fester Stimme:

»Ich spreche mit ihr.«

»Gut. Sie kommt morgen.«

 

Irene saß an ihrem Schreibtisch in dem Büro, das sie sich mit Tommy Persson teilte. Er hatte im letzten Jahr bei der Kripo angefangen und sie dazu überredet, sich ebenfalls dort zu bewerben. Sie hatten sich an der Polizeihochschule in Stockholm kennen gelernt und waren gute Freunde geworden. Anfangs hatte das möglicherweise daran gelegen, dass sie die einzigen Göteborger in ihrer Klasse waren. Ihr Freund, Krister, hatte Tommy gegenüber ein gewisses Misstrauen gehegt. Inzwischen waren sie die besten Kumpel, und Tommy war Kristers Trauzeuge bei der jetzt bald fünf Jahre zurückliegenden Hochzeit gewesen. Irene war damals im siebten Monat schwanger gewesen und fand immer noch, dass sie auf den Hochzeitsfotos aussah wie der Panzerkreuzer Potemkin.

Mit ihren vierundzwanzig war sie den Zwillingen eine recht junge Mutter gewesen. Ihre Eltern waren bei ihrer Geburt sehr viel älter gewesen, ihre Mutter Gerd sechsunddreißig und ihr Vater Börje fünfundvierzig, interessanterweise hatte zwischen ihnen derselbe Altersunterschied bestanden wie zwischen ihr und Krister.

»Aha, hier sitzt du rum und träumst!«

Irene wurde von Tommys munterem Tonfall aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte nicht gehört, wie er die Tür geöffnet hatte. Jetzt kam er mit einem breiten Grinsen herein.

»Martin sagt Papa! Um genau zu sein… Pa-pa-pa-pa-pa. Und das fast genau an seinem ersten Geburtstag! Frühreif, eben ganz der Vater.«

Er strahlte vor Stolz. Martin war das erste Kind von Agneta und ihm, und Irene war die Patentante des Jungen. Sie musste lächeln.

»Toll. Besser gesagt, herzlichen Glückwunsch. Sei froh, solange er nur Pa-pa sagt. Wenn er erst einmal sprechen gelernt hat, wirst du dich in diese Zeit zurücksehnen. Heute Morgen wäre ich fast zu spät gekommen, weil mir Jenny im Kindergarten eine Szene gemacht hat.«

»Wollte sie nicht dableiben?«

»Doch, schon, aber sie wollte, dass ich ihr erst einen Tiger verspreche.«

»Den Tiger, den sie im Garten halten will?«

»Genau. Dieser Gedanke lässt sie nicht los.«

Krister und Irene waren an einem schönen Augustsonntag mit den Zwillingen in Borås im Zoo gewesen. Jenny und Katarina waren herumgerannt und hatten sich alle Tiere angesehen. Bei jedem Tier, das sie noch nicht kannten, waren sie vollkommen außer sich gewesen. Katarina hatten die Affen am besten gefallen, während sich Jenny über beide Ohren in die Tiger verliebt hatte. So einen wollte sie haben. Wenn man den Garten ihres Reihenhauses nur hoch genug einzäunte, bestand auch nicht die Gefahr, dass er entkommen würde. Das Argument, dass Tiger gefährlich seien und sicher gerne auch mal an den Bewohnern des Reihenhauses kauten, kümmerte Jenny nicht. Sie wollte einen ganz jungen Tiger aufnehmen, der dann zum liebsten Tiger der Welt heranwachsen würde. Und Fleisch würde er sowieso keines fressen! Zielstrebig hortete sie ihr Geld und verwahrte es in der Spardose, einem roten Plastikschwein. Jenny nannte es ihr Tigerschwein. Ihre gesamten Ersparnisse wollte sie für den Tiger opfern. Am vergangenen Wochenende hatte sie Irene gezwungen, die Sparbüchse zu öffnen, um das Geld zu zählen. Nach einigen Versuchen war es Irene gelungen, den Schraubverschluss am Bauch des Schweins zu öffnen. Langsam zählte Jenny zweiunddreißig Kronen fünfzig. Dann schaute sie sie mit großen Augen an und fragte atemlos:

»Reicht das?«

»Nein. Ein Tiger ist recht teuer. Aber spar du nur weiter, vielleicht reicht es für einen Tiger in, sagen wir mal, zwei Jahren. Oder du kaufst dir dann etwas anderes, das du gerne haben möchtest.«

»Ein Barbiehaus!«, schlug Katarina rasch vor.

»Nee. Einen Tiger!«, erwiderte Jenny mit Nachdruck. Katarina liebte es, mit ihrer Barbiepuppe zu spielen. Stundenlang konnte sie das lange Haar der Puppe kämmen und sie an- und ausziehen. Ihre Schwester interessierte sich überhaupt nicht für Puppen, sondern zog es vor, singend vor dem Spiegel Seil zu hüpfen. Jennys großes Idol war die Sängerin Carola.

»Mittlerweile ist sie so groß, dass sie allmählich einsieht, dass sie das Geld für einen Tiger wohl kaum jemals zusammenkriegt. Heute früh hat sie daher versucht, so lange zu brüllen, bis sie einen bekommt. Das war ganz schön übel. Alle Kindergärtnerinnen kamen angelaufen und glaubten wohl, ich hätte das arme Kind misshandelt«, seufzte Irene.

»Wie ich Jenny kenne, wird sie das mit dem Tiger schon noch hinkriegen«, erwiderte Tommy lachend.

»Bestimmt. Apropos Kinder, Andersson hat mich beauftragt, die Verhöre von Sophie Malmborg zu übernehmen.«

Tommys Lächeln verschwand, und seine Stimme klang bedrückt, während er sagte:

»Das ist ein unheimlicher Fall. Weshalb hast du ihn bekommen? «

»Tja… zum einen weigert sie sich, mit Andersson und Borg zu sprechen, zum anderen bin ich ihr schließlich bereits einmal begegnet. Unmittelbar nachdem es passiert ist. Außerdem habe ich selbst Kinder.«

»Aber die Zwillinge sind doch erst vier. Sophie ist elf«, wandte Tommy ein.

»Stimmt. Aber Kinder sind Kinder, meint der Chef.«

»Verstehe. Kinder sind nicht gerade sein Ding«, befand Tommy lächelnd.

 

Irene verbrachte den Rest des Arbeitstages damit, die umfangreiche Akte zu studieren, die ihr der Kommissar gegeben hatte. Auch noch eine Stunde nach ihrem offiziellen Feierabend saß sie da. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, denn ihre Mutter hatte die Zwillinge bereits um drei vom Kindergarten abgeholt. Sicher hatten sie mit ihrer Großmutter bis fünf Uhr ihren Spaß gehabt, dann war Krister von der Arbeit nach Hause gekommen. Er arbeitete Teilzeit in einem Gourmetrestaurant an der Avenyn. Er war überglücklich, den Job bekommen zu haben, obwohl er beim Vorstellungsgespräch gesagt hatte, dass er nur dreißig Stunden in der Woche arbeiten könnte. Der Besitzer war zwar erst etwas erstaunt gewesen und hatte versucht, Krister zu einer vollen Stelle zu überreden. Aber Krister hatte gemeint: »Meine Frau ist Polizistin. Nach Neujahr fängt sie als Kriminalinspektorin beim Dezernat für Gewaltverbrechen an. Dort gibt es keine Teilzeitstellen, also muss ich der Mädchen wegen weniger arbeiten.«

Danach hatte der Besitzer eingelenkt und ihn als Teilzeitkoch eingestellt.

 

Am Montag, dem 6. November 1989, hatte Sophie Malmborg wie immer nachmittags den Schulbus nach Hause genommen. Sie hatte es eilig gehabt, da ihre Ballettstunde um 17.15 Uhr begann. Die Mutter einer Freundin wollte beide zum Haus des Tanzes mitnehmen. Die Freundin hieß Terese Olsén und ihre Mutter Maria Olsén.

Der Schulbus hatte gegen 15.35 Uhr vor dem Lebensmittelladen gehalten. Der Busfahrer hatte Sophie zum Fahrradständer vor dem Laden gehen und ihr Rad aufschließen sehen. Vom Laden aus musste sie einen guten Kilometer weit auf einem schmalen, unbefestigten Weg radeln. Das hatte maximal zehn Minuten gedauert, wahrscheinlich weniger. Laut ihrer Mutter Angelica Malmborg-Eriksson aß sie immer rasch ein paar Butterbrote und trank dazu ein Glas Milch. Dann radelte sie mit ihrer bereits gepackten Tasche für den Ballettunterricht zurück zum Lebensmittelladen. Dort wartete Maria Olsén auf das Mädchen. Wie jeden Montag im vergangenen Jahr.

Laut Maria Olséns Aussage war Sophie Malmborg in rasendem Tempo angeradelt gekommen und mit einer geringen Verspätung eingetroffen, was ungewöhnlich war, da Sophie sonst immer zu früh war und bereits vor dem Laden auf sie wartete.

Trafen die Angaben des Schulbusfahrers zu, so war Sophie spätestens um 15.45 Uhr zu Hause gewesen. Um den Laden rechtzeitig zu erreichen, hätte sie von dort gegen 16.20 Uhr oder – wenn man ihre Verspätung berücksichtigte – vielleicht eher um 16.25 Uhr wieder aufbrechen müssen. Was hatte sich zu Hause ereignet? Niemand wusste es. Niemand außer Sophie.

Nach dem Ballett gegen acht hatte Sophies Mutter Angelica Malmborg-Eriksson die beiden Mädchen abgeholt. Die beiden tanzten in der gleichen Gruppe im Haus des Tanzes klassisches Ballett. Erst waren sie bei Terese Olsén vorbeigefahren und hatten diese abgesetzt, dann waren Sophie und Angelica weitergefahren. Sophie war beim Lebensmittelladen ausgestiegen, um mit ihrem Fahrrad nach Hause zu radeln. Es passte nicht in den Kofferraum des Golfs. Deswegen war Angelica Malmborg-Eriksson allein mit dem Auto bei ihrem Zuhause oder dem, was davon noch übrig war, eingetroffen.

Irene unterbrach ihre Lektüre und lehnte sich zurück. Sie erinnerte sich, dass der klapprige Golf neben dem Streifenwagen abgebremst hatte. Angelica Malmborg-Eriksson war ausgestiegen, noch ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war.

»Frej! Wo ist Frej?«, hatte sie entsetzt geschrien.

Ein kleiner Junge kletterte aus einem alten Saab Kombi, der kurz nach Angelica eingetroffen war. Er wirkte nicht ganz sicher auf den Beinen und packte die Hand der großen Frau, die am Steuer gesessen hatte. Es war, als benötigte er ihren Halt. Womöglich hatten ihn das Chaos und die Verwüstung der Brandstätte erschreckt, vielleicht wollte er auch nichts als weg. Der schwere, stechende Brandgeruch hätte wirklich jeden in die Flucht geschlagen. Gemeinsam gingen der Junge und die Frau dann auf die hysterische Angelica zu. Nachdem diese den Jungen entdeckt hatte, rannte sie unter Lachen und Weinen auf ihn zu. Sie presste ihn an sich, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Die Frau, die ihn hergebracht hatte, wandte sich an einen der Feuerwehrleute und fragte ihn etwas. Der Mann schüttelte den Kopf und machte eine bedauernde Geste. Mit verbissener Miene kehrte sie zu der Gruppe zurück, zu der sich nun auch Irene und Håkan Lund gesellt hatten. Mit rauer Stimme sagte die Frau: »Sie waren noch nicht drinnen. Als die Feuerwehr eingetroffen ist, hat es schon lichterloh gebrannt. Sie wissen also nicht…« Sie schwieg und warf einen Blick auf den Jungen. Håkan Lund nahm sie beim Arm und zog sie sanft, aber energisch ein Stück weg. »Ist es möglich, dass sich noch jemand im Haus befindet?«, fragte er. Sie biss auf ihre Unterlippe und meinte dann: »Mein Bruder. Magnus Eriksson. Frejs Vater.« Irene betrachtete das flammende Inferno, in das sich das Haus verwandelt hatte. Falls jemand im Haus gewesen sein sollte, war nicht mehr viel übrig von ihm.

Zwei Tage später stießen die Ermittler der Feuerwehr auf Teile eines Skeletts. Mit Hilfe des Unterkiefers, der fast noch intakt war, hatte der Gerichtsmediziner feststellen können, dass die Knochen von Magnus Eriksson stammten.

 

Angelica Malmborg-Eriksson war Ballettlehrerin im Haus des Tanzes, unterrichtete aber auch an der Hochschule für Tanz, die Berufstänzer und Choreographen ausbildete. Die Schule lag in Högsbo in einem Schulhaus aus den fünfziger Jahren. Vom Haus des Tanzes bis zum Haus der Malmborg-Erikssons in Björkil waren es fast fünfundzwanzig Kilometer. Da der öffentliche Nahverkehr in Göteborg zu wünschen übrig ließ, mussten Sophie und Tessan zu ihren Ballettstunden gefahren werden. Diese Angaben fanden sich in den Protokollen der ersten Verhöre.

Dort stand auch, dass Sophie von frühester Kindheit an getanzt hatte. Laut ihrer Mutter hatte sie getanzt, noch bevor sie laufen konnte.

Alles, was über Sophie in den Akten zu finden war, hatten sie von ihrer Mutter erfahren, da Sophie selber mit den Ermittlern nach dem Brand kein Wort gesprochen hatte. Die Mutter beteuerte, dass Sophie auch mit ihr kaum geredet habe. Das Mädchen blieb stumm und betrachtete die Welt mit ernstem Blick. Offenbar hatte sie jedoch mit ihrem Vater, dem Komponisten Ernst Malmborg, gesprochen. Verzweifelt berichtete Angelica Malmborg-Eriksson dem allmählich recht resignierten Kommissar Andersson, das Mädchen habe sich nach ihrem letzten Besuch beim Vater geweigert, wieder zu ihr zu kommen. Da das Haus in Björkil vollständig abgebrannt war, hatte das Sozialamt Angelica und ihren zwei Kindern eine Wohnung zugewiesen. Ihr gesamtes Hab und Gut war von den Flammen vernichtet worden. Nur ein alter Gartentisch, mit dem sie in der vierten Etage eines Hochhauses in Biskopsgården jedoch nichts anfangen konnten, hatte im Freien das Feuer überstanden. Sophie weigerte sich, bei der Mutter zu wohnen. Äußerst widerstrebend hatte Angelica schließlich erlaubt, dass ihre Tochter beim Vater blieb, »bis das Schlimmste vorbei ist«.

Irene suchte nach dem Datum dieser Eintragung. Sie stammte von kurz vor Weihnachten.

War das Schlimmste inzwischen vorüber? Warum konnten Angelica und die Kinder nach dem Brand nicht bei Magnus Erikssons Schwester wohnen? Sie und der kleine Frej schienen ja ein gutes Verhältnis zu haben. Irene blätterte alle Papiere durch, die in der Mappe lagen, fand aber nirgendwo einen Hinweis auf ein Verhör mit der Schwester. Vage erinnerte sie sich daran, dass die Frau sich vorgestellt hatte. Wie war noch einmal ihr Name gewesen? Das würde sie morgen herausbekommen, und zwar nach dem Treffen mit Sophie, das für neun Uhr angesetzt war.

Ganz hinten in der Mappe fanden sich drei kurze Berichte. Der erste handelte vom Brand eines Heuhaufens im April 1989. Der Besitzer eines Reitstalls hatte das verrottete Heu des Vorjahres auf einen Acker hinter dem Stall gebracht, um es dort später zu verbrennen. Gegen neun Uhr abends hatte bei ihm das Telefon geklingelt. Es war der Nachbar, der berichtete, das Heu stehe in Flammen. Er könne es von seinem Küchenfenster aus sehen. Der Reitstallbesitzer und seine Frau waren zum Stall geeilt und hatten die Wände mit Wasser bespritzt. Als die Feuerwehr eintraf, war der Brand unter Kontrolle gewesen und hatte rasch gelöscht werden können.

Die Ermittlung der Brandursache hatte Brandstiftung ergeben. In der Nähe waren zwei leere Spiritusflaschen gefunden worden. Leider hatten sie nahe am Feuer gelegen und waren teilweise geschmolzen, sodass man keine Fingerabdrücke hatte sichern können.

Kurz vor Ausbruch des Brandes war eine Person auf einem Fahrrad in der Nähe gesehen worden. Diese Aussage stammte von dem Nachbarn, der auch den Brand entdeckt hatte. Er war schon älter und sah nicht mehr gut, aber er war sich ganz sicher, eine Person mit Fahrrad vor dem Stall bemerkt zu haben. Leider konnte er sie nicht näher beschreiben. Er wusste auch nicht, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte. Klar war seinen Angaben nach nur, dass die betreffende Person auf dem Fahrrad lange, dunkle Hosen und einen dunklen, langärmligen Pullover oder eine langärmlige Jacke getragen hatte.

Der andere Bericht galt einem viel schwerwiegenderen Brand. Er war Anfang September 1989 in einem Sommerhaus in Hovdalen ausgebrochen. Das Haus lag abgeschieden, und es hatte eine Weile gedauert, bis das Feuer von einem Paar, das einen Spaziergang mit seinen zwei Hunden gemacht hatte, entdeckt worden war. Das Haus war vollständig abgebrannt. Die Spurensicherung hatte schnell entdeckt, dass es sich um Brandstiftung handelte. Teppiche, Bettzeug und andere Textilien waren in der Mitte des Hauses aufgetürmt und angezündet worden. Die chemische Analyse hatte ergeben, dass der Täter Brennspiritus verwendet hatte.

In den Zeitungen war in großen Lettern vom »Pyromanen von Björlanda« die Rede gewesen, und die Bevölkerung hatte weitere Brandanschläge befürchtet. Aber bis November, als das Haus in Björkil abgebrannt war und Magnus Eriksson in den Flammen umkam, war es ruhig gewesen.

Der letzte Bericht handelte von einer Person, die im Bett geraucht hatte, und stammte vom 25. Dezember 1988, 19.47 Uhr. Eine hysterische Frau hatte die Feuerwehr zum Haus von Familie Malmborg-Eriksson gerufen. Laut Notrufzentrale hatte sie geschrien: »Es brennt! Es brennt!«

Als der Krankenwagen und die Feuerwehr eintrafen, war das Feuer bereits gelöscht. Magnus Eriksson hatte eine hässliche Brandverletzung an der rechten Hand und am rechten Unterarm davongetragen, war aber im Übrigen unverletzt. Laut Bericht war er sehr betrunken. Seine Frau war auch nicht nüchtern gewesen. Ihr siebenjähriger Sohn hatte sich ebenfalls im Haus befunden.

Man brachte Magnus Eriksson ins Krankenhaus, um seinen Arm zu versorgen. Seine Frau Angelica Malmborg-Eriksson erklärte, ihr Mann sei müde gewesen und nach oben gegangen, um sich hinzulegen. Als sie etwas später ins Schlafzimmer gekommen sei, um ihm zu sagen, der Film, den sie im Fernsehen sehen wollten, finge gleich an, habe es im Zimmer gebrannt. Sie habe geschrien, und so sei es ihr gelungen, ihren Mann zu wecken. Seine Frau verhielt sich erstaunlich geistesgegenwärtig. Sie lief ins Badezimmer, in dem ein paar Turnschuhe in einem Eimer einweichten. Sie zog die nassen Schuhe heraus und kippte das Wasser auf den Brandherd. Das Bett hatte noch nicht gebrannt, sondern nur ein dicker Bettvorleger. Die Untersuchung ergab, dass Magnus Eriksson mit brennender Zigarette auf dem Bett eingeschlafen war. Sein Arm hatte über die Bettkante gehangen, und seine Zigarette war auf den Bettvorleger gefallen und hatte diesen in Brand gesetzt.

Irene stellte fest, dass Sophie in dem Bericht nicht erwähnt wurde. Wahrscheinlich war sie bei ihrem Vater Ernst Malmborg gewesen.

Die zwei ersten Brände waren in einem Umkreis von einem Kilometer vom Haus der Familie Malmborg-Eriksson in Björkil gelegt worden. Der dritte hatte sich gleich im Haus selber abgespielt.

Das konnte ein Zufall sein, war aber rein statistisch gesehen recht unwahrscheinlich. Oder wie Kommissar Andersson in seiner kaum lesbaren Handschrift geschrieben hatte: »Ein Brand – möglich. Zwei Brände – kaum. Drei – schon gar nicht!«

Irene gab ihm Recht. Drei Brände innerhalb eines halben Jahres in einem Umkreis von einem Kilometer waren wohl kaum als Zufall zu bezeichnen.

Kapitel 2

Zugegeben, ich bin nervös. Schließlich verhören wir fast nie Kinder, und wenn, dann nur, wenn wir den Verdacht haben, dass sie selbst Opfer eines Verbrechens geworden sind. Aber das hier ist was anderes.«

Irene und Tommy tranken Kaffee in ihrem Büro.

»Glauben die allen Ernstes, dass sie das Feuer gelegt haben könnte?«, fragte Tommy.

»Der Brand muss ungefähr zu dem Zeitpunkt ausgebrochen sein, als sie von zu Hause losradelte. Vielleicht war das nur ein Zufall. Magnus Eriksson könnte mit einer brennenden Zigarette in der Hand im Bett eingeschlafen sein, und es könnte im Bett oder auf dem Teppich zu brennen begonnen haben. So war es schließlich vor knapp einem Jahr schon einmal. Aber dass so etwas zweimal passiert…«

Irene seufzte und schüttelte den Kopf.

»Das wirkt recht unwahrscheinlich. Hat die Spurensicherung schon einen Hinweis auf die Ursache des Feuers gefunden?«

»Nein. Sie wissen nicht einmal, wo der Brand ausgebrochen ist. Im Haus ist schließlich kein Stein auf dem anderen geblieben. Im letzten Halbjahr gab es zwei Fälle von Brandstiftung ganz in der Nähe. Damals waren Plastikflaschen mit Brennspiritus beteiligt. Aber bei diesem Feuer war kein Brandbeschleuniger nötig. Die Techniker fanden eine Menge Flaschen. Schnaps. Sie lagen überall in den verkohlten Trümmern. Man brauchte sie nur auszugießen und ein Streichholz dranzuhalten.«

»War er Alkoholiker?«

»Keine Ahnung. Beim ersten Mal, als er im Bett geraucht hat, hatte er laut Aktennotiz wohl ziemlich einen in der Krone. Aber es war Weihnachten, und da ist es schließlich nicht ungewöhnlich, wenn die Leute was trinken…«

»Er verbrannte am 6. November. Vielleicht hat er da ja den Gustav-Adolf-Tag gefeiert. Du weißt schon. Da isst man doch immer diese grünen Sahnetörtchen mit dem rosaroten Marzipankonterfei des Gründers von Göteborg im Profil und muss sie dann unbedingt mit einer halben Flasche runterspülen«, meinte Tommy. Er machte ein paar Kaubewegungen und tat dann so, als würde er aus einer Branntweinflasche trinken.

Irene verzog angeekelt das Gesicht. Von dieser Geschmackskombination hielt sie nicht viel.

»Ein richtiger Festschmaus. Aber wir wissen nicht, ob er wirklich Alkoholiker war. In den Unterlagen ist jedenfalls nichts vermerkt, aber vielleicht sollte man der Sache mal nachgehen. «

»Gut möglich. Ich melde mich freiwillig. Vielleicht kriege ich ja noch was über diesen Eriksson raus. Ich habe das Gefühl, dass du es mit Sophie und ihrer Mutter ganz schön schwer haben wirst.«

»Bestimmt.«

»Nimmst du den großen Verhörraum?«

»Ich glaube schon. Dort können wir die Vernehmung auch auf Video aufzeichnen. Ich werde mich erst mal mit der Mutter unterhalten, mit Angelica.«

»Sitzt jemand im Nebenzimmer?«

»Ja. Jemand von der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder vom Jugendamt war bisher bei allen Verhören dabei. Und die Mutter. Sophie hat offenbar seelische Wunden davongetragen. Außerdem ist sie erst elf. Obwohl sie in einem Monat zwölf wird.«

Tommy sah sie nachdenklich an. Schließlich seufzte er und stellte fest:

»Wir sind nicht sonderlich geschult darin, Kinder zu verhören. «

»Nein. Aber schließlich haben wir auch nur eher selten damit zu tun. Eigentlich übernimmt immer das Jugendamt, wenn die Täter so jung sind.«

»Täter… glaubst du denn, dass sie es getan hat?«

»Keine Ahnung. Ich muss sie erst mal treffen, dann sehen wir weiter. Es ist wichtig, unvoreingenommen zu sein.«

»Was machst du, wenn sie schweigt?«

Irene zuckte resigniert mit den Schultern.

»Keine Ahnung!«

Sie stand auf, um kurz vor dem Treffen mit Sophie und ihrer Mutter noch einmal auf die Toilette zu gehen. Auf dem Weg dorthin wurde ihr bewusst, dass sie etwas anderes hätte anziehen sollen. Ihre Jeans und das dunkelblaue Sweatshirt mit Kapuze wirkten kindisch. Dass das Sweatshirt mit dem Wappen des Polizeisportvereins bedruckt war, machte die Sache auch nicht besser. Sollte sie sich die Haare zusammenbinden, um älter und offizieller zu wirken? Nachdem sie sich kritisch im Spiegel über dem Waschbecken beäugt hatte, nahm sie davon jedoch Abstand und steckte ihr schulterlanges Haar einfach mit einem Klämmerchen über jedem Ohr fest. Dann versuchte sie, ihrem Spiegelbild aufmunternd zuzulächeln. Das Mädchen unterhielt sich vielleicht lieber mit einer jungen Frau als mit zwei Männern mittleren Alters, versuchte sie sich Mut zu machen. Sie hoffte inständig, dass dem so war.

 

Sophie war blass und mager. Dieser Eindruck wurde durch ihre vollkommen schwarze Kleidung noch unterstrichen. Ihre schweren Stiefel, ihre Strumpfhosen und der Rolli, der aus dem Pullover mit dem Schulwappen hervorschaute, waren alle in verschiedenen Schwarztönen gehalten. Für ihr Alter war sie ungewöhnlich groß, in der Tat genauso groß wie ihre Mutter. Sie hatten auch dieselbe dunkle Haar- und Augenfarbe und dasselbe herzförmige Gesicht, aber damit waren die Ähnlichkeiten auch schon zu Ende. Angelica Malmborg-Eriksson war klein und grazil. Sie sprach schnell und nervös und gestikulierte dabei.

Laut Irenes Unterlagen war Angelica einunddreißig Jahre alt, sah aber bedeutend jünger aus. Ihr hellroter Rollkragenpullover aus Angorawolle hatte Noppen, und die breiten Achselpolster verrieten, dass er schon einige Jahre alt war, aber die Farbe stand ihr ausgezeichnet. Es war ihr gelungen, einen glänzenden Lippenstift in genau derselben Farbe zu finden. Zu dem Pullover trug sie schwarze Hosen, die in schwarzen Stiefeln mit hohen Absätzen steckten.

Ihre Tochter saß ganz still da und sah sie beide an. Ihre Reglosigkeit schien sich auf die Luft um sie herum auszubreiten. Es wirkte, als hielten die Luftmoleküle inne und vibrierten. Irene spürte ganz deutlich eine Temperaturveränderung um das Mädchen herum. Ob es kälter oder wärmer geworden war, ließ sich nicht sagen, aber um Sophie herum gab es etwas, was Irene später als »Kraftfeld« bezeichnete. Dieses Phänomen war äußerst bemerkenswert, und Irene fragte sich, ob es mit ihrer eigenen Nervosität vor dem Verhör des rätselhaften Mädchens zusammenhing.

Irene stellte sich vor und streckte die Hand aus. Angelica erwiderte ihren Händedruck nicht. Ihre kleine, schmale Hand fühlte sich heiß und verkrampft an. Sophie machte keine Anstalten, sie zu begrüßen. Vorsichtig nahm Irene ihre rechte Hand. Zerbrechlich und kalt wie eine dünne, gekühlte Glasscheibe lag die Hand passiv in ihrer. Unwillkürlich erschauerte Irene. Gleichzeitig verunsicherten sie die Ausstrahlung und der seltsame Blick des Mädchens. Er ließ keine Furcht, keine Nervosität, keine Trauer und keine Freude erkennen. Sophies Augen waren leer, vollkommen leer.

Wie konnte ein Kind nur jeglichen Kontakt zu ihrem eigenen Inneren abschalten? Sie wirkte nicht vollkommen abwesend, denn manchmal sah sie die Person an, die gerade sprach, aber meist schaute sie geradeaus oder blickte auf ihre Hände. Die Hände hielt sie still, lose auf dem Schoß gefaltet. Die Fingernägel waren so weit heruntergebissen, dass es geblutet hatte. Im Übrigen deutete nichts mit Ausnahme dieses seltsamen Kraftfeldes auf Nervosität hin. Kanalisierte Sophie vielleicht so ihre innere Anspannung? Möglicherweise, aber Irene hatte so etwas bisher weder erlebt noch davon gehört.

Angelica Malmborg-Eriksson nahm anmutig auf der Stuhlkante Platz und ergriff das Wort, ehe sich Irene noch ihre erste Frage zurechtgelegt hatte.

»Sophie und ich haben miteinander geredet. Folgendes hat sich dabei ergeben. Sophie wusste nicht, dass Magnus an diesem Tag zu Hause war. Er muss bereits im Obergeschoss geschlafen haben, als sie nach Hause kam, denn im ganzen Haus war es dunkel. Sie vernahm keinerlei Geräusche von oben. Als sie das Haus verließ, brannte es darin noch nicht. Es roch auch nicht nach Feuer. Es muss irgendwo einen Kurzschluss gegeben haben.«

»Stimmt das, Sophie?«, fragte Irene und sah das Mädchen an.

Statt Irenes Blick zu begegnen, schaute Sophie in die Videokamera. Irene sah sie im Halbprofil. Falls sie die Miene verzogen hat, ist das vermutlich auf der Aufzeichnung zu sehen, dachte sie. Als Sophie ihren Kopf wieder zurückdrehte und den Blick auf die Hände senkte, war in ihrem Gesicht keinerlei Veränderung zu erkennen. Es war so leer wie eine Maske aus Porzellan.

Irene beschloss, sich auf Angelicas Aussage zu konzentrieren. Immerhin sagte wenigstens sie was. Vielleicht würde sich Sophie dabei entspannen und irgendeine Reaktion erkennen lassen.

»Ich habe der Akte entnommen, dass Ihr Mann Journalist war. Für welche Zeitung arbeitete er?«

»Für verschiedene. Er war als freier Mitarbeiter tätig.«

»Wo hielt er sich auf, wenn er schrieb?«

»Zu Hause, jedenfalls hauptsächlich.«

»Es war also nicht ungewöhnlich, dass Magnus da war, wenn Sophie aus der Schule nach Hause kam«, stellte Irene fest.

»Nein… also, manchmal war er auch nicht zu Hause.«

Angelica warf Irene mit ihren schönen Augen einen raschen Blick zu, und Irene glaubte, in ihnen etwas aufblitzen zu sehen. Was? Bevor sie es noch analysieren konnte, war es schon verschwunden.

»Wo war er, wenn er nicht zu Hause war?«

»Unterwegs. Bei der Arbeit. Journalisten müssen schließlich manchmal vor Ort Dinge in Erfahrung bringen. Leute treffen und so.«

Irene war sich bewusst, dass sie jetzt improvisierte und von dem abwich, was sie sich vorher für das Verhör zurechtgelegt hatte. Schließlich hatte sie vorgehabt, zu Sophie durchzudringen. Sie hatte aber das Gefühl, dass es bei dieser Ermittlung noch eine Menge offener Fragen gab, die einer Antwort bedurften. Und jede Antwort warf neue Fragen auf. Die einzige Person, die etwas sagte, war die Mutter. Mit ihrer Hilfe ließen sich möglicherweise neue Teile zu dem Puzzle finden. Vielleicht war dies ja der Weg zu Sophie? Sie direkt zu konfrontieren, hatte keinen Sinn. Sie hatte sich während des ganzen Verhörs noch nicht gerührt, sah man einmal von dem kurzen Blick zur Kamera ab.

»Was für eine Art von Journalist war Magnus?«, fragte Irene.

»Art?«, wiederholte Angelica ratlos.

»Schrieb er über Sport, Filme, Essen oder Lokales?«, verdeutlichte Irene.

»Er… er schrieb über alles Mögliche. Was eben so passierte. Und dann verkaufte er es an eine Zeitung.«

»An welche?«

»Verschiedene. Göteborgs Tidning und Göteborgs Posten. Manchmal an Wochenblätter. Gelegentlich auch an die Norra Hisingens Nyheter und das Björkils-Bulletinen.«

»Die zwei Letzteren sind Lokalzeitungen?«

»Ja. Aber beim Björkils-Bulletinen handelt es sich eher um ein Anzeigenblatt.«

Irene hatte den Eindruck, dass Magnus Eriksson sich nicht gerade am Zenit des Journalistenhimmels befunden hatte. Möglicherweise täuschte sie sich, aber Angelicas Verlegenheit sprach dafür, dass ihre Annahme korrekt war.

»Wie lange wohnten Sie schon in dem Haus in Björkil?«

»Drei… fast vier Jahre.«

»Und wo wohnten Sie vorher?«

»In der Linnégatan.«

»Das ist eine gute Adresse. Sehr zentral. In einem der neuen Häuser?«

»Nein. In einem, das renoviert werden sollte. Die Wohnung war sehr gemütlich. Hohe, große Zimmer. Die Küche war etwas renovierungsbedürftig, aber sehr schön. Sie hatte einen Gasherd und ähnliches.«

»Warum sind Sie dann umgezogen?«

Angelica wich ihrem Blick aus.

»Die Ersatzwohnungen, die man uns zuwies, waren zu teuer… die Mieten waren zu hoch.«

»Daraufhin haben Sie also das Haus gekauft?«

»Wir haben es von Magnus’ Schwester gemietet. Es liegt auf ihrem Grund. Wir wollten nur ein Jahr lang bleiben.«

»Aber dann sind es fast vier Jahre geworden«, stellte Irene gelassen fest.

»Das kam einfach so. Die Mieten im Zentrum sind so hoch.«

In den Augen von Angelica standen Tränen. Auch ihre Stimme klang tränenerstickt.

»Verdient man als freier Journalist nicht so gut?«, fragte Irene gespielt naiv.

Unwillkürlich presste Angelica die Lippen zusammen, bevor sie antwortete:

»Kommt darauf an. Zeitweise läuft es sehr gut, und dann dauert es wieder sehr lange, bis man einen Artikel verkauft.«

»Aber Sie arbeiten doch als Tanzlehrerin. Verdienen Sie nicht gut damit?«

»Tanzlehrer werden schlecht bezahlt, und die Arbeitsbedingungen sind miserabel. Außerdem arbeite ich auch frei und tanze bei verschiedenen Theateraufführungen und Shows. Zwecks regelmäßigerer Einkünfte unterrichte ich auch im Haus des Tanzes und an der Hochschule für Tanz. Die Hochschule ist im selben Gebäude untergebracht.«

»Sophie nimmt ihre Stunden doch im Haus des Tanzes?«

»Ja. Natürlich besucht sie nicht die Hochschule.«

»Unterrichten Sie jeden Tag?«

»Nein. Ich unterrichte montags, donnerstags und sonntags im Haus des Tanzes und zwar nachmittags und abends.«

»Deswegen hat also die Mutter von Sophies Freundin beide Mädchen zur Tanzstunde gefahren, und Sie haben sie mit zurück genommen.«

»Ja. Montag habe ich einen langen Tag. Da arbeite ich von eins bis acht Uhr abends. Sophie und Tessan tanzen beide in meiner letzten Gruppe. Klassisches Ballett, Stufe drei. Mit Stufe vier hört es auf. Für die muss man aber mindestens dreizehn sein. Die meisten gehen anschließend auf ein Gymnasium, das Ballett als Wahlfach anbietet. Es ist wahnsinnig schwer, da reinzukommen! «

»Und danach kann man dann die Aufnahmeprüfung für die Hochschule für Tanz machen«, vermutete Irene.

»Genau. Aber dort unterrichte ich nur ab und zu. Und zwar wenn sich die Studenten mit klassischem Ballett und Show-dance befassen. Das sind meine Fächer.«

»Sind das auch deine Fächer, Sophie?«, fragte Irene und wandte sich an das Mädchen.

Sie hatte gehofft, sie mit dieser direkten Frage so zu überrumpeln, dass sie aus purer Überraschung antwortete. Aber die List verfing nicht. Sophie hob den Blick von ihren Händen und sah Irene direkt an. Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos, und in ihren Augen ließ sich nicht die geringste Veränderung ablesen.

Ein Gefühl der Resignation machte sich in Irene breit. Das Schweigen dieses Mädchens bereitete ihr Mühe. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es ihr nicht gelingen würde, die Wahrheit über den Brand in Björkil herauszufinden. Andererseits hatten selbst so routinierte Ermittler wie Kommissar Andersson und Hans Borg die Flinte ins Korn werfen müssen, was Sophie Malmborg betraf. Dieser Gedanke verlieh Irene neue Kraft, das Gespräch mit Angelica fortzusetzen, die ja immerhin ihre Fragen beantwortete und hin und wieder geradezu gesprächig wurde.

Irene folgte einer plötzlichen Eingebung, stand auf und sah Sophie an.

»Sophie, kannst du einen Augenblick hier im Zimmer allein bleiben? Ich will mich mit deiner Mutter unter vier Augen unterhalten. Ich verspreche, dass wir nicht lange weg sind«, sagte sie ruhig.

Noch ehe Angelica reagieren und protestieren konnte, wandte sich Irene ihr zu.

»Kommen Sie!«

Sie legte ihre Hand leicht auf Angelicas Schulter und lächelte sie aufmunternd an. Widerwillig erhob sich diese und folgte ihr auf den Gang. Irene schaute ins Nebenzimmer und bat die Frau von der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sophie im Auge zu behalten. Anschließend nahm sie Angelica mit in ihr Büro.

»Bitte, treten Sie doch ein«, sagte sie mit einer einladenden Handbewegung.

Wie erhofft saß Tommy im Zimmer und las in einer Akte. Als Irene die Tür öffnete, schaute er auf und lächelte Angelica an. Angelica lächelte zurück. Die Verwandlung erfolgte augenblicklich. Die zerbrechliche Frau reckte sich und schwebte über die Schwelle. Ihre dünnen Finger glitten rasch über ihr glänzendes Haar und strichen mit einer koketten Handbewegung eine Strähne hinter das eine Ohr. Immer noch lächelnd und mit wiegenden Hüften ging sie auf Tommy zu, der sich erhob und ihr die Hand entgegenstreckte. Graziös reichte ihm Angelica ihre kleine Hand und turtelte mehrere Oktaven tiefer als vorher:

»Hallo. Ich bin Angelica Malmborg.«

»Ich heiße Tommy Persson.«

Das Begehren in dem Blick, den sie Tommy zuwarf, hätte die Lenden eines Eunuchen zum Leben erwecken können. Nur selten hatte Irene eine so deutliche sexuelle Aufforderung gesehen. Tommy sah zwar gut aus, aber Frauen verliebten sich eigentlich nicht auf den ersten Blick in ihn. Jedenfalls nicht, soweit Irene wusste. Hingerissen betrachtete Tommy die schöne Frau, die so vollkommen unerwartet in sein langweiliges Büro getreten war und ihn von der Routinearbeit abhielt.

Rasch versuchte Irene die pheromongeschwängerte Atmosphäre zu durchbrechen.

»Tommy, ich habe Angelica gebeten, mich einen Augenblick nach draußen zu begleiten. Es gibt ein paar Fragen, die ich ihr gerne stellen würde, ohne dass Sophie sie hört. Persönliche Fragen über Sophie und… tja, einige Ungereimtheiten in den Unterlagen.«

Sie wandte sich Angelica zu und zwang sich zu einem offenen Lächeln.

»Hätten Sie gern einen Kaffee?«

»Ja, danke«, antwortete Angelica, ohne ihren Blick von Tommy zu lösen.

»Ich hole einen«, sagte Irene.

Weder Tommy noch Angelica bemerkten, dass sie das Zimmer verließ. Irene war etwas beunruhigt. Vielleicht war es keine so gute Idee, Angelica Tommy zu überlassen. Er hatte für gewöhnlich eine erfreuliche Wirkung auf Frauen, aber das hier übertraf wirklich alles. Ob er mit diesem Flittchen fertig wurde? Wenn er jetzt… Sie rief sich selbst zur Ordnung: Hör schon auf! Es geht um deinen alten Freund Tommy! Wenn jemand mit Angelica klarkommt, dann er.

Absichtlich ließ sie sich bei der Kaffeemaschine Zeit, damit Tommy seine Fragen stellen konnte. Irene hatte keine Ahnung, was er fragen würde, aber sie hoffte, dass ihre Botschaft rübergekommen war. Er sollte sich nach Magnus’ eventuellem Alkoholismus erkundigen und nach allem, was ihm zum Thema Sophie einfiel. Sie hatte ihm die Befragung aus einem Impuls heraus überlassen und hoffte, dass ihre Rechnung aufging. Ihr waren sowohl die Kraft als auch die Ideen ausgegangen. Sophie war wie eine spiegelnde Glasscheibe: hart, kalt, glatt. Aber auch die Zerbrechlichkeit des Glases ließ sich ahnen. Es galt, vorsichtig vorzugehen, um sie nicht zu zerbrechen. Oder war sie etwa unzerbrechlich? Schwer zu sagen, aber Irene wollte jedenfalls nicht diejenige sein, die den Panzer des Mädchens durchbrach. Denn dann würden sie nie erfahren, was sich an diesem verhängnisvollen Montag im November wirklich zugetragen hatte.

Als Irene mit den dampfenden Kaffeetassen ins Büro zurückkehrte, hörte sie Angelica sagen:

»Das Problem ist, dass Magnus keine Versicherung hatte. Er war nicht in der Gewerkschaft und war auch anderweitig nicht versichert. Er besaß auch keine Hausratversicherung. Wir bekommen also keine Öre. All unser Hab und Gut ist verbrannt.«

»Aber von der staatlichen Versicherung erhalten Sie doch sicherlich Waisenrente und…«

»Das schon. Aber das reicht nicht. Ich will nicht den Rest meines Lebens in Biskopsgården verbringen. Ich will zurück in die Stadt!«

Irene stellte die Kaffeetassen auf den Tisch und sagte:

»Sophie wird vielleicht unruhig, wenn sie zu lange allein ist. Wir können den Kaffee mitnehmen. Ich gehe nur rasch die letzten Fragen durch, die ich Ihnen stellen wollte. Übrigens, was glauben Sie, will Sophie auch einen Kaffee? Oder trinkt sie lieber Tee?«

»Nein. Sie trinkt nur Wasser.«

Angelica wirkte unzufrieden. Wahrscheinlich, weil Irene zurückgekommen war und ihr trautes Beisammensein mit Tommy störte.

»Wie kommt Sophie in der Schule zurecht?«, fragte Irene ohne weitere Umschweife.

Angelica sah sehr überrascht aus.

»Wie sie zurechtkommt… Sie ist nicht gerade Klassenbeste. Die Lehrer beklagen sich, dass sie nie etwas sagt und dass sie langsam ist. Aber die Klassenarbeiten schafft sie.«

Irene fiel der desinteressierte Tonfall auf. Offenbar kümmerte es Angelica nicht sonderlich, wie ihre Tochter in der Schule zurechtkam.

»Hat Sophie Freunde oder eine beste Freundin?«

»Sie hat so wenig freie Zeit. Sie hat montags, donnerstags und sonntags Ballettstunden.«

Jetzt hörte man deutlich, dass Angelica verärgert war.

»Gibt es niemanden, den sie in ihrer wenigen Freizeit trifft?«, beharrte Irene.

»Nein. Doch… Tessan Olsén natürlich. Sie sind in derselben Klasse und haben gemeinsam Ballettunterricht.«

»Treffen sie sich auch, wenn sie keine Stunden haben?«

»Nicht wirklich«, antwortete Angelica widerwillig und nach einer langen Pause. Irene betrachtete ihr niedliches Gesicht, das im Augenblick einen mürrischen, trotzigen Ausdruck hatte. Sie wollte nicht über ihre Tochter sprechen. Weshalb?

»Wissen Sie, warum Sophie keine Freunde hat?«

»Wie sollte ich? Sie ist so verdammt merkwürdig! Das war sie schon immer!«

Der Ausbruch war unerwartet heftig, und selbst Angelica wirkte überrascht. Sie hielt inne und warf Tommy einen hilflosen Blick zu. Dieser verzog keine Miene, sondern sah genauso freundlich aus wie vorher.

»Ich meine… es war immer schwer, aus ihr klug zu werden. Dass sie nichts sagt, ist nichts Neues. Sie erinnert sehr an ihren verrückten Vater. Der schweigt auch manchmal. Tagelang! Und wenn sie nicht aufpasst, wird sie auch mal so riesig und schwer werden wie er. Dann kann sie nicht mehr Tänzerin werden.«

Der Blick, den sie Irene von der Seite zuwarf, sprach Bände. Irene war groß, schlank und durchtrainiert, kam sich aber plötzlich plump und unförmig vor. Obwohl sie wusste, dass dieses Gefühl ungerechtfertigt war, wurde sie es nicht los.

»Wohnt Sophie immer noch bei ihm?«, fragte Tommy.

»Ja. Und das ist auch gut so. Frej geht es seit dem Tod seines Vaters schlecht, und mir selbst geht es auch nicht so blendend.«

»Wissen Sie, ob Sophie ihrem Vater etwas über den Brand erzählt hat?«

Angelica schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung. Ernst und ich wechseln kaum noch ein Wort miteinander.«

»Haben Sie das gemeinsame Sorgerecht?«, wollte Irene wissen.

»Ja. Aber unter der Woche wohnt sie sonst nie bei ihm, weil der Schulweg zu weit wäre. Aber jetzt will sie die Schule wechseln, damit sie bei ihm bleiben kann.«

»Wo lebt er denn?«

»In Änggården.«

Angelica verzog mürrisch ihre rot geschminkten Lippen. Diese Unterhaltung sagte ihr offenbar nicht zu. Irene hatte das Gefühl, dass die Zeit knapp wurde, und versuchte fieberhaft und ohne Erfolg, sich eine weitere Frage einfallen zu lassen. Da ihr nichts Besseres einfiel, meinte sie schließlich:

»Wir müssen zu Sophie zurück.«

Schweigend gingen sie den Korridor entlang. Irene war sich ihrer ein Meter achtzig ohne Absätze mehr als bewusst. Gleichzeitig tadelte sie sich dafür, dass sie sich von Angelicas Geschwätz hatte beeinflussen lassen.

Sophie schien sich unterdessen nicht vom Fleck bewegt zu haben. Die Frau von der Kinder- und Jugendpsychiatrie saß auf einem Stuhl neben ihr und erhob sich, als Irene und Angelica eintraten. Als sie an Irene vorbeikam, sagte sie leise:

»Können wir uns anschließend noch unterhalten?«

»Natürlich«, erwiderte Irene.

Die folgenden Minuten verliefen ebenso ergebnislos wie die bisherigen Versuche, Sophie zum Sprechen zu bringen. Es hatte keinen Sinn, und Irene beschloss schließlich abzubrechen. Angelica wirkte erleichtert. Sophie verzog keine Miene, während