Tod im Pfarrhaus - Helene Tursten - E-Book

Tod im Pfarrhaus E-Book

Helene Tursten

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Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 4

Ein neuer Fall für Irene Huss, Kriminalinspektorin aus Göteborg:

Drei Leichen geben der Polizei Rätsel auf – ein Pfarrer und seine Frau wurden im Schlaf erschossen, der gemeinsame Sohn liegt tot im Sommerhaus. Hat man es mit einer Familientragödie zu tun? Sind die Täter gar in kirchlichen Kreisen zu suchen?

Die Recherchen führen Irene Huss bis nach England – zu einem Abgrund aus verwirrter Liebe und falsch verstandener Solidarität.

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Buch

Drei Leichen geben der Polizei Rätsel auf – ein Pfarrer und seine Frau wurden im Schlaf erschossen, der gemeinsame Sohn liegt tot im Sommerhaus. Hat man es mit einer Familientragödie zu tun? Oder sind die Täter eher unter den Satanisten zu suchen, die im Vorjahr eine kleine Holzkirche ganz in der Nähe niederbrannten? Doch so einfach ist die Sache nicht, wie Kriminalinspektorin Irene Huss bei ihren Befragungen schon bald feststellen muss. Es gibt mehrere Verdächtige, und das sogar in höchsten kirchlichen Kreisen. Ihre Recherchen führen sie schließlich bis nach England – in einen Abgrund aus verwirrter Liebe und falsch verstandener Solidarität…

Autorin

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, bis eine rheumatische Erkrankung sie dazu zwang, ihren Beruf aufzugeben. Bereits mit ihrem ersten Kriminalroman »Der Novembermörder« eroberte sie Schwedens Leser und Kritiker im Sturm. »Tod im Pfarrhaus« ist ihr viertes Buch mit Inspektorin Huss als Titelheldin.

Helene Tursten

Tod im Pfarrhaus

Roman

Aus dem Schwedischen von Holger Wolandt

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Glasdjävulen« bei Anamma Böcker, Göteborg

Copyright © 2002 by Helene Tursten

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Published by agreement with AlfabetaAnamma, Göteborg, und Leonhardt & Hoier Literary Agency, Copenhagen

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

RK · Herstellung: Augustin Wiesbeck

ISBN 978-3-641-06650-5V003

www.btb-verlag.de

Für Hilmer und Cecilia

Prolog

Alles hatte perfekt gewirkt. Vielleicht zu perfekt, das sah er jetzt ein. In Sicherheit hatte er sich gewiegt, geglaubt, dass es ihn nie einholen würde. Und so hatte es ja auch ausgesehen. Bis jetzt.

Es war ganz einfach verdammtes Pech. Nichts anderes.

In der Großstadt war er anonym. Da hatte er seine Ruhe. Und nichts wollte er mehr als das.

Die langen Spaziergänge in der umliegenden Natur hatten ihm geholfen, seine seelischen Verletzungen zu überwinden. Er hatte begonnen, wieder ins Fitnessstudio zu gehen. Den Abend hatte er ebenfalls dort verbracht und sich gründlich verausgabt. Es war ein gutes Gefühl gewesen. Er war auf dem Weg zu einem neuen Körper und zu einer neuen Existenz.

Alles war in die richtige Richtung gegangen, bis sie in sein Leben getreten war.

Sie hatte alles, wovon er geträumt hatte. Langes, dunkelbraunes Haar, braune Augen und ein fantastisches Lächeln. Ihr warmer, anschmiegsamer Körper, wenn er sie in den Armen hielt . . .

Die ganze Zeit hatten sie gewusst, dass sie es geheim halten mussten. Wenn ihre Familie von ihrer Beziehung erfuhr, konnte alles passieren. Ihr Vater und ihre Brüder würden mit Sicherheit das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. Mehrmals hatte er sie gebeten, bloß vorsichtig zu sein und niemandem etwas zu erzählen.

Und jetzt war alles zerstört. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, den Fragen ihrer Familie standzuhalten. Sie hatte geredet.

Es war am besten, für eine Weile unterzutauchen, bis sich die Wogen geglättet hätten. In der nächsten Zeit würde er wohl bei seinen Eltern wohnen müssen. Aber wirklich helfen würde es wahrscheinlich nichts. Ihre Familie würde sowieso kein Verständnis für ihre Beziehung aufbringen, wie sehr sie sich auch liebten. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

 

Er bog in den schmalen Kiesweg ein, der zu der Hütte führte. Sicher zum tausendsten Mal verfluchte er, dass es hier keine Straßenlaternen gab. Die Gemeinde wollte kein Geld dafür ausgeben, weil es sich bei den drei anliegenden Häusern ebenfalls nur um Sommerhäuser handelte. Er parkte auf dem kleinen Kiesplatz vor dem Gartentor. Als er die Scheinwerfer ausmachte, umfing ihn undurchdringliches Dunkel. Es war bereits nach elf, ein kalter Abend Ende März. Schwarze Wolken hatten sich am Himmel zusammengeballt, und es sah so aus, als würde es im Laufe der Nacht schneien oder regnen. Hier im Wald mit den vielen hohen Bäumen konnte man kaum die Hand vor den Augen sehen. Über der Haustür hing eine Lampe, aber ihr Schein reichte nicht bis zum Parkplatz.

Er stieg aus dem Wagen und reckte sich. Wie immer holte er tief Luft und füllte die Lungen mit der sauberen Waldluft. Und wie immer hatte er das Gefühl, die Stille dröhne ihm in den Ohren. Wobei, so ganz vollkommen war die Stille nicht. Die Autos auf der großen Straße waren, wenn man sich anstrengte, als schwaches Brausen auszumachen. Weit in der Ferne war das Dröhnen eines Flugzeugs zu hören, das sich auf dem Landeanflug auf den Flugplatz Landvetter befand.

Die Gedanken, die er sich eben im Auto gemacht hatte, holten ihn ein, und er sah sich nervös um. Alles wirkte wie immer, still und friedlich. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das kleine, rot gestrichene Holzhaus.

Ein winterfestes Sommerhaus, das seinen Eltern gehörte. Hier hatte er sich immer sicher und geborgen gefühlt. Jetzt ließ er den Blick unruhig über die Hütte schweifen. Nichts wirkte anormal. Alles sah aus wie am Morgen, als er aufgebrochen war. Da hatte er noch nicht geahnt, wie sich dieser Tag entwickeln würde. Eine totale Katastrophe! Was niemals hätte geschehen dürfen, war eingetreten.

Er nahm die Tasche mit den Trainingssachen und die Tüte mit den Lebensmitteln vom Rücksitz, verriegelte den Wagen und ging zur Haustür. Dort zog er den Schlüsselbund aus der Jackentasche, schloss auf und trat in die winzige Diele. Im Licht der Außenleuchte zeichnete sich seine Silhouette in der Türöffnung ab.

Ich gebe keine schlechte Zielscheibe ab, dachte er noch. Dann bemerkte er eine schwache Bewegung in der tiefen Dunkelheit.

»Wer ist da? Nein! So nicht!«, versuchte er zu schreien.

Aber kein Wort kam über seine Lippen.

Das Einzige, was er in dem schwachen Licht, das in die Diele drang, sah, war die schwarze Hand, die das Gewehr hielt. Der Rest der Gestalt war im Dunkel verborgen. »Handschuhe«, dachte er noch und war eine Sekunde lang seltsam stolz auf seine Schlussfolgerung.

Wie hypnotisiert starrte er in das runde, schwarze Auge.

Es blitzte auf in einer Tausendstelsekunde.

Danach war nur noch Dunkelheit.

Kapitel 1

Die Wechselsprechanlage auf dem Schreibtisch von Kriminalinspektorin Irene Huss piepste.

»Hier Sven. Ist Tommy bei dir?«

»Nein. Er verhört gerade den Festgenommenen im Speedy-Mord. Vor fünf ist er sicher nicht fertig.«

Kriminalkommissar Sven Andersson schnaubte frustriert:

»Wenn er Asko Pihlainen mürbe machen will, hat er bei Gott zu tun. Wahrscheinlich ist er dann morgen früh um fünf noch nicht fertig!«

Irene Huss nickte zustimmend, obwohl ihr Chef sie nicht sehen konnte.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie.

Hoffnung keimte in ihr auf, dass sie den langweiligen Stapeln mit den Berichten doch noch würde entrinnen können. Unerklärlicherweise türmten sich die immer nur auf ihrem Schreibtisch. Möglicherweise hing das aber auch damit zusammen, dass sie Schreibtischarbeit verabscheute und sie vor sich herschob, wann immer es ging.

»Komm zu mir rüber, dann erzähl ich dir alles.«

Der Kommissar hatte den Satz noch nicht beendet und die Wechselsprechanlage noch nicht abgestellt, da war Irene bereits aufgesprungen. Von ihrem Chef ließ sie sich bei Gott nicht zweimal bitten. Dass dabei der eine oder andere Bericht auf der Strecke blieb, war bedauerlich, aber nicht zu vermeiden.

Andersson sah nachdenklich aus. Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, der unter seinem Gewicht bedenklich ächzte. Er nickte Irene zu und bedeutete ihr, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. Lange saß er schweigend da. Offensichtlich wusste er nicht, wie er beginnen sollte. Allmählich wurde die Stille bedrückend. Vielleicht hallten seine asthmatischen Atemzüge auch deswegen so im Zimmer wider. Grübelnd presste er die Handflächen gegeneinander. Seine Gelenke knackten. Dann legte er sein Doppelkinn auf den Fingerspitzen ab und schien einen Punkt über Irenes Kopf zu fixieren. Schließlich knallte er die Handflächen auf den Schreibtisch, erhob sich ächzend und sagte:

»Da müssen wir wohl oder übel rausfahren.«

Ohne weitere Erklärungen kam er hinter dem Schreibtisch hervor und nahm seinen Mantel vom Haken neben der Tür.

»Los geht’s«, verkündete er über die Schulter.

Irene sprang auf und eilte in ihr Zimmer, um ihre Jacke zu holen.

Ich bin genau wie Sammie, dachte sie selbstironisch. Er muss nur mit der Leine schwenken und schon komme ich angehechelt, ohne auch nur zu fragen, wohin die Reise geht.

 

»Erst wollte ich eine Streife schicken, aber es ist ja heutzutage fast unmöglich, eine aufzutreiben. Und sie dann auch noch in die Wälder am Norssjön rauszuschicken . . . nein, da kümmere ich mich doch lieber gleich selber drum«, sagte Kommissar Andersson, als sie im Auto saßen und auf die Ausfallstraße Richtung Borås zufuhren.

Irene wollte ihn schon darauf hinweisen, dass sie ihm ja zur Seite stand, aber sie kannte ihren Chef nur zu gut und behielt die Bemerkung deswegen lieber für sich. Sie wollte ihn nicht unnötig reizen, denn sie mochte den Kommissar.

»Ich sollte das Ganze vielleicht erklären«, sagte Andersson plötzlich.

»Ja, bitte«, erwiderte Irene in der Hoffnung, nicht allzu ironisch geklungen zu haben.

Offensichtlich hatte es Andersson aber nicht so aufgefasst, denn er fuhr fort:

»Mein Cousin hat mich angerufen. Er ist hier in der Stadt Rektor an einer Privatschule.«

Es war eine Überraschung für Irene, dass Sven Andersson einen Cousin besaß. Fast fünfzehn Jahre lang waren sie nun schon Kollegen, und nie hatten sie über seine Verwandtschaft gesprochen. Sie hatte ihn immer für vollkommen allein stehend gehalten. Geschieden, ohne Kinder, ohne nähere Angehörige, ohne nennenswerte Freundschaften. Eigenbrötler, dieses Wort fiel ihr ein, wenn sie an ihren Chef dachte.

»Georg, also mein Cousin, ist sehr besorgt. Einer seiner Lehrer ist seit gestern nicht zur Arbeit erschienen. Ans Telefon geht er auch nicht. Bei seinen Eltern hebt auch niemand ab. Georg macht sich Sorgen, denn dieser Lehrer hat offensichtlich schwere Zeiten hinter sich und gelegentlich unter Depressionen gelitten. Ich weiß nicht, aber ich hatte den Eindruck, er befürchte, der Bursche könne Selbstmord begangen haben.«

»Aber das ist doch noch lange kein Grund, zwei Leute vom Dezernat für Gewaltverbrechen loszuschicken? Eine Funkstreife zu rufen, wäre irgendwie angebrachter gewesen«, meinte Irene.

Sie warf einen Seitenblick auf Andersson und sah, wie sich eine hastige Röte auf seinem Hals und seinen runden Wangen breit machte.

»Hier entscheide immer noch ich, was angebracht ist oder nicht«, bellte er gereizt.

Demonstrativ wandte er sich ab und schaute durchs Seitenfenster. Irene verfluchte innerlich ihr loses Mundwerk. Jetzt war er sauer und würde kein Wort mehr sagen.

Das Schweigen hielt an. Nur das leise Geräusch der Scheibenwischer war zu hören. Es sah nicht so aus, als wolle der Regen, der in der Nacht begonnen hatte, bald schwächer werden. Schließlich meinte Irene:

»Weißt du, wo wir hinmüssen?«

»Ja. Bieg Richtung Hällingsjö ab. Nach ein paar Kilometern steht auf einem Schild ›Norssjön‹. Da biegst du wieder ab, und dann zeige ich es dir.«

»Wieso kennst du den Weg so gut?«

»Ich war dort mal auf einem Krebsfest.«

»Bei dem Lehrer?«, fragte Irene erstaunt.

»Nein. Bei seinen Eltern.«

Sie hatte geahnt, dass irgendetwas nicht stimmte. Jetzt wusste sie es. Warum auch immer ihr Chef sich so seltsam benahm, eins war sicher: Er war selbst irgendwie in die Sache verstrickt.

Auf einem Krebsfest bei den Eltern . . . Plötzlich tauchten sogar Freunde des Kommissars auf! Er hatte also ein Privatleben und besuchte sogar Feste. Alle Achtung! Falls es nicht sogar Verwandtschaft war. Irene beschloss, nachzuhaken.

»Dann kennst du den Lehrer also überhaupt nicht?«, fuhr sie fort.

»Nein. Den habe ich nie getroffen. Nur seine Schwester.«

»Ist sie ebenfalls Lehrerin?«

»Weiß ich nicht. Damals war sie noch ganz klein.«

Er holte tief Luft und sah Irene an.

»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Das Ganze ist siebzehn Jahre her. Ich war frisch geschieden, und mein Cousin fand, dass ich etwas unter die Leute kommen müsse. So bin ich auf dieses Krebsfest geraten. Es sind Bekannte von Georg und Bettan. «

Sie schwiegen eine Weile, und Irene dachte nach. Dieser unerwartete Ausflug weckte ihre kriminalistischen Instinkte. Aber es war weniger die Sorge um das Schicksal des Lehrers, die sie wachriefen, sondern eher die Neugier auf das Privatleben des Kommissars. Jetzt kannten sie sich schon so lange, und sie hatte nicht einmal gewusst, dass er überhaupt über ein solches verfügte.

»Hast du sie jemals wiedergesehen?«, fragte sie.

»Nein.«

Offensichtlich war man sich nicht sonderlich sympathisch gewesen.

»Was machen die Eltern dieses Lehrers?«

»Der Vater ist Pfarrer. Sie ist wahrscheinlich Hausfrau. Pfarrfrauen haben wohl zu Hause mehr als genug zu tun. Nach dem Gottesdienst den Kaffee kochen und so«, antwortete Andersson vage.

Irene beschloss, weiterzubohren.

»Wie war das Fest? Ich meine . . . bei einem Pfarrer! Auf Krebsfesten wird sonst schließlich immer eine ganze Menge getrunken. «

Zum ersten Mal während der ganzen Fahrt verzog der Kommissar den Mund zu einem Lächeln.

»Na, damals wurde auch eine ganze Menge gebechert! Es endete damit, dass der Pfarrer vollkommen betrunken in der Hollywoodschaukel lag. Seine Frau hatte schon Stunden vorher aufgegeben und sich im Haus schlafen gelegt. Sie schien überhaupt nichts zu vertragen. Wir anderen hatten auch ganz schön gebechert.«

»Waren viele Gäste da?«

»Neun, nein, zehn mit mir. Hier musst du abbiegen.«

Er deutete auf das Schild nach Hällingsjö. Irene bog ab, und Andersson lotste sie sofort nach links.

»Fahr etwa zwei Kilometer geradeaus, dann kommen wir zum Norssjön«, sagte er.

Irene war automatisch weitergefahren, während ihr Gehirn die Informationen, die sie bekommen hatte, zu verarbeiten suchte.

»Ist das Sommerhaus groß?«, fragte sie.

»Nein. Normaler Durchschnitt. Georg und Bettan hatten ihren Wohnwagen dabei. In dem schliefen wir. Bettan ist Georgs Frau. Sie ist Lehrerin und unterrichtet an der Schule, an der Georg Rektor ist. Vermutlich war sie es, die fand, dass ich auf das Fest mitgehen sollte. Damals versuchte sie mich immer mit lauter langweiligen Kolleginnen zu verkuppeln.«

»Ist es ihr denn auf dem Fest geglückt?«, erkundigte sich Irene neugierig.

Andersson kicherte nur leise.

Sie schwiegen, bis die Abzweigung zum Norssjön auftauchte. Der Wald stand dicht zu beiden Seiten des schmalen asphaltierten Weges. Ab und zu tauchte eine kleine Lichtung mit einem einzelnen Haus auf, oder eine schmale Schotterstraße verschwand in der dichten Vegetation.

»Langsam. Hier muss es irgendwo sein«, sagte Andersson plötzlich.

Irene fand, dass das Gehölz um sie herum überall gleich aussah. Dass sich Andersson nach so vielen Jahren immer noch zurechtfand, war beeindruckend.

»Da. Bieg da ein«, sagte er.

Jetzt begriff sie, wie er wissen konnte, wo sie abbiegen mussten. Am Weg stand ein handgemaltes Schild. In blauen, verblichenen Buchstaben stand dort auf weißem Grund »Lyckan«, »Glück«. Die Blumengirlande, die den Namen umrankte, war kaum mehr zu erkennen.

Irene bog auf einen schmalen Kiesweg ein. Er war voller Schlaglöcher und in einem schlechten Zustand. Sie fuhren durch dichten Tannenwald. Nach einer Weile tauchten zwischen den Bäumen drei kleine Sommerhäuser auf. Irene bremste, aber der Kommissar sagte:

»Fahr weiter.«

Etwa hundert Meter weiter erreichten sie das Ende des Weges. Irene erblickte einen Zaun und eine dunkelrot gestrichene Hütte. Sie parkte den Dienstwagen vor dem Tor.

Dann stiegen sie aus und vertraten sich nach der langen Autofahrt die Beine. Abgesehen vom Prasseln des Regens war es hier still und friedlich. Hinter dem offenen Holztor stand ein ziemlich neuer schwarzer Skoda. Er war auffallend schmutzig, und ein hochgeschleuderter Stein hatte die Windschutzscheibe an einer Stelle sternförmig splittern lassen.

Auf glatten, bemoosten Steinplatten gingen sie zur Hütte. Im Haus regte sich nichts. Kommissar Andersson drückte die Klinke, aber die Tür war verschlossen.

»Die Außenbeleuchtung brennt«, stellte er fest.

Irene begann, um das Haus herumzugehen, um durch die Sprossenfenster zu schauen.

Sie entdeckte ihn auf Anhieb, als sie durch das erste Fenster blickte.

»Sven!«, rief sie.

Mühsam kam der Kommissar die Treppe herunter und trottete auf sie zu. Wortlos deutete sie mit dem Finger.

Sie schauten in eine winzige Küche. Durch die offene Tür konnten sie einen Mann auf dem Rücken in der Diele liegen sehen. Seine Beine und sein Unterkörper waren verdeckt, seinen Oberkörper und Kopf oder das, was davon noch übrig war, sah man dafür umso besser. Ein einziger Blick genügte, um festzustellen, dass er tot war. Die Vorderseite seines hellen Pullovers war von rostrotem Blut getränkt. Die eine Hand lag auf der Schwelle zur Küche. Dahinter stand eine Plastiktüte mit Lebensmitteln, von denen einige auf den Küchenfußboden gefallen waren.

Andersson wandte sich mit finsterer Miene an Irene.

»Ruf die Truppe. Das hier ist kein Selbstmord.«

Kapitel 2

Am Spätnachmittag informierten Irene und Kommissar Andersson die übrigen Inspektoren des Dezernats über den Mord im Sommerhaus. Irene begann:

»Mit größter Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei der Leiche, die wir gefunden haben, um Jacob Schyttelius. Es ist uns noch nicht gelungen, seine Eltern aufzutreiben, um ihn eindeutig identifizieren zu können. Sein Chef hat uns jedoch eine Personenbeschreibung gegeben, die genau auf das Opfer passt. Er wurde einunddreißig Jahre alt. Heute um halb zwölf haben Sven und ich ihn erschossen in einem Sommerhaus gefunden. Der Schlüssel zur Haustür war unter einem großen Blumentopf auf der Außentreppe versteckt. Die Tür war also abgeschlossen. Die Leiche lag in der Diele und erweckte nicht den Anschein, als sei sie nach dem Mord noch bewegt worden. Er hatte eine Schusswunde in der Herzregion, die von einer großkalibrigen Waffe stammte. Außerdem eine im Kopfbereich, die gewaltige Zerstörungen anrichtete. Eine Waffe haben wir nicht gefunden. Während wir auf die Spurensicherung warteten, haben wir uns einen raschen Überblick verschafft. Das Haus verfügt über zwei kleine Schlafzimmer. Eines davon benutzte er offenbar als Arbeitszimmer. Dort stand ein Schreibtisch mit einem Computer. Auf den Monitor hat jemand ein Symbol gemalt. Dafür scheint Blut verwendet worden zu sein.«

»Was für ein Symbol?«, unterbrach sie Fredrik Stridh.

»Ein Stern von einem Ring umgeben. Svante behauptet, dass es sich um ein magisches Zeichen handelt. So eines, wie es Hexen und Satanisten bei ihren Ritualen verwenden. Er hat schon früher bei Ermittlungen mit solchen Symbolen zu tun gehabt, bei Brandstiftungen in Kirchen und Ähnlichem.«

»Satanisten! Dass ich nicht lache!«, schnaubte Jonny Blom. Irene zuckte mit den Achseln und nickte Hannu Rauhala zu, der brav die Hand gehoben hatte.

»Warum hat er in einem Sommerhaus gewohnt?«, wollte er wissen.

»Laut dem Rektor der Schule, an der er unterrichtete, war er frisch geschieden und nach einigen Jahren im Norden eben erst wieder nach Göteborg gezogen. Es ist schließlich nicht leicht, eine Wohnung zu finden, also hat er sich das Sommerhaus seiner Eltern unter den Nagel gerissen und dort den ganzen Herbst und Winter gewohnt. Zuletzt wurde er gestern Nachmittag gesehen, als er gegen halb fünf von der Arbeit nach Hause fuhr. In einer Tasche lagen feuchte Trainingsklamotten. Möglicherweise war er also noch in einem Fitnessstudio. Wir haben in seiner Brieftasche einen entsprechenden Mitgliedsausweis gefunden und werden entsprechende Erkundigungen einziehen. Die Lebensmittel hatte er bei Hemköp am Mölndalsvägen gekauft. Er unterrichtete an einer Schule irgendwo in der Gegend von Heden. Seine Eltern wohnen nicht weit vom Sommerhaus entfernt, aber wie gesagt, wir haben sie noch nicht erreicht. Der Vater ist Pfarrer in einem kleinen Ort, der Kullahult heißt. Wir überlegen noch, wie wir es den Eltern schonend beibringen, dass ihr Sohn ermordet wurde. Normalerweise nehmen wir ja einen Pfarrer mit, wenn wir eine Trauernachricht überbringen. Aber was macht man, wenn der Empfänger selbst Pfarrer ist?«

Irene unterbrach ihr Referat und sah in die Runde. Es war kurz nach fünf, und Kommissar Andersson hatte alle verfügbaren Inspektoren zusammenrufen lassen.

Jonny Blom war wie immer dem Schlummer gefährlich nahe. Immer wenn sein Kopf nach vorne fiel, konnte Irene einen Blick auf die kahle Stelle an seinem Hinterkopf erhaschen. Sie war eindeutig größer geworden. Die Haare, die er am Morgen ordentlich mit Gel zurechtgekämmt hatte, waren verrutscht.

Neben ihm saß der Benjamin des Dezernats und sah umso wacher und außerdem vollhaarig aus. Fredrik Stridh war ebenso tüchtig wie energisch, und Irene hatte ihn in letzter Zeit zunehmend zu schätzen gelernt.

Hannu Rauhala saß schweigend rechts neben Irene, aber sie wusste, dass ihm nichts entging. Seine Frau Birgitta war die zweite Inspektorin des Dezernats. Sie befand sich noch im Mutterschutz und würde erst in zwei Monaten wiederkommen. Dann würde sich Hannu beurlauben lassen, um sich um den gemeinsamen Sohn zu kümmern. Das war vor einigen Tagen im Dezernat bekannt geworden, und Kommissar Andersson hatte richtiggehend schlechte Laune bekommen. Er hatte wütend vor sich hin gebrummelt. Sätze wie »Kleinkinder brauchen die Mutter« und »Männer taugen nicht als Kindermädchen« waren zu hören gewesen.

Auch Tommy Persson fehlte, konnte aber jederzeit wieder auftauchen. Er hatte den größten Teil des Tages damit verbracht, einen des Mordes Verdächtigen zu verhören. Es handelte sich um einen gewöhnlichen Junkiemord an einem Dealer. Das Opfer hieß Ronny »Speedy« Olofsson. Speedy hatte Geld unterschlagen, von dem sein Großhändler meinte, dass es ihm gehörte. Da es sich um eine beträchtliche Summe gehandelt hatte, war die Strafe entsprechend ausgefallen. Es hatte eher einer Hinrichtung als einem Mord geähnelt.

Speedy hatte an einem frühen Sonntagmorgen einen Kopfschuss erlitten. Die einzigen Zeugen waren ein paar Ornithologen in einem Auto gewesen. Zwei dieser Vogelliebhaber hatten das Gesicht des Mörders gesehen. Demzufolge hatte er eine große Narbe gehabt, die von der Nasenwurzel bis über die rechte Wange verlief. Als die Ermittler diese Beschreibung vernommen hatten, wussten sie sofort, nach wem sie zu suchen hatten.

Asko Pihlainen, der Tatverdächtige, war bereits mehrfach wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft und hatte sich diverser Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, der Einschüchterung von Zeugen und Autodiebstählen schuldig gemacht. Jetzt tauchte sein Name zum ersten Mal im Zusammenhang mit einem Mord auf. Asko stritt jedoch alles ab. Er habe den Tatort nie betreten. Und im Übrigen habe er Zeugen dafür, dass er zum Zeitpunkt des Mordes beim Nachbarn gesessen und Poker gespielt habe.

Darin bestand das Problem. Der Nachbar und zwei Frauen bezeugten, dass Asko mit ihnen Sonntagmorgen um fünf Uhr Karten gespielt habe. Ihre Aussage war nicht zu erschüttern, und die Ermittlung somit festgefahren. Irene beneidete Tommy nicht um seine Aufgabe. Asko Pihlainen war berüchtigt dafür, dass er stets alles abstritt. Die Zeugen, die gegen ihn aussagten, zogen ihre Aussagen immer nach einiger Zeit wieder zurück. Noch konnte Asko nicht herausgefunden haben, wer die Ornithologen waren, aber das war nur eine Frage der Zeit.

Irene seufzte und beschloss, sich auf ihren eigenen Fall zu konzentrieren. Sie wiederholte ihre Frage:

»Findet ihr, dass wir einen Pfarrer zu den Eltern von Jacob Schyttelius mitnehmen sollten?«

»Ach was. Wenn er selbst Pfaffe ist, dann wird er schon allein damit fertig werden«, meinte Jonny Blom.

Hannu meldete sich zu Wort.

»Es ist eine Sache, professionell Beistand zu leisten. Wenn es um einen selbst geht, ist das etwas ganz anderes.«

Fredrik Stridh nickte zustimmend.

»Genau! Außerdem kann man wohl davon ausgehen, dass er als Pfarrer religiös ist.«

Er unterbrach sich, als die anderen zu lachen begannen, und fuhr dann erklärend fort:

»Ich meine, dass ein religiöser Mensch ein noch größeres Be dürfnis hat, sich mit einem Pfarrer zu unterhalten, als wir anderen. «

»Da hat Fredrik sicher Recht. Ich neige auch dazu, einen Pfarrer zum Ehepaar Schyttelius mitzunehmen«, sagte Irene.

Zum ersten Mal, seit sie ihr Referat begonnen hatte, ergriff Kommissar Andersson das Wort:

»Er heißt Sten. Sten Schyttelius. Wie sie heißt, daran erinnere ich mich nicht mehr.«

Fredrik Stridh zog die Augenbrauen hoch.

»Kennst du sie?«

»Eigentlich nicht. Bekannte von Bekannten.«

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass der Kommissar das Thema für beendet hielt. Fredrik nahm sich das zu Herzen und hakte nicht nach, aber der Blick, mit dem er seinen Chef musterte, war lang und nachdenklich.

Andersson räusperte sich und sagte:

»Irene, du kümmerst dich um einen Pfarrer und fährst dann zu den Schyttelius raus. Nimm noch jemanden mit.«

Fredrik meldete sich freiwillig. Mit einem spöttischen Blick auf Hannu sagte er:

»Schließlich springt man gern mal für einen Freund und Kollegen ein. Hannu muss nämlich heute Abend zum Training. Und wisst ihr auch, was für ein Training das ist?«

Seine Augen funkelten so frech, dass Irene neugierig wurde. Der weißblonde Finne mit den eisblauen Augen wirkte tatsächlich sehr durchtrainiert. Sie hatte aber nie darüber nachgedacht, ob er wohl irgendeinen Sport trieb. Die Kollegen am Tisch schlugen Krafttraining, Gewichtheben, Abhärtung vor der finnischen Meisterschaft im Saunabaden und Last-man-standing-Koskenkorva-vodka-Championship vor, aber nichts davon stimmte.

»Babyschwimmen!«, rief Fredrik fröhlich.

Eine schwache Röte legte sich auf Hannus Wangen. Seiner Stimme war jedoch nichts anzumerken, als er beiläufig fragte:

»Woher weißt du das?«

»Man ist schließlich nicht umsonst Ermittler! Scherz beiseite, Birgitta hat vorhin angerufen. Du warst nicht da, und sie hat mich gebeten, dich daran zu erinnern, dass ihr heute Abend zum Babyschwimmen wolltet. Ich muss gestehen, dass ich das vollkommen vergessen hatte, aber jetzt richte ich dir also hiermit ihre Grüße aus. Vergiss das Babyschwimmen nicht!« Fredrik lachte.

Der Kommissar unterbrach die Frotzelei:

»Okay. Bringt die Adresse in Erfahrung und fahrt zu den Eltern von Schyttelius raus. Ich bin hier im Präsidium. Wahrscheinlich hören wir bald von den Zeitungen.«

 

Irene hatte Glück. Der Pfarrer der Nachbargemeinde war zu Hause. Er hieß Jonas Burman, und seine Stimme klang angenehm. Als ihm klar wurde, worum es ging, erklärte er sich sofort bereit, sie zu begleiten, um ihnen beim Überbringen der Todesbotschaft moralischen Beistand zu leisten. Er beschrieb ihnen den Weg zu seinem Haus in Slättared. Von dort würde er ihnen dann zeigen, wie es zum Pfarrhaus von Kullahult, in dem Hauptpfarrer Schyttelius wohnte, ging.

Sie fanden das Haus in Slättared ohne Probleme. Vor dem Tor stand eine lange Gestalt frierend im Wind. Dieser hatte in den letzten Stunden an Stärke zugenommen und Schneeregen mit sich gebracht. Die Flocken schmolzen, sobald sie auf den nassen Boden trafen. Irene bremste und hielt an. Fredrik und sie stiegen aus, um Jonas Burman zu begrüßen.

Er war viel jünger, als seine Stimme am Telefon hätte vermuten lassen. Sein Haar war blond und blies ihm die ganze Zeit ins Gesicht. Als er Irene begrüßte, spürte sie, wie kalt seine Hand war, aber sein Handschlag war fest, und seine Finger waren schmalgliedrig und lang. Irene fühlte sich an einen Musiker erinnert. Seine blauen Augen blickten freundlich hinter einer rechteckigen, schmalen Brille hervor.

Im Wagen informierte Fredrik den Pfarrer darüber, was Jacob Schyttelius zugestoßen war. Jonas Burman hörte ihm schweigend zu. Als Fredrik fertig war, sagte der Pfarrer:

»Ich habe Jacob einige Male getroffen. Er ist . . . war . . . ein sehr netter Bursche. Es ist mir vollkommen unbegreiflich, wie so etwas geschehen konnte. Kann es sich um einen Raubüberfall gehandelt haben?«

»Keine Ahnung. Wir stehen ja erst am Anfang unserer Ermittlungen. Im Augenblick haben wir noch nicht den geringsten Hinweis. Vielleicht wissen ja seine Eltern mehr«, antwortete Fredrik.

»Sie haben doch nicht etwa vor, sie noch heute Abend zu verhören? «, wollte Jonas Burman besorgt wissen.

»Nein. Nur wenn sie dazu in der Verfassung sind. Sonst warten wir natürlich ab«, beruhigte ihn Fredrik.

Der Pfarrer deutete auf ein Schild und sagte:

»Da müssen wir abbiegen.«

Auf dem Schild stand: Kullahult 2 km.

 

Die angestrahlte Kirche war trotz zunehmender Dämmerung schon von ferne zu erkennen. Sie lag auf einer Anhöhe und thronte förmlich über der kleinen Ortschaft.

»Das Pfarrhaus liegt direkt neben der Kirche. Halten Sie einfach auf die Kirche zu«, sagte Jonas Burman.

Am Fuß der Anhöhe dirigierte er sie auf einen Schotterweg. Ein Stück oberhalb sah Irene die Friedhofsmauer. Sie verschwand bald aus ihrem Blickfeld, da der Weg geradeaus und nicht um den Hügel herumführte.

Ein großes weißes Haus, umgeben von einem parkähnlichen Garten, tauchte vor ihnen auf. Irene fuhr durch das offene Tor. Kies knirschte unter den Reifen.

»Merkwürdig . . .«, begann Jonas Burman, hielt dann aber inne.

Er sah sich um, nachdem sie auf dem runden Hofplatz geparkt hatten. Einzig das Rauschen des Windes und des Regens in den Baumkronen war zu vernehmen.

»Sten und Elsa machen sonst immer die Garten- und Außenbeleuchtung an, sobald es dunkel wird. Hier auf der Rückseite des Kirchhügels ist es schließlich sehr dunkel und einsam«, fuhr er fort.

Nasse Schneeflocken schlugen ihnen ins Gesicht, als sie aus dem Auto stiegen. Das Dunkel unter den großen Bäumen und den Büschen war bereits undurchdringlich. Eine hohe und düstere Tannenhecke umgab den Garten und schottete ihn ab. Die schwarzen Fenster des Hauses sahen sehr abweisend aus.

»Könnten sie weggefahren sein?«, fragte Fredrik.

»Nein. Wir Pfarrer im Bezirk teilen uns immer gegenseitig mit, wenn wir verreisen«, antwortete Jonas Burman.

»Auch wenn es nur für einen Tag ist?«

»Ja. Wir haben einen entsprechenden Dienstplan in unserem Pfarrbezirk. An Werktagen ist immer einer von uns für den Notfall erreichbar. Auch wenn wir nicht Bereitschaft haben, sagen wir, wo wir zu erreichen sind. Zwei weitere Kirchengemeinden sind Teil dieses Systems. Im Ganzen also vier Pfarrer. Das funktioniert ausgezeichnet.«

Irene steckte die Taschenlampe ein, die im Handschuhfach lag, ehe sie auf das protzige Portal zugingen. Vier Säulen aus Holz trugen ein Vordach, das Vortreppe und Tür vor Regen und Schnee schützte. Das Ganze hatte den Charme eines alten Herrenhauses. Die Flügeltüren waren mit Schnitzereien verziert. Irene streckte die Hand aus, um den schweren Gusseisenklopfer anzuheben, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Der eine Türflügel war nur angelehnt. Sie knipste die Taschenlampe an, um zu sehen, ob er vielleicht beschädigt war. Doch es gab keine Hinweise darauf. Vorsichtig drückte sie die Tür mit der Taschenlampe auf. Ehe sie eintraten, sagte sie zu dem Pfarrer:

»Dass die Tür offen steht, muss nichts bedeuten. Genauso wenig muss es etwas bedeuten, dass das Haus verlassen wirkt, weil überall kein Licht brennt. Aber vor dem Hintergrund dessen, was der Familie gerade zugestoßen ist, möchte ich nicht, dass Sie irgendetwas berühren. Keine Lichtschalter, Treppengeländer und so weiter. Bleiben Sie einfach dicht hinter uns.«

Jonas Burman antwortete nicht. Er stellte sich schräg hinter Irene und folgte ihr dann ins Innere des Hauses. Irene leuchtete mit der Taschenlampe die Innenseite des Türrahmens ab und fand den Lichtschalter. Sie drückte ihn mit dem Griff der Taschenlampe.

Aus einem kleinen Kronleuchter in der großen Eingangshalle strömte Licht. Auf dem Boden lag ein großer Flickenteppich in fröhlichen Farben. Neben der Tür stand eine Truhe mit gebogenem Deckel. Sie war mit so vielen Blumen und Schmetterlingen bemalt, dass die Jahreszahl 1796 kaum zu erkennen war. Ein schönes Stück. Soweit Irene das beurteilen konnte, war die Truhe wirklich so alt, wie die Jahreszahl vorgab. Der Spiegel darüber schien kaum neuer zu sein. Er hatte einen schweren Goldrahmen und zwei Scheiben. Die Standuhr daneben trieb schwerfällig tickend die Zeit voran.

Jonas Burman legte die Hände an den Mund und rief nach oben:

»Hallo! Sten und Elsa! Ich bin’s, Jonas!«

Er ließ die Hände sinken, und sie lauschten alle drei. Durchdringende Stille beantwortete den Ruf. In der Diele war es nicht besonders warm, aber das konnte daran liegen, dass die Tür einen Spalt offen gestanden hatte.

Mit einem resignierten Seufzer stellte sich der Pfarrer in die Mitte des Entrées und begann zu erklären:

»Unter der Treppe ins Obergeschoss liegt eine Toilette. Oben sind Schlafzimmer und einige andere Zimmer. Ich meine, mich zu erinnern, dass sich oben auch ein Badezimmer und eine separate Toilette befinden. Hier unten sind rechts das Esszimmer und das Wohnzimmer. Hier auf dem Land nennen wir es etwas altmodisch Salon. Aber da dieses Haus alt ist, ist der Raum recht groß und wird dieser Bezeichnung gerecht.«

Er drehte sich halb um und deutete auf die gegenüberliegende Tür.

»Da ist die Küche. Die Tür neben der Treppe führt zum Arbeitszimmer. Dahinter liegt die Bibliothek.«

Sie entschieden sich dafür, sich zuerst die Küche anzusehen. Sie war groß und hoch. Beim ersten Anblick fühlte sich Irene hundert Jahre zurückversetzt. Herd und Kühlschrank waren allerdings neu. Dasselbe galt für die Spülmaschine. Im Übrigen waren die Schränke dunkel und im Bauernstil gehalten. Die Deckenbalken waren zu sehen, und ein großer Tisch stand in der Mitte des lackierten Holzfußbodens. Irene zählte zwölf Stühle. Alles wirkte alt und gediegen. Sie konnte es sich nicht verkneifen, den Pfarrer zu fragen:

»Und hier wohnen also nur zwei Personen?«

»Ja. Das ist das Problem mit diesen großen, alten Pfarrhäusern. Es kostet ein Vermögen, sie zu heizen, und eine normale Familie kann die vielen Zimmer gar nicht mit Leben füllen. Früher hatten die Pfarrer oft große Familien und viele Dienstboten. Die Pfarrhäuser dienten gleichzeitig als Gemeindeheim. Deswegen baute man sie so groß.«

Irene hatte nur eine äußerst vage Vorstellung davon, was für eine Funktion ein Gemeindeheim hatte, beschloss aber, nicht nachzuhaken. Sie öffneten die Türen am gegenüberliegenden Ende der Küche. In der winzigen Kammer hatte vermutlich einmal ein Dienstmädchen gewohnt. Hinter der zweiten Tür befand sich eine modern ausgerüstete Spülküche. In einer Ecke stand eine große Tiefkühltruhe und brummte monoton. Eine Tür nach draußen, zum Garten, existierte auch. Irene drückte die Klinke. Abgeschlossen. Vorsichtig öffnete sie den Deckel der Tiefkühltruhe einen Spaltweit. Sie war bis zur Hälfte mit ordentlichen Paketen und Plastikgefäßen gefüllt. Sie gingen durch die Küche zurück und ließen das Licht brennen.

Danach absolvierten sie eine schnelle Runde durch Schyttelius’ Arbeitszimmer und Bibliothek. Auch diese waren groß und mit Antiquitäten möbliert. In den Regalen an den Wänden der Bibliothek standen alte Bücher. Es roch nach Staub und altem Leder.

Das Esszimmer und der so genannte Salon gingen ineinander über, zwei große, hohe Räume, aber auch sehr kalt. Irene begriff, warum die Tür zwischen dem Entrée und den Zimmern geschlossen gewesen war. Hier wurde wahrscheinlich fast gar nicht geheizt. Die beiden großen Kachelöfen auf beiden Seiten des Saals waren sicher schon lange nicht mehr benutzt worden. Die Möblierung war spärlich. Im Saal stand eine lange Bank mit einer Sprossenlehne. Es sah aus, als hätten bis zu zehn Personen darauf Platz. Bequem wirkte es allerdings nicht. Entlang den Wänden standen Stühle, die zu der Bank passten. Den Boden bedeckte ein großer Teppich. Er war abgetreten und verschossen, aber sicher einmal ein Prachtstück gewesen. Im Speisezimmer stand ein langer, weiß lackierter Tisch mit nur sechs Stühlen. Daraus schloss Irene, dass die Familie in der Küche saß, wenn Gäste kamen.

Die Eingangshalle kam ihnen im Gegenzug dazu warm und einladend vor. Sie gingen die Treppe hoch. Die Galerie oben war sehr geräumig. Sie war mit braunen Ledersofas und einem großen Fernseher an der einen Wand überraschend modern möbliert. Mit ausdruckslosen Augen starrten drei ausgestopfte Elchköpfe auf die Besucher herab.

»Das Fernsehzimmer«, stellte Jonas Burman unnötigerweise fest.

Sie trennten sich. Irene ging nach links, und die Männer übernahmen den rechten Teil des Obergeschosses. Der erste Raum, den Irene inspizierte, war erstaunlicherweise ein Billardzimmer, das von einem riesigen Billardtisch dominiert wurde. Auch hier hingen Jagdtrophäen an den Wänden. In der hinteren Ecke standen ein paar Stühle und ein Tisch. Die nächste Überraschung war der reichlich gefüllte Barwagen neben dem Tisch. Irene betrachtete ihn näher. Die meisten Flaschen waren böhmische Dörfer für sie. Sie stammten aus dem Ausland, und die Etiketten waren in der Landessprache gehalten. Offensichtlich reiste das Ehepaar Schyttelius recht viel und brachte dann immer ein paar exotische Flaschen mit, vielleicht als Souvenir.

Irene ging auf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers zu. Ein Schlüssel steckte im Schloss. Sie war jedoch nicht abgeschlossen und ließ sich durch einen Druck mit der Taschenlampe auf die Klinke öffnen. Auf gleiche Weise machte sie die Deckenlampe an. Die Glühbirne hinter der in die Decke eingelassenen, gesprungenen Milchglasscheibe leuchtete schwach.

Im Zimmer war es auffallend kalt. Es war nur mit ein paar modernen Aktenschränken und einem großen Schreibtisch möbliert, auf dem sich ein Computer befand. Irene trat hinter den Schreibtisch, um einen Blick auf Tastatur und Monitor zu werfen. Sie konnte kaum glauben, was sie sah.

Gut möglich, dass der Stern, der sich inmitten eines Kreises befand, mit Blut auf den Computer geschmiert worden war.

Kapitel 3

Pfarrer Jonas Burman und ich fanden Sten und Elsa Schyttelius im Schlafzimmer vor. Ich wollte ihn noch davon abhalten, mir nachzukommen, aber leider ist er groß, und es gelang ihm, über meine Schulter zu schauen. Er erlitt einen Schock. Aber es war auch wirklich ein übles Blutbad«, sagte Fredrik Stridh.

Er sah über den Konferenztisch in die Runde. Außer ihm und Irene saßen dort noch Kommissar Andersson, Tommy Persson und Hannu Rauhala. Jonny Blom war bereits nach Hause gegangen, als wegen des Doppelmords im Pfarrhaus der Alarm im Präsidium eingegangen war. Hannu war gerade auf dem Sprung zum Babyschwimmen gewesen, hatte aber beschlossen zu bleiben, als er hörte, worum es ging.

»Ich hatte gerade Burman auf eines der Sofas gesetzt, da kam Irene. Sie hatte einen Computer entdeckt mit einem dieser Sternsymbole auf dem Monitor, wie Sven und ich es bei Jacob Schyttelius gesehen haben«, fuhr Fredrik fort.

»War es denn wirklich das gleiche Motiv?«, unterbrach ihn Andersson und sah Irene fragend an.

Diese nickte.

»Absolut.«

Fredrik räusperte sich.

»Sten und Elsa Schyttelius wurden mit einer großkalibrigen Waffe aus unmittelbarer Nähe erschossen. Sten Schyttelius war Jäger.«

»Woher weißt du das?«, unterbrach der Kommissar erneut.

» Von Jonas Burman. Außerdem hängen die Wände des Pfarrhauses voll mit ausgestopften Tierleichen. Burman ist schon seit zwei Jahren in der Gemeinde von Slättared tätig. Er wusste also einiges über seinen Chef und dessen Familie. Die Tochter heißt Rebecka und wohnt in London. Ihr ist er bisher erst einmal begegnet. Bei irgendeiner Weihnachtsfeier oder so.«

»Wir müssen sie sofort unter Polizeischutz stellen!«, rief Irene.

»Wieso denn das?«, wollte Andersson wissen.

»Im Hinblick darauf, was ihrer Familie zugestoßen ist. Sie ist die Einzige, die noch am Leben ist. Wir kennen das Motiv für die Morde noch nicht, aber es hat den Anschein, als versuche jemand, die Familie Schyttelius auszulöschen«, meinte Irene.

»Sie wohnt doch in England . . .«, begann der Kommissar, wurde aber von Tommy Persson unterbrochen.

»Die Eheleute Schyttelius scheinen etwa zur gleichen Zeit wie der Sohn gestorben zu sein. Der Mörder hat über vierundzwanzig Stunden Vorsprung. Er könnte sich bereits in London aufhalten.«

Der Kommissar murmelte etwas vor sich hin und nickte dann.

»Okay. Dann müssen wir eben versuchen, ihre Adresse herauszukriegen, und die Kollegen in London informieren. Erledigst du das, Hannu?«

Letzteres war keine Frage, sondern eine Aufforderung.

Kommissar Andersson bedeutete Fredrik, fortzufahren.

»Im Schlafzimmer fanden sich keine Spuren eines Kampfes. Sowohl Irene als auch ich sind der Ansicht, dass sie im Schlaf erschossen wurden. Beide lagen im Bett, mit dem Kopf auf dem Kopfkissen, genauer gesagt mit dem, was davon noch übrig war. Und beide wurden von vorne erschossen.«

»Haben die Nachbarn irgendwas gehört?«, fragte der Kommissar.

»Wir stehen hier vor demselben Problem wie bei dem Sommerhaus. In der Nähe der Kirche gibt es keine Nachbarn. Das Pfarrhaus liegt abgeschieden hinter dem Hügel mit der Kirche«, antwortete Irene.

»Wir haben die mutmaßliche Mordwaffe gefunden«, warf Fredrik ein.

Das war dem Kommissar neu.

»Und das sagst du erst jetzt! Was für eine ist es?«

»Eine Husqvarna Neunzehnhundert. Lag unterm Bett.«

»Soso. Unsere geliebte, alte Husqvarna«, seufzte der Kommissar.

Irene konnte seinen Seufzer verstehen. Die verschiedenen Typen von Schrotflinten und Elchstutzen der Marke Husqvarna stellten das Gros der Waffen, die für Morde und vor allen Dingen Selbstmorde in Schweden verwendet wurden. Die Erklärung dafür war einfach. Es handelte sich dabei um eine der gängigsten Jagdwaffen. Und es war leicht, an sie heranzukommen.

»Svante Malm rief vorhin an. Sie haben einen nicht verschlossenen Waffenschrank der Marke Zugil im Arbeitszimmer des Pfarrers gefunden«, sagte Fredrik.

»Meinst du das Arbeitszimmer im Obergeschoss oder das unten?«, wollte Irene wissen.

»Das mit dem Computer im Obergeschoss. Svante will morgen früh zu unserer morgendlichen Runde erscheinen und berichten, was sie eventuell noch im Verlauf der Nacht herausfinden werden.«

»Wie alt war das Ehepaar Schyttelius?«, fragte Tommy.

»Er war vierundsechzig und sie dreiundsechzig. Er wollte sich im Sommer pensionieren lassen«, wusste Fredrik zu berichten.

Er schaute in seine Papiere und sagte zögernd:

»Ich habe Jonas Burman gefragt, wie alt Rebecka ist, aber er war sich nicht sicher. Er glaubt, um die fünfundzwanzig.«

»Was macht sie in London?«, fragte Irene.

»Sie arbeitet als Softwarespezialistin. Laut Burman.«

»Dieser Burman war wirklich gesprächig«, murmelte der Kommissar.

»Ja. Er stand zwar unter Schock, versuchte aber trotzdem, unsere Fragen zu beantworten. Netter Kerl.«

»Was hat er denn noch gesagt?«, fragte Tommy.

»Er fand, dass wir uns mit der Gemeindeschwester unterhalten sollten. Sie hat viele Jahre mit Schyttelius zusammengearbeitet. Sie heißt . . .«

Er blätterte in seinem Block zurück.

». . . Rut Börjesson. Dann sind da noch Leute auf dem Gemeindeamt, die wir befragen können.«

»Okay. Ich habe bereits vier Leute losgeschickt, die in Kullahult von Haus zu Haus gehen. Zwei weitere sind damit seit heute Nachmittag am Norssjön beschäftigt. Sie melden sich, falls sich etwas ergeben sollte. Morgen früh nach der Morgenbesprechung könnt ihr drei ja nach Kullahult rausfahren. Hannu und Jonny übernehmen den Norssjön«, beendete Kommissar Andersson die Besprechung.

 

Die Uhr auf dem Armaturenbrett des alten Saabs stand auf 22.41 Uhr, als Irene in ihre Garage einbog. Die Garagen befanden sich am Rande der Reihenhaussiedlung. Sie öffnete das schwere Garagentor und fuhr den Wagen hinein. Nicht, weil sie dachte, der dreizehn Jahre alte Wagen könnte gestohlen werden, sondern weil sie verhindern wollte, dass er eiskalt war, wenn sie am nächsten Morgen wieder startete. Als sie das Tor verriegelte, spürte sie ihren Rücken und ihre Schultern. Sie beschloss, am nächsten Tag ein wenig Fitness einzulegen, stellte aber beim näheren Nachdenken fest, dass die Zeit dafür kaum reichen würde. Die Verhöre würden sicherlich den ganzen Tag und einen Teil des Abends in Anspruch nehmen. Sie würde also früh am Morgen joggen gehen müssen.

Früh aufzustehen war nicht ihre starke Seite. Um die Wahrheit zu sagen, war sie morgens immer fürchterlich müde. Aber wenn das die einzige Möglichkeit war, sich fit zu halten, dann würde sie eben frühmorgens joggen gehen.

Wenn man die vierzig erst einmal überschritten hat, dann muss man in dieser Hinsicht wirklich eisern sein, lautete ihre Devise. Sie war stolz darauf, so fit zu sein, und trainierte, wann immer sie die Gelegenheit dazu hatte. Vor zwanzig Jahren hatte sie bei der Europameisterschaft die Goldmedaille in Jiu-Jitsu errungen. Damit hatte sie auf der Polizeihochschule in Ulriksdal punkten können. Wenig später war sie Krister begegnet und fast sofort schwanger geworden. Die Geburt der Zwillinge hatte sie einiges ihrer Kondition gekostet, aber recht bald hatte sie wieder begonnen zu trainieren. Inzwischen trieb sie einmal in der Woche Krafttraining, joggte zweimal und unterwies jeden Sonntag eine Gruppe Polizistinnen in Jiu-Jitsu.

Das reine Training fiel ihr jedoch von Jahr zu Jahr schwerer. Alte Verletzungen brachten sich in Erinnerung, beispielsweise benötigte sie beim Joggen immer einen Knieschützer. Andererseits fühlte sie sich psychisch und physisch schlecht, wenn sie nichts tat.

Als sie die Tür des Reihenhauses öffnete, wurde sie von Sammie begeistert begrüßt. Freudig sprang er an ihr hoch und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken, während sie sich vorbeugte, um seinen goldenweichen Pelz zu streicheln. Das Beste an Hunden ist, dass sie sich freuen, egal, wann man nach Hause kommt, dachte Irene. Nie ein Vorwurf, weil man spät dran ist.

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Krister, die vegetarische Lasagne stehe im Kühlschrank. Irene seufzte. Das Essen bei Familie Huss war ihrer Ansicht nach immer ausgezeichnet gewesen, bis Jenny vor einiger Zeit Veganerin geworden war. Etwa gleichzeitig hatte es sich Krister in den Kopf gesetzt, abnehmen zu müssen, und nach einer Weile die neuen Essgewohnheiten seiner Tochter mit großer Begeisterung übernommen. Inzwischen aß Familie Huss dreimal in der Woche vegan und nur die übrigen Tage Fleisch und Fisch. Dann machte sich Jenny die Reste warm oder kochte sich selbst etwas. Irene seufzte und dachte sehnsuchtsvoll an ein großes, blutiges Steak mit einem cremigen, nach Knoblauch duftenden Kartoffelgratin.

Sie erwärmte ein Stück Lasagne in der Mikrowelle und trank im Stehen ein Glas Milch. Nachdem sie rasch geduscht hatte, ging sie ins Obergeschoss. Dort öffnete sie die Tür zum Zimmer der Mädchen einen Spaltbreit und sah, dass beide bereits schliefen. Sie hatten noch etwas mehr als ein Jahr auf dem Gymnasium, dann würden sie wahrscheinlich so schnell wie möglich von zu Hause verschwinden wollen. Es gab Irene einen Stich, als sie daran dachte. Dann war sie mit Krister allein im Haus. Und mit Sammie.

Sie schlich sich ins Schlafzimmer und hörte Kristers schwere Atemzüge. Er würde bald zu schnarchen anfangen. Natürlich hatte sich Sammie mitten auf Irenes Bett gelegt. Die Pfoten in der Luft, lag er auf dem Rücken und tat so, als schliefe er. Irene war zu müde, um ihn vorsichtig wegzuschubsen, und setzte ihn resolut auf den Fußboden. Tief gekränkt trottete Sammie nach draußen und legte sich auf den Teppich vor den Fernseher.

Als sie die Augen schloss, sah sie abwechselnd die blutigen Bilder aus dem Sommerhaus und aus dem Pfarrhof vor sich. Wer wollte Familie Schyttelius auslöschen? Und warum? War auch Rebecka Schyttelius in Gefahr? Vielleicht war die Bedrohung aber auch örtlich begrenzt und betraf sie gar nicht, da sie in London wohnte? Warum hatte der Mörder diese seltsamen Symbole mit Blut auf die Computermonitore gemalt?

Die Gedanken wirbelten in Irenes Kopf herum, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Kapitel 4

Svante Malm erweckte nicht den Eindruck, als hätte er in den letzten vierundzwanzig Stunden auch nur eine Minute geschlafen, und dem war auch nicht so. Sein sonst immer so fröhliches Pferdegesicht war aschgrau vor Müdigkeit. Sogar seine Sommersprossen schienen blasser als sonst. Er blinzelte und fuhr sich mit den Fingern wiederholte Male durch seine rotgraumelierten Haare.

Falls das ein Versuch war, Fasson in seine nichtvorhandene Frisur zu bringen, war dieser jedenfalls vergebens. Er sah nur noch mehr wie ein in die Jahre gekommener Punker aus. Wir werden alle müder und verbrauchter, dachte Irene. Ein Glück, dass wir Fredrik haben.

Sie schielte auf Fredrik Stridh. Kerzengerade saß er auf seinem Stuhl und sah geradezu unverschämt munter aus. Der dünne, hellblaue Baumwollpullover harmonierte mit seinen Augen, und er duftete gut nach Duschgel und Rasierwasser.

Svante Malm wurde ungeduldig. Er räusperte sich und sagte:

»Ich habe mit Åhlén gesprochen. Er kommt gleich vorbei, um uns zu berichten, was sich im Sommerhaus ergeben hat. Ich referiere jetzt, was wir bisher im Pfarrhaus gefunden haben. In der Tat war Frau Professor Stridner so nett, gestern Abend noch rauszukommen und sich die Leichen anzusehen. Sie meinte, dass sie wahrscheinlich noch keine vierundzwanzig Stunden tot waren. Im Schlafzimmer war es kalt, höchstens siebzehn Grad. Sie hat versprochen, gleich heute Morgen die Obduktionen vorzunehmen.«

Er unterbrach sich und trank einen Schluck Kaffee. Irene bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte, als er den Becher an die Lippen führte. Die Spurensicherung hatte noch weniger Personal als sonst, da die gegenwärtige Grippewelle immer noch Opfer forderte. Zwei davon arbeiteten bei der Spurensicherung.

»Um mit den Opfern zu beginnen, so wurden diese aus nächster Nähe mit mindestens einem Schuss in die Stirn getötet. Wenn man jemandem mit einem Elchgewehr zwischen die Augen schießt, gibt es nicht nur ein kleines, sauberes Loch, sondern der ganze Hinterkopf wird förmlich weggeblasen. Sie waren sofort tot. Nichts deutet auf einen Kampf hin. Die Verletzungen lassen darauf schließen, dass das Gewehr, das wir unter dem Bett fanden, die Mordwaffe ist. Keine Fingerabdrücke. Jemand hat es sorgfältig abgewischt.«

»Wie ist der Mörder ins Haus gekommen?«, unterbrach ihn Kommissar Andersson.

»Die Tür stand offen, als Irene und Fredrik ankamen. Der Schlüssel steckte von außen.«

Tommy pfiff leise und sagte dann:

»Der Mörder hatte also einen Hausschlüssel.«

»Nicht unbedingt. Irene und ich haben den Schlüssel zum Sommerhaus unter einem Blumentopf auf der Treppe gefunden«, mischte sich Andersson ein. »Stand auf der Treppe des Pfarrhauses auch ein Blumentopf?«

Irene dachte nach, aber noch ehe sie antworten konnte, kam ihr Fredrik zuvor:

»Ja, irgendein Nadelbaum. Ein großer weißer Blumentopf stand auf der Treppe. Du meinst, dass der Schlüssel darunter gelegen haben könnte?«

Der Kommissar nickte, zuckte aber gleichzeitig mit den Achseln. Möglich war alles. Die Familie hatte vielleicht immer einen Reserveschlüssel unter einem Blumentopf liegen gehabt. Bei schwedischen Familien nicht gerade ungebräuchlich, sondern der statistisch gesehen wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für Ersatzschlüssel.

»Es scheint auch keine der Außentüren aufgebrochen worden zu sein. Damit wären wir beim Computer. Das Symbol auf dem Monitor ist mit Menschenblut gemalt. Wessen Blut, werden wir später erfahren. Der Computer selbst blieb mausetot, als ich versucht habe, ihn hochzufahren. Wir haben ihn herbringen lassen. Ljunggren kennt sich mit den Dingern aus, er soll nachschauen, was da los ist. Åhlén hat den Computer aus dem Sommerhaus ebenfalls herbringen lassen. Bei dem war’s genauso.«

Svante zog ein paar Polaroids aus einem Umschlag und reichte sie Tommy Persson.

»Hier haben wir Bilder von diesem Symbol.«

Rasch wurden sie unter die Anwesenden verteilt. Irene wurde es ganz unwohl, als sie den fünfzackigen, von einem Ring umschlossenen Stern sah. Svante hatte jeweils »Sommerhaus« und »Pfarrhof« oben in die Ecke geschrieben. Soweit Irene erkennen konnte, waren die Symbole identisch.

»Bei diesen Sternen handelt es sich um Pentagramme. Ein Pentagramm ist ein fünfzackiger Stern, der sich ohne abzusetzen mit fünf geraden Linien zeichnen lässt. Eine Spitze zeigt nach oben, zwei weitere nach unten und zwei zu den Seiten.«

Svante stand auf. Er zog die weiße Leinwand herab, die an der Decke hing, und knipste den Overheadprojektor an. Auf diesen legte er einen mit blauem Filzschreiber gemalten fünfzackigen Stern.

»Das hier ist ein Pentagramm. Vergleicht es mit denen auf den Fotos. Seht ihr den Unterschied?«

»Ja. Die auf den Monitoren stehen verkehrt herum«, antwortete Fredrik rasch.

»Genau. Jetzt drehe ich meine Zeichnung um.«

Mit einer raschen Handbewegung verrutschte Svante die Folie um einhundertachtzig Grad.

»Seht ihr, dass sich das Aussehen des Sterns verändert? Jetzt hat er plötzlich zwei Spitzen nach oben und eine nach unten. Dadurch wird er zu einem magischen Symbol, und auf dieses bin ich schon früher einige Male gestoßen. Jetzt male ich die beiden Spitzen oben und die eine unten aus.«

Rasch malte er die drei Zacken und die Mitte mit rotem Filzstift aus. Für die Zuschauer ergab sich ein schmales Dreieck mit zwei Spitzen nach oben. Svante trank einen Schluck Kaffee, ehe er fortfuhr:

»Das ist das Antlitz des Teufels. Zwei Hörner und der Bocksbart. «

Er verstummte, um zu sehen, welche Wirkung seine Worte hatten. Sämtliche Polizisten schauten mehr oder minder verwundert, während Kommissar Andersson prompt und eindeutig reagierte:

»Was soll der Unsinn? Antlitz des Teufels? Willst du uns verarschen? «, fauchte er wütend.

Svante versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht glich eher einer bleichen Grimasse.

»Nein. Wie gesagt sind mir diese Symbole schon früher begegnet. Zwei Mal bei Brandstiftungen von Kirchen und einmal bei einem Mord. Der Mord wurde nie aufgeklärt, aber alles deutete darauf hin, dass es sich um das Werk von Satanisten handelte. Ich meine den Purpurmord, erinnert ihr euch?«

Alle außer Fredrik nickten. Svante sah ihn an und sagte:

»Du bist noch zu grün. Das ist schon mehr als zwanzig Jahre her. Der Ermordete wurde in seiner Wohnung gefunden. Die Nachbarn schlugen Alarm, als es in der Sommerhitze zu stinken begann. Wir fuhren also hin. Es schien sich um eine ganz gewöhnliche Wohnung zu handeln. Diele, Küche und Wohnzimmer sahen vollkommen normal aus. Aber das Schlafzimmer war eine Kammer des Schreckens. Boden, Wände und Decke waren schwarz. Vor dem Fenster hing ein schwerer schwarzer Vorhang. Auf die Wände hatte er eine Menge SymÜberall standen Kerzenhalter herum. Sämtliche Kerzen waren schwarz. Mitten auf dem Fußboden befand sich eine große Tonschale mit einer Menge merkwürdiger Sachen. Knochenstücke, Haarbüschel von Menschen und Tieren, eine Schlangenhaut und ich weiß nicht, was noch alles. Er selbst lag mit durchschnittener Kehle auf dem Bett. Die Mordwaffe wurde nie gefunden, aber es muss sich um ein Jagdmesser mit einer stabilen Klinge gehandelt haben. Superscharf. In seinen Bauch hatte der Mörder ein Pentagramm geritzt.«

»Warum hieß der Fall Purpurmord?«, wollte Fredrik wissen.

»Der Mann trug nur einen purpurfarbenen Umhang. Darunter war er nackt.«

»Warum war er purpurn? Bedeutet die Farbe was?«, wollte Irene wissen.

»Schwarz, Weiß und Rot sind die Farben, die gerne bei schwarzen Messen benutzt werden. Gelegentlich kommt auch Silber vor. Das weiß ich alles noch von damals – und außerdem, dass der Ring um das Pentagramm eine Schlange symbolisiert, die sich in den Schwanz beißt.«

»Haben die Nachbarn nichts gehört?«, setzte Irene ihre Befragung fort.

Als der Purpurmord begangen worden war, war sie Springerin im Außendienst gewesen und mit dem Streifenwagen in Angered herumgefahren. Über den Mord wusste sie nur, was sie in der Zeitung gelesen hatte.

»Nein, nichts. Aber der Mord geschah in der Ferienzeit, die meisten waren verreist. Außerdem war der Ermordete ein eher seltsamer Zeitgenosse, der keinerlei Umgang pflegte. Er grüßte kaum, störte aber auch niemanden, jedenfalls nicht, bevor er anfing zu stinken.«

»Du meinst also, dass wir unter den Satanisten suchen sollen? Die Pfarrer ermorden? Aber warum haben sie dann den Sohn ebenfalls umgebracht? Der war schließlich Lehrer und nicht Pastor. Und was ist mit Frau Schyttelius?«, wollte Jonny aufmüpfig wissen.

Svante machte eine abwehrende Handbewegung.

»Ich sage ja gar nicht, dass der Mörder Satanist ist. Ich sage nur, dass die Symbole auf den Computermonitoren in gewissen Kreisen als magische Symbole gelten und in okkulten und satanistischen Zusammenhängen relativ häufig vorkommen.«

Er klopfte mit einem Finger auf den blauen Stern mit den drei roten Ecken, der auf dem Overheadprojektor lag, und fuhr fort:

»Ich habe dieses Symbol auch schon auf Portalen von Kirchen gesehen, die von den Satanisten niedergebrannt wurden. In einem Fall haben wir die Täter gefasst, damals, als die alte Kirche von Kålltorp abbrannte. Zwei Jungen und zwei Mädchen hatten das Feuer gelegt. Sie behaupteten, überzeugte Satanisten zu sein und die Tat zur Ehre des Teufels begangen zu haben. Im Laufe der Ermittlung stellte sich heraus, dass es noch einen älteren Anführer gab und dass dieser die Brandstiftung angeordnet hatte. Den haben wir nie erwischt. Die jungen Leute kannten weder seinen richtigen Namen noch wussten sie, wie er aussah.«

»Sie müssen ihn doch mal gesehen haben?«, wandte Jonny ein.

»Nein. Immer wenn sie ihn trafen, trug er eine silberfarbene Maske. Sie hatten eine Kirche, jedenfalls nannten sie das so, in einem alten Lagerschuppen draußen auf Ringön. Perfekte, ungestörte Lage. Die so genannte Gemeinde bestand aus etwa zehn Jugendlichen, und diese vier hatten den ehrenvollen Auftrag erhalten, die Kirche niederzubrennen. Nach dem Brand war der Anführer allerdings wie vom Erdboden verschluckt. Um die jungen Leute kümmerten sich Sozialarbeiter, und ihre Truppe wurde aufgelöst. Aber es haben sich sicher wieder neue Vereinigungen gebildet, und vielleicht ist auch dieser besagte Anführer wieder auf der Bildfläche aufgetaucht. Was wissen wir schon?«

»Waren die Pentagramme ebenfalls mit Blut gemalt?«, wollte Tommy Persson wissen.

»Ja. Die Jugendlichen hatten eine Katze getötet und das Symbol hingepinselt, ehe sie das Feuer legten. Im anderen Fall hatten die Täter Hamsterblut verwendet.«

»Wo war das gewesen?«

»Bei der Sommerkirche am Norssjön.«

»Norssjön! Da liegt doch auch das Sommerhaus von den Schyttelius!«, rief Irene.

Svante Malm nickte.

»Genau. Die Kirche befindet sich auf der anderen Seite des Sees. Das ist jetzt bald zwei Jahre her. Eine kleine Holzkirche, die nur im Sommer benutzt wurde, weil es dort weder eine Heizung noch Strom gab.«

»Um einen Kurzschluss kann es sich also auch nicht gehandelt haben«, stellte der Kommissar fest.

»Nein. Ein Zeuge, der in der Sommernacht mit seinem Ruderboot eine Runde auf dem See drehte, hatte um Mitternacht Stimmen aus Richtung der Kirche vernommen. Er meinte, es habe wie ein eintöniges Gebet geklungen. Etwas später hat er dann hohe Flammen aus dem Gebäude schlagen sehen. Da will er dann auch im Feuerschein Gestalten gesehen haben. Da er allerdings schon über siebzig und außerdem herzkrank ist, wollte er allein den Kampf gegen das Feuer nicht aufnehmen. Stattdessen ruderte er nach Hause und rief von dort die Feuerwehr an. Aber als die eintraf, war bereits alles abgebrannt. Seltsamerweise war das Portal fast unbeschädigt, und da sah ich das umgekehrte Pentagramm dann zum zweiten Mal.«

»Mit Hamsterblut dorthin geschmiert«, ergänzte der Kommissar.

»Ja. Tieropfer sind in diesen Kreisen relativ gebräuchlich. Übrigens gibt es da noch etwas im Pfarrhaus, das auf die Satanisten hindeutet. Im Schlafzimmer der Eheleute Schyttelius hängt ein Kruzifix verkehrt herum. Bei ihren schwarzen Messen verwenden die Satanisten oft Kreuze, die verkehrt herum hängen.«

Irene versuchte, die Informationen, die sie erhalten hatten, zu verarbeiten. Sie wollten nicht recht in das Muster der Schytteliusmorde passen. Wohlerzogen hob sie die Hand und wartete mit ihrer Frage, bis Svante ihr zugenickt hatte:

»Hältst du es für wahrscheinlich, dass man die Opfer während eines Satanistenrituals erschossen hat?«

Svante schüttelte den Kopf.