Derselbe Mond - Lara Schützsack - E-Book

Derselbe Mond E-Book

Lara Schützsack

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Beschreibung

Die Sommerferien sind vorbei, doch der Sommer macht einfach weiter. Magdalena hängt, wie alle aus ihrer Klasse, im Skaterpark ab. Aber eigentlich hat sie keine Lust, den schönen Felix anzuhimmeln, nur weil der ein paar öde Tricks auf dem Skateboard kann. Da betritt ein Mädchen die Halfpipe wie eine Bühne: blaue Haare, seltsame Klamotten, und es scheint ihr total egal zu sein, was die anderenüber sie denken. Magdalena findet die Blaue unmöglich und faszinierend zugleich. Und sorgt dafür, dass sie sich wiedersehen. Der preisgekrönten Drehbuchautorin und Schriftstellerin Lara Schützsack gelingt es meisterhaft, sich in die Gefühlswelt von Teenagern einzufühlen und eine Stimme zu geben. 

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Seitenzahl: 186

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Lara Schützsack

Derselbe Mond

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Um die zu werden, die wir sind

 

Die Sommerferien sind vorbei, doch der Sommer macht einfach weiter. Magdalena hängt wie alle aus ihrer Klasse im Skaterpark rum. Im Gegensatz zu allen anderen hat sie keine Lust mehr, Felix anzuhimmeln, nur weil der ein paar öde Tricks auf dem Skateboard kann. Da betritt ein Mädchen die Halfpipe wie eine Bühne, blaue Haare, seltsame Klamotten, und es scheint ihr total egal zu sein, was die anderen über sie denken. So könnte es gehen, denkt Magdalena, und sorgt dafür, dass sie sich wiedersehen. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

 

Lara Schützsack, geboren 1981 in Hamburg, studierte Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Amerikanische Literatur und Kultur an der Universität Potsdam. Es folgte ein Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Lara Schützsack erhielt für ihr Debüt ›Und auch so bitterkalt‹ den Ulla-Hahn-Autorenpreis 2014 sowie den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2014, außerdem den Korbinian 2017 Paul Maar-Preis für junge Talente für ihr Kinderbuch ›Sonne, Moon und Sterne‹. Sie lebt und arbeitet als Autorin in Berlin. 

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Für November

1

Ende August

Die Sommerferien sind vorbei, aber der Sommer macht einfach weiter.

Nach dem Unterricht hängen die Coolen aus unserer Stufe immer hier im Skaterpark ab, und deswegen findet Sofia, dass wir unbedingt an der Pipe sein müssen. Flip findet das auch. Zumindest sagt er nichts dagegen.

Wir sitzen also hier auf der Wiese herum, beobachten die anderen und lassen uns beobachten. Sofia blinzelt zur Skaterrampe rüber, zwirbelt eine ihrer dicken, dunkelbraunen Locken um ihren Finger, zieht eine Schnute und zwitschert irgendwas von Likes und süß, während Flip betont lässig dasitzt und es genießt, dass Yuna immer wieder zu ihm rüberschaut. Ich kenne Flip schon, seitdem er ein Jahr alt ist, und finde es total komisch, dass die Mädchen ihn neuerdings so anstarren. Als hätten sie seine Existenz überhaupt erst bemerkt, seitdem er zwölf ist, seine langen schwarzen Wimpern mit Wimperntusche schminkt, jeden Tag ein anderes T-Shirt mit Aufdruck trägt und sein schwarzes Haar jeden Abend mit Spülung wäscht, damit es schön glänzt. Als wäre er vorher unsichtbar gewesen, und jetzt ist er so mega sichtbar, dass sie gar nicht anders können, als mit ihren Blicken an ihm kleben zu bleiben.

Drüben fahren Felix und Elias aus der 6a jetzt die Rampe runter. Die beiden sind die Einzigen, die auf die Rampe gehen. Felix mit seinem Board und Elias mit seinem BMX-Rad. Der Parcours, das ist ihre Bühne. Und wir, die wir drum herum sitzen, ihr Publikum. Natürlich gucken alle, wenn sie da runterfahren.

Immer gucken alle, wenn der schöne Felix etwas macht. Weil er eben megasüß ist, sagt Sofia. Bis vor kurzem hat sie die Bezeichnung megasüß nur für Flips Wellensittiche Klick und Klack verwendet.

Irgendwann gegen Ende des letzten Schuljahres hat es angefangen. Die Sache mit Felix und das Abhängen im Park. Noch im Jahr davor waren Flip, Sofia und ich immer zusammen, also nur wir drei. Die meiste Zeit waren wir bei Sofia im Garten in unserem Baumhaus. Und dann ist alles anders geworden. Seit diesem Frühjahr interessiert Sofia sich nicht mehr für Wellensittiche und Baumhäuser. Sie interessiert sich für Jungs und den neusten Klatsch. Zum Beispiel dafür, dass es in der Parallelklasse ein echtes Liebespaar gibt. Die halten sogar Händchen, so, dass alle es sehen können. Ich finde, die beiden sehen überhaupt nicht aus wie ein Liebespaar, sondern wie zwei, die ein Liebespaar spielen. Sofia ist sich aber sicher, dass die sich schon einmal geküsst haben. So richtig mit Zunge. Sie ist neidisch deswegen. Nicht weil sie den Jungen gut findet, sondern einfach nur, weil sie auch schon mal einen Jungen geküsst haben möchte. Egal welchen. Hauptsache sie hat es getan. Damit sie weiß, wie das geht.

Jetzt beugt sie sich zu mir rüber und flüstert mir ins Ohr: »Ich habe mir überlegt, ich will da richtig profimäßig drin sein, also im Knutschen.«

War ja klar, dass es wieder ums Küssen geht.

»Andere wollen eine Eins in Deutsch, ich will eine im Küssen.«

»Klar«, sage ich. »Verstehe ich.« Aber ich sage das nur, um irgendwas zu sagen, denn eigentlich verstehe ich Sofia in letzter Zeit gar nicht mehr. Ganz anders als früher, als ich ihre Sätze zu Ende sprechen konnte. Jetzt weiß ich häufig gar nicht, was ich antworten soll. Als ob Sofia und ich auf einmal eine andere Sprache sprechen. Ich selbst kann mir gar nicht vorstellen, einen Jungen zu küssen. Ich bin im Kopf alle Jungs aus unserer Klasse durchgegangen und habe mir ausgemalt, wie das wohl wäre, ganz nah vor einem zu stehen, mich zu ihm vorzubeugen und dann … Die Vorstellung ist eklig! Die haben bestimmt Müslireste zwischen den Zähnen. Im Kindergarten haben Flip und ich uns einmal geküsst. In der Höhle unter dem Klettergerüst, aber das war ja etwas anderes, und ich weiß auch gar nicht mehr genau, wie das war. Ich weiß nur noch, dass es dunkel war und dass Flip nach Milch und Himbeerzahnpasta geschmeckt hat.

»Du könntest das Küssen doch einfach mit Flip üben«, schlage ich Sofia vor und denke im gleichen Moment, dass das eine blöde Idee ist. Ich will gar nicht, dass Sofia und Flip sich küssen. Ich fühle mich in letzter Zeit sowieso schon ausgeschlossen, weil die beiden ständig zusammen rumalbern und ich oft gar nicht verstehe, was jetzt gerade so lustig ist.

»Gute Idee.« Sofia nickt und betrachtet Flip von der Seite. »Ist definitiv eine Option.«

Flip tut so, als würde er nicht mitbekommen, dass wir über ihn reden. Dabei bekommt er alles ganz genau mit. Ich würde Flip heute nicht mehr küssen. Ich finde es okay, meinen Kopf an seine Schulter zu legen oder hinten bei ihm auf dem Gepäckträger mitzufahren und die Arme um seine Hüfte zu legen. Aber das ist etwas anderes. Das würde ich ja auch bei einem Mädchen machen. Flip ist eben mein bester Freund.

»Kann ich Mathe bei dir abschreiben?«, fragt Sofia.

»Klar«, sage ich und wühle in meinem Rucksack nach dem Matheheft. Dabei rutscht der Flyer für den Schreibwettbewerb raus von dem unsere Deutschlehrerin, Frau Morgenstern, uns heute erzählt hat. Schnell schiebe ich ihn wieder in den Rucksack. Flip und Sofia sollen auf keinen Fall mitbekommen, dass ich überlege, da mitzumachen. Die beiden würden mich für völlig irre halten, wenn sie wüssten, dass ich Gedichte schreiben möchte.

»Guck mal da. Kennst du die?«, raunt Sofia jetzt und dreht meinen Kopf in Richtung Rampe. Da drüben steht ein Mädchen.

»Die habe ich noch nie gesehen«, schaltet Flip sich ein.

Ich habe das Mädchen auch noch nie gesehen. Sie sieht komisch aus. Weiße, völlig ungebräunte Beine, abgeschnittene Jeanshosen, die ihr bis zum Knie gehen, und ein schlabberiges rotes Sweatshirt. Das Auffallendste an ihr ist aber, dass sie blau gefärbte Haare hat. Taubenblau. Ihre Haare sehen ziemlich struppig aus und gehen ihr bis zum Kinn. Anscheinend kennt sie hier niemanden.

Das würde ich nie machen, alleine hier hingehen, ohne dass ich weiß, dass Sofia und Flip auf mich warten. Wenn man sich dem Parcours nähert, dann starren einen die anderen nämlich alle an. Meine Beine werden dann immer so puddingmäßig, und ich habe das Gefühl, dass ich komisch gehe und blöd aussehe. Ich gucke dann immer schnell, wo Flip und Sofia sind, damit ich mich dazustellen oder ins Gras fallen lassen kann und das Starren aufhört. Die da drüben dagegen hält das Starren locker aus. Steht da einfach, in ihrem viel zu großen Sweater und den ausgefransten Shorts. Vielleicht findet sie es sogar gut, dass wir alle sie anschauen, oder sie merkt es gar nicht.

»Die sieht irgendwie räudig aus.«

Räudig ist Sofias neues Lieblingswort. Es beschreibt wirklich alles, was Sofia gerade nicht gefällt. Und das ist ziemlich viel. Das Klassenzimmer riecht räudig, der Pickel an Sofias Stirn ist räudig, Flips neue Hose ist es, der minikleine Marmeladenfleck an meinem T-Shirt. Eigentlich alles, was nicht megasüß ist. Bei Sofia gibt es in letzter Zeit gar nichts zwischen megaboring oder räudig und megasüß. Ich habe das Gefühl, dass ihr Leben seit dem Sommer nur noch aus fett gedruckten Überschriften besteht. Und wenn ich ihr ein Geheimnis anvertraue, etwas Leises, das nicht jeder wissen soll, dann kann es seit neuestem sein, dass Sofia es in voller Lautstärke in die Welt posaunt.

Die Blaue steht noch immer dort drüben und lässt ihren Blick in aller Ruhe über die Wiese wandern. Ob die wohl von hier ist? Die Stadt ist einerseits so groß, dass ich natürlich nicht alle Mädchen in meinem Alter kenne. Andererseits ist sie aber auch so klein, dass ich die auffälligen Mädchen von den anderen Schulen, also die, die irgendwie anders sind, schon irgendwann mal irgendwo gesehen und mir gemerkt habe. Und dieses Mädchen hier ist anders. Allein schon diese Haare. Ich lege bestimmt nicht so großen Wert auf das perfekte T-Shirt wie Flip, und ich gucke auch nicht in jeden Spiegel wie Sofia, aber so wie die Blaue würde ich dann auch nicht herumlaufen. Solche ausgefransten Jeans, die bis über das Knie gehen, und Schlabberpullis trägt wirklich niemand. Ist ja auch viel zu heiß heute für so einen Pulli. Jetzt macht sie ein paar Schritte auf die Rampe zu. Obwohl, Schritte sind das nicht, sie gleitet eher darauf zu. Das sieht seltsam aus, und jetzt sehe ich auch, woran das liegt. Sie trägt diese Turnschuhe mit Rollen in den Sohlen. Die waren irgendwann mal cool, aber jetzt trägt die keiner mehr. Die Schuhe rollen nicht nur, die Sohlen blinken dazu noch in allen möglichen Farben.

»Die sieht so kacke aus. Und dann noch Heelys. Die sind so räudig, die Teile«, bemerkt Sofia.

»Echt jetzt? Geht sie damit jetzt auf die Rampe?« Flip schiebt seinen Kopf an mir vorbei, um einen besseren Blick auf die Blaue zu haben. Und tatsächlich rollt das Mädchen jetzt auf die Skaterrampe zu, zieht sich auf das Podest hoch. Steht jetzt alleine da oben.

Die Blaue gleitet an den Rand des Podests und schaut auf die Betonwelle unter sich. Sieht so aus, als ob sie allen Ernstes da runterfahren will. Dann macht sie tatsächlich einen Schritt nach vorn und rollt in die Pipe. Besonders elegant oder lässig sieht es nicht aus, aber sie fällt auch nicht hin. Ganz unten kommt sie kurz ins Stolpern, fängt sich aber wieder und rollt dann aus, bis zum Ende der Betonfläche. Dort angekommen, bleibt sie einen Moment stehen. Sie dreht sich um, kneift die Augen zusammen und schaut rüber zu Felix und Elias, die zu ihr gucken und laut lachen.

»Was ist so witzig?« Die Stimme der Blauen ist dunkel und heiser. Sie starrt die beiden so lange an, bis sie aufhören zu lachen. »Also, was ist jetzt so witzig?«

Immer noch keine Antwort von Felix und Elias.

»Aber das, was ihr macht, ist cool, oder was?« Die Blaue geht aus der Pipe und setzt sich etwas abseits im Schneidersitz auf die Wiese. Sitzt da und reißt Grasbüschel aus dem Rasen.

Felix und Elias gucken zu ihr und tuscheln. Dann zieht Elias sich auf die Rampe. Ohne sein Board. Er stellt sich genauso wie die Blaue an den Rand und taumelt dann runter. Als er unten angekommen ist, stemmt er die Hände in die Hüften und sagt: »Was ist so witzig?« Er sagt es mit so einer hohen Piepsstimme. Dabei klang die Stimme der Blauen eben tiefer als die von Elias.

Ein paar Jungs und Mädchen, die auf der Wiese sitzen, kichern. Als Elias merkt, dass seine Darbietung gut ankommt, sagt er mit der Piepsstimme: »Aber was du machst, ist cool, oder was?« Dann schlägt er mit Felix ein, und die beiden lachen sich kaputt.

Die Blaue sitzt immer noch im Schneidersitz auf der Wiese, vor ihr ein Berg von Grasbüscheln. Anstelle der Blauen würde ich aufstehen und gehen. Ich würde das nicht aushalten, dass Elias und Felix sich so über mich lustig machen. Sie aber bleibt stur da sitzen.

Jetzt klettert Felix auf die Rampe, lässt sich noch übertriebener als Elias die Pipe runterfallen, und unten angekommen piepst er: »Also, was ist jetzt so lustig?«

Wieder bekommen beide einen Lachanfall.

Die Blaue steht jetzt ganz langsam auf. Fast wie in Zeitlupe. Um sie herum ist jetzt so ein komisches Flirren, und ich habe das Gefühl, dass sie gleich etwas Schräges machen wird. Tut sie auch. Sie geht nämlich rüber zu Elias’ BMX-Rad, das etwas abseits vom Parcours im Gras liegt, sie beugt sich runter, hebt es hoch, richtig hoch stemmt sie das Rad. So steht sie einen Moment, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Dann lässt sie es donnernd auf den Rasen fallen.

»Spinnst du?«, schreit Elias und stürzt zu seinem Rad.

Die Blaue spuckt einmal vor sich auf den Boden und dreht sich um. Sie läuft, ohne sich noch einmal umzusehen, über die Wiese davon. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Mutig oder einfach nur irre. Niemand hier würde sich trauen, Elias’ heiliges Rad auch nur anzufassen, und sie donnert es auf den Boden.

Elias kniet neben seinem Rad wie neben einem verwundeten Tier. Sieht so aus, als ob er fast heult. Felix trabt zu ihm, beugt sich ebenfalls über das Rad.

»Bist du bekloppt? Du hast sein Rad kaputt gemacht!«, brüllt Felix der Blauen nach.

Die Blaue dreht sich nicht um, läuft mit hocherhobenem Kopf weiter über die Wiese. Hinten auf ihrem Sweatshirt, das kann ich jetzt sehen, befindet sich ein großer Print. Der Kopf einer Frau mit hochstehenden grellbunten Haaren. Der Kopf ist durchgestrichen. Von weitem sieht es fast so aus, als hätte sie den einfach mit einem Edding durchgestrichen. Das Sweatshirt sieht aus wie eine mit Graffiti beschmierte Wand. Eigentlich ganz cool. Besser als diese riesigen Markenlogos, die auf den Sweatshirts der meisten anderen hier prangen.

»Was war das denn?«, sagt Flip und schüttelt fassungslos den Kopf.

»Eklig. Die hat da hingespuckt. Die spinnt ja völlig! Die ist ja gefährlich«, sagt Sofia.

Die Blaue ist jetzt am Rand der Wiese angekommen. Anscheinend nimmt sie die Abkürzung am Spielplatz vorbei durch die Büsche. Diese Abkürzung führt direkt in den Fußgängertunnel zur Altstadt, die wenigsten kennen sie. So schlecht scheint sie sich hier in der Stadt also nicht auszukennen. Jetzt ist sie verschwunden.

Es dauert nicht lange, bis das Getuschel sich gelegt hat und alles wieder wie immer ist. Alle sind irgendwie beschäftigt mit Hausaufgaben abschreiben, quatschen oder aufs Handy gucken. Felix und Elias springen jetzt abwechselnd mit Felix’ Brett von einem Betonklotz runter. Schön laut natürlich, sonst könnten wir ja vergessen, dass sie auch noch da sind. Elias’ Fahrrad haben sie an die Rampe gelehnt. Es sieht einigermaßen unversehrt aus. Nur das neonfarbene Schutzblech hängt ganz schief runter.

»Was ist jetzt mit Mathe?«, frage ich Sofia.

»Zu müde.« Sofia winkt ab. Sie legt ihren Kopf auf ihre zusammengerollte Jacke und schließt die Augen. Sie hält noch kurz ihr Telefon hoch, macht ein Selfie von sich mit geschlossenen Augen, dann stellt sie sich schlafend, damit wir alle den Leberfleck auf ihrem linken Augenlid bewundern können. Auf den ist sie ziemlich stolz, weil der so besonders ist. Der Leberfleck ist mir egal. Ich beneide Sofia nicht um ihn.

Ich beneide die Blaue. Ich beneide sie darum, dass sie diesen von Sonne und Gerüchen aufgeheizten Ort einfach verlassen kann.

Keiner fragt sie, was sie macht, wo sie hingeht.

2

»Mann, Magdalena, bist du groß geworden!«

Kathi schüttelt ungläubig den Kopf, betrachtet mich von oben bis unten. Kathi arbeitet als Arzthelferin in Mamas Praxis, ich kenne sie schon, seit ich ein Baby war.

»Komm mal her«, sagt sie und läuft dann selbst rüber zu mir, drückt mich viel zu fest an sich. »So lange nicht gesehen, Süße.«

Ich bin froh, als sie mich wieder freilässt.

»Letztes Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch ein Mädchen!«

Das habe ich in letzter Zeit oft gehört. Dass ich plötzlich eine junge Frau bin. Es klingt immer so, als müsste ich mich darüber freuen und stolz sein. Als wäre ich vorher nur eine kleine hässliche Raupe gewesen und jetzt ein Schmetterling oder so was. Außerdem finde ich es unangenehm, so angeschaut zu werden. Ich schaue Kathi ja auch nicht von oben bis unten an, bleibe mit dem Blick an ihren grauen Haaren hängen und sage: »Mensch, Kathi, du bist aber alt geworden. Letztes Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch eine junge Frau!«

Schnell schlüpfe ich an Kathi vorbei hinter die Rezeption. Ich will mich gerade an der Süßigkeitenschublade bedienen, als mit einem lauten »Buh!« Arthur darunter hervorspringt. Arthur ist mein kleiner Bruder. Er ist gerade sieben geworden.

»Rate mal, Magdalena, rate mal, was heute passiert ist! Rate mal!« Er legt die Arme um mich (er darf das!), streckt mir das Gesicht entgegen und fletscht die Zähne. Ich weiß sofort, was das bedeutet. Darauf wartet Arthur schließlich, seitdem er eingeschult worden ist.

»Du wirst es nicht erraten!«, singt Arthur, und ich lege die Stirn in Falten und gebe vor, keine Ahnung zu haben. Ich finde Arthur so niedlich, besonders wenn er aufgeregt ist.

»Er wackelt«, platzt es jetzt aus Arthur raus, »der große vorne wackelt!« Und dann rüttelt er mit dem Finger an seinem Schneidezahn herum: »Guck! Guck!« Es tut sich gar nichts.

»Wahnsinn, ja, ich sehe es! Der wackelt ja unglaublich«, sage ich.

Arthur nickt triumphierend. »Ich glaube, er fällt heute noch raus. Und ich weiß auch schon ganz genau, was ich mir von der Zahnfee wünsche!«

»Also dann, Frau Ritter …« Die Tür vom Behandlungszimmer geht auf, Mama tritt heraus, weiße Jeans, weißes T-Shirt, weiße Turnschuhe, die Hand auf der Schulter einer jungen Frau, die einen riesigen Bauch vor sich herträgt und abwesend lächelt.

»Vielleicht bis übermorgen. Und wenn nicht, toi, toi, toi!« Sie hebt den Daumen und schiebt die Frau sanft in Richtung Rezeption, wo Kathi ihr ein gelbes Heft aushändigt.

»Hallo, meine Süßen!« Ein Kuss landet auf meinem Kopf, einer auf Arthurs. »Wir können sofort los. Ich muss dringend an die Sonne.« Mama schlüpft in ihren hellblauen Mantel. Dann schnappt sie sich Schlüssel und Tasche.

»Ach Mara, warte mal!« Kathi grinst breit, als sie Mama ein kleines blaues Päckchen hinhält. »Ein Igor hat das hier für dich abgegeben.«

Igor? Was für ein Igor?, frage ich mich.

Mama jedenfalls hält bei dem Namen Igor mitten in ihrer Bewegung inne. Freeze. Ein Leuchten huscht über ihr Gesicht. Ganz kurz nur, aber nicht zu übersehen. Dann fängt sie sich wieder, schnappt das kleine blaue Ding und lässt es schnell in ihrer Manteltasche verschwinden.

»Welcher Igor?«, krakeelt Arthur. »Ich will auch ein Geschenk von dem!«

Mama lächelt nur. Soweit ich weiß, kennt Mama niemanden, der Igor heißt. Und seit wann geben Unbekannte in der Praxis Geschenke für sie ab? Schließlich ist weder Ostern noch Weihnachten, und Mama hat auch noch lange nicht Geburtstag. Und dann dieses Grinsen von Kathi. Ich fühle eine leichte Übelkeit hochkommen. Aber wer weiß, vielleicht ist Igor nur ein Kollege. Wahrscheinlich. Einfach nicht mehr dran denken, die Übelkeit runterschlucken.

»Tschüs, Kathi, dann bis morgen.« Ein letzter prüfender Blick ins leere Wartezimmer, dann rauscht Mama mit wehendem Mantel aus der Tür. Wir hinterher. Kurz Kathi winken, die uns Kusshände zuwirft, dann sind wir draußen.

Auf dem Weg nach Hause noch schnell in den Supermarkt um die Ecke gehen, mal wieder viel zu viel einkaufen und die schweren Tüten schnaufend nach Hause schleppen.

»Bin ich froh, wenn ich endlich diesen kack Schein habe. Dann fahre ich nur noch mit dem Auto zum Einkaufen«, stöhnt Mama und meint mit kack Schein den Führerschein. Sie ist seit ein paar Monaten dabei, ihn zu machen. Nachdem sie fast vierzig Jahre ohne gelebt hat, gibt es für sie auf einmal nichts Wichtigeres.

Angefangen hat die ganze Sache mit dem Führerschein, als Papa von zu Hause ausgezogen ist. Ich erinnere mich, dass es an dem Tag gehagelt hat, und dass neben dem Umzugswagen ein Krokus stand. Ganz einsam direkt neben dem dreckverschmierten Reifen des Transporters. Es war der erste Krokus, den ich in diesem Jahr gesehen habe, und er sah ziemlich verloren aus. Deswegen habe ich ihn mir gemerkt. Seit dem Tag kaufen Mama und Papa getrennt ein, und Mama muss alles zu Fuß besorgen. Und Arthur und ich, wir haben zwei Zuhause. Eines bei Mama in der alten Wohnung und eines bei Papa. Zwei Zuhause zu haben, zwischen den Eltern hin und her zu wechseln, ist so, als ob man unter der Dusche ständig von heiß auf kalt und wieder zurückstellt.

»Kack sagt man gar nicht, Mama! Und Autos sind schlecht für die Natur«, meckert Arthur. »Und die schweren Tüten sind schlecht für meinen Rücken. Du kannst mir gerne eine abnehmen«, kontert Mama.

Arthur antwortet nicht mehr. Stattdessen fummelt er schon wieder an seinem Zahn herum.

Zu Hause kippt Mama leise summend zwei Dosen in einen großen Topf. Der Geruch nach Ravioli in Tomatensoße zieht durch die Wohnung.

»Mama, wir essen das jeden Tag. Seit mindestens einer Woche. Das ist echt ungesund«, sage ich.

»Ach, Quatsch, da ist eine Menge Gemüse drin.« Mama fischt eine leere Dose aus dem Mülleimer hervor und betrachtet eingehend die Zutatenliste. »Sellerie, Tomaten, Möhren, Erbsen«, liest sie vor und lässt die Dose wieder in den Eimer fallen, »die sind tipptopp!«

Ich mag Ravioli eigentlich schon, aber jeden Tag dasselbe essen, also ich kann mir nicht vorstellen, dass das so gut ist. Ich frage mich manchmal wirklich, was man in einem Medizinstudium so über Ernährung lernt.

»Dosen sind auch schlecht für die Umwelt. Papa kocht immer mit frischem Gemüse«, merkt Arthur an.

»Ach ja?«

Arthur nickt.

»Ich habe nach acht Stunden Arbeit wirklich nicht mehr die Kraft, hier groß zu kochen. Tut mir leid. Schön, wenn euer Vater das kann.« Mama klingt jetzt eingeschnappt, gar nicht so, als ob es ihr leidtäte. »Ihr könnt gerne auch mal etwas kochen, wenn euch mein Essen nicht mehr ausreicht.«

Euer Vater