Sonne, Moon und Sterne - Lara Schützsack - E-Book

Sonne, Moon und Sterne E-Book

Lara Schützsack

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Beschreibung

»Sensationell gut geschrieben.« Spiegel Online über Lara Schützsacks Debüt »Und auch so bitterkalt«Warum die elfjährige Gustav Gustav genannt wird, weiß niemand so genau, es ist für diese Geschichte aber auch nicht so wichtig. Der Sommer steht vor der Tür, und Gustavs Eltern haben den Familienurlaub in Dänemark abgesagt. Sie haben nämlich Midlife Crisis (das ist Pubertät für Eltern) und brauchen Abstand. Zu allem Überfluss bekommt Gustav Busen, und wie bitteschön soll man mit zwei Erbsen auf der Brust ins Freibad gehen, als wäre alles wie immer? Gustav spürt, dass dieser Sommer das Ende von vielem Vertrauten ist – und der Anfang von allem!Zart, poetisch und liebevoll schreibt Lara Schützsack von den winzigen Verschiebungen, die das Erwachsenwerden mit sich bringen, und die manchmal, vollkommen unbemerkt, ein kleines Erdbeben auslösen können.

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Seitenzahl: 209

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Lara Schützsack

Sonne, Moon und Sterne

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Inhalt

WidmungGleich vorweg123456789101112131415161718

Für Janosch zur Erinnerung an Luka, die mutig war und ein bisschen weise – und deren Fell die Farbe von Sand hatte.

Gleich vorweg: Warum Gustav ›Gustav‹ genannt wird, weiß eigentlich niemand mehr so genau. Es ist einfach so passiert. Manchmal denkt Gustav, dass nicht mal ihre Eltern ihren eigentlichen Namen noch kennen.

1

»Busen, es ist einfach nur Busen!«

Hätte Gustav doch nie gefragt. Aber jetzt ist es zu spät. Sara und Ramona liegen vor Lachen auf dem Boden. Eben noch waren sie in ihrem Normalzustand: nicht wach, aber auch nicht schlafend, die Ohren verschlossen durch Kopfhörer, die Augenlider auf Halbmast. Die beiden hängen alle vierundzwanzig Stunden des Tages an einem iPod mit Doppelstecker wie an einem Tropf. Durch die Kabel läuft Musik in sie hinein und geht fließend in den Strom ihrer Gedanken über, der sich, so ahnt Gustav, um nicht viel mehr dreht als Jungs, Jungs und noch mal Jungs.

Als Gustav ins Zimmer tritt, passiert erst mal gar nichts. Träge starren ihre Schwestern in die Richtung, in der Gustav steht. Nach einer gefühlten Ewigkeit nimmt Ramona langsam einen Stöpsel aus dem Ohr.

»Was?«

Und dann Gustavs Frage. Die Frage. Abendelang hatte Gustav im Bett wach gelegen, um sich zu überlegen, wie genau sie sie formulieren würde. Klar, sie hätte auch Erik oder Iris fragen können. Aber das Problem mit Erik und Iris ist, dass sie aus vielem ein zu großes Ding machen. Auch aus unangenehmen Sachen. Besonders aus unangenehmen Sachen. Weil die ja gar nicht unangenehm sind, wie Iris und Erik nicht müde werden zu betonen. Sie setzen dann diesen speziellen Verständnis-Blick auf, der bei Gustav Gänsehaut der schlechten Art auslöst. Genauso wie der Satz: »Wir verstehen, dass du wütend bist!« Einer von Iris’ und Eriks Lieblingssätzen. Das Problem ist doch gerade, dass Gustav gar nicht möchte, dass Iris und Erik verstehen, dass sie wütend ist. Wenn sie wütend ist. Denn wenn man wütend ist, möchte man doch ganz einfach wütend sein.

Erik und Iris sind einfach zu verständnisvoll. Ganz anders Gustavs Schwestern, die sich geistig und körperlich am schlimmsten Ort befinden, den Gustav sich vorstellen kann: mitten in der Pubertät. Die Pampa der Menschheit. Ein Ort der geistigen Leere.

»Zeig mal.« Ramona verzieht ihren Mund zu einem Grinsen.

Gustav hebt ihr T-Shirt. Sie ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob Iris’ Verständnis-Blick hier nicht doch das kleinere Übel gewesen wäre. Ramona beugt sich vor, kneift die Augenbrauen zusammen, drückt mit ihren kalten Fingern unsanft genau dorthin, wo es weh tut. Gustav durchfährt ein stechender Schmerz. Das verleitet Sara dazu, auch mal zuzudrücken. Ein bisschen fester noch als Ramona.

»Aua!« Gustav reißt ihr T-Shirt herunter. In ihren Augen stehen Tränen.

»Diese kleinen Erbsen da? Brustkrebs?!« Ramona richtet sich auf und fängt an zu lachen. »Das meinst du jetzt nicht ernst. Haben Iris und Erik dich gar nicht aufgeklärt? Gustav denkt, dass sie Brustkrebs hat! Weil sie da unter ihren Nippeln zwei kleine Erhebungen hat. Was lernt ihr eigentlich im Bio-Unterricht?«

Jetzt stimmt Sara prustend in Ramonas Lachen ein.

Gustav zählt innerlich ihre Möglichkeiten auf. Eigentlich gibt es nur zwei: die Flucht ergreifen oder weiter hier stehen und sich zum Gespött ihrer Schwestern machen. Sie beschließt zu fliehen. Doch als Gustav sich rückwärts aus dem Raum bewegt, kreischt Sara.

»Nicht weggehen!«

»Genau, zeig noch mal! Ich muss überprüfen, ob es sich nicht doch um – pruuust! – Brustkrebs handelt, oder ob da tatsächlich zwei Erbsen wachsen. Soll ja manchmal vorkommen.« Ramona wischt sich die Tränen von der Wange. »Ich mache mich auch nicht darüber lustig!«, schnauft sie.

»Nein, Quatsch, machen wir nicht«, stimmt Sara ein.

Gustav stolpert weiter rückwärts aus dem Raum.

»Brustkrebs mit zehn! Ich mach gleich in die Hose.«

Die beiden liegen jetzt übereinander vor Lachen.

Auf Zehenspitzen geht Gustav durch den Flur in ihr Zimmer, das unglücklicherweise ganz am Ende des Flurs liegt. Es ist also wahrscheinlich, dass sie auf dem Weg dorthin auf andere Familienmitglieder trifft, die sich erkundigen könnten, was denn so komisch ist, dass Sara und Ramona vor Lachen brüllen. Andere Familienmitglieder, das sind Iris und Erik, die in letzter Zeit unglaublich schlechte Laune haben, und zwar aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Iris, weil sie zu viel, und Erik, weil er zu wenig Arbeit hat.

Als Gustav an Eriks Zimmer vorbeigeht, sieht sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen. Er schaut in ihre Richtung. Aber er sieht sie nicht. Er hat die Augen offen, aber seine Gedanken sind geschlossen. Erik gehört eigentlich zu diesen Menschen, die mit den Gedanken immer ganz genau dort sind, wo sie sich auch mit dem Körper befinden. Zu diesen und auch zu den Menschen, die ihre Arbeit lieben, gehört Erik. Er schreibt Features über Musiker. Features sind Geschichten fürs Radio. Keine erfundenen, sondern wahre. Seit einem halben Jahr jedoch hat Erik keine Aufträge mehr bekommen. Und seitdem befindet er sich auffallend oft in diesem Anti-Erik-Zustand. Einem Zustand, in dem er sich zwar in der Wohnung befindet, aber nicht da ist, in dem er guckt, aber nichts sieht.

Gustav hat kurz die Idee, zu winken. Wie man jemandem aus einem fahrenden Bus zuwinkt. Sie fände das lustig. Aber sie ist sich sicher, dass Erik nicht einmal das bemerken wurde.

Als sie noch darüber nachdenkt, biegt Iris – noch in Jacke und Schuhen – aus der Küche in den Flur ein. Sie ist gerade eben vom Arbeiten nach Hause gekommen, und ihr Arbeitstag ist fließend in ihren Arbeitsabend übergegangen: Sie skypt mit einem Kollegen. Iris ist Soziologin, und ihre Aufgabe ist es, einem ziemlich großen Getränkehersteller zu helfen, noch mehr Getränke zu verkaufen. Erik sagt, Iris arbeitet für den Feind.

»Der Feind«, sagt Iris dann zu Erik, »sorgt dafür, dass du hier regelmäßig dein regionales Bio-Steak essen kannst. Der Feind sorgt dafür, dass du hier in deinem ergonomischen Arbeitsstuhl deinen Gedanken nachhängen kannst und die Hälfte deines Lebens der Musik widmen kannst.«

»Und die andere Hälfte?«, fragt Gustav.

»Euch Nervensägen«, sagt Erik. Erik kann Wörter wie Nervensäge wie eine Liebeserklärung klingen lassen.

Nach so einem Feind-Bio-Steak-Gespräch sagt Erik meistens nicht mehr viel. Aber Gustav merkt, dass ihn Iris’ Kommentar über die Musik und den ergonomischen Arbeitsstuhl traurig macht.

Im Moment steht Iris im Flur und redet auf ihr iPad ein: »Das weiß ich doch. Aber wenn ihr das Ding bis zur Deadline nicht durchgewunken habt, steigen die in Paris mir aufs Dach.«

Iris schiebt sich beim Sprechen einen Müsliriegel in den Mundwinkel. Essen, arbeiten, schlafen und mit ihren Freundinnen quatschen – all das kann Iris ohne Probleme gleichzeitig machen.

»Eure Mutter ist mehr als Multitasking, sie ist Omnitasking«, hat Erik früher oft gescherzt.

»Quatsch!«, hat Iris dann protestiert, »das ist ganz normal. Euer Vater ist nur völlig aus der Zeit. Ein einsamer Analoger im digitalen Zeitalter.«

Dann haben die beiden sich angeguckt und geküsst, und Ramona und Sara haben zum tausendsten Mal erklärt, dass sie diesen Scheiß doch im Schlafzimmer machen sollen.

In letzter Zeit aber haben Erik und Iris sich kaum mehr geküsst, und Gustav fände es eigentlich ganz schön, wenn sie sich mal wieder als Omni und Analog beschimpfen und küssen würden. Zumal es ihr auch nicht so vorkommt, als würden sie das in ihrem Schlafzimmer tun, also das Küssen. Wie auch, Iris kommt in letzter Zeit abends so spät nach Hause, dass sie meistens auf dem Sofa im Wohnzimmer einschläft und dort bis morgens bleibt. Jetzt, wo Gustav darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass das jetzt schon ziemlich lange so geht. So lang, dass Gustavs Erinnerungen an Omni und Analog farblos und leise geworden sind.

Als Iris Gustav sieht, macht sie ihr mit den Augenbrauen ein Zeichen. Es bedeutet: Was machst du da? Ist alles in Ordnung? Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Und was immer die Antwort ist, sprich mich jetzt bloß nicht an. Das hier ist ein Meeting!

Iris hat die Angewohnheit, immer sehr viele, einander widersprechende Dinge gleichzeitig von sich zu geben. Gustav versucht, alle die Fragen mit einer minimalen Bewegung ihres linken Mundwinkels zu beantworten. Aber Iris hat sich schon wieder ihrem iPad zugewandt:

»Kannst du denen nicht verklickern, dass wir das bis spätesten nächsten Montag durchbekommen müssen? Ich gehe noch mal die To-do-Liste durch.«

Gustav hat jetzt ihre Zimmertür erreicht. Rasch schließt sie die Tür hinter sich und lässt sich auf ihr Bett sinken. Mit zitternden Händen tastet sie über ihren Brustkorb. Busen. Sie bekommt ganz einfach Busen.

2

Am Abend besteht Iris darauf, dass alle zusammen essen. Gustav wundert sich, Iris ist eigentlich keine von diesen Müttern, die Wert darauf legen, dass zusammen gegessen wird. Im Gegenteil, Iris liebt es, abends mit einem hastig geschmierten Butterbrot auf dem Sofa zu sitzen und auf ihr iPad zu starren. Es gibt ja Erik, der sich letztes Jahr zu Weihnachten einen Handstaubsauger gekauft hat. Und obwohl Iris findet, dass ein Handstaubsauger furchtbar spießig ist, scheint es sie nicht zu stören, wenn Erik damit ihre Spuren beseitigt. Iris krümelt abends also leidenschaftlich gerne auf dem Sofa herum, und auf die Frage, ob es etwas zum Abendessen gibt, antwortet sie mit einem Blick, der darauf hindeutet, dass jeder, der ein richtiges Abendessen möchte, nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Manchmal spart sie selbst diesen Blick und deutet stumm auf die Küchenzeile oder auf Erik, der dann umgehend Pfannkuchen macht. Erik ist ein phantastischer Koch. Der beste Koch, den Gustav sich vorstellen kann. Etwas, das man von Iris nicht behaupten kann. Iris’ Pfannkuchen werden selbst von Sand verschmäht. Und es ist bekannt, dass Hunde Allesfresser sind.

Für das regelmäßige Essen ist in Gustavs Familie also Erik zuständig. Nicht so heute.

Heute gibt es von Iris persönlich aufgewärmte Tiefkühlerbsen mit Kohlrabi.

Na danke, Iris, denkt Gustav und versucht, Sara zu ignorieren, die die Erbsen einzeln auf ihre Gabel aufspießt und vor sich hin prustet.

»Erinnert mich an irgendwas«, kichert sie.

Ramona stimmt in ihr Lachen ein.

Gustav spürt, wie ihr Röte ins Gesicht steigt. Iris guckt fragend von einem zum anderen.

»Kann ich mitlachen?«, fragt sie.

Erik starrt auf seinen Teller.

Als alle außer Erik aufgegessen haben, setzt Iris ein wichtiges Gesicht auf.

»Bitte bleibt noch einen Moment sitzen.«

In der Küche macht sich eine beklemmende Stimmung breit wie ein Tiefdruckgebiet. Erik starrt auf seinen Teller. Ramona und Sara winden sich unter der Stille. Stille ist etwas, das sie einfach nicht ertragen können. Wenn sie nicht am Musiktropf hängen, wird ihr Leben von einem Dauergemaule untermalt, einem beständigen Jammern und Meckern, nur unterbrochen von blitzartigen Kommentaren über diesen oder jenen Jungen, die entweder begeistert oder ganz und gar vernichtend sind. Das hängt, soweit Gustav das beurteilen kann, weniger von dem betreffenden Jungen ab als vom Wetter oder ihren Tagen, die Ramona und Sara als Erklärung für alles dienen.

»Gibt’s noch was, oder warum können wir nicht aufstehen?«, fragt Sara.

»Ja! Es gibt etwas! Erik und ich wollen euch etwas sagen.«

Iris stößt Erik an, der jetzt hochguckt und so aussieht, als ob er gleich zu weinen anfängt. Offensichtlich erwartet Iris von ihm Unterstützung, aber es kommt keine. Erik bleibt stumm. Sara taxiert Iris von oben bis unten.

»Mann, ihr seid ekelig, ein Baby oder was? Dafür seid ihr doch viel zu alt.« Sara verzieht angewidert das Gesicht.

Iris übergeht diesen Kommentar und wartet einen Moment. Dann tippt sie erneut Erik an, so als gäbe es eine Absprache, dass nun er derjenige ist, der sich zu äußern hat. Doch Erik sagt weiterhin gar nichts. Iris seufzt. Sie strafft ihre Schultern.

»Erik und ich, wir brauchen Abstand«, sagt sie.

»Häh?«

»Wie?«

Selbst bei Ramona kommt nun ein gewisses Interesse auf.

»Erik und ich müssen mal ein bisschen Raum zwischen uns bringen. Wir funktionieren als Paar nicht mehr so gut.« Iris versetzt Erik einen gezielten Hieb in die Seite, woraufhin Erik – als hätte der Hieb es aus ihm herausbefördert – ausspuckt: »So ist es.«

»Ihr trennt euch?«

»Dürft ihr das?«

»Dürfen wir was?«

»Einfach so ohne unsere Zustimmung auseinanderziehen, solange wir minderjährig sind.«

Gustav sagt gar nichts.

»Mal ganz langsam. Niemand hat hier von Trennung oder Ausziehen gesprochen. Erst mal brauchen wir einfach ein bisschen Zeit ohneeinander.« Iris sagt das so, als ginge es um die Entscheidung, wann sie heute Abend zum Minigolf aufbrechen. »Unser Dänemark-Urlaub fällt dieses Jahr deswegen leider aus. Logisch, da wären wir ja alle zusammen auf engstem Raum, und das ist genau das, was Erik und ich gerade nicht gut ertragen können.«

Der Dänemark-Urlaub! Das ist so, als würde Iris verkünden, dass Weihnachten ausfällt. Gustav kann sich an kein einziges Jahr erinnern, in dem sie nicht nach Dänemark gefahren sind. Der Campingplatz direkt am Meer, der Geruch der Strandrosen, einschlafen zum Gesang des Meeres, die scharfen Lakritze, von denen Sara, Ramona und Gustav nicht genug bekommen können, Scrabble am Abend vor dem Camper, Iris und Erik, die nach einem Bier kichernd Geschichten von früher erzählen. Dänemark und Sommer, das gehört schon immer zusammen … Das eine ist ohne das andere für Gustav einfach nicht denkbar.

Gustav schaut von Iris zu Erik und wieder von Erik zu Iris. Nicht ausgeschlossen, dass sie Witze machen. Als Omni und Analog haben sie oft Witze gemacht, über die nur sie selbst sich amüsiert haben. Darin haben Eltern ja eine gewisse Begabung. In Witzen, die nur sie witzig finden. Aber heute gibt es zwischen Iris und Erik keinen Witz. Keinen Austausch von Blicken, aus dem ein leises Glucksen entspringt. Keine Pointe. Nichts. Zwischen Iris und Erik gibt es gar nichts. Nur Unzufriedenheit, die wie ein unsichtbarer Eisklotz zwischen ihnen am Tisch sitzt.

Ramona ist die Erste, die sich wieder zu Wort meldet.

»War eh ein bisschen peinlich, dass wir die Einzigen sind, deren Eltern nicht getrennt sind.«

»Bekommen wir denn dann irgendwas als Entschädigung?«, fragt Sara.

Iris guckt verständnislos.

»Na, Ferientaschengeld oder so. Ihr spart doch dann voll viel Geld, wenn ihr keinen Urlaub für uns bezahlt.«

»Spinnt ihr eigentlich? Ich weiß nicht, wie ihr euch das vorstellt. Den Camper konnten wir nicht stornieren. Das ist blöd, aber so ist es eben. Denkt jetzt nicht, dass wir wegen dem abgesagten Urlaub im Geld schwimmen. Wie ihr wisst, hat euer Vater im letzten Jahr kaum etwas verdient.«

»Im letzten halben Jahr«, sagt Erik und fängt sich einen fragenden Blick von Iris ein. »Im letzten halben Jahr habe ich nicht so gut verdient.«

Iris winkt ab. Wie dem auch sei.

Als Gustav an Iris vorbei aus der Küche geht, zieht die sie an sich und drückt Gustavs Kopf an ihren weichen Bauch. Das tut Iris sonst nie. Gustav weiß nicht, was sie machen soll, und deswegen bleibt sie einfach stehen. So ähnlich, wie man am Flughafen in der Sicherheitskontrolle stehen bleibt. Möglichst unauffällig, aber aufmerksam.

Iris fährt mit der Hand durch Gustavs kurzes Haar. Gustav merkt, dass Iris’ Hand zittert und ganz nassgeschwitzt ist. Iris redet, während sie Gustavs linkes Ohr an ihren Bauch drückt und mit der anderen Hand Gustavs rechtes Ohr zudrückt. Leider hört Gustav nur die Hälfte von dem, was sie sagt. Es hat etwas zu tun mit traurig sein und sprechen und Familie bleiben.

Gustav überlegt noch, ob sie Iris darauf hinweisen soll, dass sie nichts verstehen kann, wenn Iris ihre beiden Ohren zudrückt. Aber sie hat das Gefühl, dass es nicht so sehr darum geht, was Iris sagt. Mehr um Iris’ Stimme, die vertraut klingt und nah, aber auch nicht zu nah. Ein bisschen so, als würde man an einem Sommertag ganz oben unter dem Dach liegen und dem Regen lauschen.

Iris nimmt jetzt die Hand von Gustavs Ohr und dreht Gustav so hin, dass sie ihr direkt in die Augen schaut.

»Versprichst du mir das?«

Gustav hat keine Ahnung, was sie versprechen soll. Sicher irgendwas mit traurig, sprechen und Familie bleiben. Gustav nickt. Iris umarmt Gustav noch einmal fest. Dann drückt sie ihr einen nassen, knallenden Kuss direkt neben das Ohr und schiebt sie aus der Tür.

 

»Glaubst du, die meinen das ernst?«

Im Vorbeigehen hört Gustav Saras Stimme aus Ramonas Zimmer. Gustav bleibt kurz vor der Zimmertür stehen.

»Quatsch. Das ist die Midlife-Crisis. Ganz normal in dem Alter. Ist so ’ne Art vorübergehende Krankheit für die Köpfe von Eltern. Nicht mehr als ein geistiger Schnupfen. Geht vorbei.«

Ramona ist Expertin für alles. Midlife-Crisis also. Iris und Erik krank. Vielleicht erklärt das ihre ständigen Streitereien. Ein bisschen beruhigt geht Gustav in ihr Zimmer. Iris und Erik haben ihr zu Weihnachten einen iPod geschenkt. Gustav wollte unbedingt ein iPhone haben – so wie die meisten Mädchen in ihrer Klasse, aber Erik fand das zu früh. Erik und Iris haben sich dann auf einen iPod geeinigt, mit dem Gustav von zu Hause aus immerhin Nachrichten verschicken und ins Internet gehen kann.

Das macht sie jetzt auch. Sie geht ins Internet und gibt »Midlife-Crisis« in die Suchmaschine ein. Das Internet spuckt bereitwillig eine Antwort aus.

Midlife-Crisis (engl. für »Lebensmittekrise«) nennt man einen psychischen Zustand von Unsicherheit. Er tritt in der Regel zwischen 40 und 50 Jahren auf. Die Betroffenen berichten von innerer Unruhe, Unzufriedenheit und Stimmungsschwankungen.

»Pubertät für Eltern«, seufzt Gustav. Auch das noch. Als ob Sara und Ramona nicht schon genug Unruhe, Unzufriedenheit und Stimmungsschwankungen in diese Wohnung bringen. Nun auch noch Erik und Iris. Es ist nicht so, dass Gustav dachte, dass bei Iris und Erik alles gut ist. Seit Wochen schon hört sie Iris und Erik abends streiten. Seitdem Maren, Iris’ beste Freundin, die auf Mallorca lebt, sehr krank gewesen ist, redet Iris nämlich ständig davon, dass man das Leben richtig leben muss. Und davon, dass man das mit Erik einfach nicht kann.

»Erik, du bist so festgefahren und starr«, hat sie erst gestern Abend gerufen. »Ich will wieder mehr tanzen.«

Und als Erik geantwortet hat: »Das können wir doch mal machen, tanzen gehen. Von mir aus gerne!«, hat Iris gerufen: »Im übertragenen Sinn! Tanzen im übertragenen Sinn! Du bist so unbeweglich! Ich komme mir vor, als lebte ich mit einem Stein zusammen!«

Gustav hat sich angestrengt, zu hören, was Erik daraufhin geantwortet hat. Aber es war keine Antwort zu hören. Nur Iris, die die Zimmertür vom Schlafzimmer aufriss und die der Küche zuknallte.

 

Sand, die neben Gustavs Bett auf dem Boden liegt und schnarcht, pupst laut. Sand ist das älteste und weiseste Mitglied der Familie. Sie geht Gustav bis zum Knie, und ihr Fell hat, wie soll es anders sein, die Farbe von Sand. Niemand weiß, ob Sand ein echter tibetischer Hütehund oder vielleicht doch eine Mischung aus ebendiesem und einem polnischen Straßenhund ist. Aber das ist auch egal. Denn Sand ist sowieso anders als alle anderen Hunde. Sand ist eben Sand. Sand ist fast sechzehn Jahre alt. Umgerechnet in Hundejahre ist sie also schon über hundert. Sand versteht Gustav auch im Tiefschlaf bestens. Das macht ihre Unterhaltung um einiges einfacher, jetzt, wo sie so alt ist, dass sie die meiste Zeit des Tages verschläft. Gustav drückt die Nase in Sands Fell, um dem süßlichen Hundepups zumindest in Teilen zu entkommen. Stattdessen riecht sie jetzt den Geruch von warmem Hundefell.

Dieser Geruch begleitet Gustav schon, solange sie denken kann, deswegen saugt sie ihn zur Beruhigung richtig tief ein. Iris und Erik reden manchmal darüber, dass Sand jetzt so alt ist, dass sie bald sterben wird. Sand war schon da, bevor Gustav da war. Schon als Gustav noch ganz klein war, hat Sand ihre weiche Zunge in Gustavs Gesicht gestreckt und ihr damit gesagt: Hab keine Angst, ich passe auf dich auf. Solange Gustav sich erinnern kann, ist er da gewesen, dieser Geruch nach Hundefell, Sands warmer Atem. Für Gustav ist dieser Geruch Zuhause. Gustav kann sich kein Leben ohne Sand vorstellen, und deswegen ist Sand in ihrer Vorstellung unsterblich. Egal, was die anderen sagen.

Ob Sand versteht, was es heißt, wenn Erik und Iris Abstand brauchen?

Ob Sand versteht, was es heißt, einen Busen zu bekommen?

»Weißt du, Sand«, sagt Gustav, »der Busen ist ja erst der Anfang.«

Sands Beine bewegen sich zuckend im Schlaf, und manchmal macht sie ein Geräusch wie die ungeölte Tür eines alten Zuges.

Die Pubertät, denkt Gustav, wird über sie kommen, und sie wird nichts dagegen tun können. Es bleiben ihr ein paar letzte Tage oder Wochen der Klarheit. Ein paar letzte Wochen, bevor der Geruch von Nagellack und der Gedanke an Jungs ihr den Kopf vernebeln werden. Aber eine Sache weiß Gustav ganz genau. Sie wird sich nicht verlieben. Mit diesem Vorsatz schläft sie ein.

3

Mittwochmorgens ist Gustav mit Erik alleine. Ramona und Sara haben zur ersten Stunde, und Iris ist um diese Zeit schon lange beim Feind. Doch heute ist Erik nirgends zu sehen. Die Schlafzimmertür ist noch zu, und Gustav ist darüber ganz erleichtert. So erleichtert, dass sie extra leise durch den Flur schleicht, um Erik ja nicht zu wecken. Bestimmt ist es für Väter mit Midlife-Crisis alles andere als gut, zu früh geweckt zu werden. Erik sagt immer, wenn man krank ist, braucht man zwei Sachen: viel Liebe und viel Schlaf. Und wer weiß, vielleicht überlegt sich Iris das mit dem Abstand auch noch mal, wenn Erik ein wenig wacher, ein bisschen weniger Anti-Erik ist. Im Gegensatz zu Erik, der unerschütterlich an seinen einmal gefassten Meinungen festhält, ändert Iris ihre Meinung täglich.

Kakao machen, Müsli machen, Zähne putzen. Gustav hangelt sich von einer Aufgabe zur nächsten. Die Erbsen machen ihr schlechte Laune. Das Gefühl, das sie bei dem Gedanken an Dänemark überkommt, ist so umfassend dunkel, dass sie Angst hat, schon am frühen Morgen davon verschluckt zu werden. Sechs Wochen Sommerferien und keine Aussicht auf Meer und Strand. Gustav dreht den Wasserhahn auf und spritzt sich das eiskalte Wasser ins Gesicht. Doch die Gedanken an gestern Abend lassen sich nicht einfach abwaschen.

Im Flur hört sie Sand bellen.

»Pssst, du weckst Erik.«

Sand steht schon seit bestimmt einer halben Stunde vor Eriks geschlossener Zimmertür und knurrt leise. Jetzt hat sie angefangen, laut zu bellen. Sand ist im letzten Jahr ein bisschen seltsam geworden. Anders, sagt Gustav. Steinalt und verwirrt, sagen Iris und Erik. Dement, sagt die Tierärztin. Immer häufiger kommt es vor, dass Sand stundenlang eine Wand oder eine Tür anstarrt. Manchmal bellt sie, manchmal knurrt sie, und manchmal steht sie einfach nur da. Nicht selten so lange, bis ihre Beine wegknicken und sie hinfällt. Mit Sand ist es so ähnlich wie mit dem Anti-Erik, denkt Gustav, Sand ist zwar hier in der Wohnung, aber in Gedanken ist sie woanders. Und sie kann sehr böse werden, wenn man sie an diesem anderen Ort stört. Jetzt zum Beispiel. Als Gustav ihr zur Beruhigung einen Hundekuchen hinhält, bellt sie wütend und schnappt nach ihr. Erst danach erkennt sie, dass es Gustavs Hand ist. Und dass diese Hand ihr etwas reicht, das sie liebt. Jetzt wedelt sie mit dem Schwanz und versucht, mit der Zunge den Hundekuchen zu erwischen. Geschafft. Das Ding verschwindet in ihrer nassen Schnauze. Sand schmatzt zufrieden.

 

Das Erste, was Gustav sieht, als sie das Klassenzimmer betritt, ist Aninas Po. Anina ist Gustavs beste Freundin, und wenn Gustav jemals jemanden heiraten sollte, dann sie. Niemandem sonst könnte sie dieses blöde Versprechen von ewiger Liebe geben. Außer Sand natürlich, aber einen Hund kann man nun mal nicht heiraten. Anina ist witzig und unglaublich klug. Neben Sand ist sie die beste Hüterin von Geheimnissen. Absolut vertrauensvoll. Und sie kann rülpsen. Die perfekten Rülpser. Anina hat es sogar zu einem gewissen Grad an Berühmtheit gebracht, weil sie im Internet einen Rülps-Clip mit ziemlich vielen Aufrufen hat.

Seit ein paar Wochen, seit sich herausgestellt hat, dass James (James, wer heißt schon James!) aus der Parallelklasse auf Anina steht, wird Anina von Paula umgarnt. Paula, die Kupplerin. Wenn Paula ihre langen Haare öffnet, kreischen die anderen Mädchen, und Jungs fallen reihenweise in Ohnmacht. Gustav kann ihr Vanille-Deo schon aus meterweiter Entfernung riechen. Paula hingegen behauptet von sich, dass sie die Liebe riechen kann. Und das zwischen Anina und James, das könnte ganz toll werden. Seitdem also tanzt Paula um Anina wie eine Motte ums Licht. Und Gustav ist davon alles andere als begeistert. Und als ob dieses ganze James-Gequatsche und der klebrige Duft von Paulas Deo nicht schon genug wären, ist es jetzt auch noch so, dass Anina und Paula in den Ferien auf den gleichen Campingplatz fahren. Von Millionen von Campingplätzen dieser Welt haben ihre Eltern vollkommen unabhängig voneinander ausgerechnet den ausgesucht, der am südlichsten Ende der größten Wanderdüne Europas liegt, an der Dune du Pilat in Frankreich. Das muss man sich mal vorstellen.

»Das musst du dir mal vorstellen!«, hat Anina gestöhnt, als sich herausstellte, dass sie ihre Ferien unfreiwillig mit Paula verbringen würde. »Stell dir die ganzen Jungs vor, die sie da aufreißen wird. Das halte ich nicht aus.«