Des Grabes stumme Melodie: Ein Fall für Selkirk und Poole - Morag Joss - E-Book
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Des Grabes stumme Melodie: Ein Fall für Selkirk und Poole E-Book

Morag Joss

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Beschreibung

Eine idyllische Stadt zeigt ihr dunkles Gesicht … Der fesselnde Kriminalroman »Des Grabes stumme Melodie« von Morag Joss als eBook bei dotbooks. Die Stadt Bath in Somerset: Inmitten romantischer Hügel gelegen, ist die altehrwürdige Kurstadt schon seit Jahrhunderten für ihre heilenden Quellen bekannt und beliebt bei der britischen Oberschicht. Doch wo Glanz und Glamour herrschen, dort lauern auch Abgründe … Das weiß die gefeierte Cellistin Sara Selkirk nur zu gut. Als ihre ehemalige Musiklehrerin Joyce unter Mordverdacht gerät, ahnt Sara: Jemand will die alte Dame zum Opferlamm machen – tief im Herzen der Stadt schwelt schon lange eine Glut aus Lügen und Bosheit. Die Spur führt die Cellistin und ihren Freund, Detective Inspector Andrew Poole, zu einem Luxusresort, in dem dunkle Machenschaften vor sich gehen – die nun auch Sara in tödliche Gefahr bringen … »So gut gestrickt wie Ruth Rendell und psychologisch ausgefeilt wie P. D. James.« Bath Chronicle »Ein mitreißender psychologischer Spannungsroman an schönen Schauplätzen.« The Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Ein atmosphärischer Brit-Crime-Roman – »Des Grabes stumme Melodie« von Morag Joss, der dritte und finale Fall für Detective Inspector Andrew Poole und die Cellistin Sara Selkirk. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 576

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Über dieses Buch:

Die Stadt Bath in Somerset: Inmitten romantischer Hügel gelegen, ist die altehrwürdige Kurstadt schon seit Jahrhunderten für ihre heilenden Quellen bekannt und beliebt bei der britischen Oberschicht. Doch wo Glanz und Glamour herrschen, dort lauern auch Abgründe … Das weiß die gefeierte Cellistin Sara Selkirk nur zu gut. Als ihre ehemalige Musiklehrerin Joyce unter Mordverdacht gerät, ahnt Sara: Jemand will die alte Dame zum Opferlamm machen – tief im Herzen der Stadt schwelt schon lange eine Glut aus Lügen und Bosheit. Die Spur führt die Cellistin und ihren Freund, Detective Inspector Andrew Poole, zu einem Luxusresort, in dem dunkle Machenschaften vor sich gehen – die nun auch Sara in tödliche Gefahr bringen …

»So gut gestrickt wie Ruth Rendell und psychologisch ausgefeilt wie P. D. James.« Bath Chronicle

»Ein mitreißender psychologischer Spannungsroman an schönen Schauplätzen.« The Times

Über die Autorin:

Morag Joss wuchs an der Westküste Schottlands auf und studierte an der Londoner Guildhall School of Music. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter als freie Schriftstellerin in der Nähe von Bath im Süden Englands. Dieser mondäne Kurort ist auch Schauplatz ihrer Kriminalromane. Für ihren brillanten Spannungsroman »Des Hauses Hüterin« erhielt sie den Silver Dagger Award der Crime Writers' Association.

Morag Joss veröffentlichte bei dotbooks ihren preisgekrönten psychologischen Spannungsroman »Des Hauses Hüterin«.

Außerdem erscheinen bei dotbooks in der Reihe um Inspector Andrew Poole und die Cellistin Sara Selkirk:

»Der Klage dunkles Lied - Band 1«

»Des Todes heller Klang - Band 2«

***

eBook-Neuausgabe Februar 2020

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel »Das süße Gift der Zwietracht« bei Droemer.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2001 by Morag Joss

Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Fruitful Bodies« bei bei Hodder & Stoughton/Hodder Headline PLC, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 bei Knaur Taschenbuch.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, MünchenCopyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Peter Connell

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-778-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Des Grabes stumme Melodie« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

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blog.dotbooks.de/

Morag Joss

Des Grabes stumme Melodie

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ursula Bischoff

dotbooks.

Für Fiona, Gavin und Neil

Die folgenden Stücke werden von Sara Selkirk gespielt:

Brahms: Variationen über ein Thema von Joseph Haydn – St.-Antoni-Choral

Dvořák: Cellokonzert in B-Moll, Op.104

Rachmaninow: Préludes Op.23, Nr. 4 in D-Dur

J.S. Bach: Adagio aus Toccata, Adagio und Fuge in C-Dur, BWV 564

J.S. Bach: Suiten Nr.1, G-Dur, für Violoncello, BWV 1007

Beethoven: 7 Variationen in E-Dur über »Bei Männern, welche Liebe fühlen« aus Mozarts Zauberflöte und 12 Variationen in F-Dur über »Ein Mädchen oder Weibchen« aus Mozarts Zauberflöte

Saint-Saëns: Aus Karneval der Tiere, »Der Schwan«

Fauré: Elégie in C-Moll, Op.24

ERSTER TEIL

KAPITEL 1

Irgendetwas stimmte nicht mit dem Lippenstift. Ihre Finger, die sich doppelt so groß anfühlten wie sonst, drehten noch einmal am unteren Ende und der daumenförmige rotbraune Fettstift schraubte sich hinunter, der Sicht entschwunden, um dann erneut aus der Hülse hervorzuquellen. Mit starrem Blick beobachtete sie, wie er schimmerte und schwankte, sich jedem Versuch entzog, ihn zu fokussieren. Schniefend, als ließe sich dadurch ihre Sehschärfe verbessern, versetzte sie ihm einen Stups mit dem Finger und begutachtete den Schmierfleck auf ihrem Nagel. Er sah fest aus, keine Frage, also waren es vielleicht nur ihre Lippen, die zitterten. Sie wischte den Finger an ihrer Kostümjacke ab, dann blickte sie mit einem weiteren Schniefen entschlossen in den Spiegel, der mit einem Stück Draht am Griff des Geschirrschranks über dem Baby-Belling-Kompaktkocher befestigt war. Sie holte tief Luft, bemüht, die gespitzten Lippen nicht zu bewegen. Doch ihr Spiegelbild sagte ihr, dass sie nicht nur Probleme haben würde, ihre Lippen lange genug ruhig zu halten, um sie zu schminken, sondern sie überhaupt zu finden.

Sie hatten die Neigung, in ihren Mund zu schlüpfen und dort an den trockenen Zähnen haften zu bleiben.

Mit ihnen hatte sie ohnehin nie Staat machen können. Der Genpool von Monifieth war 1927 nicht mit schwellenden Aphrodite-Mündern gesegnet gewesen, und mehr als siebzig Jahre Abnutzung durch schottische Konsonanten, Ostwinde und manierliches Kauen hatten sie nicht fleischiger gemacht. In ihrem Gesicht, das einem zerknitterten Blatt Papier glich, wirkten die Lippen wie zwei waagerechte gekräuselte Klammern von der Sorte, mit denen Joyce als kleines Mädchen in der Grundschule von Monifieth ganze Kladden vollgekritzelt hatte, neben die Siebener mit gewelltem Oberstrich und die Sopran-Notenschlüssel. Sie gestattete sich einen Augenblick der Erinnerung an die Perfektion ihrer Sopran-Notenschlüssel, wobei sie unwillkürlich zufrieden die Lippen schürzte, bevor sie sich zur Ordnung rief. Auch dazu neigte sie, wie sie bemerkt hatte: War sie unachtsam, auch nur für einen Moment, schweiften ihre Gedanken in eine so weit zurückliegende Vergangenheit ab, dass selbst Joyce sie mit Skepsis betrachtete. Wie hätten sie auch wirklich sein können, diese Sopran-Notenschlüssel? Es war besser, die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten. Sie beugte sich wieder nach vorne, um in den Spiegel zu sehen, holte abermals tief Luft und spitzte ihre Lippen, um einen kräftigen Tupfer Bengalisches Feuer aufzutragen.

Schlimmer. Ihr Mund glich nun einer frisch genähten Wunde, und die Zeit wurde knapp. Sie würde länger für den unterirdischen Fußmarsch brauchen, um in King's Cross von der Northern Line zur Piccadilly Line umzusteigen, vor allem in ihren besten halbhohen Schuhen: Sie hatten ihr in den ersten elf Jahren gute Dienste geleistet, doch jetzt waren sie ausgetreten, und Joyce konnte nur mehr langsam gehen, weil sie hinten herausrutschte. Das war das Vertrackte an schottischen Füßen, die länger und schmaler als die Füße von Engländerinnen waren, wie sie irgendwo gelesen hatte. Längere, schmalere Füße – das hörte sich vornehm an, deutete auf eine weitere Überlegenheit hin, die Anlass zum Stolz gegeben hätte, wenn mehr Menschen davon gewusst hätten, obwohl man wirklich ein kleines Problem hatte, gleich welche Entfernung in halbhohen Schuhen zurückzulegen.

Sie überlegte, ob sie den Lippenstift ganz wegwischen sollte, aber das Bengalische Feuer war das Tüpfelchen auf dem i: Es hatte genau den gleichen Farbton wie ihr Kostüm, der Zweiteiler von Pringle aus dem Jahre ... egal, es war jedenfalls ein Klassiker. Ein klassischer Schnitt, neu interpretiert für die moderne Frau, hatte man ihr gesagt, als sie es bei Jenners an der Princes Street in Edinburgh gekauft hatte. Damenoberbekleidung, zweiter Stock. Und die elegante kleine Pudelbrosche für das Revers hatte sie auf dem Weg nach draußen in der Abteilung Wirkwaren & Zubehör erstanden, sie konnte ihrem Bild von einer berufstätigen Frau einfach nicht widerstehen, einer Frau mit Stil und dem nötigen Kleingeld, die von Glasgow nach Edinburgh fuhr, um sich einzukleiden. Die Geschäfte an der Sauchiehall Street waren nichts für sie – viel zu hinterwäldlerisch. Und wer konnte sich schon mit Jenners messen! Neue Strümpfe hatte sie auch gekauft, gleich sechs Paar, aus einer Laune heraus, in erster Linie jedoch, um es der Verkäuferin zu zeigen, und das hatte die auch gemerkt, dieses dumme Frauenzimmer, denn der Tonfall der Gewiss-Madam-Floskeln war ein wenig spitz geworden. Aber ihre Gedanken schweiften schon wieder ab. Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt, rief sie sich zur Ordnung.

Sie eilte geschäftig in ihrem Einzimmerapartment hin und her, sammelte Geldbörse und Schlüssel ein und entnahm dem Koffer unter ihrem Bett die gute Handtasche und den Chiffonschal. Erst als sie alles beisammen hatte, wurde sie von einem Geräusch hinter dem Ohrensessel daran erinnert, gefolgt von klappernden Tatzen auf dem Linoleum unter dem Spülstein, dass sie Pretzel kein Futter hingestellt hatte und er wieder in seine Wasserschüssel getappt war.

»Ach Pretzel, wäre deine Mummy um ein Haar weggegangen, ohne dir dein Abendessen dazulassen!«

Sie stellte ihre Siebensachen auf dem Fußboden ab, größtenteils in der Wasserlache, und öffnete eine frische Büchse Hundefutter, während Pretzels Scharren auf dem Fußboden lebhafter wurde und sich der röhrenförmige Oberkörper des braunen Dackels in freudiger Erwartung zu winden begann. Der Geruch, der ihr warm und wie halb verdaut aus der Blechdose entgegenschlug, rief Joyce ins Gedächtnis, dass sie ebenfalls einer leiblichen Stärkung bedurfte. Sie bückte sich, um Pretzels Mahlzeit auf den Fußboden unter den Spülstein zu stellen, wo der Geruch nach Abwasser und warmem Hund darauf wartete, sich mit dem Geruch nach geschmortem Pferdefleisch und Gelatine aus der Futterschüssel zu vermischen. Ihr leerer Magen erschauderte in einem Zittern, das durch die Eingeweide nach oben gelangte und mit einer leisen, hochentzündlichen Wodka-Dunstwolke durch den Mund entwich. Saurer Speichel überschwemmte die Innenseiten ihrer Wangen. Ihre Kehle verengte sich und sie schluckte einen Mund voll Gallenflüssigkeit. Nein, lieber keine feste Nahrung. Etwas anderes. Sie hatte nur noch einen Rest Wodka in der Handtasche, ihre eiserne Reserve, aufgespart für Zeiten, wenn sie dringend einen Schluck brauchte, oder für danach (was immer zuerst kam, falls zwischen beiden ein Unterschied bestand), aber was zum Teufel sprach dagegen, sie jetzt gleich in Angriff zu nehmen? Schließlich galt es, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es reichte aus, wenn sie zur zweiten Hälfte dort war.

Einige Zeit später zog sie die Tür hinter sich zu und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, hier und jetzt den Schlüssel, der zu zittern schien, in das Schlüsselloch einzuführen, das nicht stillhalten wollte. Aus dem Innern konnte sie das Murmeln des Fernsehgeräts ausmachen, den sie eingeschaltet hatte, damit Pretzel sich nicht so einsam fühlte, und sie meinte, Carol Smillie zu hören. Pretzel mochte Carol Smillie. Joyce seufzte, als sich der Schlüssel endlich im Schloss drehte, und stieg vorsichtig die Treppe hinunter, ihre gute Handtasche über dem Arm. Ihre vom Schlaf zerzausten ungebürsteten Haare, die nackten, von Krampfadern durchzogenen Beine und das verwackelte Bengalische Feuer, alles Dinge, die sie dem Dort und Dann zuordnete, bekümmerten sie nicht im geringsten.

KAPITEL 2

Sara verspürte das übliche Kribbeln im Bauch, es war nicht unangenehm und so vertraut, dass es sie beunruhigt hätte, wenn es nicht da gewesen wäre. Sie hatte sich eingespielt, geduscht, ein dunkelbraunes Seidenkleid angezogen und Haare und Gesicht sorgfältig hergerichtet, genau wie immer, was bedeutete, ungefähr eine Stunde früher als nötig. Sie war in der Künstlergarderobe auf und ab gegangen, hatte die Knöchel knacken lassen, sich mit Hilfe von Tiefenatmung zu entspannen versucht, das Radio ausgeschaltet, Grimassen im Spiegel geschnitten und sich gefragt, warum sie ausgerechnet damit ihren Lebensunterhalt verdiente.

Draußen konnte sie das Gemurmel der Leute hören, die aus Prommers Bar ein Stück weiter strömten und sich auf dem muffigen unteren Korridor in die Schlange einreihten, die sich rund um die Tür ihrer Garderobe gebildet hatte. Sie würden sich, an die Wand gelehnt, mit ihren Programmheften Luft zufächeln, lauwarme Getränke kippen und auf den Beginn des zweiten Teils warten, völlig, wenn nicht gar wohlig entspannt. Sie hätte alles darum gegeben, was auch immer, mit ihnen zu tauschen, als Zuschauerin in einem luftigen Sommerkleid und Sandalen einem Konzert zu lauschen, in der Pause an einem Hauswein zu nippen, der Sodbrennen verursachte, während die größte Herausforderung des Abends die folgenschwere Wahl auf dem Heimweg zwischen einem chinesischen und einem indischen Restaurant gewesen wäre.

In Selbstmitleid schwelgend, legte sie ihre Ohrklips mit den Diamantsplittern an, den einzigen Schmuck, den sie zu dem raffinierten schokoladenbraunen Seidenkleid zu tragen pflegte, und drehte den Kopf, um zu beobachten, wie sich das Licht von einem Dutzend oder mehr Glühbirnen rund um den Garderobenspiegel in ihnen verfing. Die Ohrklips waren zu groß für die schnöde Wirklichkeit und zu prunkvoll, sogar für einige Musikerinnen, die grauen Mäuse unter ihren Berufskolleginnen, in deren Augen ein Cellokonzert von Dvořák eine ernsthafte Angelegenheit war, die keinerlei Frivolitäten aus der »Ohrring-Liga« duldete. Sara lächelte sich im Spiegel zu. Ein Grund mehr, sie zu tragen. Ihr gefiel der gewagte Ton, den sie anschlugen, und die Frage, die sie auslösten – falsche oder echte Klunker –, die zur nächsten Frage führte – wen interessiert das schon –, solange das Publikum das sprühende Funkeln genoss. Das erste Klingeln ertönte, und das Gemurmel im Korridor wurde gedämpfter.

Inzwischen hatte sie ihre Schuhe angezogen und, in einer Mischung aus Aberglauben und praktischen Erwägungen, den genauen Punkt auf der Vorderseite ihres Kleides ausfindig gemacht (direkt oberhalb des Knies), wo es den Stoff mit der rechten Hand zu raffen galt. Nur so konnte sie auf die Bühne steigen und vermeiden, auf den Saum zu treten, ihr Kleid zu zerreißen, auf ihr Peresson-Cello zu fallen, das einige hunderttausend Pfund wert war, und sich auf ihrem Bogen aufzuspießen. Das könnte dem Prom-Publikum so passen.

Das Kribbeln im Bauch war noch da. Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Schminktisch, ging zu dem grünen Samtsofa hinüber und rief, auf die Lehne gestützt (sie wollte vermeiden, auch nur mit einer einzigen Knitterfalte über dem Bauch die Bühne zu betreten), Andrew auf ihrem Handy an.

»Hallo. Ich bin's.«

»Oh, hallo.« Schweigen.

»Ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut.« Sara seufzte, weniger, um ihr Bedauern zu unterstreichen, sondern vielmehr wegen der Entschuldigung, die sie sich abgerungen hatte. Sie war nicht der Meinung, dass sie einen Fehler begangen hatte.

»Schon gut.« Andrews Stimme klang lahm. Dann folgte wieder Schweigen. »Mir auch. Es tut mir leid, meine ich. Aber die Kinder gehen vor, das musst du einsehen.«

Sara sah es ein, aber sie fand, dass Valerie, Andrews Verflossene, kein Recht hatte zu verlangen, dass er ausgerechnet heute abend die Kinder hütete, und damit erst zwei Stunden vorher herauszurücken. Und sie fand außerdem, dass ihre eigene Reaktion – sie war wutentbrannt aus dem Haus gestürmt und alleine nach London gefahren – völlig verständlich war.

»Ach Andrew, ich wünschte, du wärst hier.«

»Hör zu, ich ... was soll's, es ist, wie es ist. Bist du startbereit? Alles in Ordnung? Ich habe das Radio eingeschaltet. Der erste Teil war gut. Ich mag die St.-Anthony-Variationen. Aber alle warten auf dich. Was ist das für ein Gefühl?«

»Flau im Magen. Ich mache meine Atemübungen.« Sie stellte fest, dass sie lächelte, als hätte er gerade den Raum betreten. »Es tut gut, deine Stimme zu hören«, fügte sie hinzu.

»Ach Liebling, ich finde es wunderbar, dich zu hören. Es tut mir so leid, dass ich nicht bei dir sein kann.«

»Wenn du hier wärst, hätte ich dich bestimmt schon längst vergrault. Ich brauche davor immer Zeit für mich alleine.«

»Zeit, um dich schlecht zu fühlen, du armes Häschen. Aber keine Angst, du wirst sie vom Hocker reißen, da bin ich mir sicher. Live in der Albert Hall. Genieße es.«

Sara lächelte über den unverhofften Zuspruch. »Oh, das werde ich, ganz bestimmt werde ich das. Ich bin startbereit. Es ist immer so, bevor ich auf die Bühne muss.«

»Und fahr vorsichtig nach Hause, hörst du? Ich warte auf dich. Auf der M4 herrscht so spät am Abend wahrscheinlich wenig Verkehr, aber sei trotzdem vernünftig, ja? Also: Hals und Beinbruch, oder sagt man toi, toi, toi? Ich liebe dich.«

»Ich passe schon auf. Ich liebe dich auch. Ich muss los. Bis später!«

Es klopfte an die Tür. »Noch drei Minuten, Miss Selkirk!«

»Danke.« Sie war dankbar, nicht nur für die Aufforderung, sich bereitzumachen, sondern weil wie immer in diesem Moment das flaue Gefühl verschwunden war. Sie stand auf, streckte die Arme über den Kopf, holte zweimal tief Luft und merkte, dass sie immer noch lächelte. Das kunterbunte Sammelsurium der Möbel, die Heizungsrohre unter der Decke und die stickige Hitze in der Garderobe, die das Gefühl in ihr weckten, sich in den Eingeweiden einer altersschwachen Fähre über den Ärmelkanal zu befinden, nahmen ihre Aufmerksamkeit nicht länger in Anspruch. Mit dem Cello in der linken Hand durchquerte sie den mittlerweile menschenleeren Korridor, der rund um das gesamte Gebäude verlief, und schloss sich am Durchgang zur Bühne dem Konzertmeister und dem Dirigenten an. Sie tauschten ein freundliches Nicken und die besten Wünsche aus. Das Orchester hatte die Instrumente gestimmt, wie man am Signal erkannte, das nun ertönte, und der Konzertmeister machte sich auf den Weg zur Rampe. Zwei Ordner öffneten die Doppeltüren und winkten ihn mit einem Kopfnicken durch. Applaus brandete auf, driftete zu Sara hinüber, die in den Kulissen stand. Simon blickte zu Boden. Mit einem Hochziehen der Augenbrauen und einer Handbewegung forderte er Sara auf, vorauszugehen. Jetzt. Sie lächelte ihn strahlend an, und sie zwinkerten sich zu. Tief atmend, um ihr Lampenfieber im Zaum zu halten, raffte sie ihr Kleid und betrat den dunklen Tunnel.

Ihr Erscheinen auf der Bühne wurde mit Applaus und begeisterten Pfiffen begrüßt. Lächelnd bahnte sie sich ihren Weg durch das Orchester, gefolgt von Sir Simon Rattle, und verbeugte sich vor dem Publikum; dabei warf sie einen kurzen Blick auf das weitläufige Theater mit der von Sitzreihen umgebenen Zentralbühne, das Foyer mit dem Springbrunnen in der Mitte, die Reihen im Parkett, die drei abgestuften Logenreihen mit den karmesinroten Vorhängen, den Rang und die mit Kolonnaden geschmückte Galerie, die in schwindelerregender Höhe darüber lag. Dann wandte sie sich dem Orchester zu, verneigte sich vor ihm, bevor sie Platz nahm, und dachte, dass sie sich ungeheuer glücklich schätzen durfte: Sie war mit Abstand der größte Glückspilz unter den Hunderten von Menschen in dem weitläufigen Zuschauerraum. Aus der Dunkelheit in das wunderbare Scheinwerferlicht hinauszutreten, Dvořáks Cellokonzert gemeinsam mit einem erstklassigen Orchester zu spielen und zu wissen, dass sie ihre wahre Bestimmung im Leben gefunden hatte, empfand sie als große Gunst des Schicksals. Was sollte der läppische Unsinn, der ihr noch vor zehn Minuten durch den Kopf gegangen war?

Sie stimmte gelassen ihr Instrument und nickte Simon am Dirigentenpult zu. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit vor ihrem ersten Einsatz, um dem Auftakt des Allegro zu lauschen. Was ihr an den Promenadenkonzerten gefiel, war, dass man das Publikum sehen konnte. Die Lichter im Rang, die während der gesamten Vorstellung an blieben, befanden sich so hoch oben im Dach, dass sie von ihrem Platz aus alles erkennen konnte, statt vom Rampenlicht, das aus dem abgedunkelten Zuschauerraum auf sie gerichtet war, geblendet zu sein. Sie blickte sich ein letztes Mal um, genoss das Tempo des Allegros, während ihre linke Hand lautlos den ersten Fingersatz probte. In diesem Augenblick war sie zutiefst dankbar und liebte die ganze Welt, Simon natürlich, aber auch alle anderen, das Fußvolk im Orchester, das boshafte Bläser-Ensemble, das besorgt wirkende BBC-Aufnahmeteam, die Bühnentechniker, die Ordner, die feinen Pinkel aus den Unternehmen, die in den Logen saßen, bis zum letzten Prom-Besucher: die strohdummen jungen Frauen, die zaundürren Trottel, die gestrengen Musiklehrerinnen mit Sandalen und Brille, die Schüler oder Studenten, die Touristen und die Außenseiter der Gesellschaft, sogar die Verrückte dort hinten in dem grässlichen pinkfarbenen Kostüm.

Sie sah Simon an und sie tauschten einen Blick geheimen Einverständnisses, eine Mischung aus Ja, ich bin bereit, ist das Ganze nicht wunderbar und einem Hauch von Was machst du später – etwas, das mehr mit der augenblicklichen Situation zu tun hatte, als dass sie miteinander sprachen. Er ist wirklich attraktiv, dachte sie, zumindest mit einem Stab in der Hand. Der Herr bewahre mich vor Dirigenten. Konzentriere dich, dachte sie. Konzentriere dich, acht Takte noch, dann bin ich an der Reihe. Ihre Augen kehrten flüchtig zu dem pinkfarbenen Kostüm zurück.

Pinkfarbenes Kostüm. Dieses Kostüm. Pinkfarbenes Kostüm, pinkfarbenes Kostüm, oh Gott, das kann doch nicht wahr sein! Das kann nicht sein. Achtung, nur noch sechs Takte und ich bin dran. Mein Gott, das ist kein Trugbild. Dieses pinkfarbene Kostüm. Zwei Takte noch. Verflixt, ich habe meinen Einsatz doch nicht etwa verpasst? Sie ist es. Habe ich ihn verpasst? Sie bedeckt die Augen mit der Hand. Oh Gott, jetzt, jetzt ... ich werde bestimmt zu spät einsetzen ...

Erst beim Finale wagte Sara, ihre Augen noch einmal schweifen zu lassen. Sie hatte sich für den Anblick gestählt und sah nun, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die ausgemergelte Gestalt im pinkfarbenen Kostüm war Professor Cruikshank, ihre Cellolehrerin von 1978, als sie in die Royal Scottish Academy of Music aufgenommen worden war, bis zum Examen 1981, das sie als Beste ihres Fachs mit den meisten Preisen abschloss. In den dazwischenliegenden Jahren war die einstmals gebieterische, musikalisch begnadete und allgemein anerkannte Professorin praktisch zur Stadtstreicherin verkommen.

Selbst in der kurzen Zeit, seit Sara sie entdeckt und um ein Haar ihren Einsatz verpasst hatte, schien Joyce an Substanz verloren zu haben. Sie stand inmitten einer dicht gedrängten Menschenmenge im vorderen Bereich und beugte sich nun auf unnatürliche Weise aus der Taille heraus nach vorne, wie ein schmelzender Schneemann. Der Kopf befand sich in einem seltsam schiefen Winkel zur Bühne, und ihr Mund arbeitete unentwegt, obwohl die Mundwinkel nach unten gezogen waren. Die große schwarze Handtasche, die sehr schwer wirkte, schien ihren Arm beinahe auf den Boden hinabzuziehen. Während Sara sie beobachtete, entzog sich Joyce vollends der Menge, entschwand leicht und lautlos der Sicht; ihr hinfälliger Körper war offenbar zu schwach, um sich der Schwerkraft noch länger zu widersetzen. Sara blickte ungläubig zu den Prom-Besuchern hinüber, die einen Kreis um sie bildeten und sie ignorierten, statt ihr zur Hilfe zu eilen. Wollten sie sie einfach auf dem Boden liegen lassen? Es konnte doch nicht sein, dass sich irgendjemand, geschweige denn die geselligen Konzertbesucher, über eine in Ohnmacht gefallene alte Frau hinwegsetzte! Sara war drauf und dran, aufzuspringen und dem Orchester Einhalt zu gebieten, als der junge Mann, der unmittelbar neben Joyce gestanden hatte, sich an seinen Freund wandte und mit einer Geste eine Trinkbewegung andeutete. Der Freund hob den Blick.

Und das war es. 1999, beim Henry Wood Promenadenkonzert des Symphonieorchesters der Stadt Birmingham unter der Leitung von Sir Simon Rattle mit der Cellistin Sara Selkirk, lag Professor Joyce Cruikshank unbemerkt und betrunken auf dem Fußboden der Royal Albert Hall. Sara wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Musik zu. Es hatte keinen Sinn, die Sache persönlich zu nehmen, schließlich musste sie ein Konzert beenden.

KAPITEL 3

Alex Cooper wusch ihre Schlüpfer zu den Klängen von Dvořák aus dem Radio; sie spritzte dabei Wasser auf den Fußboden, rubbelte, wrang und häufte die bunten kleinen Baumwollknäuel rund um die beiden Wasserhähne auf. Schöne kräftige Farben, wenn sie nass waren, dachte sie, vor allem vor dem strahlend weißen Hintergrund des Waschbeckens. Sie hatten das staubige Aussehen verloren, das sie auf ihren knochigen Hüften neben ihrer ungeliebten, wachsbleichen Haut annahmen. Es waren praktisch die einzigen farbigen Kleidungsstücke, die sie besaß, und sie sahen furchtbar mitgenommen und abgewetzt aus. Na und, dachte sie niedergeschlagen, und verrieb einen Klecks Schmierseife auf einem apfelgrünen Zwickel. Niemand würde ihre abgenutzten Liebestöter sehen, weder an ihr noch sonst wo. Und selbst wenn (ein großes WENN) er sie zu Gesicht bekommen sollte, dann nur für die wenigen Sekunden, die er brauchte, um sie abblitzen zu lassen, genau wie damals, als sie vor seiner Tür gestanden hatte, mit nicht viel mehr am Leib als einem langen T-Shirt und Calvin Kleins Parfüm Obsession. Alex ließ das Wasser aus dem Waschbecken ablaufen und wartete auf den kurzen wehmütigen Nachklang, der stets folgte, wenn sie einen Schlussstrich unter die Gedanken an ihn setzte.

Wenigstens konnte Dvořák ein Lied davon singen, dachte sie. Gute Cellistin. Die lebte in der Nähe von Bath. Höchstwahrscheinlich war sie ihr sogar einmal auf der Straße begegnet, im letzten Winter. Falls sie es nicht gewesen war, dann hatte ihr die Frau zum Verwechseln ähnlich gesehen, schlank und von umwerfender Selbstsicherheit, mit langen schwarzen Haaren und großen Augen, die über die anderen Menschen hinweg in weite Ferne sahen, eine Person von der Sorte, die so viel Erfolg und Liebenswürdigkeit ausstrahlt, dass man ihr am liebsten den Kragen umdrehen würde. Alex wusste, dass sie genauso gewesen wäre, wenn sie Erfolg auf irgendeinem Gebiet gehabt hätte – im Beruf, bei einem Mann, gleich wo. Das Leben war ungerecht.

Alex nahm das Radio und verließ das Bad, um der Atmosphäre des Elends zu entfliehen, mit der sie es angefüllt hatte. Sie ärgerte sich, dass sie sogar während der Unterhosenwäsche Gedanken an Stephen Golightly und die Sulis-Klinik zugelassen hatte. Wieder einmal sagte sie sich, dass sie ihr Leben alleine bewältigen müsse. Es war jammerschade, dass ihre Einzimmerwohnung sie mit der Tatsache konfrontierte, wie wenig ihr das gelang.

Es war nicht wirklich eine Bruchbude, aber das Zimmer war klein und streng genommen nicht einmal ihr eigenes. Der selbst gemachte afrikanische Batik-Wandbehang und die kuriose Kakteenlampe konnten nicht ausreichend über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie in der Wohnung eines Fremden lebte, umgeben vom fehlgeleiteten Farbempfinden eines anderen Menschen, in diesem Fall Pfirsich und Kobaltblau. Mit dreiundzwanzig hatte Alex nach ihrer Ansicht etwas Besseres verdient als ein elendes Dasein als Untermieterin, die sich, was Lärm, heißes Wasser und den Elektroofen anging, nach den Vorschriften der Vermieterin zu richten hatte. Sie drehte das Radio lauter und fragte sich, wieso Sara Selkirk auch noch dafür bezahlt wurde, dass sie herumsaß und Cello spielte. Was sie auf das Thema zurückbrachte: Alex fand, dass sie erstens eine anständige Unterkunft und zweitens einen richtigen Arbeitsplatz verdiente, und ganz sicher verdiente sie nicht, was Stephen Golightly ihr angetan hatte. Oder nicht angetan hatte. Alex wusste, dass es ihm gefallen hatte – das sah man auf den ersten Blick –, als sie die Initiative ergriffen und im T-Shirt auf seiner Türschwelle gestanden hatte; es hatte ihm auch gefallen, ihre Demütigung zu beobachten, als er Überraschung geheuchelt und sich geweigert hatte, ihrer stillschweigenden Aufforderung nachzukommen, obwohl sie ihm schmeichelte. Und gewiss hatte sie die Situation nicht missverstanden, wie er später in seiner bevormundenden Art behauptete. Es war also seine Schuld und nicht ihre, dass sie sowohl erstens als auch zweitens verloren hatte, weil sie danach nicht mehr in der Klinik bleiben konnte, obwohl die Arbeit ganz ihren Vorstellungen entsprach – nicht, solange er unmittelbar neben ihr wohnte und sie mit seinen blauen Augen geradezu verspottete. Sie hatte aber trotzdem niemanden ins Vertrauen ziehen können, was den wirklichen Grund für ihre plötzliche Kündigung betraf. Es war so erniedrigend. Selbst jetzt erschien ihr die faustdicke Lüge, die sie aufgetischt hatte, um ihr Ausscheiden zu erklären, geringfügiger als die Peinlichkeit, die sie angesichts der Wahrheit empfand. Alex ließ den unvermittelten, emotionsgeladenen Abschied von der Sulis-Klinik noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren und bestätigte sich, dass jeder normale Mensch genauso gehandelt hätte. Jeder war sich selbst der Nächste, wenn man in dieser Welt überleben wollte. Die anderen waren sonderbar, nicht sie. Aber trotz des Durcheinanders von Kündigung und Auszug hatte sie damals immer noch, für irgendeinen Zeitpunkt in der Zukunft, ein Bild von Dr. Golightly im Kopf, der zu ihr kam, weil er seinen Fehler eingesehen hatte, und sie bat, zurückzukommen, oder etwas in der Art. Sie hatte noch nicht richtig begriffen, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Drei Monate später rührte die Freudlosigkeit dieser Vorstellung sie zu Tränen, obwohl es nicht daran lag, sondern an Dvořák, nur an Dvořák, dass sie nun weinte.

Manchmal fand Alex es tröstlich, nicht gedemütigt, sondern beleidigt worden zu sein, und deshalb fragte sie sich nun rein rhetorisch, worauf er mit seinem Spiel in Dreiteufelsnamen hinauswollte. Und obwohl es unter Umständen besser gewesen wäre, nicht zu lügen und Ivan an ihrem letzten Tag reinen Wein einzuschenken, hatte Dr. Golightly das Zeichen gegeben und sie gezwungen, ihre Stellung und ihr kleines Apartment aufzugeben. Ihre Verärgerung wuchs, als sie sich in der Ecke einen Toast zubereiten wollte und ein Glas mit einem übelriechenden Brotaufstrich öffnete, so dass sie bereits ziemlich geladen war, als ihre Vermieterin an die Tür hämmerte und sie aufforderte, das Radio leiser zu stellen und ihre Siebensachen aus dem Badezimmer zu entfernen.

KAPITEL 4

»Es war schrecklich heiß da drinnen, Kind«, kam Joyces Stimme vom Sofa. »Wie dumm von mir, in Ohnmacht zu fallen. Es tut mir so leid. Aber Hitze habe ich noch nie vertragen.«

Sara hob die Brauen. Joyce hatte völlig weggetreten und schnarchend auf dem grünen Samtsofa gelegen, seit Sara sie nach Beendigung des Konzerts in ihre Garderobe geschleppt und dort abgeladen hatte. Sie hatte in der Zeit drei Anrufe erledigt, geduscht, Jeans und Hemdbluse angezogen, sich bei Simon bedankt und von ihm verabschiedet und sich zu ein paar Orchestermitgliedern gesellt, um in der Artist's Bar einen Schluck zu trinken und ein Sandwich zu essen, bevor sie in die Garderobe zurückgekehrt war und Joyce wachgerüttelt hatte.

»An der Hitze liegt es nicht. Sie haben zu viel getrunken.« Sara deutete auf den Schminktisch, wo die leere Wodkaflasche stand. »Die war in Ihrer Handtasche. Was ist mit Ihnen los?«

Joyce setzte sich mühsam auf. »Was soll mit mir los sein? Ich bin ohnmächtig geworden bei der Hitze, Kind. Das weißt du doch.« Sie sah Sara mit gelben, wässrigen Augen an. »Das hat nichts mit dir zu tun, Kind. Tut mir leid. Ich werde dich nicht länger stören.«

Sie rappelte sich hoch, torkelte wie jemand, der zum ersten Mal auf Schlittschuhen steht, und spähte zu der Flasche hinüber. Bestimmt will sie sichergehen, dass sie wirklich leer ist, dachte Sara. »Ich mache mich jetzt auf den Heimweg«, fügte sie mit einer flatternden Bewegung beider Hände hinzu, als ob die Anwesenheit der Wodkaflasche zu rätselhaft sei, um länger darüber nachzudenken.

»Halt, warten Sie. Wo wohnen Sie denn? Wie kommen Sie heim? Für die U-Bahn ist es sicher zu spät.«

Sie tauschten einen ausdruckslosen Blick. Joyces Verstand arbeitete nicht schnell genug, um sich eine Lüge auszudenken und zu behaupten, sie könne sich ein Taxi nehmen, und Sara brachte es nicht übers Herz, Professor Cruikshank zu demütigen, indem sie ihr die Fahrtkosten in die Hand drückte.

»Warten Sie. Ich bin mit dem Wagen da. Ich bringe Sie nach Hause. Sagen Sie mir, wie ich fahren muss; das schaffen Sie doch, oder?«

Im Auto stellte sich heraus, dass sie dazu nicht in der Lage war. Joyce fuhr immer mit der U-Bahn und besaß über der Erde weder das Orientierungsvermögen, das den Menschen nach Hause finden lässt, noch konnte sie sich auf die Straßennamen konzentrieren.

»Setz mich einfach an der Haltestelle Angel ab, Kind. Northern Line. Ich wohne in der Colebrooke Row, gleich dahinter.«

»Angel, in Islington?« Sara bemühte sich, den Unmut in ihrer Stimme zu verbergen. »Also gut, Angel.«

Während der Fahrt bemühte sich Joyce, wenigstens ihre angeschlagene berufliche Autorität wiederherzustellen. »Ein sehr löblicher Versuch, Kind, an manchen Stellen sogar ziemlich gut. Aber das Legato war noch nie deine Stärke, wenn ich mich recht erinnere, das war schon immer deine Schwachstelle. Du solltest daran arbeiten, die Kraft und Geschmeidigkeit deines Oberarms zu verbessern. Ist unabdingbar für Dvořák. Ich weiß, dass ich dir diesen Rat schon vor langer Zeit gegeben habe. Und, hatte ich nicht recht?«

Sara lächelte im Dunkeln, froh, dass die unduldsame alte Hexe wenigstens in dieser Beziehung nicht völlig von ihrem Niveau abgerutscht war. Es war entsetzlich, zu sehen, wie tief Professor Cruikshank gesunken war. Jetzt hatten die Lippen, die sich selbstsicher kräuselten, und die gebrechlichen Hände, die den Riemen der großen Handtasche auf ihrem Schoß umklammerten, wieder das majestätische Gebaren angenommen, das Sara kannte. Es hätte sie kaum überrascht, wenn Joyce in diesem Augenblick die matte Hand gehoben und ihre jubelnden Untertanen huldvoll gegrüßt hätte. Der Gleichmut, mit dem sie auf Saras Gefälligkeit reagierte, einen mindestens einstündigen Umweg von der M4 in Kauf zu nehmen, war in jedem Fall hoheitsvoll genug.

Joyce sackte immer tiefer auf ihrem Sitz zusammen und schlief ein, wobei sich der Griff lockerte, mit dem sie die Handtasche umklammerte. Sara versuchte sich einzureden, vor allem weil sie es glauben wollte, dass die Lebensumstände ihrer früheren Lehrerin so schlecht nicht sein konnten (angefangen bei der Adresse in Islington). Für die Sache mit dem Wodka gab es mit Sicherheit eine einleuchtende Erklärung. Und für das pinkfarbene Kostüm. Ihr fiel ein, dass sie einige Zeit nach Beendigung der Musikakademie gehört hatte, Joyce habe sich ein oder zwei Jahre früher in den Ruhestand versetzen lassen, was gewiss bedeutete, dass sie entsprechend vorgesorgt hatte. Nach einer lebenslangen Tätigkeit an der Akademie musste sie eine erkleckliche Pension erhalten. Und außerdem besaß sie eine geräumige Eigentumswohnung in Kelvinside, in einem roten Backsteingebäude mit Flachdach, Erkerfenstern im Jugendstil und Türschildern und Fußleisten aus Messing. Sara holte tief Luft und roch mit einem Mal wieder die Mischung aus Keksen und Bienenwachs, die jeden Winkel der Wohnung durchdrang, sah den Salon mit der hohen Decke vor sich, wo sie auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes mit dem türkischen Teppich saß, ihre Technik und ihr musikalisches Können Joyce und deren gnadenloser Belehrung hilflos ausgeliefert.

Fast zwanzig Jahre später spürte sie immer noch dieselbe schleichende Angst, die sie damals bisweilen überwältigt hatte. Sie war nervös und sich der Ehre bewusst gewesen, die nur wenigen handverlesenen Schülern mit Starqualitäten zuteil wurde, wie man ihr zu verstehen gegeben hatte (Professor Cruikshank ließ keinen Zweifel offen). Und obwohl es nicht aus reiner Nächstenliebe geschah, dass sie Sara erst am Abend statt tagsüber zum Unterricht in ihre Wohnung bestellte, widmete Professor Cruikshank ihr unbegrenzt Zeit. Statt der einen Stunde, wie im Unterrichtsplan der Akademie vorgesehen, dauerte die Sitzung am Abend nie weniger als zwei Stunden und meistens länger. Den krönenden Abschluss bildete Professor Cruikshanks Teezeremonie, als wohlverdiente Belohnung nach der harten Arbeit, auch wenn sie von der Ungeschliffenheit einer Gastgeberin zeugte, der diese Gabe nicht in die Wiege gelegt worden war.

Während Sara ihr Cello im Futteral verstaute, pflegte Professor Cruikshank den Raum zu verlassen und mit einem Teewagen zurückzukehren, der mit einem sauberen, gebügelten Geschirrtuch zugedeckt war. Darunter befanden sich Teekanne, Tassen mit Untertassen, Teller, Milch, eine Zuckerdose mit Zuckerzange und eine Vorlegeplatte mit mindestens zwei verschiedenen selbstgebackenen Kuchensorten oder Keksen auf einem formvollendeten Tortendeckchen. Nur ihr schmallippiges Lächeln verriet den Stolz auf ihre Backkünste, wenn Professor Cruikshank die Lippen kräuselte und, den Kopf zum Teewagen geneigt, »Mandelkekse«, »Wiener Träume« oder »Makronen« sagte. Die Aufzählung glich beinahe einer offiziellen Vorstellung, und Sara hatte das Gefühl, die angemessene Reaktion wäre ein Nicken in Richtung Mandelkekse und die Antwort »Sara Selkirk, angenehm«. Aber sie lernte, dass ein gedehntes Oh, mit einem törichten Ausmaß an Überraschung versehen, genügte. Einmal hatte sich Sara nach einer besonders langen und verdrießlichen Sitzung vor dem Tee verdrücken wollen, aber Joyces »Für ein kleines Tässchen wird es schon noch reichen« war weniger eine Aufforderung als ein Befehl gewesen. Und so wurde der Tee dem Ritual entsprechend gewürdigt, und Sara spürte, dass leise Komplimente über die Mandelkekse oder den Kuchen angezeigt waren, obwohl ihre Lehrerin sie oft in einer Weise abtat, die Saras Fähigkeit, ein kompetentes Urteil zu fällen, in Abrede stellte: »Nein, der Teig ist zu schwer« oder »Nein, er hätte einen Tropfen mehr Mandelessenz gebraucht.« Danach machte sich Sara auf den Weg, das Cello auf den Rücken geschnallt, fast immer im Dunkeln und häufig bei Regen, um zwei unzuverlässige Busse und eine U-Bahn zu erwischen und in ihre armselige Behausung auf der anderen Seite der Stadt zurückzukehren, eine halbe Weltreise, die Joyce weder zur Kenntnis nahm noch interessierte.

Es wäre ihr damals nie in den Sinn gekommen, aber Sara wusste mittlerweile, dass dieses Arrangement zwar nicht gegen die Regeln verstieß, aber auch nicht ganz den offiziellen Richtlinien entsprach. Es gab an der Akademie die üblichen grausamen Gerüchte über die sexuellen Gewohnheiten ihrer Lehrerin, Gerüchte, wie sie bei den herzlosen, engstirnigen Jugendlichen von Glasgow hinter vorgehaltener Hand schnell die Runde machten, wenn es um eine alleinstehende, reizlose, reservierte Frau mittleren Alters ging. Sara hatte weder selber erlebt noch beobachtet, ob etwas an diesen Gerüchten dran war. Die Unannehmlichkeiten des Unterrichts im privaten Rahmen bestanden vielmehr darin, dass sie trotz aller Bemühungen das Gefühl hatte, Joyces Anforderungen nie gerecht zu werden und eine unverdiente Ehre zu erfahren, ein Gefühl, das sie in den drei Jahren nicht ein einziges Mal verließ. Das Verhalten der Lehrerin leistete keiner tieferen emotionalen Beziehung Vorschub, Joyce wirkte ziemlich desinteressiert an ihrer Person und gab auch nie etwas über sich selbst preis, das über Rezepte hinausging. (»Bei meiner Mutter wurden die Mandelkekse ausschließlich mit Reismehl gebacken.«) Deshalb hatte Sara das Gefühl, dass sie sich mit dem Betreten der Wohnung auf ein Terrain wagte, auf dem sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Es war ein Sakrileg, ähnlich, als würde man eine Portion Pommes am Hochaltar essen.

Ohne sich weiter mit dem Warum zu beschäftigen, mutmaßte Sara, dass Joyce nach dem Verkauf der weitläufigen Wohnung in Kelvinside wahrscheinlich eine kleinere gemütliche Bleibe in London gekauft hatte. Colebrooke Row, N1, schien diese Vermutung zu bestätigen, denn es handelte sich in dieser Gegend überwiegend um Häuser im Georgianischen Stil mit einem langen Grünstreifen zwischen den Häuserreihen, der im verschwenderischen Licht der Lampen über den Türen noch großzügiger wirkte. Sie waren gerade von der Hauptstraße in die Anlage abgebogen, und Sara dachte, dass ihr genau das an London gefiel: Hier gelangte man im Handumdrehen. von einer geschäftigen in eine wunderbar ruhige Straße, trotz der Häuser, die sie dicht an dicht säumten. Die Vögel wurden tagsüber nur durch wenig oder keinerlei Durchgangsverkehr gestört, und nachts hörte man plötzlich das Knistern der eigenen Autoreifen auf dem trockenen Laub. Sara bremste auf Schrittgeschwindigkeit ab und weckte Joyce auf.

»Wir sind da. Welche Hausnummer?«

»Ochhhh ...ch«, röchelte Joyce, während sich ihre Lippen schlaftrunken über die Zähne stülpten. »Setz mich irgendwo ab, am besten gleich hier. Das passt schon«, nuschelte sie. Aber es war spät, die Straße lang, Joyce war müde und Sara mitfühlend.

»Ich bring Sie hin. Welche Hausnummer?«, beharrte sie. »Einundachtzig. Am hinteren Ende.«

Es war eigentlich hinter dem Ende. Die Straße, gesäumt von Häusern, die mit Stuck verziert und durch Alarmanlagen gegen Einbruch gesichert waren, mit den ursprünglichen Lünettenfenstern, schmiedeeisernen Gittern und teuren, an die Stufen geketteten Pflanzgefäßen war ganz offensichtlich an der Stelle zu Ende, wo die St. Peter's Street sie kreuzte. Dahinter setzte sich die Colebrooke Row mit einer weiteren kurzen Häuserreihe fort, die bei der Veredelungsaktion im vorderen Teil der Straße ausgespart worden war. Die meisten waren aus schmucklosem Backstein und vom Schmutzgeschwärzt. Die Kübelpflanzen waren künstlich und die imitierten georgianischen Türen von der Stange aus dem Baumarkt; die in vielen Großstädten übliche, von der zwanghaften Angst vor Verbrechen rührende Gepflogenheit, Häuser in idyllische Gefängnisse zu verwandeln, war hier nicht nötig oder möglich gewesen. Als Sara die Parkbucht ansteuerte, wurde ihr Unbehagen, dass Joyce in einer so heruntergekommenen Umgebung lebte, durch einen entsetzten Aufschrei unterbrochen.

»Oh! O nein! Pretzel! Mein Gott, Pretzel!« Joyce deutete mit zitternder Hand auf den dunklen Haufen, der sich in der Nähe der Gittereinfriedung auf dem Asphalt befand. Er sah aus wie ein Stapel weggeworfener Kartons. Joyce hatte die Beifahrertür aufgerissen und war herausgesprungen, noch bevor der Wagen zum Stillstand gekommen war. Beim Klang ihrer Stimme bewegte sich ein Schatten auf dem Haufen, sprang auf und begann zu bellen.

Der Hund war an der Gittereinfriedung von Nummer 81 angebunden, mit einem Strick, der an seinem Halsband befestigt war. Was Sara seltsam vorkam, aber von Joyce offenbar nicht wahrgenommen wurde, war, dass rund um den Hund zwei Koffer, mehrere prallvolle, mit Bindfaden verschnürte Müllsäcke, drei Bücherkisten, eine Tischlampe, rund ein Dutzend Plastiktüten aus dem Tesco-Supermarkt, ein Karton mit Geschirr und, aufrecht am Gitter lehnend, ein Cellokasten standen, mit einem an Joyce adressierten, mit Klebeband befestigten Briefumschlag. Sara riss ihn herunter, zog Joyce hoch und stieß den aufgeregten Hund so gut wie möglich beiseite, ohne ihn richtig zu treten. Sie bedauerte es auf der Stelle, da sie spürte, wie Speichel auf ihren Schuh tropfte.

»Machen Sie den Brief auf«, sagte sie, obwohl ihr klar war, dass die Situation keiner weiteren Erklärung bedurfte. Während sie las, wurde Joyces Miene zutiefst mutlos. Sie reichte Sara das einzelne Blatt Papier mit schuldbewusstem Blick und beugte sich wieder zu Pretzel hinab.

Betrifft: egal wenwegen der Miehtschulden und andere Vohrkommnisse, die seit Ostern und davor passiert sind, vordern wir Sie auf, die Wohnung sofort zu räuhmen. Unsere monatelange Geduld spottet jede Beschreibung. Ich habe Sie wegen dem Hund mehrmahls persöhnlich gewarnt, als ich wegen Miehte da war, und meine Frau hat andere wichtige Versäuhmungen erwähnt, wie nich Putzen und mehr. Und mein Sohn haben Sie bedroht, dass Sie den Hund auf ihn hätzen, wo er angekündicht hat, das er die Schlösser austauschen kommt. Sie haben es sich selber zuzuschreiben, Sie hätten ja blos die Miete bezahlen und den Hund wegschaffen müssen. P.S. Wir behalten den Teppich und die Versährtenrente in Höhe von Miete, die Sie noch schulden.

Sara warf einen Blick auf den Ramsch neben der Gittereinfriedung, dann sah sie auf ihre Uhr. Sie öffnete den Mund, doch dann gewahrte sie Joyces knochigen Rücken im fahlen Licht der Straßenlaterne, die Haare, die ihr wie ein altes zerlumptes Spültuch über den Kragen des Kostüms hingen, und das Schniefen, das von ihr oder dem Hund stammen mochte. Sie machte den Mund wieder zu. Die Frage war töricht. Natürlich hatte Joyce keine Freunde, an die sie sich wenden konnte.

»Keine Sorge«, hörte sie sich sagen. »Das meiste werden wir schon irgendwie unterbringen, bis auf die eine oder andere Tesco-Tüte.« Joyce richtete sich auf und wagte einen hoffnungsvollen Blick. »Sie können bei mir wohnen. Für ein paar Tage, meine ich, bis Sie eine Lösung gefunden haben. Sie müssen mit mir nach Bath zurück.« Joyce richtete ihren zittrigen Blick auf Sara. »Danke.« Ihren Lippen fiel es schwer, das Wort auszusprechen, vielleicht, weil es ungewohnt war. Sie schlotterte mittlerweile am ganzen Körper. Die Kälte der Straße und die Nachtluft krochen in ihren Körper, und selbst der Elektroofen in ihrer Wohnung, der nach Krematorium roch, wäre eine Wohltat gewesen. Sie übersah geflissentlich, dass sie nicht einmal das Kleingeld besaß, um ihn in Gang zu setzen, aber jetzt zusammenzubrechen, weil sie obdachlos und ihr selbst ein so bescheidenes Maß an Behaglichkeit verwehrt war, wäre in ihren Augen Selbstmitleid gewesen, eine Charakterschwäche, die Joyce Cruikshank bei anderen niemals geduldet hatte und sich selbst genausowenig zugestand.

»Ich werde im Auto warten, während du die Sachen einlädst.« Sie trottete zur Beifahrertür und öffnete sie. »Oh, es wäre nicht schlecht, wenn du mit Pretzel ein paar Häuser weit Gassi gehen würdest, bevor wir fahren, Kind. Wir wollen doch nicht, dass er sein Geschäft im Auto erledigt!«, rief sie Sara über das Autodach zu, bevor sie einstieg.

Das wäre wirklich das Letzte gewesen. Aber Sara fiel es schwer, Andrew per Handy zu erklären, warum sie sich nach dem Dvořák-Konzert, das um Viertel vor zehn zu Ende gewesen war, weit nach Mitternacht immer noch drei Stunden von zu Hause entfernt in North London befand und auf einen Dackel wartete, der am anderen Ende der Leine im Gebüsch saß und einen Haufen machte.

KAPITEL 5

Hilary Golightly glaubte, ihren Körper, ihren Geist und ihre Seele zu kennen, nachdem sie nun schon ein paar Jahrzehnte damit lebte. Sie war ein gründlicher Mensch und konstruktiv, und das Interesse an ihrer persönlichen Entwicklung hatte sich geändert, seit sie solche Begriffe in ihren Wortschatz aufgenommen hatte, vor allem, um ihren Vater zu ärgern, der nach lebenslanger Tätigkeit als Chiropraktiker im noblen Vorort Harrogate Ideen von »karmischer Energie« und »übersinnlichem Wohlbefinden« mit Unwillen begegnete. Sie war mit dem Rhythmus ihres Körpers vertraut, sowohl mit dem eigenen als auch – nach zehn Jahren Ehe – mit Ivans. Doch während er weiterhin wie ein kleiner Junge schlief (ein sehr verzärtelter) und entspannt und sorgenfrei erwachte, wachte sie zunehmend früher auf. Sie wusste, dass sie sich verändert hatte. Neuerdings lag sie mit offenen Augen da, bis der Morgen graute, lauschte dem unablässigen Sommerregen und betete darum – obwohl sie zu praktisch veranlagt war, um sich an eine bestimmte Gottheit zu wenden –, dass die Veränderung, die sie in sich verspürte, die ersehnte sein möge, für die sie so viel aufs Spiel gesetzt hatte.

Was sich nicht verändert, sondern noch vertieft hatte, war das Gefühl, für Ivan verantwortlich zu sein, die Stärkere zu sein, und nicht zu vergessen, acht Jahre älter. Sie war immer noch auf der Hut, hielt Ausschau nach Warnsignalen für die nächste Attacke. Sie brauchte diese Stunden, die sie neben ihm, aber alleine verbrachte; schweigend lag sie in der morgendlichen Dunkelheit, rüstete sich für die nächste große Herausforderung, sammelte genug Kraft für beide. Es war eine Gewohnheit, die sie schon am Anfang ihrer Beziehung entwickelt hatte, während der ersten Attacke, aber da war inzwischen noch etwas anderes, was ihren Beschützerinstinkt weckte, sie vorsichtig und achtsamer in ihren Bewegungen werden ließ.

Der letzte Freitag im Juli war nasskalt, und Hilary stand lautlos auf, tauschte ihr Nachthemd gegen ein indigofarbenes Sackkleid und ging nach unten, da es keinen Grund mehr gab, es noch länger hinauszuschieben, außer der Befürchtung, sich zu irren. Sie geriet ins Grübeln, während sie vor dem Spülbecken in der Küche stand und auf das Gras und das Petersilienbeet hinausblickte. Sie fühlte sich auf eine Weise verantwortlich, die noch nicht von Angst getrübt war, stärker und paradoxerweise verwundbarer. Und ihr war sterbenselend. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und ließ den Strahl über ihre Handgelenke laufen, ein natürliches, gesundes Mittel gegen die morgendliche Übelkeit, wie sie gelesen hatte, das heute aber genausowenig Wirkung zeitigte wie an den vergangenen sechs Tagen. Sie wandte sich von der Spüle ab und zündete sich eine Zigarette an, was auf Anhieb wirkte. Während sie dastand und rauchte, wobei sich der blaue Dunst in den trockenen Haarsträhnen verfing, die ihr wie eine buschige Hängepflanze ins Gesicht fielen, dachte sie wieder an ihre Eltern.

Auch mit dem Rauchen hatte sie angefangen, um ihrem Vater die Stirn zu bieten. Die Einfallslosigkeit einer solchen Geste war inzwischen genauso bedrückend wie sie ihn damals erzürnt hatte. Hilary war fünfzehn gewesen. Mums Persönlichkeit war längst erstickt worden, hatte sich Vater und Tochter untergeordnet; Mutter hatte sich mit der Rolle einer Schiedsrichterin begnügt, die sich machtlos zwischen den Fronten aufrieb und jammerte, das Problem sei, dass die beiden sich zu sehr ähnelten. Hilary und Dad hatten ihr kaum Beachtung geschenkt, da sie vollauf damit beschäftigt waren, aufeinander herumzuhacken, wegen Jungengeschichten, miserablen Schulnoten und Hippie-Schnapsideen, wobei ihre anerkannte, beidseitige Sturheit durch mehrere läuternde Phasen der Feindseligkeit immer raffiniertere Züge angenommen hatte. Zu dem Zeitpunkt, als Hilary vor seinen Augen die erste No.6 angezündet hatte, hatten sie ihren unsichtbaren Hass derart perfektioniert, dass sie sich beide Mühe gaben, das prekäre Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Die Glimmstängel waren dumm gewesen, das war Hilary inzwischen klar. Und Dad wäre durch Enkelkinder vielleicht weicher geworden, aber er war tot, und sie wappnete sich mit dem vernünftigen Gedanken, dass man der Vergangenheit nicht nachtrauern sollte, da sie sich nicht ändern ließ. Sie dachte an Stephen, Ivans Vater, der in jeder Beziehung anders war, und malte sich seine Freude aus. Sie musste nur den richtigen Zeitpunkt erwischen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Sie ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen, drückte die Zigarette aus, öffnete die Schachtel und kippte den Inhalt und die Anleitung auf den Tisch. Es gab viel zu lesen. Es würde einige Zeit dauern, bis Ivan sich rührte.

Nachdem sie überprüft hatte, ob die schlaftrunkene Stille im Schlafzimmer noch ungestört und das Speisezimmer leer war, schloss Hilary lautlos beide Küchentüren, hob das Kleid, hockte sich auf den Fußboden und versuchte, mit den »wenigen Tropfen Morgenurin«, wie im Beipackzettel verlangt, in das winzige Plastikröhrchen zu zielen, das garantiert von einem Mann konstruiert worden war. Sie füllte es leichter als erwartet und gratulierte sich stumm, als sie mit einiger Verspätung bemerkte, dass in der Anleitung mit keinem Wort erwähnt wurde, wohin mit dem Rest. Derjenige, der den Beipackzettel formuliert hatte, war offenbar davon ausgegangen, dass die Benutzerin auf der Toilette saß (reichlich blauäugig, dachte Hilary, denn wie oft ist ein Schwangerschaftstest dadurch erschwert, wer davon wissen darf und wer nicht, und findet deshalb nicht in aller Ruhe statt). Ihr war es nicht möglich gewesen, das Badezimmer zu benutzen, weil Ivan jederzeit hereinschneien konnte, um sich zu erleichtern, und wenn sie die Tür abschlossen hätte, wäre er misstrauisch geworden. Leise vor sich hin fluchend beugte sie sich vornüber, die Beckenbodenmuskulatur wie eine Faust anspannend, raffte ihr Kleid an der Vorderseite zu einem Knäuel zusammen, watschelte mit gespreizten Füßen zur Hintertür, streckte sich, schloss auf (an sich schon eine Glanzleistung), schaffte es mit knapper Not ins Freie bis zum Kräuterbeet und wässerte den Schnittlauch. Erleichtert richtete sie sich zu voller Größe auf und sah dem Morgen mit trotziger Würde entgegen. Obwohl sie, über ein schwaches buddhistisches Fragezeichen beim Gedanken an den ewigen Kreislauf hinaus, nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte, blickte sie zum Himmel empor und hoffte, dass ihr Vater nicht zugeschaut hatte. Da man nur Gutes von Toten denken sollte, gefiel ihr die Vorstellung, dass er vom Himmel auf sie herabsah, einem eigentümlichen, sonnigen Plätzchen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Castle Howard an einem herrlichen Nachmittag besaß, mit frisch gebrühtem Tee, köstlichen Torten und makellosen Toiletten.

In dem Moment, als Hilary in die Küche zurückkehrte, hörte sie, wie die Speisezimmertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Zum Glück hatte sie den wichtigsten Teil ihrer Unternehmung gerade rechtzeitig hinter sich gebracht, obwohl es Mrs. Takahashi überhaupt nicht ähnlich sah, unaufgefordert die Küche zu betreten. Sie würde ihre öde Touristentracht glatt streichen, bestehend aus Polohemd und kurzem Jeansrock. Danach würde sie ihren Stammplatz an dem kleinen Tisch einnehmen, mit Blick auf das Vogelbad, in das sich kein Vogel verirrte, würde den Essig-und-Öl-Ständer aus rostfreiem Stahl und die künstlichen Primeln in der Vase aus geschliffenem Glas betrachten, und auf das Frühstück warten, das sie nicht aß. Die Frau ging Hilary allmählich auf die Nerven. Hastig führte sie die Anweisungen aus, die den Tropfenfänger und das Teströhrchen betrafen, und stellte das Röhrchen in den dazugehörigen kleinen Ständer auf das oberste Regal im Küchenschrank, neben Marmeladegläser und Tupperware. Dann wischte sie sich die Hände an einem Küchentuch ab, setzte den Wasserkessel auf, zündete die Gasflamme an und holte die Bratpfanne heraus.

Eine Viertelstunde später ließ sie sich auf den Stuhl am Küchentisch sinken, dankbar, dass sie es bis ins Speisezimmer und zurück geschafft hatte, ohne sich zu übergeben, und über alle Maßen gereizt, dass ihr diese Tortur ein weiteres Mal bevorstand. An fünf Morgen in Folge hatte sie schwer schlucken müssen, bevor sie gebratenen Speck, Würstchen, Tomaten und Eier zubereitete und Mrs. Takahashi vorsetzte, und wenn es heute nicht anders lief als sonst, würde sie das Essen kaum anrühren, sondern nur ein wenig auf dem Teller verschieben. Hilary hatte am zweiten Tag kurz erwogen, Mrs. Takahashi zu fragen, ob sie lieber etwas anderes zum Frühstück hätte, aber es war ihr gelungen, sich zurückzuhalten. Schließlich führten sie, wie sie vor sich selbst und später vor Ivan als Rechtfertigung vorbrachte, keine Nobelherberge wie das Ritz, das gerüstet war, alles aufzutischen, was das Herz begehrte. Abgesehen davon war die Frühstückspension nur ein Zubrot. Ivan und sie hatten ein geregeltes Auskommen in der Sulis-Klinik, die Ivans Vater gehörte, und es war nur recht und billig, dass dieses an erster Stelle stand. Das waren sie Stephen schuldig, der sich auf sie verließ.

Aber die Rechtfertigung für Hilarys Frühstück, einmal geprobt und jederzeit abrufbereit, war nicht erforderlich. Mrs. Takahashi hatte sich nicht beschwert, und das lag nicht etwa daran, dass sie kein Wort Englisch sprach. Sie konnte durchaus, wenn sie wollte. Doch fehlte ihr, dieser halben Portion, allem Anschein nach eine so grundlegende menschliche Antriebskraft wie der Biss, zumindest, was das Frühstück betraf. Mit wachsender Verärgerung hatte Hilary es aufgetischt, Kosten, die sie sich hätten sparen können, und außerdem darauf verzichtet, sich auszuschlafen, was sie bitter nötig gehabt hätte. Es war ihr nicht eingefallen, Ivan um Hilfe in der einen oder anderen Sache zu bitten.

Am Dienstag, als die traditionelle Bather Frühstücksplatte ungegessen, aber neu arrangiert zurückkam, hatte Hilary das Würstchen abgewaschen, auf dem Eidotter klebte, es aufgehoben und am Mittwoch aufgewärmt; Mrs. Takahashi hatte es wieder nicht probiert, jedoch in zwei Hälften zurückgeschickt. Für die Tomate war es mittlerweile der dritte Tag. Hilary zündete sich eine neue Zigarette an und dachte zufrieden, dass Mrs. Takahashi nicht wusste, dass der Petersilienzweig schon Dienstag, Mittwoch und Donnerstag als Garnierung gedient hatte. Es war eine nette Geste, Petersilie auf der Frühstücksplatte, und sie hielt sich mindestens eine Woche, wenn sie nach jedem Ausflug ins Speisezimmer unter fließendem Wasser abgewaschen und im Kühlschrank aufbewahrt wurde. Hilary schluckte, schnippte die Asche in die Schweineschmalzpfütze, die sich in der noch warmen Bratpfanne auf dem Tisch befand, und blickte auf ihre Uhr.

Noch fünfzehn Minuten, dann würde sie Bescheid wissen. Sie durfte Ivan keinesfalls Hoffnung machen, bevor sie absolut sicher war, denn wenn sich herausstellte, dass sie sich geirrt hatte, wäre eine weitere Attacke fällig. Sie betastete ihre Brustwarze unter dem wallenden Kleid, um zu prüfen, ob sie immer noch so hart und empfindlich war wie schon seit einer Woche. Sie schluckte abermals, umfasste die Brust mit der gewölbten Hand. Die Empfindung, die sie damit auslöste, brachte die köstliche Erinnerung an die fieberhaften, fortwährenden Empfängnisversuche zurück, gepaart mit der heimlichen Befürchtung, dass dieser Aspekt der Angelegenheit ein für alle Mal der Vergangenheit angehören könnte. Es gab gleichwohl keinen Grund damit aufzuhören, nur weil der Zweck der Übung, oder soweit es sie betraf der ursprüngliche Zweck, erfüllt war. Sie würde das Rauchen aufgeben, sobald sich die Schwangerschaft bestätigte, aber auf Sex zu verzichten wäre zuviel verlangt. Möglicherweise handelte es sich ja auch nur um einen Fehlalarm. Genaugenommen waren die Symptome schon häufiger vor der Periode aufgetreten, die sich auch früher schon verspätet hatte, und sie litt bisher nur unter Übelkeit, ohne Erbrechen. Unter Umständen deuteten sich sogar die Wechseljahre an.

Ein leises Hüsteln hinter der Tür zum Speisezimmer signalisierte, dass Mrs. Takahashi fertig war. Hilary legte ihre Zigarette am Tischrand ab und ging hinüber, wobei sie mit den Armen wedelte, um den Qualm zu vertreiben, der sich an ihre Fersen heftete. Mrs. Takahashi blickte demutsvoll auf und entbot ihr ein Lächeln und zahlreiche Verbeugungen, wie es die Höflichkeit verlangte, die Hilary inzwischen kaum noch erwiderte. Im Speisezimmer herrschte Grabeskälte, und Mrs. Takahashi schien trotz der Strickjacke, die sie um ihre Schultern geschlungen hatte, bei derartigen Temperaturen noch mehr zu schrumpfen. Aber es war Hochsommer, Ende Juli, und da schaltete man nicht die Heizungen ein, selbst wenn der Juli so nasskalt wie dieser war. In ihrem Elternhaus in Harrogate, wo der Juli sich oft wie November angefühlt hatte, pflegte man sich einfach eine weitere Kleiderschicht anzuziehen, statt sie um die Schultern zu drapieren.

»Und? Schon Pläne gemacht für heute? Soll ich Sie wieder in die Stadt mitnehmen?« Hilarys Fragen klangen eher nach einem Kreuzverhör als nach einer aufmerksamen Erkundigung.

Mrs. Takahashi schüttelte halb den Kopf, eine nichtssagende Geste. Merkwürdige Frau. »Heute ich bin müde. Heute ich bleibe hier, vielleicht ich gehe spazieren in Umgebung.«

Hilary nickte. »Am Kanal entlang gibt es einen Treidelpfad, das ist ein schöner Spaziergang. Sie müssen nicht den Umweg über die Straße nehmen, sondern können querfeldein gehen, das Ackerland gehört uns. Einfach durch die Gemüsebeete, da führt ein schmaler Weg mittendurch. Das Grünzeug sieht sehr malerisch aus um diese Jahreszeit. Wenn man Grünzeug mag. Tun Sie sich keinen Zwang an.«

Hilary kehrte mit der Frühstücksplatte in die Küche zurück und brachte einen Ständer mit kaltem Toast ins Speisezimmer. Manche Leute fuhren alleine in Urlaub, deshalb war es vielleicht doch nicht verwunderlich, dass ihr Logiergast letzten Sonntag ohne Reservierung aufgekreuzt war und ein Zimmer für die ganze Woche gemietet hatte. Sie waren selten voll ausgebucht, lagen zu abseits für Paare, die Bath in ihrem Besichtigungsprogramm hatten, und die Räumlichkeiten waren zu beengt für Familien, die sich ländlichen Zerstreuungen widmen wollten. Die Lage konnte man ohnehin nicht als ländliche Idylle bezeichnen, dafür befand sich das Anwesen zu nahe am Kanal und an den Eisenbahnschienen. Die meisten blieben nur eine Nacht, einschließlich eines bestimmten Prozentsatzes von Gästen, die nach den Erfahrungen des ersten Tags die zweite Übernachtung stornierten, eine Statistik, für die Hilary kein Interesse aufbrachte. Sie war in erster Linie Künstlerin, und die Sulis-Klinik war das Nächstwichtige, nachdem sie Ivan bei der Arbeit auf dem kleinen Grundstück zur Hand gegangen war. Mit selbstgerecht gerümpfter Nase stellte Hilary den Toast vor Mrs. Takahashi auf den Tisch und entschwand.

Dennoch fand sie es ziemlich eigentümlich, dass Mrs. Takahashi, eine offenbar gut organisierte halbe Portion, unverhofft mit einem Koffer und ohne Pläne in einem so entlegenen Winkel wie Limpley Stoke aufgetaucht war. Und es war entschieden merkwürdig, dass sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer verbracht hatte, in dem kleineren, das genau wie das Speisezimmer keine Sonne bekam. Am ersten Tag hatte sie Mrs. Takahashi gleich nach dem Frühstück nach Bath mitgenommen und sie an der Abtei abgesetzt, bevor sie zur Arbeit in die Klinik weitergefahren war. Mrs. Takahashi hatte die gleichen Dinge wie alle Touristen unternommen und ihnen am Abend Broschüren der Sehenswürdigkeiten gezeigt, die sie besichtigt hatte, mit eifrigem Kopfnicken und in manierlichem Englisch. Am Dienstag war sie nach ihrem Nicht-Frühstück abermals aufgebrochen, hatte ihr Zimmer in perfekter Ordnung hinterlassen und war in den frühen Abendstunden ein wenig niedergeschlagen zurückgekehrt. Mit gezwungenem Nicken und Lächeln hatte sie erklärt, sie sei einfach nur spazieren gegangen. Am dritten Tag war sie in ihrem Zimmer geblieben.

Als Hilary gestern, am vierten Tag, um sechs Uhr abends von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie hinter Mrs. Takahashis Tür ein Weinen vernommen. Sie hätte sie gewähren lassen können, aber es konnte ja ein unerwarteter Logiergast eintreffen, und es wäre keine gute Werbung für ihr Etablissement, wenn man aus dem Nachbarzimmer jemanden schluchzen hörte. Ihren ganzen Charme aufbietend, der als Ersatz für aufrichtiges Mitgefühl genügen musste, hatte sie leise an die Tür geklopft und gefragt, ob alles in Ordnung sei. Mrs. Takahashi hatte sich entschuldigt und mehrmals verbeugt. Dann hatte sie die Stirn in ihrem schmalen Gesicht gerunzelt und erneut gegen die Tränen angekämpft. Hilary hatte gezögert. Sie würde sich jede Frage nach dem abwesenden Ehemann verkneifen. Sie wollte nichts über abwesende Ehemänner hören, wollte nicht als eine Person gelten, die sich mit dem Zusammenbruch von Beziehungen und Nerven auskannte, als stünde ihr ins Gesicht geschrieben, dass sie eine Expertin auf diesem Gebiet war. Mit Ivan war alles in Ordnung, das war es, was zählte, und deshalb erwiderte sie: »Na gut. Wir sehen uns dann morgen früh. Frühstück um acht? Prima.«

»Ziemlich wortkarg, diese Japaner«, hatte Ivan salopp gesagt, als sie ihm später beim Abendessen davon erzählte. »Ich habe sie heute im Garten gesehen, wie sie versuchte, mit Leech ins Gespräch zu kommen. Offenbar recht einseitig, die Unterhaltung.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, was sie an Leech findet. Trotzdem tut sie mir irgendwie leid«, hatte Hilary geschwindelt, als sie aufstand, um die Teller abzuräumen. In Wirklichkeit konnte sie den Sonntag und Mrs. Takahashis Abreise kaum erwarten. Sie hatte bereits für sich beschlossen, dass sie sagen würde, das Zimmer sei vorgebucht, für den Fall, dass Mrs. Takahashi ihren Aufenthalt verlängern wollte. Aber Ivan erwartete von ihr, dass sie sich auch ohne Grund, ganz allgemein der Fremden annahm, und folglich tat sie ihm den Gefallen und gab sich zumindest den Anschein. »Armes Ding«, hatte sie hinzugefügt und Ivans Haar auf dem Weg zum Spülbecken zerzaust.

Ivan konnte jeden Augenblick herunterkommen. Hilary sah auf ihre Uhr, zog noch einmal an ihrer Zigarette und drückte die Kippe in der ausgehöhlten Tomate auf Mrs. Takahashis Teller aus. Höchste Zeit. Sie öffnete den Schrank und stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu prüfen, ob das Teströhrchen den kleinen blauen Ring aufwies. Nichts. Nicht die geringste Spur.