Des Todes heller Klang: Ein Fall für Selkirk und Poole - Morag Joss - E-Book
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Des Todes heller Klang: Ein Fall für Selkirk und Poole E-Book

Morag Joss

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Beschreibung

Die Musik des Todes ist ebenso zart wie eiskalt … Der fesselnde Kriminalroman »Des Todes heller Klang« von Morag Joss als eBook bei dotbooks. Berauschend, mitreißend – und dunkel wie der Tod bricht die tosende Ouvertüre über ihre Zuhörer herein … Die junge Cellistin Sara Selkirk ist begeistert, einen gefeierten Nachwuchskomponisten im beschaulichen Städtchen Bath willkommen zu heißen – und bei der Uraufführung seines neuen Werks mitzuwirken. Die atemberaubende Oper scheint jedoch ein dunkler Vorbote zu sein: Ein Ensemblemitglied kommt auf rätselhafte Weise ums Leben – und bald folgt ein zweiter Toter … Detective Inspector Andrew Poole bittet Sara darum, unter ihren Kollegen vorsichtig Nachforschungen anzustellen. Liegt der Oper etwa ein mörderisches Geheimnis zugrunde … und wird derjenige, der es entschlüsselt, das nächste Opfer sein? »So gut gestrickt wie Ruth Rendell und psychologisch ausgefeilt wie P. D. James.« Bath Chronicle »Ich freue mich schon auf das nächste Buch dieser musikalischen Autorin!« P. D. James Jetzt als eBook kaufen und genießen: Ein atmosphärischer Brit-Crime-Roman – »Des Todes heller Klang« von Morag Joss, der zweite Fall für Inspector Andrew Poole und die Cellistin Sara Selkirk. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 563

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Über dieses Buch:

Berauschend, mitreißend – und dunkel wie der Tod bricht die tosende Ouvertüre über ihre Zuhörer herein … Die junge Cellistin Sara Selkirk ist begeistert, einen gefeierten Nachwuchskomponisten im beschaulichen Städtchen Bath willkommen zu heißen – und bei der Uraufführung seines neuen Werks mitzuwirken. Die atemberaubende Oper scheint jedoch ein dunkler Vorbote zu sein: Ein Ensemblemitglied kommt auf rätselhafte Weise ums Leben – und bald folgt ein zweiter Toter … Detective Inspector Andrew Poole bittet Sara darum, unter ihren Kollegen vorsichtig Nachforschungen anzustellen. Liegt der Oper etwa ein mörderisches Geheimnis zugrunde … und wird derjenige, der es entschlüsselt, das nächste Opfer sein?

»So gut gestrickt wie Ruth Rendell und psychologisch ausgefeilt wie P. D. James.« Bath Chronicle

»Ich freue mich schon auf das nächste Buch dieser musikalischen Autorin!« P. D. James

Über die Autorin:

Morag Joss wuchs an der Westküste Schottlands auf und studierte an der Londoner Guildhall School of Music. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter als freie Schriftstellerin in der Nähe von Bath im Süden Englands. Dieser mondäne Kurort ist auch Schauplatz ihrer Kriminalromane. Für ihren brillanten Spannungsroman »Des Hauses Hüterin« erhielt sie den Silver Dagger Award der Crime Writers' Association.

Morag Joss veröffentlichte bei dotbooks ihren preisgekrönten psychologischen Spannungsroman »Des Hauses Hüterin«.

In der Reihe um Andrew Poole und Sara Selkirk erscheinen die Bände:

»Der Klage dunkles Lied«

»Des Todes heller Klang«

»Des Grabes stumme Melodie«

***

eBook-Neuausgabe Februar 2020

Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel »Der helle Klang des Todes« bei Droemer.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Morag Joss

Die englische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Fearful Simmetry« bei bei Hodder & Stoughton/Hodder Headline PLC, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/stocker 1970

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-987-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Des Todes heller Klang« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

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blog.dotbooks.de/

Morag Joss

Des Todes heller Klang

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ursula Bischoff

dotbooks.

Die folgenden Stücke werden von Sara Selkirk gespielt:

Dvořák: Cellokonzert

Messiaen: Turangalia-Symphonie

Brahms: Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 2

Edouard Lalo: Konzert für Violine und Klavier, 4. Satz

Schnittke: Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 1

Elgar und Dvořák: Marathon-Übung

Richard Strauss: Don Quixote, 3. Variation/Gespräch zwischen Ritter und Knappe

Beethoven: Opus 66, 12 Variationen (F-Dur) aus Mozarts Zauberflöte für Klavier und Violoncello

Richard Strauss: Don Quixote, 9. Variation/Kampf gegen vermeintliche Zauberer

VORWORT

Bath ist Bath und beherbergt deshalb vermutlich auch ein gerüttelt Maß an bärbeißigen Schuldirektorinnen, die sich selbst und anderen das Leben schwermachen, Opernsänger und –innen im Ruhestand, ehemalige Marineoffiziere, die im Antiquitätenhandel vor Anker gegangen sind, chinesische Austauschstudenten, Komponisten, die an ihrem eigenen Glorienschein basteln, und Ehefrauen, die den kürzeren ziehen. Deshalb möchte ich all denjenigen von ihnen, die dieses Buch lesen, ausdrücklich versichern: Es handelt nicht von Ihnen. Ich bin nicht in Bath herumspaziert und habe mir fröhlich Morde an Menschen aus Fleisch und Blut ausgemalt, sondern habe an meinem Schreibtisch gesessen und alle Personen und Ereignisse frei erfunden.

Ich habe jedoch die Runde gemacht und mir fachliche Beratung bei einigen Menschen geholt, denen ich auf diesem Weg meinen Dank aussprechen möchte: Jan Snook von der National Autistic Society, Superintendent Keith Shearn von der Bath Police, Graham Kean, einem Gasinstallateur namens Keith und einem Neurologen, der es vorzieht, nicht namentlich genannt zu werden. Es war außerdem hilfreich und kurzweilig, folgende Bücher zu lesen: Tim Mowl und Brian Earnshaw, John Wood: Architect of Obsession, Autism and Asperger Syndrom, Baron Cohen und Boltons, Autism – The Facts und Autism – An Inside-Out Approach von Donna Williams. The Great Cellists von Margaret Campbell ist ein Buch, das ich nicht missen möchte.

Das Seniorenheim, das sich, soweit ich weiß, tatsächlich auf dem Circus im Zentrum von Bath befindet, hat nichts mit dem Etablissement zu tun, in dem Poppy tätig war. Ich erfuhr von seiner realen Existenz erst, nachdem ich Poppy dort eine Anstellung verschafft hatte. Ich werde also ein zusätzliches Bauwerk auf dem Circus errichten, auch wenn es nicht von vollkommener Schönheit ist. Ich hoffe, die Bewunderer von Bath werden mir verzeihen und mir glauben, daß meine Begeisterung für die Architektur des Circus nur von meiner Liebe für alle Formen der zeitgenössischen Musik übertroffen wird.

Bitte besuchen Sie Iford Manor nicht, um sich den Gemüse- oder Rosengarten anzuschauen: beide sind Fiktion. Aber fahren Sie hin: zwischen April und Oktober ist der Park vollkommen, so wie er ist.

Morag Joss 1999

ERSTER TEIL

Musik schwingt in der Erinnerung, wenn sanfte Stimmen schweigen

KAPITEL 1

Es war natürlich alles höchst unangenehm für Miss Bevan. Montag war schließlich ihr Oxfam-Tag.

Obwohl der Laden an Feiertagen geschlossen hatte, wurde sie um Punkt zehn im Lagerraum erwartet, um einige neu hereingekommene Sachen zu begutachten. Sie überlegte, wie viele Säcke wohl abgegeben worden waren und von wem. Wenn sie die Spenden in Augenschein nahm, versuchte sie sich oft die häuslichen Überraschungsangriffe vorzustellen, denen die meisten Kleider und Haushaltsartikel für Oxfam zum Opfer fielen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie selbst sorgte dafür, daß permanent peinliche Ordnung in ihren Schränken herrschte und der Inhalt regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wurde; folglich mußte sie in ihrem Leben nie unverhofft das Unterste zuoberst kehren, um Kochbücher mit Rezepten von anno dazumal, die Erzeugnisse nicht mehr zeitgemäßer Hobbys, Makramee-Blumenampeln und Kleidung mit groteskem Kragen aus dem Jahre Schnee zu entrümpeln. Zerstreutheit bestand in ihren Augen nicht darin, Dinge zu verlieren, sondern sie vielmehr bis zum Sankt Nimmerleinstag zu horten. Ein beklagenswerter Mangel an Aufmerksamkeit war für Miss Bevan die einzige Erklärung dafür, daß sich die Leute so schwer von ihren Sachen trennten.

Bisweilen wurden die Müllsäcke jedoch nicht von triumphierenden Attentätern auf ihre Schränke abgeliefert, sondern von den leicht schuldbewußt dreinschauenden Anverwandten einer »frisch« verschiedenen Person. Sie konnte sich nicht an den Geruch gewöhnen, der dem Inhalt der Säcke entströmte, wenn die Besitzer nicht in der Blüte ihrer Jugend und mit Pauken und Trompeten aus dem Leben gerissen wurden, sondern hochbetagt und von allen vergessen dahingestorben waren. Und wenn sie dann längst das Zeitliche gesegnet hatten, blieben körperlose Duftwolken in den leeren Kleidern zurück, die an gekochte, mit Pfeffer besprenkelte Wolle erinnerten. Nein, die Arbeit machte ihr weiß Gott keinen Spaß, aber wann hatte sie je eine ehrenamtliche Tätigkeit abgelehnt, nur weil sie ihr nicht gefiel?

Sie zog es vor, ganz vorn an der Front zu sein. Alles, was man dazu brauchte, waren Selbstvertrauen und eine starke Hand. Ihre Gedanken schweiften zu einem äußerst unangenehmen Zwischenfall in der vergangenen Woche zurück, der um ein Haar ins Auge gegangen wäre, wenn sie nicht so beherzt eingegriffen hätte (wie sie dem Oxfam-Gebietsleiter in allen Einzelheiten berichtet hatte). Mrs. Silber, zittrig und langsam wie eine Schnecke, konnte von Glück sagen, daß sie dagewesen war und die Situation voll unter Kontrolle hatte. Alice Silber hatte an der Kasse gestanden, als das junge Mädchen und der junge Bursche den Laden gestürmt und sich auf den Waschbärmantel gestürzt hatten, der morgens an der Kleiderstange gelandet war.

Alice Silber hatte sofort gesagt: »Oh, Imogen, den können wir nicht in die Auslage hängen. Pelzmäntel sind heutzutage eine Provokation.«

»Unsinn«, hatte sie erwidert. »Der Pelz ist noch prima in Schuß; es wäre ein Jammer, ihn den Motten auf dem Müll zu überlassen. Und einem geschenkten Gaul ... Ja, ja, meine Liebe, ich kenne die Argumente, aber schauen Sie doch mal, wie alt das gute Stück schon ist Der Mantel wurde lange vor Erfindung der Tierschutzorganisationen gefertigt. Der kommt raus.«

Gesagt, getan. Aus Rücksichtnahme auf die zartbesaitete Alice hatte sie sich zwar einverstanden erklärt, ihn nicht ins Schaufenster zu legen, aber hängte ihn für jedermann sichtbar an die Kleiderstange direkt neben der Tür. Das freche Gör war einfach hereinmarschiert, hatte sich den Pelz geschnappt, ihn auf die Ladentheke geknallt und mit lauter Stimme verlangt, ihn unverzüglich zu entsorgen. Alice Silber, diese dumme Gans, hatte vorgeschlagen, darüber »in aller Ruhe zu reden« (so ein Unfug!). Eine verhängnisvolle Taktik, das hätte sie ihr gleich sagen können, und völlig zwecklos, denn mit solchen Leuten konnte man nicht vernünftig diskutieren. Dann hatte sich der junge Mann eingemischt und etwas von Bevormundung gefaselt. Und als sie höchstpersönlich die Treppe heruntergekommen war, wo sie die von Alice stammende, hoffnungslose Dekoration mit den handgeflochtenen Körben aus Indonesien neu gestaltete, hatte Alice doch allen Ernstes erklärt, ihr täten die armen Geschöpfe auch leid, und den beiden zugestimmt, daß gerade Oxfam als Wohlfahrtsorganisation eine unerschütterliche ethische Position gegenüber dem Pelzhandel beziehen sollte.

Typisch Alice, derart klein beizugeben, aber sie ließ sich nicht von diesem überheblichen Hippiegesocks, das sich als Moralapostel aufspielte, die Leviten lesen! Sie sahen nicht einmal sauber aus. Bei dem Tohuwabohu, das folgte, leerte sich der Laden in Windeseile, aber es hatte ihr einen Heidenspaß gemacht, die beiden an die frische Luft zu befördern und ihnen zu zeigen, wo's langging. Der Stein des Anstoßes war inzwischen weg, hatte binnen weniger Tage eine Abnehmerin gefunden, aber sie hoffte, daß sich unter den neuen Sachen, die heute morgen gekommen waren, noch ein Pelzmantel befand. Ja, es wäre herrlich, auch den zweiten in Null Komma nichts zu verkaufen, um einen weiteren Sieg für den gesunden Menschenverstand zu erringen und das eigene Rückgrat zu stärken.

Imogen Bevan rüstete sich bei ihrer zweiten Tasse Frühstückstee für den Tag, indem sie den Terminkalender noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren ließ. Oxfam bis eins, dann nach Hause und einen kleinen Imbiß zubereiten. Sie legte Wert darauf, genau die richtigen Formulierungen zu benutzen, sogar auf ihren mentalen Listen. Zum Mittagessen würde sie die Hälfte der Pilzsuppe essen, die im Kühlschrank stand, dazu eine Scheibe Vollkorntoast, und zum Nachtisch ein Stück geräucherten Orkney-Käse und einen Apfel. Sie stellte sich ihre gepflegte kleine Mahlzeit vor, gesund, stilvoll und nicht im mindesten altbacken. Wie es ihrer Persönlichkeit entsprach. Etwas, worauf man stolz sein konnte. Sie hielt an ihren eisernen Maßstäben fest, was noch wichtiger war, seit sie sich im Ruhestand befand und nicht mehr dafür sorgen mußte, daß eine ganze Schule den altbewährten Normen entsprach. Es war schließlich Aufgabe einer tüchtigen Rektorin, darauf zu achten, daß alles in geregelten Bahnen verlief. Und solange sie die Dinge auch mit 74 noch so erledigte wie mit 64, so wie sie das auch in zehn Jahren, mit 84, beibehalten würde, so lange ließ sich der Abstieg in die muffig-vergreiste Sphäre verhindern, In der sich alles um die Kleidung jener drehte, die in ihrem Schlendrian so weit gegangen waren, selbst ihr Ableben auf die lange Bank zu schieben.

Sie ließ heißes Wasser ins Spülbecken laufen, band sich eine Schürze um und trug ihr Frühstücksgeschirr zum Abtropfgestell hinüber. Während sie ihren Eierbecher schrubbte, widmete sie sich wieder ihren Plänen für den heutigen Tag. Nach dem kleinen Imbiß zu Mittag würde sie sich eine halbe Stunde Ruhe gönnen, mit dem Kreuzworträtsel im Telegraph. Danach mußte sie noch einmal der Reinigungsfirma auf den Pelz rücken, die ihrer dringenden Bitte um Rückruf noch nicht nachgekommen war. Sie hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen: Alles sei in bester Ordnung, nur der Boden in der Eingangshalle müsse wieder mal gebohnert und die Türbeschläge gewienert werden, und als sie sich gebückt habe, um die Post zu holen (sie war immer als erste an den Briefkästen), sei ihr aufgefallen, in welch beklagenswertem Zustand sich die Sockelleisten befänden. Und man solle nicht meinen, daß es beim nächsten Großputz am Freitag damit getan sei, einmal kurz den Besen zu schwenken. Sie und ihre Mitbewohner in Nummer elf zahlten schließlich für den Reinigungsdienst in den von allen genutzten Bereichen des Hauses, und sie erwarte daher von ihnen, umgehend zu erscheinen und die Arbeit gründlich zu verrichten. Bisher war keine Reaktion auf ihre Beschwerde erfolgt, aber was konnte man von solchen Leuten auch anderes erwarten? Sie würde heute nachmittag eine weitere Nachricht hinterlassen und es Dienstag morgen in aller Herrgottsfrühe noch einmal versuchen.

Hatte sie tatsächlich »Mitbewohner« gesagt? überlegte sie naserümpfend. Sie hatte ein Geschirrtuch mit Eichelmuster genommen und trocknete ihre Untertasse ab. Bloß ein Versprecher, denn sie hegte gewiß keine gutnachbarschaftlichen Gefühle für die beiden Homosexuellen in der Wohnung über ihr. Natürlich war das allein deren Sache, wer mit wem, aber genausogut hatte sie das Recht, ein solches Lotterleben moralisch zu verurteilen. Und sie besaßen nicht einmal den Anstand, sich zu schämen. Wenn sie zufällig einem der beiden im Treppenhaus begegnete, wurde sie so munter gegrüßt, als sei es ganz normal, auf gutnachbarschaftlichem Fuß miteinander zu stehen. Dabei legte sie nicht den geringsten Wert auf Freundlichkeiten von derartigen Personen. Und dauernd stand die Wohnung des sauberen Pärchens leer. Wieder mal unterwegs zwischen Bath, London und Brüssel ... beruflich, wie es hieß. Bildeten sich wohl ein, sie sei von gestern. Sie nahm einen Teller und trocknete ihn verbissen ab. Schließlich las sie gewissenhaft, was in der Welt passierte. Die Auslandsberichterstattung im Telegraph war unübertroffen und stets bestrebt, den Lesern die unappetitlichen Skandalgeschichten in Belgien nicht vorzuenthalten. Das ganze Land war mit Päderasten, Pädophilen und Pornographen überschwemmt. Die beiden oben handelten möglicherweise sogar mit solchem Schund; sie war immer schon mißtrauisch gewesen, womit sie angeblich ihren Lebensunterhalt verdienten.

Jetzt trocknete sie das Besteck ab, das natürlich unter fließendem Wasser nachgespült worden war, wie es sich gehörte. Nach dem Anruf bei der Reinigungsfirma würde sie einen gepfefferten Brief an diesen rückgratlosen Vorsitzenden der Camden-Crescent-Mietervereinigung schreiben, damit er endlich Druckwegen der Kapuzinerkresse im Blumenkasten von Nummer 21 machte, wo sie wirklich nicht hingehörte, und bei der Gelegenheit konnte sie ihn gleich darauf hinweisen, daß die Londoner in 9 a ihre Katze schon wieder übers Wochenende mitgebracht hatten, was eindeutig gegen die Hausordnung verstieß. Damit würde sie bis zum Nachmittagstee beschäftigt sein (Earl Grey, was sonst). Danach galt es, die Topfblumen feucht abzuwischen und die Tomaten in dem kleinen ummauerten Hinterhof zu gießen. Und den Abend würde sie mit ein bißchen Fernsehen, Lamm mit verschiedenen Gemüsesorten, einer Zitronenmousse, einer Bluse zum Bügeln für den morgigen Tag und dem obligatorischen Bad ausfüllen. Besser könnte es gar nicht sein, dachte sie, als sie das Besteck wegräumte und meinte, gerade den Postboten gehört zu haben (schier unglaublich an einem Feiertag wie Bank Holiday).

Sie stieg die Treppen von ihrer Souterrain-Wohnung zur Eingangshalle empor. Sie war menschenleer, und jeder Schritt hallte wider, die kahlen weißen Wände und der schachbrettartige Steinboden wirkten so eiskalt, daß einem das Blut in den Adern gefror. Sie hob das Päckchen von der Matte auf. Anhand der Größe und des Umfangs konnte sie erraten, daß die gefütterte Versandtasche ein Videoband enthielt. Sie drehte das Päckchen um. Natürlich eigenhändig abgegeben, kein Poststempel. Ein einfaches weißes Schild, Name und Adresse in schwarzen Großbuchstaben mit der Hand geschrieben. Zugeklebt, nicht nur mit diesen Metallclips verschlossen, die man beim Kauf dazubekommt. Miss Bevans Herz begann schneller zu schlagen. Genauso fing es immer an, völlig harmlos, und dann kam eins zum anderen. Die Lawine kam meistens so langsam ins Rollen, daß man es nicht einmal merkte, und dann entwickelte sie ein Eigenleben und führte Gott weiß wohin.

Sie blickte sich verstohlen in der leeren Halle um, dann wieder unschlüssig auf das Päckchen in ihrer Hand. Sie konnte sich innerhalb von Sekunden Gewißheit verschaffen, ob die Sache harmlos war oder nicht. Falls nötig, würde sie den Umschlag eben wieder mit Klebeband verschließen und ihn einfach auf den Postkasten zurücklegen. Niemand würde es erfahren. Allerdings nur, falls der Inhalt harmlos wäre, was er garantiert nicht war. Natürlich würde sie das Band nicht anschauen, sondern das Beweisstück schnurstracks zur Polizei bringen. Eigentlich war es sogar ihre Pflicht als gesetzestreue Bürgerin, die Versandtasche zu öffnen. Mit einem letzten, schnellen Blick in die Runde schob sie das Corpus delicti unter ihre Schürze und hastete zur Tür der Souterrain-Wohnung.

Doch sie war vom Pech verfolgt: Als sie das Päckchen über den Wasserdampf aus dem Kessel hielt, hätte sie sich um ein Haar die Hand verbrüht. Dann sah sie, daß sie es zu spät umgedreht hatte, der Aufkleber mit der Adresse löste sich ringelnd ab, während das Klebeband auf der Rückseite intakt und haftenblieb. Und noch schlimmer: Die Buchstaben waren nicht mit wasserfester Tinte geschrieben und zu grauen, unlesbaren Klecksen verlaufen. Allmählich wünschte sie sich, sie hätte sich gar nicht erst darauf eingelassen, einen privaten Feldzug gegen das Verbrechen zu führen. Sie richtete sich auf, riß den durchweichten Aufkleber mit einem Ruck ab und dann in Fetzen. Sie knüllte die grauen Fitzelchen zu einer feuchten kleinen Kugel zusammen, trat auf das Pedal des Abfalleimers und schob sie zwischen eine undefinierbare Masse aus Teeblättern und Eierschalen. Es war schließlich ein Kinderspiel, ein neues Schild mit anonym aussehenden Großbuchstaben zu schreiben.

Sie hielt das Päckchen erneut über den Kessel. Die Küche füllte sich mit Dampf, aber das Klebeband war nicht kleinzukriegen. Offenbar hatte man etwas wesentlich Stärkeres als das handelsübliche Erzeugnis verwendet. Die Frage war, warum sollte sich jemand die Mühe machen, den Inhalt des Päckchens während der Beförderung geheimzuhalten, wenn er nichts zu verbergen hatte! Ohne den geringsten Zweifel, was sie finden würde, nahm sie das Päckchen in beide Hände und riß mit der Kraft, die nur ein heiliger Krieg verleiht, die Verpackung auf.

Nein, es war wirklich kein angenehmer Tag, weil dieser Montag im August nicht nur Bank Holiday und ein Feiertag, sondern auch der Jahrestag von Dianas Tod war. Die Anzahl der Schaulustigen, obwohl kleiner als erwartet, hatte sich das ganze Wochenende über vermehrt. Ein Fähnlein von mindestens dreißig Aufrechten war offenbar wild entschlossen, in Parade Garden zu kampieren und den städtischen Verordnungen gegen solche Unbotmäßigkeiten zu trotzen. Andere betteten ihr müdes Haupt auf den Bänken im Abbey Churchyard zur Ruhe. Inzwischen gingen bereits zwanzig zusätzliche uniformierte Ordnungshüter in der Umgebung der Abtei Streife, da man annahm, daß viele nach Bath pilgern würden, um Kerzen anzuzünden, Blumengebinde zu hinterlassen und ein Gebet zu sprechen, während es einige Dutzend andere gab, die ihren Kummer ausreichend überwanden, um widerrechtlich zu parken, Autos zu knacken, in den Geschäften das eine oder andere mitgehen zu lassen oder unter Einfluß von hochprozentigen Stärkungsmitteln gegen Recht und Ordnung zu verstoßen.

Es war kein angenehmer Tag für die Unfall- und Notaufnahme-Station des Royal United Hospital, wo die Belegschaft müde und schicksalsergeben auf die Einlieferung begeisterungsfähiger junger Mädchen wartete, deren Knie unter der kombinierten Wirkung von Lagerbier, praller Sonne und endlosem Stehen inmitten einer schwitzenden, in Trauer vereinten Menschenmenge nachgegeben hatten. Die schlechte Luft würde ihnen einen oder zwei Asthmatiker mit akuter Atemnot bescheren, und die Temperaturen allein gewährleisteten den einen oder anderen Herzinfarkt-Kandidaten, um das Ganze abzurunden. Natürlich würde es auch die zu Bank Holiday üblichen Verkehrsopfer geben. Und nicht zu vergessen die Selbstmörder, die Pfuscharbeit geleistet hatten, Menschen, die zu einsam und depressiv waren, um sich ins Freie zu wagen und sich von einem ganzen Bienenschwarm stechen, sich vom Nachbarhund beißen oder sich beim Rasenmähen einen tödlichen Stromschlag verpassen zu lassen.

Nein, für die Polizei und für das Krankenhaus war es wirklich kein angenehmer Tag. Auch nicht für Mrs. Maupesson oder ihre Enkelin im Sportwagen, die kurz nach neun die Camden Crescent Road passierten und durch Miss Bevan aus der Souterrain-Wohnung von Nummer elf am Fortkommen gehindert wurden. Sie tauchte hinter dem Geländer der Außentreppe aus der Versenkung auf, an sich schon ungewöhnlich, weil sie in aller Regel durch den Haupteingang von Nummer elf kam und ging, durch die Tür am Ende der Halle, die zu ihrer Wohnung hinunterführte. Mrs. Maupesson, die Nummer 27 ohne ihre Brille verlassen hatte, fand es außerdem höchst ungewöhnlich, daß die sonst so zurückhaltende Miss Bevan plötzlich so mitteilungsbedürftig war. Sie plapperte ununterbrochen, und obwohl Mrs. Maupesson zu weit entfernt war, um die Worte zu verstehen, beharrte sie mit unverkennbarer Dringlichkeit darauf, daß Mrs. Maupesson stehenblieb und ... was war das, was sie ihr geben wollte? Tomaten? Nein, zwei ziemlich schlappe Blumensträuße, die sie ihr entgegenstreckte. Sie hielt in jeder Hand einen, völlig identische Riechbesen aus hellroten, glänzenden Pfingstrosen, die bereits ihre Köpfe hängenließen, während die Blütenblätter zu Boden fielen. Erst als Mrs. Maupesson näher trat, sah sie, womit ihr Miss Bevan zuwinkte: Es waren keine welken Blumensträuße, sondern die Stümpfe ihrer Hände.

Alle Unannehmlichkeiten hatten für Miss Bevan um 14 Uhr 35 abrupt ein Ende, als das Herz, konfrontiert mit so vielfältigen Anforderungen wie Trauma, Vollnarkose und drei Stunden Wartezeit auf einen freien Operationssaal, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln, zu schlagen aufhörte. Sein entschlossener Widerstand gegenüber allen Wiederbelebungsversuchen bereitete dem Operationsteam beträchtliches Unbehagen. Es war ihnen nach der Entfernung mehrerer Knochensplitter gerade mühsam gelungen, die Blutzufuhr in das spärliche verbliebene Muskel- und Sehnengewebe wiederherzustellen, so daß Miss Bevan nach einer weiteren Aufbauplastik vielleicht in der Lage gewesen wäre, ihr Leben mit Hilfe von zwei dienstbaren Klauen zu meistern.

KAPITEL 2

Detective Chief Inspector Andrew Poole nahm den Anruf von Detective Constable Heaton entgegen, saß danach eine Weile am Schreibtisch, das Kinn in die Hand gestützt, und dachte angestrengt nach. Hoffentlich hatte er mit seinem Ton genau die richtige Mischung aus überdrüssiger, aber zweckdienlicher Autorität getroffen, die junge Polizisten brauchten, um an die Rangordnung erinnert zu werden.

»Natürlich, vielen Dank, Constable. Nein, ganz recht, es hat keinen Sinn, noch länger dort herumzulungern und Däumchen zu drehen. Es sind immer noch keine Verwandten aufgetaucht, sagen Sie? Dann ist es wohl besser, Sie machen sich auf die Socken. Ja, zur Wohnung der Frau. DS Bridger sichert bereits den Tatort, aber jetzt gilt es als erstes herauszufinden, wer informiert werden muß. Die Tote hatte doch bestimmt Familie oder Freunde. Und ehe ich's vergesse, Heaton, wenn Sie die Angehörigen aufgespürt haben, dann heißt es: ›Ursache der Explosion derzeit noch nicht bekannt.‹ Desgleichen, falls Ihnen die Presse auf den Pelz rückt. Alles klar?«

Es tat ihm leid, daß Imogen Bevan verstorben war, schon um ihrer selbst willen. Aber auch aus einem eigennützigen Grund, denn er hatte DC Heaton im Krankenhaus als Schildwache postiert, weil die vage Möglichkeit bestand, daß irgendein Zeitungsfuzzi mit Miss Bevan ein Interview führen wollte, während er sich im Dezernat an der Manvers Street um die Vorbereitungen für die Ermittlungen kümmerte. Aber nun gab es für ihn keine Entschuldigung mehr, nicht Feierabend zu machen und nach Hause zurückzukehren, auch wenn er jetzt höchstwahrscheinlich einen Mordfall am Hals hatte. Und er wollte nicht nach Hause. Der Anruf, der ihn von einer verdächtigen Briefbombenexplosion in Kenntnis setzte, hatte das erste Wendemanöver der Fleischscheiben auf dem Holzkohlegrill unterbrochen und ihm die Befriedigung verschafft, Valerie das Operationsbesteck, die lange Zange und die Metzgerschürze in die Hand zu drücken. Dabei war es ihm gelungen, mit täuschend echtem Bedauern die Stirn zu runzeln, weil er sie mit dem Schlamassel allein lassen mußte. Doch da Miss Bevan das Zeitliche gesegnet und er seine Mitarbeiter zum Tatort abkommandiert hatte, gab es für ihn im Moment nichts weiter zu tun. Er hob den Kopf, richtete sich kerzengerade auf, lehnte sich im Stuhl zurück und blickte sich in der verwaisten Kommandozentrale um. Zumindest das hatte er, ein Refugium, das eigens für Aufgaben dieser Art eingerichtet worden war. Imogen Bevan würde nie erfahren, daß sie der erste Mordfall war, der im Morddezernat untersucht werden würde, und sie hätte die Ehre kaum zu schätzen gewußt, aber es war nichtsdestotrotz ein gewaltiger Fortschritt. Der letzte Mordfall, auf den er angesetzt worden war, der Tod des Museumsdirektors von Bath, hatte mit dem üblichen Chaos begonnen, einen leerstehenden Raum zu »requirieren« und Telefone, technische Ausrüstung und Mobiliar aus dem ganzen Gebäude zu beschlagnahmen, womit der größte Teil des ersten Tages vergeudet worden war. Danach hatte er den District Commander bekniet, er möge ihm einen Raum zuweisen, in dem er seine Zelte für immer aufschlagen konnte. Nun besaß er eine eigene Kommandozentrale mit Telefonen, Computerbildschirmen und Konsolen auf einer nahtlos erweiterten Schreibtischreihe mit zwei abgerundeten Ecken, Pinnwänden, Generalstabskarten in vergrößertem Maßstab, Mikrowellenherd und elektrischem Wasserkocher. Er mußte sich nur noch ans Werk machen, gleich morgen früh, wenn der Obduktionsbericht vorlag.

Einstweilen stand es ihm frei, nach Oldfield Park zurückzukehren, wo seine drei Kinder im Zimmer herumlungerten, die Vorhänge zugezogen hatten und wie angewachsen vor der Glotze hockten, um sich den Spielfilm anzuschauen, der an Feiertagen wie Bank Holiday obligatorisch war. Seine drei sträflich gut geratenen Sprößlinge Benji, Dan und Natalie, die ihn schier um den Verstand brachten und die er nicht verlassen konnte, wie er entdeckt hatte. Draußen würde Valerie blind in einer dunklen Rauchwolke herumstochern, die von der Grillkohle aufstieg, und aus dem niedergetrampelten Gras schmutzige Grillspieße, Messer, zertretene Knochen, halbrohe weggeworfene Fleischstränge und ketchupdurchweichte Servietten aufklauben, die ihren Reihenhausgarten nach der Grillschlacht in ein verlassenes Feldlazarett verwandelten. Sie würde zu ihm aufblicken, das Gesicht vom Ruß verschmiert und vor Anstrengung verzerrt, bevor sie mit einem weiteren Müllsack an ihm vorüberhastete. Dabei würde sie bewußt kein einziges Wort über die siebzig Bodenplatten und die halbe Tonne Sand verlauten lassen, die seit über einem Jahr zwei Wälle an einer Seite des Gartens bildeten, und auch mit keiner Silbe erwähnen, daß Andrew die erträumte Betonterrasse immer noch nicht gebaut hatte, auf der sie ein anständiges Grillfest veranstalten konnten wie zivilisierte Menschen, ohne daß es hinterher aussah wie im Krimkrieg oder bei den Hottentotten.

Er sollte wirklich zusehen, daß er endlich nach Hause kam. Aber statt dessen ließ er das Kinn wieder in die Hand sinken, beugte sich nach vorne, starrte seinen Schreibtisch an und versuchte, nicht an Sara zu denken, wenn auch nicht allzu entschlossen, denn dann fühlte er sich noch schlechter.

KAPITEL 3

Es hat eine gewisse Ordnung, dachte Sara, wenn eine Frau den Abend allein mit einem Drink und den drei B – Bad, Bett und Buch – verbringt. Sie hatte vergessen, oder sich vielmehr gar nicht erst gemerkt, in welchem Stockwerk des Hotels sie sich befand. Möglicherweise besaß sie sogar ein Zimmer mit Aussicht, aber die konnte bis morgen warten. Sie brauchte nicht erst auf die taghell erleuchtete nächtliche Silhouette von New York hinabzublicken, um sich wie ein kleines menschliches Licht zu fühlen, und sie bezweifelte, daß die energiespendende Ausstrahlung der quirligen Metropole die dreifach verglaste Scheibe zu durchdringen vermochte, selbst wenn sie in der Stimmung gewesen wäre, ihre innere Antenne auf Empfang zu stellen. Sie stärkte sich mit einem kräftigen Schluck Whisky. Sie wußte, es ging ihr gut, solange der Fernseher nicht lief. Erst wenn sie ihn einschaltete und einen interaktiven Dialog mit ihm zu führen versuchte, war das ein sicheres Anzeichen dafür, daß sie sich einsam fühlte.

Sie hatte die Nase gestrichen voll von Hotels. Sie hatte es satt, viel zu große Räume zu betreten, hatte es satt, Ma'am genannt zu werden, sich mit strahlendem Lächeln bedanken und jemandem Trinkgeld geben zu müssen, der sich mit ihrem Gepäck abplagte. Vor allem aber hatte sie es satt, nachdem die Tür geschlossen war, wieder mit den furnierten Oberflächen der Möbel allein zu sein, die von tüchtigen Zimmermädchen auf Hochglanz poliert worden waren, und mit dem Teppichboden, in dem die Stille genauso schwer und übermäßig lastete wie in den wallenden Vorhängen und der farblich passenden Tagesdecke auf dem Bett. Es war kurz vor zehn an diesem Montagabend. Sie wartete darauf, daß die Wanne voll war, und dachte an die leere Konzerthalle in Seattle, wo sie am Samstag aufgetreten war.

Die Zuhörer, drei Stunden hinter der New Yorker Zeit zurück, würden sich nun zum Abendessen an den Tisch setzen. Oder sie lasen im Lokalblatt von Seattle die übertriebenen Lobeshymnen auf ihr Konzert und gestatteten sich, anderer Meinung als die Rezensenten zu sein: Manche Leute liebten es, aus Prinzip und mit diebischem Vergnügen, an ihrer Reputation zu kratzen (»Fanden Sie nicht auch, daß es ihrem Beethoven an Esprit mangelte?«). Aber an Beethoven gab es nichts herumzumäkeln, außer daß sie sich während der meisten Passagen hundsmiserabel gefühlt hatte, elend und wie benebelt. Erst später, nach dem erschöpfenden Geplauder, in das wohlmeinende Besucher sie an der Schwelle ihrer Garderobe verstrickt hatten, als sie mit ihrem Cellokasten, ihrem Kleid für das Konzert und der Reisetasche ins Freie zu flüchten versuchte, hatte sie der Müdigkeit und dem Anflug von Verdrossenheit nachgegeben, die sie nun spürte. Sie waren so schrecklich nett gewesen, diese Belagerer, und sie hatte sich mit ein paar auf Programmhefte gekritzelten Autogrammen und Antworten auf die vorhersehbaren Fragen freigekauft.

»Ja, es stimmt, ich fliege morgen nach New York, um mich am Montag mit Herve Enescu zu treffen. Ja, ein neues Werk für Cello, Keyboard und Percussion, der Rest kommt vom Band. O ja, eine große Herausforderung. Ja, eigens für mich komponiert – nein, ich habe ihn in Prag kennengelernt, vor ein paar Wochen. Nur eine kurze Begegnung, aber dieses Mal werden wir uns seine ursprünglichen Konzepte für das neue Stück genauer ansehen. Nein, ich habe noch nicht viele zeitgenössische Werke in meinem Repertoire. Ja, er ist in der Tat genial. Nein, ich werde meine Klassiker nicht aufgeben. Ja, schrecklich spannend. Richtig, danach werde ich nach England zurückkehren. Enescu wird später nachkommen.«

Sie war Herve in Prag begegnet, Anfang August, in der dritten Tournee-Woche. Sie hatte mit Robin, ihrem Agenten und Manager, eine geschlagene Stunde an ihrem Tisch im Old Town Square gewartet, bevor er geruhte, zu der Verabredung zum Mittagessen zu erscheinen. Im Schlepptau hatte er eine deutlich jüngere Frau, die viel Bein gezeigt, aber wenig zur verbalen Unterhaltung beigetragen hatte. Ob sie der englischen Sprache nicht mächtig war oder schlicht nichts zu sagen hatte, wurde nie klar, denn Herve ließ sie links liegen, nachdem er sie kurz vorgestellt hatte, außer wenn er sich anschickte zu rauchen. Dann fischte er eine Zigarette aus dem Päckchen, hob die Hand an die Lippen und drehte sich halb zu ihr um, die Augen unbeirrt auf die gegenüberliegende Seite des Tisches gerichtet. Sie zündete prompt und genauso unbeirrt ein Streichholz an, mit einem unterwürfigen Lächeln, das Herve geflissentlich übersah und in Sara den Wunsch weckte, ihr den Kragen umzudrehen.

»Ich habe gehört, Sie gefallen mein Werk?« war das erste, was er zu Sara sagte, die in Robins Augen die Warnung las Reiß dich zusammen. Sie widerstand der Versuchung zu antworten, ihr Werk habe ihm hoffentlich genauso gefallen, und ihm eine Entschuldigung abzuringen, weil er nicht zu ihrem Dvořák-Konzert für Cello mit den Prager Symphonikern erschienen war. Vermutlich hatte er alle Hände voll mit Miss Stummbein zu tun gehabt, überlegte Sara und fühlte sich wie eine verkniffene alte Jungfer. Sie hatte auch mit keiner Silbe erwähnt, daß sie von Robin gedrängt worden war, bei der Uraufführung des neuen Werks von Enescu mitzumachen, eine Auftragsarbeit, die ihr auf den Leib geschneidert werden sollte. (Das wird dein Image aufpeppen, und du könntest darüber nachdenken, mehr zeitgenössische Stücke in dein Programm aufzunehmen. Und vergiß nicht, er gehört zu den ganz Großen.) Es wäre ohnehin für die Katz gewesen, den Mund aufzumachen, denn der Zweck des Treffens war, soweit es Herve betraf, seinen Zuhörern Nachhilfeunterricht über seine eigene werte Person zu erteilen.

»1969 ich mache Meister in Bukarest. Für Komposition, Analyse, formalisierte Musik. Dann Köln und Darmstadt, zwei Jahre Arbeit mit Cage, Xenakis, Stockhausen und Ligeti.« Er blies eine lange, schlappe Rauchwolke über den Tisch, als wollte er unterstreichen, wie ermüdend die Anfänge waren. »Sie kennen Opus 11, Ultimatives Kosmos in auftauchendes Plasma, für neun Cellos? Ist aus diese Periode.«

Sara versuchte, mit hochgezogener Augenbraue ein O-ja-natürlich zum Ausdruck zu bringen. Herve beugte sich vor. »Sie kennen doch, oder? Mit 4170-Klangprozesse in 45 Spektralkomponenten von C-Grundakkord eingebaut – Emanation der Emanation!«

»Ähm ... o ja, das meinen Sie! Das liebe ich«, erwiderte sie und blickte ihn durchdringend an. Robins Lippen zuckten. »Zweifellos finden Sie, sozusagen als federführender Reformer der musikalischen Sprache unseres Jahrhunderts, das neue Forum für junge, begabte Komponisten in Europa ... ähm spannend«, hatte sie die Unterhaltung mit ernster Miene fortgesetzt. Robins Augen hatten sie von der anderen Tischseite angeblitzt und die Frage signalisiert, worauf sie in Dreiteufelsnamen hinauswollte. Sie trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Natürlich wissen wir alle, daß sich wahres Genie auch ohne einen solchen Karriere-Steigbügel durchsetzt«, fuhr sie mit einer einschmeichelnden Geste in Herves Richtung fort, »aber es stünde einem Mann mit Ihrem Format gut zu Gesicht, aufstrebende Talente zu fördern.«

Herve lächelte und wandte sich wieder mit einer Zigarette zwischen den Lippen Miss Stummbein zu. Er inhalierte einmal, dann nahm er die Zigarette aus dem Mund und fuchtelte damit herum. »Dauernd ich Mekka für Menschenmassen. Jünger, Pilger, alle strömen in mein Studio. Rat, Unterricht, ich gebe alles. Geben, geben, geben.«

Sara kramte in ihrer Handtasche und reichte ihm eine Visitenkarte. »Ich hatte gehofft, daß Sie das sagen, Meister. Diese Leute – da steht der Name und die Anschrift – brauchen jemanden, der eine Opera buffa für sie schreibt. Eine Art komische Oper, die in Bath spielt. Unter Umständen kennen Sie ja jemanden, der diesen Auftrag übernehmen würde, einer Ihrer Schüler vielleicht. Jemand, der in der Lage ist, Musik zu schreiben, die sich singen läßt, und ein paar Monate in Bath zu wohnen. Es wäre eine ehrenvolle Aufgabe, auch wenn nicht viel Geld dabei herausspringt – aber es geht ja nicht ums Geld, nicht wahr?«

Herve betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Visitenkarte, die sie ihm in die Hand gedrückt hatte. »Wunderbar«, sagte Sara schnell. »Ich überlasse Sie Ihnen zu treuen Händen. Vielen Dank, Herve, die Veranstalter werden Ihnen unendlich dankbar sein.« Sie nahm die Speisekarte in die Hand und sah sich mit strahlendem Lächeln am Tisch um. »Hat sonst noch jemand Hunger? Mir knurrt bereits der Magen.«

Im nachhinein mußte Robin zugeben, daß er ihre Kaltblütigkeit bewunderte. Aber sie bereitete ihm auch Kopfzerbrechen. Herve war ein Mann, den es ernst zu nehmen galt. Sollte sie sich nicht lieber ein bißchen mehr auf seine Musik konzentrieren? Sie hatte ihm hoch und heilig versprochen, aufrichtig und von ganzem Herzen zu versuchen, Herves Komposition positive Seiten abzugewinnen, ohne zuzugeben, daß es ihr gewiß leichtfallen würde. Denn es war ihr nur allzu leicht gefallen, ihn, wenn schon nicht zu mögen, so doch von seinem aufgeblähten, unwiderstehlichen Ego beeindruckt zu sein. Beeindruckt auch davon, daß er groß und im interessanten Alter um die Fünfzig war und diese schmerzlich intelligenten Augen besaß, in denen eine Mischung aus menschlicher Tragödie, Scharfsinn und sexueller Verheißung lag, die sie für ein spezifisches, unwiderstehliches Merkmal der Osteuropäer hielt. Er würde einen perfekten enteigneten Schachweltmeister mit vier Mätressen in einem Schwarzweißfilm abgeben, aber sie hatte pflichtschuldigst mit Robin darin übereingestimmt, daß Herve ein außergewöhnlicher Mann war und daß es nur an der Wirkung seines vielschichtigen, gefühlslastigen Intellekts lag, daß einige Leute ihn fälschlicherweise für eitel hielten.

Sie betrat das riesige Badezimmer, drehte die Wasserhähne zu, kehrte ins Schlafzimmer zurück und setzte sich aufs Bett. Der kurze Weg ins Bad und zurück hatte sie bereits ermüdet. Der Quacksalber, den sie heute morgen aufgesucht hatte, war der Ansicht gewesen, die Symptome wären streßbedingt. Kaum zu glauben, aber typisch für einen New Yorker, daß er meinte, eine »kleine Lifestyle-Veränderung« würde dazu beitragen, ihren leicht erhöhten Blutdruck zu senken. Zu Hause würden ihre Probleme von ganz allein verschwinden, hatte er diagnostiziert. Klar, daß die »kleine Lifestyle-Veränderung« auch die Notwendigkeit beinhaltete, Klartext zu reden und NEIN zu sagen, wenn die Leute sie pausenlos mit Anforderungen bombardierten. Und könnte er übrigens ein Autogramm haben, zur bleibenden Erinnerung? Klar, hatte sie gesagt, reicht die Unterschrift auf dem Honorar-Scheck? Sollte er ruhig glauben, daß sie scherzte.

Am Nachmittag hatte sie sich mit Herve in dem bombastischen New Yorker Hochhaus-Apartment getroffen, das seinem amerikanischen Agenten und Verleger gehörte, und sich beim Anblick von ganz New York, das ihr buchstäblich zu Füßen lag, nur schwer ein nervöses Lachen verkneifen können. Vermutlich lag ihre Enttäuschung über das Werk, das Herve für sie komponiert hatte, an der Zeitverschiebung oder schlicht an der Erschöpfung. Sie hatte die »Tonskizzen« gewissenhaft durchgeblättert, aber es nicht geschafft, sie mit allen ihren Facetten zu sehen; irgend etwas schien ihr zu entgehen. Wenn Herve in zehn Tagen nach England kommen würde, um ernsthaft mit der Arbeit zu beginnen, mußte sie imstande sein, sich ein genaues Bild zu machen, worum es dabei ging. Das hatte sie ihm versichert. Sie würde schlußendlich noch einmal das Band anhören und die Anmerkungen mit der angemessenen Muße lesen müssen.

Sie stand auf, holte den Walkman aus ihrer Reisetasche und stülpte die Kopfhörer über die Ohren. Sie fand die Kassette, schob sie ins Gerät und machte es sich mit einem dicken Bündel Papiere, die Herve ihr an diesem Tag zusammen mit der Kassette überreicht hatte, auf dem Bett bequem. Sie würde sich nicht entmutigen lassen. Es mußte etwas mit dem Licht in New York zu tun haben, denn das Weiße in seinen Augen hatte leicht gelblich gewirkt, obwohl sie immer noch reizvoll funkelten, als er zu ihr gesagt hatte: »Ich warte auf enge Zusammenarbeit mit meine Solistin.«

Das Bad konnte warten. Sie würde sich noch einmal »Visionen, Revisionen: Archetypen (1995)« für Gamelanorchester, Percussion und Synthesizer anhören. Dabei würde sie zum x-ten Mal versuchen, und dieses Mal mit besonders intensiver Konzentration, die Abhandlung zu verstehen, die ein deutscher Musikwissenschaftler über Herve verfaßt hatte, und sich nicht davon ablenken lassen, sich den großen Meister nackt vorzustellen. Denn das würde nicht mehr lange eine Sache der reinen Phantasie bleiben, wenn sie sich die kommenden Wochen der »engen Zusammenarbeit« ausmalte. Auch wenn sie fest entschlossen war, bei jedem Schritt in diese Richtung den Ton anzugeben. Sie drückte die Play-Taste und begann zu lesen:

Enescus Musik mit ihrer starken Betonung der Phonetik stützt sich auf das Konzept des »Prozesses«, eine Technik, die den Übergang von einem Ist-Zustand in einen Soll-Zustand innerhalb eines richtungweisenden Klangkontinuums ermöglicht (BONGONG, wii wii wii).

Charakteristisch für seine Kompositionen sind die ursprünglichen (BONGONG, wii, blubb, schschsch) Gegensätze zwischen Klangobjekt und (papp, papp, zappzerapp) Übergangsprozeß (wonk), Kontinuität und Diskontinuität, Tempo und Stockung (zappzerapp). Die »Prozesse« überlagern sich, gestatten die Einbindung polyphoner oder (kssss!) heterophoner Konstruktionen in das musikalische Werk, während sie gleichzeitig (WONKkssss) den Ausdrucksprinzipien (aah ksss!) Rechnung tragen (wiii ii iiip).

Zeitverschiebung. Oder einfach Erschöpfung. Das Licht in New York. Irgend etwas. Aber bitte, lieber Gott, laß es nicht meine eigene Beschränktheit sein.

Nach dem Bad breitete Sara den Inhalt ihrer Reisetasche auf dem Bett aus und überprüfte, ob ihr Paß, ihre Brieftasche und ihr Flugticket für morgen in Ordnung waren. Sie rief in der Rezeption an und bestellte ein Taxi zum Flughafen. Es war wirklich höchste Zeit, nach Hause zurückzukehren, aber aufgrund irgendeiner geheimen Absprache der Airline-Planer saß sie weitere sieben Stunden in diesem Moloch fest. Dann ging es endlich ab nach Hause, ein tröstlicher Gedanke, auch wenn sie sich vor dem fürchtete, was sie erwartete. Widerstrebend blickte sie einer brandneuen Reihe von Ängsten ins Gesicht und ermahnte sich, vernünftig zu sein. Sie flog nach Hause zurück, um in aller Ruhe mit Herve an dem neuen Stück zu arbeiten, ohne Ablenkungen oder Unterbrechungen. Eine solche Situation wurde von vielen als Privileg betrachtet, und sie war fest entschlossen, sie in Zukunft aus der gleichen Warte zu sehen.

Und Mitte September würde in Iford Manor die öffentliche Generalprobe stattfinden, eine Art Markttest für die »laufende Arbeit«, bevor im Dezember in London die offizielle Premiere bevorstand, und es war ihr immer lieber gewesen, in Iford Manor zu spielen. Iford Manor war ein winziges Juwel in unmittelbarer Nähe von Bath, ein altes englisches Herrenhaus mit einem Irrgarten, der an italienische Renaissance-Gärten erinnerte, wo jedes Jahr heimliche, aber hervorragende Konzerte probeweise über die Bühne gingen. Da es normalerweise unmöglich war, vom internationalen Konzertkarussell abzuspringen, um in einer solchen Kulisse zu spielen, freute sie sich schon jetzt darauf.

Nein, was ihr Sorge bereitete, war Herve selbst, der ein großes Fragezeichen darstellte, und nicht das Labyrinth seiner Musik, zu dem sie bisher keinen Zugang gefunden hatte. Sie zwang sich, sich den peinlichen Teil des Nachmittags ins Gedächtnis zurückzurufen. Beim Abschied hatte sie sich umgedreht und ihn beiläufig gefragt, ob er nicht jemanden wisse, der bereit sei, die Komposition der komischen Oper zu übernehmen. Sein gleichermaßen beiläufiges, angedeutetes Nicken hatte ihr die Botschaft übermittelt, daß er sich ihr zuliebe darum kümmern würde. Und dann hatte er sie, als sei es ihm gerade erst eingefallen, eindringlich angeblickt, ihr die Hände sanft auf die Schultern gelegt und gefragt, ob nicht eine Gefälligkeit eine andere wert sei. Sie hatte seinen Blick mit einem vielversprechenden Funkeln erwidert, wie sie fand.

Jetzt, in ihrem Hotelzimmer, stöhnte sie bei der Erinnerung daran, daß sie nach dem Köder sexueller Anspielung geschnappt hatte wie ein ausgehungerter alter Stockfisch, für den er sie jetzt möglicherweise hielt. Sie hatte den Brocken auf einmal geschluckt und geantwortet, so sei es. In diesem Fall habe er nun eine Bitte frei, hatte er lächelnd gesagt. Sie hatte das Lächeln erwidert. Er brauche eine Unterkunft während seines Aufenthalts in Bath. Und er hasse Hotels. Vielleicht könne er ja bei ihr wohnen? Während seine Hände ihre Schultern massierten, tastete sich eine Fingerspitze über den Kragen ihrer Kaschmirjacke und strich einmal kurz, nur ein einziges Mal, über die Haut an ihrem Hals. Zuerst dachte Sara nur, daß es jetzt ein bißchen spät für einen würdevollen Rückzug war und daß sich der Druck seines Fingers auf ihrer Haut erregend anfühlte. Dann wurde ihr mit Verzögerung bewußt, wie sehr sie es genoß, Schmeicheleien wie »aufregend, so eng wie möglich zusammenzuarbeiten« aus einem Mund zu hören, der ihrem eigenen so nahe war. Der Eisberg des Begehrens, der seit Matteos Tod tief in ihrem Innern entstanden war, erhielt plötzlich gefährliche Risse.

Erst als er sie murmelnd über ihr Haus ausfragte – ob sie E-Mail hatte, ob es nur ein Musikzimmer gab, ob er ungestört sein konnte, denn schließlich brauche er seine Privatsphäre, und ob sie eine komplette Tonausrüstung besaß, wurde die Stimme dicht an ihrem Ohr vom Schrillen der Alarmglocken in ihrem Kopf übertönt, die ihr sagten: FINGER WEG! FINGER WEG! FINGER WEG! Sie wich zurück, unsicher, ob Herves Vorschlag in seinem unverblümten Opportunismus erfrischend aufrichtig oder eine Beleidigung für ihre Intelligenz war.

»Wir können in meinem Haus arbeiten«, sagte sie. »Dort sind die Bedingungen perfekt. Aber ich werde Ihnen eine andere Unterkunft suchen. Für den Anfang.«

Und jetzt stand sie im Wort. Ihm selbst schienen solche praktischen Überlegungen bis zu jenem Moment fremd gewesen zu sein, und nun hatte sie sich, bloß weil sie so leicht zu beeindrucken war, diese Aufgabe aufgehalst. Genauso wie Miss Stummbein ihm die Aufgabe abgenommen hatte, seine Sargnägel anzuzünden, dachte sie wütend. Wie zum Teufel konnte ihr das passieren? Wie? Aber sie würde nur kostbare Zeit vergeuden, wenn sie die Hände in den Schoß legte und es ihm überließ, sich nach seiner Ankunft selbst ein Quartier zu suchen, oder wenn er verdrießlich reagierte, weil er nicht bei ihr wohnen konnte. Schließlich haßte er Hotels! Also: »Private Luxusherberge für anspruchsvollen ausländischen, häuslich hilflosen, reichen und berühmten Komponisten gesucht. Wird vermutlich ohrenbetäubenden elektronischen Krach machen oder machen lassen.« Sie mußte sich schleunigst etwas einfallen lassen.

Und morgen würde sie sich einem noch dringlicheren Problem gegenübersehen. Sie dachte an Medlar Cottage und wie sehr sie sich wünschte, wieder durchs Haus zu streifen, zu spüren, wie Körper und Seele in der Umarmung jedes einzelnen Raums zur Ruhe kamen. Sie malte sich die Einrichtung von Medlar Cottage aus, unberührt vom ewigen Wechsel zwischen Tag und Nacht, die Uhren, die stehengeblieben waren, und den weit geöffneten Kühlschrank. Selbst die unebenen Stufen der Treppe, jede quietschende Tür, jede kleine zugige Ecke und Ritze waren Kennzeichen einer zerbrechlichen Vertrautheit, die ihr Haus besaß, und sie hoffte, daß in ihrer Abwesenheit nichts in Vergessenheit geraten und ihr fremd geworden war. Was war, wenn sie über ihre eigene Türschwelle schritt und statt des häuslichen Friedens, nach dem sie sich sehnte, wieder nur die schwelende Einsamkeit eines Hotels vorfand? Sie war seit fast zwei Monaten nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden gewesen und fühlte sich nun außerstande, sich ihnen allein zu stellen.

Sie griff zum Hörer und rief Andrew in England an, wo es jetzt vier Uhr morgens war.

KAPITEL 4

»Ei?«

»Wie bitte?«

»Ob du ein Ei magst!«

»Ja, gern. Willst du auch eins?«

»Ob ich was will?«

»Ein Ei.«

»Nein danke, ich glaube nicht. Es sei denn –«

Ach du meine Güte, dachte Andrew und biß die Zähne zusammen. Sie wird bestimmt als nächstes sagen, es sei denn, es macht dir nichts aus, sie zu kochen.

»Es sei denn, es macht dir nichts aus, sie zu kochen.«

»Warum kriegt Daddy jetzt dauernd Eier?«

Natalie und ihre Brüder blickten von ihren Schüsseln hoch, die auf der Frühstückstheke standen.

»Kann ich auch ein Ei haben?«

»Eier sind doof. Ich will Toast.«

»Ihr habt Müsli. Beeilt euch. Und dann ab Marsch zum Zähneputzen.«

Die Kinder mümmelten gehorsam an ihren Honigpops und traten sich halbherzig gegen die Knöchel, während sie sich stumm fragten, ob das die Ich-meine-es-ernst- oder Laßt-mich-endlich-in-Ruhe-Stimme war.

»Habe ich letzte Nacht das Telefon läuten gehört?«

»Ja. So gegen vier.«

»Mußtest du noch mal weg? Ich hab gar nicht gemerkt, wie du aus dem Haus gegangen bist.«

Andrew sprach mit leiser Stimme und wandte den Kindern den Rücken zu. »Valerie, ich dachte, die Kinder sollten nicht wissen, daß ich im Gästezimmer übernachte! Wieso weißt du nicht, daß ich dienstlich weg mußte, wo sich doch das Telefon in unserem Schlafzimmer befindet!«

»Oh, red ruhig lauter, das verstehen sie noch nicht«, sagte Valerie und warf einen flüchtigen Blick zur Frühstückstheke hinüber. Die Kinder kauten fleißig und sahen sie ausdruckslos an. »Und jetzt Zähne putzen, ihr drei, habt ihr gehört? Und zwar gründlich.«

»Warum schläft Daddy im Gästezimmer?«

»Kriegt er deshalb ein Ei?«

»Müsli ist doof.«

»Jetzt reicht's!« sagte Valerie und trat drohend näher; kein Zweifel, sie meinte es ernst. Das Trio stob auseinander wie die Geier, die von den traurigen Überresten ihrer morgendlichen Beute verscheucht wurden. Als sie weg waren, wandte sie sich Andrew zu. »Also? Was war los? Mußtest du noch einmal dienstlich weg?« Andrew seufzte. »Nein.«

»Die Sache ist ja wohl auch so schlimm genug, ich meine, diese Geschichte mit der Briefbombe. Arme Frau.«

»Hmm.«

»Es reicht doch, wenn man dich am Feiertag anruft! Wieso müssen sie dich um vier Uhr morgens aus dem Haus scheuchen?«

»Gestern gab es einen Notfall. Die Sanitäter meinten, daß es sich um ein Verbrechen handeln könnte, und der diensthabende Arzt in der Notaufnahme der Klinik rief bei uns an. Eine Explosion verstößt schließlich gegen das Gesetz und deutet möglicherweise auf ein Attentat von Terroristen hin. Da gilt es, unverzüglich zu handeln.«

»Ach, hör auf, mir solchen Stuß über Notfälle zu erzählen! Warum sollte die IRA eine fünfundsiebzigjährige alte Jungfer in die Luft jagen?« erwiderte Valerie ungeduldig.

»Ich habe nicht gesagt, politische Terroristen. Die konnten wir ziemlich schnell als mutmaßliche Täter ausschließen. Aber irgend jemand hat der alten Dame eine Briefbombe geschickt, die in ihren Händen explodiert ist, selbst wenn die Folgen nicht auf der Stelle tödlich waren. Das ist in meinen Augen ebenfalls eine Form von Terrorismus.«

»Also, wer war's?«

»Keine Ahnung, aber es sieht nicht so aus, als ob es sich um einen Irren handelt, der sich aufs Geratewohl seine Opfer sucht. Wahrscheinlicher ist –«

»Wer am Telefon war, Andrew! Um vier Uhr morgens.«

»Oh. Ähm. Das war Sara.« Beinahe wäre es ihm nicht mehr gelungen, einen gleichgültigen Ton anzuschlagen. »Sie ist in New York. Angeblich hat sie den Zeitunterschied vergessen, aber du weißt ja, wie sie ist.« Seine Stimme versagte, als er sich räusperte. Er erinnerte sich an ihre tränenumflorte Stimme und fühlte sich elend, wie ein treuloser Verräter. Aber Valerie durfte nicht merken, welche Gefühle er immer noch für Sara hegte. Sie bestrafte ihn auch so schon genug für den nichtexistenten Seitensprung, für eine Affäre, die Sara und er um ein Haar (zu seinem Bedauern nur um ein Haar) gehabt hätten.

»So so, kein Irrer, der sich aufs Geratewohl seine Opfer sucht, sondern deine kleine Schlampe.« Valerie drehte sich zum Herd um und begann, Andrew ein Ei zu kochen. Andrew nahm Platz und schlug die Zeitung auf. Sich damit zufriedenzugeben war typisch für die neue Valerie, die beträchtliche Zurückhaltung übte, und er wußte, er sollte ihr dafür eigentlich Anerkennung zollen. Vor drei Monaten hatte sie sich endlich bereit erklärt, seine Beteuerungen zu akzeptieren, daß es nie eine Affäre gegeben hatte und daß er nicht ausgezogen war, um mit Sara zusammenzusein. Auf dieser Basis hatte Valerie ihm erlaubt, wieder einzuziehen, allerdings nicht in ihr Schlafzimmer, weil sie mehr Freiraum für sich brauchte (ihre Version). Als er merkte, wie seine Kinder in den Wochen nach der Trennung immer aufsässiger wurden, hatte Andrew ihrem Drängen nachgegeben, es noch einmal miteinander zu versuchen, auch wenn er sich im Gästezimmer einquartierte, weil er nicht mit ihr schlafen wollte (seine Version). Wie viele Paare lernten sie nur langsam, rücksichtsvoller miteinander umzugehen. Sie hatten tatenlos zugesehen, wie sie sich einander zunehmend entfremdeten, und Andrews Cellostunden bei Sara Selkirk waren weder damals noch heute das Problem. Es ging vielmehr darum, gemeinsame Interessen zu pflegen und Spaß miteinander zu haben (ihrer beider Version).

Es war die neue, auf Spaß bedachte Valerie, die ihnen die Suppe mit der Circus Opera Group eingebrockt hatte. »Uns beiden. Sie haben betont, daß jeder, der singen kann oder ein Instrument beherrscht, willkommen ist, auch ohne eine Kostprobe des Könnens.«

»Ich hasse Musicals«, hatte Andrew bockig gesagt, wieder in den alten Ehetrott zurückfallend. »Und ich werde nicht singen.«

»Erstens handelt es sich nicht um ein Musical, sondern um eine komische Oper. Und zweitens keine Bange, ich werde singen. Du spielst Cello. Du wirst sehen, es wird Spaß machen.«

Obwohl es ganz neu war, daß Valerie einmal nicht wegen seines Cellospiels schmollte, reichte der Gedanke an die komische Oper beinahe aus, um sich wieder aus dem Staub zu machen. Er brauchte weder Komik noch Oper, sondern nur so viele Cellostücke aus dem neunzehnten Jahrhundert, wie er in die Finger kriegen konnte, und Zeit, um sie zu üben. Und Sara. Aber er wußte, es gab keine Verteidigungsstrategie gegen das erste und wichtigste Gebot, daß er und Valerie Spaß miteinander hatten. Gleichzeitig rechnete er sich aus, daß er Überstunden vorschützen konnte, um sich den meisten Proben ungestraft zu entziehen. »Na gut, in Gottes Namen, solange ich nicht singen muß«, hatte er schicksalsergeben gesagt.

Valerie hatte sich mittlerweile zu einem der »unentbehrlichsten Mitglieder im Opernensemble« gemausert und benutzte oft den Ausdruck »kleine Schlampe«, wenn sie in Andrews Gegenwart von Sara sprach. Andrew hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, die Zähne zusammenzubeißen und sie reden zu lassen: Je forscher Valerie über Sara vom Leder zog, desto eher würde es ihm möglich sein, Sara auch weiterhin zu sehen, sobald sie zurück war, natürlich nur zum Unterricht. Valerie hatte sogar die Idee gehabt, Sara könne vielleicht jemanden empfehlen, der die Oper schrieb. »Kennt sie nicht Hinz und Kunz? Bestimmt kannst du sie überreden, einen netten jungen Komponisten für uns zu suchen, wenn du dir Mühe gibst.«

Widerstrebend hatte Andrew das Anliegen erwähnt, unmittelbar bevor Sara zu ihrer sechswöchigen Tournee aufgebrochen war, die gerade zu Ende war. »Natürlich, ich kenne viele Leute, aber ich bin der Meinung, ein alteingesessener Bather Bürger sollte sie komponieren, zumal sie ja in Bath spielen soll«, hatte sie gesagt. »Hör zu, ich bin gerade beim Packen. Aber ich werde darüber nachdenken.« Bis gestern nacht war es das letzte Mal gewesen, daß er mit ihr gesprochen hatte. Er blätterte die Zeitung um.

»Hat sie schon was wegen des Komponisten unternommen?« fragte Valerie, als ob sie Gedanken lesen könnte. Sie strich mit einer so heftigen Bewegung Butter auf den Toast, als wollte sie das Brot in der Luft zerreißen. »Das Ensemble trifft sich heute abend wieder. Allmählich läuft uns die Zeit davon.« Das Ensemble hatte drei Monate mit Geträller und nutzlosem Hickhack über das Thema der mutmaßlichen Oper verplempert, bevor die Sommerpause anberaumt wurde. Die Meinungen waren geteilt, ob Jane Austen oder die römischen Aquädukte im Mittelpunkt stehen sollten. Andrews Beitrag zur hitzigen Debatte hatte in dem Hinweis bestanden, daß Jane Austen zum einen Bath gehaßt hatte und daß er zum anderen hoffe, niemand werde ernsthaft von ihm erwarten, in eine Toga gehüllt Cello zu spielen.

»Mit Sicherheit«, sagte Andrew, ohne die Zeitung aus der Hand zu legen. »Ich hab sie allerdings nicht danach gefragt. Unser Plauderstündchen war abrupt beendet, sobald ich sie auf die Uhrzeit hingewiesen hatte.«

Er blätterte wieder um. »Sie wollte mich lediglich bitten, einen meiner Leute nach Medlar Cottage zu schicken, um zu überprüfen, ob dort alles in Ordnung ist. Hatte panische Angst, in ein Haus zurückzukehren, das von Einbrechern leergeräumt wurde«, log er.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Beinahe acht. Noch zwölf Stunden, in denen er sich so normal wie möglich verhalten mußte.

»Und ihr Anruf kam gerade zur rechten Zeit, gewissermaßen. Sie kennt die Bewohner des Apartments, das sich über der Wohnung von dieser Bevan befindet. Sie sind unterwegs, aber natürlich wollen wir mit allen Nachbarn sprechen. Sara hatte zufällig eine Nummer, unter der sie zu erreichen sind.« Er ließ die Zeitung sinken. »Hör mal, ich werde versuchen, heute abend zur Probe zu kommen. Aber diese Briefbombe wird eine Zeitlang Vorrang haben. Es gibt viel zu tun. Wir haben keine offenkundig Verdächtigen. Wir müssen eine Menge Leute zum Tathergang befragen, und zwar so schnell wie möglich. Ich werde mein Bestes tun, aber rechne besser nicht mit mir. Alles klar?«

Valerie schnitt eine Grimasse, die Verständnis andeutete, und Andrew hatte eine geschlagene Sekunde lang ein schlechtes Gewissen. Aber es waren nur noch zwölf Stunden, bis er sie wiedersehen würde, bis sie aus dem Flugzeug steigen und die Ankunftshalle betreten würde. Sie war bestimmt völlig erledigt nach dem langen Flug, beladen mit Gepäck und Cellokasten, aber trotz alledem die schönste Frau weit und breit. Sie würde sich verloren fühlen und insgeheim nach ihm Ausschau halten, und sobald sie ihn erspäht hatte, würde die bange Besorgnis in ihrem Gesicht wie weggeblasen sein. Sie würde ihm lächelnd entgegeneilen, mit freudig überraschter Miene, auch wenn sie ihn gebeten hatte, am Flughafen zu sein. Und natürlich würde er sie abholen, weil er es kaum noch erwarten konnte, sie in die Arme zu schließen und nach Hause zu bringen.

»Es geht hier nicht um einen lumpigen Pelzmantel. Es geht um das Thema Ausbeutung der Natur. Unschuldige Tiere werden zur Ware degradiert. Ich bin zufällig der Überzeugung, daß es wichtig ist, dagegen zu kämpfen.« Als sie geendet hatte, riß Anna Ward-Pargiter die Augen hinter der Brille auf, holte tief Luft und preßte die Lippen zusammen. Damit unterdrückte sie für den Augenblick das Zittern, das ihr Kinn befallen hatte, aber nach ein paar Minuten war es wieder da, dieses unwillkürliche Zusammenziehen der Muskeln, das ihre Lippen schürzte und ihre Kehle zuschnürte. Sie hob die Hand, packte ihr Kinn fest zwischen Daumen und Zeigefinger und blickte starr zur Decke empor. Sie versuchte, mit einem Blinzeln die Flüssigkeit zu vertreiben, die sich in ihren Augen sammelte. Nun machte dieses Zeug auch noch Anstalten, an ihrer Nase herunterzulaufen, und unsichtbare Drähte schienen ihre Mundwinkel herabzuziehen. Mist, Mist, Mist, Mist, Mist ... sie würde gleich heulen.

Andrew tauschte einen vielsagenden Blick mit WDC Frayling, die das Signal auffing und ruhig einwarf: »Alles in Ordnung, Anna? Sollen wir aufhören? Kein Problem, wir können gern eine kleine Pause machen, wenn du möchtest.«

Anna stellte fest, daß es unmöglich war, mit dem Schlucken und Schniefen aufzuhören, wenn man einmal damit angefangen hatte. Sie stand völlig auf dem Schlauch. Bren hatte gesagt, alle Bullen sind Schweine. Und jetzt stellte sich heraus, daß diese Schweine eigentlich ganz in Ordnung waren. Sie nahm ihre Brille ab, suchte blind nach einem Taschentuch, fand keines, ließ den Kopf auf die Arme sinken, die sie auf dem Tisch verschränkt hatte, und heulte Rotz und Wasser wie eine Dreijährige. Mist, jetzt lief ihr das Zeug auch noch über die Ärmel.

»Anna, du hast uns schon richtig verstanden, oder?« fuhr WDC Frayling fort. »Du wirst als Zeugin vernommen, nicht als Verdächtige. Du bist nicht verhaftet. Und ich weiß, daß du gesagt hast, du willst nicht von deinen Rechten Gebrauch machen, aber du kannst es dir immer noch überlegen und das Telefon benutzen, um jemanden zu benachrichtigen, daß du hier bist. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man seine Meinung ändert.«

Anna klappte immer zusammen, sobald jemand nett zu ihr war. Seit Mum sie verlassen und die Scheidung eingereicht hatte, hatte sie sich kleingemacht. Sie wußte, daß man einen Teil des Selbst so verknäueln mußte, daß er kaum Platz einnahm, damit man vergessen konnte, daß es ihn überhaupt gab, genauso, wie sie es im Internat mit den Schlüpfern gemacht hatten. Die winzige Kommodenschublade, die man zugeteilt bekam, reichte locker aus, wenn man jeden Schlüpfer zu einem harten kleinen Springball zusammenrollte, aber es herrschte Chaos, wenn man die Knäuel entwirrte. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie ein weiterer Fall für die Statistik »Kind geschiedener Eltern« war. Aber es brachte nichts, deswegen zu heulen. Alles war bestens gewesen, bis der Hausdrachen im Internat sie wegen der schlechten Noten zu sich zitiert und statt der erwarteten Strafpredigt mit sanfter Stimme gefragt hatte, wie sie mit der Situation zurechtkam. Sie war nicht einmal mehr dazu gekommen, »bestens« zu sagen, bevor ihr die Tränen gekommen waren. Und jetzt ging diese blöde Heulerei schon wieder los. Gott sei Dank war Bren nicht da, der sie verachten würde, weil sie ein solcher Jammerlappen war.

Als der Stuhl plötzlich auf dem Boden entlangscharrte, schreckte sie hoch. DCI Poole war aufgestanden und ragte drohend vor ihr auf. Er war sehr groß und sah überdies ziemlich stark aus. Die Polizistin lehnte sich entspannt in ihrem Stuhl zurück und wartete. Jetzt kapierte Anna. Der Mann griff in seine Tasche, vermutlich, um die Handschellen herauszuholen. Der weiche Teil in ihrem Innern, der sich aus dem Knäuel gelockert und sie zum Weinen gebracht hatte, verhärtete sich wieder und verwandelte sich in eine kleine hochexplosive Landmine, die jeden Moment detonieren konnte. Mist. Diese perverse Bullenzicke hatte wahrscheinlich ihren Spaß daran, zu beobachten, wie Leute fertiggemacht wurden. Genau davor hatte Bren sie gewarnt. Jetzt bekam sie die Quittung. Sie sprang auf, um abwechselnd zu kreischen und zu schluchzen.

»Ich bin minderjährig! Ich habe meine Rechte! Rühren Sie mich ja nicht an, sonst können Sie was erleben!« Sie wurde von schallendem Gelächter unterbrochen, das aus dem Mund des verdatterten DCI Poole kam. Er hatte die Suche in seinen Taschen beendet und setzte sich wieder hin, um ihr nun aus sicherer Entfernung ein penibel zusammengefaltetes weißes Taschentuch zu reichen.

»Was für ein Glück, daß ich noch ein sauberes habe«, sagte er weniger zu Anna als zu WDC Frayling. »Hier.«

Anna nahm ebenfalls wieder Platz, schnappte das Taschentuch, bedankte sich flüsternd und barg ihr Gesicht darin. Nach einigen Minuten des Schweigens tauchte sie wieder aus den Falten auf; sie sah ruhiger aus, als hätte sie ihre Nase in eine riesige weiße Blüte mit betäubendem Aroma gesteckt. Dann entdeckte sie eine unbenutzte Taschentuchecke, rubbelte damit ihre Brille trocken, setzte sie wieder auf und sah schniefend zu DCI Poole empor. Er hatte auch braune Augen. Und nicht nur die Farbe, sondern noch etwas anderes erinnerte sie plötzlich an ihren Dad. Ihr Gesicht verschwand wieder im Taschentuch. Wie es Dad jetzt wohl gehen mochte?

»Thema hin oder her, ich möchte noch einmal auf den Pelzmantel im Oxfam-Laden zurückkommen. Du hast ihn am Dienstagmorgen, den 25. August, ungefähr gegen viertel nach zehn betreten, richtig? Was ist dort passiert?«

Anna schluckte. »Wir sind an dem Laden vorbeigekommen. Ich hab nur kurz reingelugt, und Bren ist weitergegangen. Dann hab ich den Mantel gesehen und ihn gerufen.«