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Als der eigensinnige Kommissar Horst Kräuming 1976 zum LKA in Westberlin versetzt wird, ahnt er nicht, dass er geradewegs in den kompliziertesten Fall seiner Karriere hineinstolpert. Der angesehene Arzt Dr. Heinrich Sellmann wird auf brutale Weise hingerichtet. Im Mund des Toten findet man gefälschte britische Pfundnoten aus dem Zweiten Weltkrieg. Als Kräuming erfährt, dass das Opfer der SS angehörte, folgt er der Spur der Vergangenheit. Mithilfe der attraktiven Historikerin Dr. Andrea Grabes versucht er, das Rätsel um die Blüten zu lüften und weitere Morde zu verhindern. Widerständen von Altnazis und Behörden zum Trotz enthüllt Kommissar Kräuming nach und nach eine packende Geschichte von Mord, Intrigen und nie gesühnter Schuld.
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Seitenzahl: 704
Veröffentlichungsjahr: 2025
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STEPHAN HÄHNEL, 1961 in Berlin geboren, ist Schriftsteller und Kinderbuchautor. Er gilt als »Meister des schwarzen Humors«, ist Initiator des Berliner Krimimarathons und hat ihn vier Jahre lang geleitet. Im Jaron Verlag veröffentlichte er bereits zwei Krimis um den eigenwilligen Ermittler Morgenstern und verfasste einen Titel der Reihe »Es geschah in Berlin« (»Geschwisterliebe«).
Stephan Hähnel
Des Teufels Heizer
Kriminalroman
Jaron Verlag
1. Auflage 2025
Jaron Verlag GmbH, Erdmannstr. 6, 10827 Berlin
info@jaron-verlag.de
www.jaron-verlag.de
© 2025 Jaron Verlag GmbH, Berlin
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Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
ISBN 978-3-95552-081-6
Cover
Titel
Impressum
Prolog: Donnerstag, 3. Mai 1945
Teil 1
Dienstag, 3. August 1976
Mittwoch, 8. September 1976
Donnerstag, 9. September 1976
Freitag, 10. September 1976
Sonnabend, 11. September 1976
Sonntag, 12. September 1976
Montag, 13. September 1976
Dienstag, 14. September 1976
Mittwoch, 15. September 1976
Teil 2
Donnerstag, 3. Mai 1945
Donnerstag, 16. September 1976
Freitag, 17. September 1976
Sonnabend, 18. September 1976
Sonntag, 19. September 1976
Montag, 20. September 1976
Dienstag, 21. September 1976
Mittwoch, 22. September 1976
Donnerstag, 23. September 1976
Freitag, 24. September 1976
Sonnabend, 25. September 1976
Teil 3
Sonntag, 26. September 1976
Montag, 27. September 1976
Dienstag, 28. September 1976
Mittwoch, 29. September 1976
Donnerstag, 30. September 1976
Freitag, 1. Oktober 1976
Epilog: Sechs Monate später
Die Frau war jünger. Zwei, drei Jahre. Anfang dreißig, schätzte er. Wie er befand sie sich auf der Flucht. Auch sie hatte nichts mehr zu verlieren. Die Frau wirkte erschrocken, desillusioniert, aber nicht ängstlich.
Plötzlich stand sie auf der Lichtung, kaum vier Meter von ihm entfernt, und starrte ihn an. Zeugen waren das Letzte, was er gebrauchen konnte. Offiziell sollte er von diesem Tag an als verschollen gelten.
Routiniert entsicherte er die Waffe, zielte auf ihr Gesicht, zögerte.
Er dachte nach. Wäre es möglich? Ein Neuanfang? Mit einem fremden Menschen? War das die Lösung? Ein verwegener Gedanke. Eine verzweifelte Eingebung. Als Paar würden sie kaum auffallen. Gemeinsam ist man weniger verdächtig.
Ein tiefes, brummendes Dröhnen näherte sich unaufhaltsam, begleitet von einem metallischen Rasseln. Der Mann schaute nervös in Richtung des Waldes. M4-Sherman-Panzer. Die Amerikaner fuhren die Landstraße in Richtung Schwerin hinauf.
Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Abwägend betrachtete er die Frau. Sie hielt seinem Blick stand. Er sicherte die Waffe und warf sie weg.
Der Mann streckte die Hand aus.
»Du willst leben? Lass es uns gemeinsam versuchen.«
Utz Brunner wusste sofort, dass es ein Schuss war, der ihn geweckt hatte. Zweifelsfrei keine Fehlzündung eines Autos, das die schmale Straße von Bern nach Lützeflüh entlangschlich. Um einen verspäteten Silvesterböller handelte es sich ebenfalls nicht. Eine Jagdwaffe hörte sich anders an. Die Patentjagd im Kanton Bern hatte zwar gerade begonnen, erlaubte aber nur bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang die Schussabgabe auf Wildschweine. Brunner besaß eine Lizenz und hätte allein am Klang des Schusses ein Jagdgewehr erkannt. Kein Zweifel, es war eine Pistole. Ein trockener, harter, kompromissloser Ton. Nicht einmal besonders laut.
Die Nähe beunruhigte ihn. Der Schuss war kaum einhundert Meter entfernt abgegeben worden. Er überlegte kurz und ließ sich die Umgebung durch den Kopf gehen. Zempbauers Stallung, entschied er. Langsam richtete sich Brunner auf und betrachtete die Frau, die nur halb zugedeckt auf der anderen Bettseite lag. Sie schien nichts mitbekommen zu haben und schniefte leise vor sich hin. Dunja Petrović war für seine medizinische Betreuung gebucht worden. Sie stammte aus einem hinterwäldlerischen Kaff in Jugoslawien, sprach nur gebrochen Deutsch und hatte das Arbeiten wahrlich nicht erfunden. Empathie stand nicht in ihrem Arbeitsvertrag. Brunner war für die Gleichgültigkeit, mit der sie seiner Krankheit begegnete, überaus dankbar. Mitleid war ihm zuwider. Er gewährte auch keines. Hatte er nie. Abgesehen davon besaß die unscheinbare Vierzigjährige üppige weibliche Formen und zeigte sich offen für zusätzliche Dienstleistungen. Für Sex fühlte er sich zu alt, aber wenn es ihn danach verlangte, durfte er Hand bei ihr anlegen. Die verheiratete Frau, Mutter von drei Kindern, die aus einem winzigen Dorf unweit von Dubrovnik kam, war warm, weich und unkompliziert. Ein Agreement zum gegenseitigen Vorteil. Er musste die Nacht nicht mehr allein verbringen. Dunja verdreifachte ihren Verdienst, steuerfrei. Günstiger ging es nicht.
Dass er von allen möglichen Krebsarten den vermeintlich aggressivsten bekommen hatte, empfand er als Ironie des Schicksals. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Erst hatte er es für einen albernen Scherz seines Arztes gehalten, aber weitere Untersuchungen im Universitätsspital Bern ließen keinen Zweifel zu. Metastasen durchzogen gnadenlos seinen Körper. Die bittere Erkenntnis: Nicht alles, was von allein kommt, geht auch wieder von allein. Die üblichen Therapien wurden als wirkungslos ausgeschlossen. Für ganzheitliche Alternativen fehlte ihm der Glaube.
Utz Brunner war vierundsiebzig, sein Körper für schwere Eingriffe zu verbraucht. Die Laster – Rauchen und Trinken – hatten ihren Tribut gefordert. Er akzeptierte das, beschloss jedoch schon beim Verkünden der Diagnose, daran auch künftig nichts mehr zu ändern. Zu spät hatte er sich medizinisch durchchecken lassen. Die Konsequenzen nahm er unbeeindruckt zur Kenntnis. Konjunktive waren etwas für Träumer oder Feiglinge. Sein Arzt schätzte drei Monate, vielleicht weniger. Dank pharmazeutischer Fortschritte könne er die Schmerzen bis zum Schluss einschränken. Genug Zeit, um persönliche Angelegenheiten zu klären.
»Zählt die Auswahl eines Grabsteins dazu?«, hatte Brunner mit giftigem Lächeln gefragt und ergänzt: »Die passende Inschrift hätte ich schon: Lach nicht. Du bist der Nächste!«
Die Frau schnarchte, nicht allzu laut, aber gleichmäßig. Dunja schwor auf Baldriantee vor dem Schlafengehen. Offensichtlich wirkte das Zeug wie auf der Packung versprochen. Er selbst besaß einen flachen Schlaf. Vertrauen hatte nie zu seinen Stärken gehört, Misstrauen schon. Wenn sein Körper aufschreckte, gab es einen guten Grund. Ein Schuss war ein guter Grund. Brunner wandte den Blick von den kräftigen Schenkeln der Frau ab und lauschte. Es war ruhig, nichts Ungewöhnliches zu hören. Vorsichtig erhob er sich, schlüpfte in seine Latschen und schlurfte ans Fenster. Es war eine warme Sommernacht, die Fensterflügel standen weit offen. Durch den schmalen Spalt der Gardinen betrachtete er die Stallungen am Rande seines Grundstücks. Die hatte Alois Zempbauer vor fünfundzwanzig Jahren gegen seinen ausdrücklichen Willen direkt an der Grundstücksgrenze bauen lassen.
»Willst du den Garanten deines Erfolgs verklagen?«, hatte Zempbauer lachend gefragt, sich dann, ohne eine Antwort abzuwarten, umgedreht und war weggegangen. Nein, Freundschaft verband die beiden nicht. Nicht einmal annähernd. Eher die Notwendigkeit, einander zu dulden. Seit Ende des Kriegs hüteten Alois Zempbauer und Utz Brunner das gleiche dunkle Geheimnis. Deshalb hatte er trotz seiner Wut damals nichts gegen die illegale Errichtung der Stallungen unternommen. Juristische Aufmerksamkeit war das Letzte, was er nach dem Krieg gebraucht hätte. Auch störten ihn die Bauten nicht wirklich. Nur war Kleinbeigeben nie sein Ding gewesen.
Sein griesgrämiger Nachbar liebte Pferde. Besonders die alten Rassen. Ardenner, Noriker, Schwarzwälder Fuchs. Allesamt Kaltblüter. Eine Familie besaß er nicht. Die meiste Zeit verbrachte Zempbauer mit den Vierbeinern. Pferde achtete er definitiv mehr als Menschen.
Angestrengt starrte Brunner zur Grundstücksgrenze. In den Stallungen brannte Licht. Lange Schatten bedeckten den Auslauf. Verwundert schaute er auf seine Uhr. Obwohl es eine warme Nacht war, fröstelte ihn. Möglicherweise Nebenwirkungen der Medikamente. Die Zeiger standen auf kurz nach drei. Um diese Zeit schliefen auch Kaltblüter. Keine der Stuten war trächtig. Gestern hatten sie noch friedlich auf der Weide gegrast. Unwahrscheinlich, dass eines der Tiere plötzlich erkrankt war. Aus dem obersten Schubfach seines Nachtschränkchens nahm Brunner einen Feldstecher. Dunja drehte sich auf die Seite, schmatzte ein wenig und schlief weiter. Einen Moment wartete er, dann richtete er das Fernglas auf das Stalltor. Einer der Flügel stand offen und bewegte sich leicht. Der Wind spielte mit ihm. Alles wirkte verlassen. Nachdenklich setzte er das Fernglas ab. Etwas stimmte nicht. Was immer geschehen war, es konnte nichts Gutes bedeuten.
Utz Brunner beschloss, auf seinen Bauch zu hören. Fakten waren das Fundament der Wahrheit, Instinkt der Kraftstoff seines Erfolgs. Sein Leben lang hatte er abwägen müssen: Sicherheit oder Risiko? Schon als junger Mann vermochte er das Gleichgewicht zwischen beiden Prinzipien perfekt auszuloten. Es war eine seiner Stärken zu wissen, wann er welchem Impuls nachgeben musste. Dass er auf ein erfolgreiches Leben zurückblicken konnte, verdankte er dieser Fähigkeit. Und die riet ihm in dieser Nacht, dem Grund des Schusses nachzugehen.
Kommissar Horst Kräuming nannte es unverhohlen Strafversetzung. Kriminalrat Hein Tröger, Referatsleiter beim Bundeskriminalamt und verantwortlich für den Kampf gegen international organisierte Rauschgiftdelikte, umschrieb es nordisch knapp mit Arschrettung.
Kräuming hatte in einem unbedachten Moment dem renommierten Bundestagsabgeordneten Ullrich Brunkau mehrere deftige Ohrfeigen verpasst, völlig berechtigt, wie er fand.
Kriminalbeamte des BKA hatten den Abgeordneten bei einem Routineeinsatz gegen den organisierten Rauschgifthandel im Zimmer einer Prostituierten angetroffen. »In keiner eindeutig geschlechtsverkehrrelevanten, praktizierenden Stellung«, wurde später im Protokoll ergänzt.
Brunkaus Besuch im Erotiktempel Crazy Sexy, dem ersten offiziellen Puff im Frankfurter Bahnhofsviertel, wurde als Missverständnis abgetan. Die Chefetage nannte es »glaubhaft«, dass der CDU-Politiker sich im Rahmen der Neufassung künftiger Prostituiertengesetze über typische Kiezprobleme vor Ort erkundigen wollte. Dass der Kerl eine bitterlich weinende Minderjährige quer auf dem Schoß liegen hatte und ihr lustvoll den blanken Allerwertesten mit einem Holzlineal versohlte, als wäre er ein gestrenger Lehrer, wurde geflissentlich übergangen. Kräumings Ohrfeigen nicht.
Das Mädchen war drogenabhängig und bereit, für den nächsten Schuss die skurrilen Vorlieben des Kunden zu ertragen. In den fünf Jahren beim BKA hatte Kräuming weitaus schlimmere Dinge gesehen. Die Situation eskalierte erst, als er den Ausweis des Freiers prüfte und feststellte, dass es sich um ein Mitglied des Bundestages handelte. Seine laxe Bemerkung, er freue sich außerordentlich, einen Repräsentanten des Volkes kennenzulernen, auch wenn dieser eine moralische Null sei, veranlasste Brunkau, ihm unverhohlen zu drohen. Mit einem Höchstmaß an Überheblichkeit verwies er darauf, dass er als Abgeordneter des Bundestages Immunität genieße. Sollte über seine Freizeitgestaltung eine Andeutung an die Öffentlichkeit gelangen, würde das das Ende von Kräumings Karriere bedeuten. Der quittierte diese Drohung mit einem süffisanten Lächeln, was Brunkau umso mehr reizte. Selbst die folgenden Schimpftiraden, er sei ein dummer, arroganter Junge, noch feucht hinter den Ohren, der sich um seinen Kram kümmern solle, steckte der junge Kommissar problemlos weg. Als aber der Politiker das völlig verstörte Mädchen fest am Arm packte und mit erhobener Hand aufforderte, gefälligst auszusagen, dass sie ihn mit ihrem Alter angelogen habe, schritt er ein. Es kam zu einem kurzen Gerangel, in dessen Folge Kräuming dem Abgeordneten drei schallende Ohrfeigen verpasste. Rechts, links, rechts. Zweimal Vorhand, einmal Rückhand, hatte er in seiner Stellungnahme vermerkt. Eindeutig eine Kurzschlussreaktion. Für einen Beamten inakzeptabel, aber in jenem Moment hatte Kräuming seine Reaktion durchaus als wohltuend empfunden.
Ihn wegen dieses Vergehens mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendieren zu wollen, war komplett überzogen. Sicher, er hatte die Beherrschung verloren, aber das war nur der vorgeschobene Grund. Kräuming hatte Feinde in der Führungsetage des BKA, die in seinem Aussetzer eine gute Gelegenheit sahen, ihn schnellstmöglich loszuwerden.
Trögers Andeutung, die Ehefrau des Politikers als Zeugin befragen zu wollen, verhinderte das Schlimmste. Zähneknirschend ruderte der sich unantastbar gebende Abgeordnete zurück. Er verspürte kein Interesse, seine Ehe einem Stresstest zu unterziehen.
Um ein Disziplinarverfahren kam Kräuming dennoch nicht herum. Tröger hielt es daher für angebracht, seinen Schützling vorerst aus der Schusslinie zu nehmen. Ein Freigeist wie Kräuming, der kein Blatt vor den Mund nahm, auf Äußerlichkeiten wenig Wert legte und Hierarchien als überholt ansah, hatte in den zumeist konservativen Reihen des BKA nicht den allerbesten Stand. Die Gruppe jener, die Kräuming mit Misstrauen begegneten, wuchs stetig. Die Liste seiner tatsächlichen und angeblichen Verstöße gegen das polizeiliche Regelwerk ebenfalls. Ginge es nach der Mehrheit der Führungsetage, dürfte Kommissar Kräuming den Rest seiner Dienstzeit in verstaubten Archiven verrotten. Tröger hatte das Dilemma erkannt.
»Wir können es uns nicht leisten, gute Kriminalisten zu verlieren«, hatte er in ihrem letzten Gespräch gesagt und ihn von oben bis unten kopfschüttelnd betrachtet. »Horst, Sie sind ein begabter junger Mann. Ihre Erfolgsquote ist beachtlich, Ihre Arroganz allerdings auch. Dummerweise haben Sie sich selbst in diese Situation gebracht. Ich missbillige den Versuch, Sie kaltzustellen. Aber offensichtlich muss man Sie vor sich selbst schützen. Ich bin Pragmatiker, Politik ist mir zuwider.«
Anfänglich hatte Kräuming das Hamburger Sie, bei dem man mit Vornamen angesprochen und gesiezt wird, als Unhöflichkeit verstanden, aber sein norddeutscher Vorgesetzter duzte grundsätzlich niemanden. Für Kriminalrat Tröger war dies das Höchstmaß an persönlicher Vertrautheit, das zu zeigen er gewillt war, machte es doch ausreichend die Distanz des Ranghöheren deutlich. Aus Respekt hatte Kräuming es schließlich akzeptiert und sich damit getröstet, es sei immer noch besser als das Münchner Du, bei dem man mit Nachnamen und du angesprochen wurde. »Horst, Sie Arschloch« klang definitiv freundlicher als »Kräuming, du Arschloch«.
»Ich habe ein bisschen meine Beziehungen spielen lassen und einen Gefallen eingefordert. Das LKA in Berlin erwartet Sie. Ich leihe Sie eine Weile aus. Die können momentan jede Hilfe gebrauchen. Seit die vier Terroristinnen ausgebrochen sind, brennt da die Luft. Bis auf Weiteres werden Sie dort eingesetzt. Horst, versauen Sie es nicht wieder!«
Gemeint war der peinliche Ausbruch von vier Mitgliedern der RAF und der Bewegung 7. Juni, die sich Anfang Juli ihren Weg aus dem Frauengefängnis in die Freiheit aus Bettlaken zusammengeknotet hatten. Die spektakuläre Aktion hatte eine beträchtliche Justizkrise ausgelöst, und die sozialliberale Koalition war kurz vor der Bundestagswahl im Nerv getroffen. Für die Opposition ein Grund zum Feiern. Für die Berliner Polizei eine Katastrophe. Trotz aller Bemühungen blieben die Terroristinnen unauffindbar.
Tröger war ein harter Knochen, ein Polizist der alten Schule, geradlinig und eigentlich unsentimental. Dass er Kräuming nicht wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, lag jedoch auch daran, dass dieser ihn an seinen Sohn erinnerte. Kaum volljährig, war der mit seinem Motorrad nachts gegen einen falsch geparkten, unbeleuchteten Hänger gerast. Genickbruch. Leiden musste er nicht. Sein Sohn wäre heute genauso alt wie Kräuming.
Egal, wie man es formulierte, strafversetzt oder Arschrettung, Lust auf die eingemauerte Stadt verspürte der Fünfunddreißigjährige nicht.
Hinter den Feldern der Magdeburger Börde stieg unaufhaltsam die Sonne auf. Bis zum Grenzübergang Dreilinden waren es keine hundert Kilometer mehr. Checkpoint Bravo nannten ihn die Alliierten. Wie schon so oft würde er in der Wartezone ausharren, bis die Grenzer endlich gewillt waren, ihn in Augenschein zu nehmen. Das Transitabkommen hatte das Reisen zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet zwar erleichtert, der sogenannte antifaschistische Schutzwall blieb dennoch ein kolonnenbildendes Ungetüm. Es gab Tage, da schaltete so mancher Fahrer den Motor aus und schob sein Auto im Rhythmus der Befindlichkeiten machtbesessener Ostbeamter Meter für Meter in Richtung Grenze.
Kräuming fuhr auf der Autobahn langsamer als vorgeschrieben, weniger aus Angst, auf der Transitstrecke in eine Radarfalle zu geraten, als vielmehr wegen jener Abneigung, die ihn mit West-Berlin verband.
Zum dritten Mal hatte er die Kassette gedreht und den Klängen von Pink Floyds Wish You Were Here gelauscht. Die Musik passte vorzüglich zu seiner Stimmung.
Vor zehn Jahren hatte er der eingemauerten Stadt den Rücken gekehrt, einer tragischen Liebe wegen. Rita. Für immer, hatte er sich geschworen.
Ob es daran lag, dass er den Grenzoffizier zu ausdauernd fixierte, lange Haare grundsätzlich Misstrauen auslösten oder das nervige Quietschen des Keilriemens als subversives Indiz gedeutet wurde – Fahrzeug und Person wurden an diesem Morgen genauer unter die Lupe genommen. Ein strenger, oft geübter Fingerzeig des Schirmmützenträgers deutete auf einen Stellplatz neben dem Abfertigungsgebäude. Dort parkte Kräuming seinen geliebten Buckelvolvo, einen PV444E Jahrgang 1954.
Am Vorabend hatten Freunde ihm empfohlen, möglichst nicht in den frühen Morgenstunden an der Grenze einzutreffen. Die Verstimmung der DDR-Oberen über die zuletzt wieder angestiegene Anzahl der Ausschleusungen, wie es im Jargon der Staatssicherheit hieß, war ausführlich im Neuen Deutschland, dem Propagandablatt der SED, besprochen worden. Vier Wochen vor der Bundestagswahl wurde unverhohlen mit der Aussetzung des Transitabkommens gedroht und mit umfassenderen Kontrollen.
Die Erfahrung besagte, der beste Zeitpunkt, um problemlos die Grenze zu passieren, sei gegen dreizehn Uhr, kurz nach dem Mittagessen. Satte Beamte sind träge Beamte. Kräuming hatte nichts darauf gegeben, zumal er sich um neun Uhr im Landeskriminalamt melden sollte. Zwar wäre es vernünftig gewesen, einen Tag früher anzureisen, aber sein Bedürfnis nach der Mauerstadt tendierte gegen null. Wiesbaden verließ er um Mitternacht, bummelte vor sich hin und haderte mit seinem Schicksal.
Wie von ihm gefordert, parkte er den betagten Volvo im festgelegten Bereich und stieg aufreizend langsam aus. Er zupfte sein ausgewaschenes T-Shirt zurecht, zog seinen Parka an, steckte lässig die Daumen in die Jeans und grinste amüsiert den Zöllner an.
»Nett, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte er. Eine Antwort blieb aus.
Normalerweise wurde nur eine Passkontrolle vorgenommen. Aber heute bestand offensichtlich ein hinreichender Verdachtsgrund, dass ein Missbrauch der Transitwege vorlag. Möglichst gleichgültig beobachtete Kräuming die Inaugenscheinnahme seines Volvos. Der Zollbeamte schlurfte strengen Blickes um den Wagen herum und gab sich Mühe, sein Missfallen durch monotone Grunzlaute zum Ausdruck zu bringen. Zuweilen trat er dicht an das Fahrzeug heran, betrachtete einen Aufkleber skeptisch und schüttelte den Kopf. Er schien mit dem Gedanken zu spielen, die vom Rost geplagte Karosse in ihre Bestandteile zu zerlegen. Die Sticker, ein Sammelsurium von Friedensplaketten gegen den Vietnamkrieg, Aufrufe zu Kernkraftprotesten – Atomkraft? Nein danke! –, Rolling-Stones-Piktogrammen und buddhistischen Symbolen, löste zwar keine Begeisterung bei dem Oberleutnant aus, aber zu beanstanden fand er nichts. Dem gestrengen Beamten schien allein die Gleichgültigkeit, mit der das Auto behandelt wurde, verdächtig zu sein. Seine Blicke waren unmissverständlich. Der Besitzer des Fahrzeugs erinnerte ihn an jene langhaarigen Gammler, wie sie vor der Gedächtniskirche herumlungerten und Passanten nach Münzen anschnorrten. Die Berliner Abendschau berichtete regelmäßig darüber. Zwar war Westfernsehenschauen den Beamten untersagt, aber den Klassenfeind zu kennen, war schließlich auch wichtig. »Grund der Einreise?«
»Schwarzwälder Kirschtorte mit Schlagsahne.«
Die Augen des Oberleutnants verengten sich. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, zog die Luft tief ein und wippte bedrohlich auf den Schuhspitzen. Ein bewährtes Ritual, um sich Respekt zu verschaffen.
»Führerschein und Personalausweis!«
»Die haben Ihre Kollegen schon kontrolliert.«
»Interessiert mich nicht!«
»Es interessiert Sie nicht, was Ihre Kollegen machen?«
»Junger Mann, werden Sie nicht pampig. Ich kann auch anders!«
Kräuming nickte scheinbar beeindruckt.
»Anders? Freundlicher vielleicht?«
Da eine Antwort ausblieb und die Sehschlitze noch enger wurden, zog er das Gewünschte aus der Parkatasche und reichte es mit spitzen Fingern dem Offizier.
»Ehrlich gesagt, ich will überhaupt nicht nach West-Berlin. Mein Chef zwingt mich. Ist so eine Erziehungsmaßnahme. Können Sie da irgendwas machen? Einreise verweigern oder so?«
»Witzbold, was? Ich frag Sie noch mal. Ihr Grund?«
»Es verlangt mich nach Schwarzwälder Kirschtorte mit Schlagsahne. Ich gedenke, dem Café Kranzler einen Besuch abzustatten. Verstehen Sie? Ich bin ein Süßschnabel. Erblich vorbelastet, mütterlicherseits.«
Ein erneutes energisches Wippen auf den Zehenspitzen. Hände auf den Rücken. Bedächtiges Abmarschieren der anderen Fahrzeugseite.
»Haben Sie etwas zu verzollen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Sind Sie im Besitz von Drogen?«
Amüsiert schaute Kräuming erst in die eine, dann in die andere Richtung, bevor er demonstrativ mit dem Finger wackelte. »Genosse, das will ich jetzt nicht gehört haben. Meines Wissens sind Drogen in der DDR verboten.«
Einen Moment Schweigen. Ungläubiger Blick. Schnappatmung. Die Gesichtsfärbung versprach nichts Gutes.
»Kofferraum öffnen!«
Die Stimme des Zöllners überschlug sich beinah.
Umständlich suchte Kräuming in den Taschen seines Parkas und in der Hose den Autoschlüssel. Nachdem er alle Möglichkeiten mehrfach geprüft und mimisch sein Unverständnis über die Tücken des Objekts zur Kenntnis gegeben hatte, schlug er sich abrupt mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Wird das heute noch was? Hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Ist mir jetzt echt peinlich. Hätte ich doch gleich draufkommen können.« Kräuming lachte albern. »Der Schlingel steckt noch im Zündschloss.«
Zwei graue Seesäcke und eine heruntergekommene Wildlederumhängetasche mit Fransen ruhten wenig später auf einem der Zolltische.
»Junger Mann, ich fordere Sie letztmalig auf, Ihre Taschen auszuräumen!«
»Mach ich nicht. Tut mir echt leid. Die hat meine Mutter gepackt. Die Sachen krieg ich da nie wieder rein. Ich insistiere. Machen Sie das. Oder schicken Sie mich wieder zurück. Wie schon erwähnt, ich will sowieso nicht nach West-Berlin. Außerdem, im Ein- und Auspacken verfügen Sie garantiert über mehr Erfahrung als ich.«
Acht Stunden später deutete eine ihn despektierlich musternde Verwaltungsangestellte namens Fräulein Elfriede Stürmer wortlos auf die gepolsterte Tür des Leiters des LKA 1 – Delikte am Menschen. Vorher allerdings hatte Kräuming eine gefühlte Ewigkeit den Flur ausgemessen und die Namensschilder der einzelnen Büros studiert. Ihren Namen und den Titel »Fräulein« hatte er amüsiert zur Kenntnis genommen. Obwohl Genscher als Bundesinnenminister schon vor vier Jahren die von vielen Frauen als diskriminierend empfundene Anrede kurzerhand per Anweisung gestrichen hatte, schien das in Berlin nicht angekommen zu sein. Die hagere Fünfzigjährige, die wahrscheinlich schon zu Zeiten des Reichskriminalpolizeiamtes beeindruckende Türen bewachen durfte, befahl in einem prächtigen Kasernenton inklusive Fingerzeigs: »Sie dürfen eintreten! Kriminaldirektor Voigt hat jetzt Zeit für Sie.«
Kräuming, der den Fluchtplan des Gebäudes studierte, drehte sich langsam um, streckte sich ausgiebig, als sei er müde aus dem Bett gestiegen, und fragte ungläubig: »Fräulein, Sie meinen jetzt sofort?«
»Ja!«
»Kein Zweifel?«
Das grimmige Gesicht des Vorzimmerdrachens bemühte sich, eine Nuance Verachtung anzudeuten, was aber nur zu einem verkniffenen Lächeln führte.
Gemessenen Schrittes betrat Kräuming ihr Büro, blieb stehen, schaute sich aufmerksam um und deutete in Richtung der beeindruckenden, wenn auch in die Jahre gekommenen bräunlichen Tür. Es gab zwar nur die eine, dennoch fragte er: »Da hinein?«
Ungehalten marschierte Fräulein Stürmer an ihm vorbei und öffnete sie energisch. Nur mit Mühe unterdrückte Kräuming den Impuls, seine Dankbarkeit mittels eines militärischen Grußes zum Ausdruck zu bringen.
Das Büro von Kriminaldirektor Fritz Voigt wirkte geräumig und durchdacht. Die altehrwürdigen Regale schienen strammzustehen, und jede Kleinigkeit war nach ästhetischen, weniger nach praktischen Gesichtspunkten sortiert. An der gegenüberliegenden Wand Kunstdrucke, die das historische Berlin zeigten. Perfekt gezeichnet und überaus langweilig. Vor einem aufgeräumten, stattlichen Schreibtisch befand sich ein weniger großzügiger Tisch mit vier Stühlen. Ein sorgfältig arrangiertes Blumengesteck stand auf einem Deckchen und wirkte etwas albern. Eindeutig die Handschrift Fräulein Stürmers, entschied Kräuming.
Nachdem Voigt mit krauser Stirn ein amtliches Schreiben zu Ende gelesen hatte, ließ er es auf den Tisch fallen. Missmutig stand er auf, und statt Kräuming die Hand zu reichen, drehte er sich um und starrte durch das Fenster auf die Keithstraße. Als würde ein nicht näher definierbarer Schmerz ihn dazu zwingen, durch die Zähne zu atmen, entgegnete er mit deutlichem Missfallen: »Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß und Ordnung mögen beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden aus der Mode gekommen sein. Hier im Landeskriminalamt Berlin gelten sie noch. Ich hatte Sie heute Vormittag um neun Uhr erwartet.«
Kräuming betrachtete den Mann, den er auf Mitte fünfzig schätzte, und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Einen Augenblick lang dachte er an die mahnenden Worte Trögers: Versauen Sie es nicht wieder. Er biss sich auf die Lippen. Es half nicht.
»Höflichkeit gehört ebenfalls dazu«, antwortete er. »Wir wollen doch nicht die beste aller deutschen Tugenden so leichtfertig unter den Tisch fallen lassen, oder? Einen schönen Guten Tag! Ein Zöllner an der Grenze …«
Voigt hob die linke Hand und fixierte mit strengem Blick sein Gegenüber. Er versuchte nicht, es zu verbergen: Was er sah, gefiel ihm nicht.
»Hein Tröger hat mich schon vor Ihnen gewarnt. Überaus intelligent, scharfer analytischer Verstand, ausgeprägtes Talent für die operative Fallanalyse, neuer Technik gegenüber aufgeschlossen. Elektronische Datenverarbeitung, Computer und derartiges. Andererseits: selbstverliebt, überheblich, jemand, der Regeln nach eigenem Belieben interpretiert. Um Ausreden nie verlegen. Darauf bedacht, immer das letzte Wort zu haben. Keine Ahnung, warum der Kriminalrat sich für Sie einsetzt. Sie sind Persona non grata beim BKA. Trifft es das?«
Der Leiter des LKA 1 schien regelmäßig Sport zu treiben, Leichtathletik wahrscheinlich. Der klassische Läufertyp, Langstrecke oder Hindernislauf, schätzte Kräuming. Ausdauernd, zäh, aufs Siegen versessen.
»Im Prinzip schon«, antwortete er und nickte. »Ein, zwei Kleinigkeiten würde ich gerne ergänzen: Angst vor großen Türen ist ihm fremd, und für ein leckeres Tortenstück würde er glatt den Führer verraten.«
Er hatte erwartet, dass seine Bemerkung Verärgerung oder zumindest ein Kopfschütteln provozieren würde. Aber nichts dergleichen geschah. Kriminaldirektor Voigt zuckte nicht einmal mit den Augenbrauen.
»Ihre Aufgabe in Wiesbaden bestand darin, sich um die zunehmende Kriminalität im Rauschgiftmilieu zu kümmern. Glaubt man den Aussagen Trögers, hatten Sie beachtlichen Erfolg. Immerhin ist es Ihnen gelungen, die Chefs zweier rivalisierender Mafia-Banden hinter Gitter zu bringen. Sie haben die beiden Herren dazu gebracht, gegeneinander auszusagen. Beeindruckend. Angesichts Ihres Auftretens frage ich mich allerdings, wie Ihnen das gelungen ist.«
»Niemand kann meinem legendären Charme auf Dauer widerstehen«, schlüpfte es über Kräumings Lippen, verbunden mit ein paar übermütigen Augenaufschlägen und einem entwaffnenden Lächeln.
Voigt schüttelte gleichgültig den Kopf und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Für Spielchen habe ich keine Zeit. Es gibt Wichtigeres zu tun. Warum Tröger seine Hand über Sie hält, ist mir ein Rätsel. Und um es unmissverständlich zu sagen, ich schulde dem alten Sturkopf einen Gefallen. Und glauben Sie mir, die Betonung liegt auf einen. Schlaflose Nächte werde ich Ihretwegen garantiert nicht haben. Verstehen Sie? Wichtigtuer brauchen wir hier nicht.«
Voigt nahm das amtliche Schreiben wieder in die Hand und überflog es erneut. »Wissen Sie, warum ich nicht unter schlaflosen Nächten leide? Oder Magengeschwüren? Oder einer Depression, wie es jetzt modern ist? Man nennt es Lotuseffekt. Man lässt alles an sich abperlen, was einem nicht nutzt. Heute zum Beispiel … Unser geliebter Polizeipräsident erinnert nachdrücklich daran, dass wir uns energischer um die zeitnahe Erfassung von Daten zur Personenfahndung bemühen sollen. Hübner reagiert damit auf eine Beschwerde Ihres BKA. Mit solchen Problemen darf ich mich herumschlagen, abgesehen von vier ausgebüxten Terroristinnen, die unauffindbar sind. Glauben Sie mir, ich habe keine Zeit, ein Trotzköpfchen an die Hand zu nehmen.«
Kräuming kannte das Problem. Die Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern war suboptimal. Kompetenzgerangel, Befindlichkeiten, alberner Lokalpatriotismus. Jedes Bundesland bestand auf eigenen Strukturen und verbat sich jegliche Einmischung. Ein Flickenteppich der Unvernunft. Da Voigt aber nicht nach seiner Meinung gefragt hatte, verkniff er sich einen Kommentar. Außerdem knabberte er noch an dem Begriff Trotzköpfchen.
»Tragen Sie eine Waffe?«
»Ich besitze zwar eine, die fristet ihr Dasein aber im Panzerschrank in Wiesbaden. Ich bin mit dem Auto gekommen. Bekanntermaßen mögen die Zonis es nicht, wenn man bewaffnet durchs sozialistische Ländle fährt. Bisher habe ich keine gebraucht, und zugegebenermaßen bin ich kein Freund davon. Pazifist aus Überzeugung. Wenn Sie es wünschen, kann ich das gute Stück aber gerne einfliegen lassen.«
»Da bin ich aber froh«, sagte Voigt, ließ allerdings offen, ob er die sichere Verwahrung oder Kräumings Einstellung zu Waffen meinte. Die Vorstellung eines bewaffneten Langhaarigen schien ihm nicht zu behagen.
»Haben Sie schon eine Bleibe?«
»Ich schlaf bei Tante Fanny.«
Voigt schaute ihn fragend an. »Tante Fanny?«
»Franziska Kohlheim ist die Schwester meiner Mutter.«
»Brillante Schauspielerin.«
Kräuming nickte. »Sie ist zu Filmaufnahmen unterwegs.«
»Melden Sie sich morgen pünktlich um acht Uhr im Zimmer 131. Vorerst werden Sie in der Zentralstelle Risikobewertung von individualgefährdeten Personen eingesetzt. Dort wird man sich um Sie kümmern. Eine Waffe brauchen Sie da nicht. Und, Kräuming, da Ihnen Höflichkeit so wichtig ist: willkommen in Berlin! Machen Sie Ihren Job gut, und tun Sie uns beiden einen Gefallen: Gehen Sie mir aus dem Weg.«
»Dit gloob ick nich! Se wollen hier wohnen?«
Der Portier machte keinen Hehl daraus, dass er das gutbürgerliche Gründerzeithaus mit seinen verspielten Jugendstilelementen direkt am Prachtboulevard Kurfürstendamm für die falsche Adresse hielt. Er schaute Kräuming fassungslos an, als sei er einer der Passagiere der dritten Klasse, der auf der Titanic gleich nach dem Eisbergrammen in völligem Verkennen seines Standes um einen First-Class-Platz im Rettungsboot bittet. Einerseits lag das an den beiden Seesäcken, die vor der Portierloge lagen, andererseits an der unangemessenen Garderobe, wie sie Bewohner dieses Hauses niemals zu tragen pflegten. Erneut überflog er die Zeilen. Briefkopf und Unterschrift ließen keinen Zweifel an der Echtheit zu.
»Ich bin der Neffe von Tante Fanny. Solange sie in Marrakesch zu Filmaufnahmen weilt, darf ich hier domizilieren. Und wenn es Sie beruhigt, ich bin Polizist!«
Kräuming legte eine Kunstpause ein und flüsterte verschwörerisch: »BKA! Verdeckte Ermittlung. Das darf aber niemand erfahren.«
Locker aus der Hüfte zog er seinen Dienstausweis hervor, gewährte kurz einen Blick und ließ ihn wieder in der Tasche verschwinden.
»Werter Herr, wie darf ich Sie anreden?«
Der Portier schaute ihn verwundert an. »Alfons.«
»Vor- oder Nachname?«
Erst jetzt schien der Mann in der Loge zu begreifen, dass er nicht ernst genommen wurde. Erbost zog er die rechte Augenbraue hoch, nahm den Ersatzschlüssel aus dem Panzerschrank und schob ihn über den Tresen.
»Dritte Etage links. Nehmen Se’n Aufzug.« Pikiert setzte er sich wieder auf seinen Stuhl, um sich der Zeitung zuzuwenden.
Kräuming schulterte einen Seesack, klemmte den anderen unter den Arm, und in die freie Hand nahm er die abgewetzte Fransentasche. Der verschnörkelte und bedrückend schmale Fahrstuhl aus der Gründerzeit zwang ihn, alles übereinanderzustapeln und sich in die kleine Kabine hineinzudrängen. Obwohl er und sein Gepäck nicht übermäßig schwer waren, federte der Aufzug bedrohlich. Maximal zwei Personen, las er. Eine Mengenangabe für Seesäcke war nicht vermerkt.
Die Idee, in Charlottenburg zu wohnen, kaum fünf Minuten vom Café Kranzler entfernt, verdankte er seiner Mutter. Noch bevor sie mit ihm darüber gesprochen hatte, war alles in die Wege geleitet.
»Tante Fanny freut sich außerordentlich, dir zu helfen. Die Wohnung ist frei. Sie ist für einen Monat zu Filmaufnahmen in Marrakesch. Das Angebot kannst du unmöglich ablehnen!«
Tante Fanny war das Nesthäkchen der Familie. Verzogen, exzentrisch, eine begnadete Künstlerin. Der Eindruck, den sie hinterlassen hatte, ließ sich in einem Wort zusammenfassen: durchgeknallt. Bis zu ihrer Rückkehr sollte ihn entweder Wiesbaden rehabilitiert oder er eine andere Bleibe gefunden haben. Mehr als einen Abend würde er seine Tante nicht ertragen.
Mit etwas Mühe gelang es ihm, die beiden Innentüren der Aufzugskabine zu schließen und den Knopf zu drücken. Der Portier beobachtete misstrauisch jede seiner Bewegungen und schüttelte demonstrativ den Kopf. Zeit für ein Lied, fand Kräuming und begann, laut zu singen.
»Hab ne Tante aus Marokko …«
Die Wohnung war riesig und modern eingerichtet. Knallbunte Tapeten mit psychedelischen Mustern, massive, deckenhohe Schrankwände, Sideboards und Kommoden. Mitten im Zimmer ein hochfloriger Flokati-Teppich, flankiert von spacigen Cocktailsesseln und einer überdimensionalen chromblitzenden Bogenlampe. An den Wänden Bilder von Andy Warhol: Marilyn Monroe, eine Banane und Mao. Alles in grell leuchtenden Farben.
Die Fliesen in der Küche strahlten abwechselnd in Petrolblau und Lila. Ein paar orangefarbene Küchengeräte verrieten, dass hier dennoch gekocht wurde.
Das Bad begrüßte ihn mit einer knallig grünen Badewanne, Blumenaufklebern auf den orangenen Kacheln und einem riesigen kitschigen Muschelwaschbecken. Sogar ein Bidet hatte sich Tante Fanny einbauen lassen.
Das Gästezimmer befand sich gegenüber. Es war deutlich schlichter, wirkte aber durchaus gemütlich. Dankbar ließ er sich auf das Bett fallen. Kein guter erster Tag, fasste er in Gedanken zusammen. Müde schloss er die Augen.
Neben dem Fernseher im Wohnzimmer hatte er eine Minibar aus rotem Kunststoff entdeckt, die ein wenig einem Schirmständer glich, aber überaus einladend gefüllt war. Der würde er sich später zuwenden. Erschöpft schlief er ein.
Die Frau bewegte den rechten Zeigefinger, krümmte ihn, streckte ihn, krümmte ihn erneut. Ein schlichter Vorgang. Kaum ein Muskel, kaum eine Sehne schien sich zu bewegen. Die Frau wusste, dass das nicht stimmte. Am Zeigefinger endeten zahlreiche Sehnen, die Muskeln entstammten, deren Ursprung im Bereich des Ellenbogens oder des Unterarms lagen. Kontrahierten sie, ließ sich der Finger beugen, strecken, albern oder streng hin und her wackeln. Die Beugesehnen, die den Finger sich krümmen ließen, befanden sich in der Handfläche. Zwei schlichte Muskeln, der oberflächliche und der tiefe Fingerbeuger. Die Frau betrachtete ihre Hand nachdenklich. Sie fragte sich, wie oft sich der rechte Zeigefinger krümmen ließ, bis er den Dienst verweigerte. Sie schaute auf die Uhr. Stoisch drehte der Sekundenzeiger seine Runden. Nur sein leises Ticken war zu hören. Eine Weile beobachtete sie ihn. Eine Stunde Zeit blieb noch. Vom Tisch nahm sie einen abgegriffenen Rosenkranz und ließ die Perlen durch die Finger gleiten. An Gott glaubte sie schon lange nicht mehr. Aber die monotone Bewegung beruhigte sie. Flüsternd begann sie zu zählen.
Für sein Alter war Dr. Heinrich Sellmann ausgesprochen fit. Mit sechsundsiebzig Jahren schwamm er regelmäßig im Tegeler See. Er war stolz darauf, selbst jüngere Männer hinter sich zu lassen, besonders auf langen Strecken. Wenn möglich, hielt er sich mit seinem Fahrrad in Form.
In den vergangenen Tagen hatte es ausgiebig geregnet. Der Juni dagegen war extrem warm und trocken gewesen. Der heißeste in Europa seit der Erfassung der Wetterdaten. Eine Hitzewelle, die vor allem Landwirte beklagten. Felder waren komplett vertrocknet, die Ernteausfälle existenzbedrohend.
Dr. Sellmann liebte die Wärme, aber dass der Sommer zu Ende ging, störte ihn nicht. Mit Freude hatte er wieder seine obligatorischen Radtouren durch den Tegeler Forst aufgenommen. Dank einer eigens für ihn angefertigten Fußprothese schaffte er die Runde um den zweitgrößten Berliner See in knapp unter einer Stunde. Aber seitdem die Knie schmerzten, ging er es gemächlicher an und genoss es, gemütlich durch den Tegeler Forst zu fahren. Er liebte die Gegend, vor allem ihre Ruhe in den kälteren Monaten. Am Nachmittag hatten sich die Wolken bedrohlich zusammengeschoben. Als er schon beschließen wollte, das Training ausfallen zu lassen, riss der Himmel auf, und die Sonne zeigte sich. An diesem Abend fuhr er auf seiner Lieblingsstrecke, vorbei an der Dicken Marie, dem vermutlich ältesten Berliner Baum. Energisch drehte er die geplante Runde und hielt anschließend an der Alten Waldschänke.
Er kam etwas später an als erwartet. Während er sein Fahrrad am Zaun der urkundlich belegt ältesten Gaststätte Berlins anschloss, diagnostizierte er dringenden Trainingsbedarf. Sellmann setzte sich an seinen Lieblingstisch im Biergarten und bestellte sein obligatorisches Schultheiss. Angeregt plauschte er mit dem Kellner über die Frage, ob es Hertha BSC in diesem Jahr wohl gelänge, an Borussia Mönchengladbach vorbeizuziehen und Deutscher Meister zu werden. Er war optimistisch, der Kellner nicht.
Gegen neunzehn Uhr fünfzehn begab sich Sellmann auf den Rückweg und ärgerte sich darüber, dass ihm die einsetzende Dämmerung mehr und mehr die Sicht nahm.
Zuerst erkannte er nur die Konturen einer Person am Wegrand, die ihm signalisierte, dass er anhalten solle. Obwohl eine innere Stimme ihn warnte, bremste er ab und stieg vom Fahrrad.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Dr. Heinrich Sellmann?«
Verwundert betrachtete er die sportlich gekleidete Person. Erst jetzt wurde ihm klar, dass es sich um eine Frau handelte. Sicher, er war kein Unbekannter in Tegel, und allein die Anzahl seiner früheren Patienten war beachtlich, aber die Frau, die er auf Anfang dreißig schätzte, hatte er noch nie gesehen. Er besaß ein ausgezeichnetes Personengedächtnis. Auch hörte er einen Akzent heraus, den er mit Französisch in Verbindung brachte. Die Frau hatte etwas Lauerndes. Sie fixierte ihn unnachgiebig.
»Kennen wir uns?«, erkundigte er sich höflich, merkte dabei aber, dass seine Stimme weniger fest klang als sonst.
»Sind Sie Dr. Heinrich Sellmann, der bis Mai 1945 in Sachsenhausen praktiziert hat?«
Das Lächeln wich aus seinem Gesicht. Er versuchte, das Fahrrad an der jungen Frau vorbeizuschieben. Sie packte den Lenker und hielt ihn trotz ihrer geringen Größe mit erstaunlicher Kraft fest.
»Lassen Sie mich zufrieden!«
Sie zog eine Pistole aus der Innenseite der Jacke und zielte auf seinen Kopf. Mit einer Handbewegung gab sie ihm zu verstehen, dass er das Fahrrad an einen der Bäume lehnen sollte.
»Was wollen Sie?«
»Für alles, was wir tun, müssen wir Verantwortung übernehmen. Schuld verjährt nicht. Heute ist Ihr jüngster Tag!«
Sellmann spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Sein Atem beschleunigte sich. Panisch schaute er sich um. Es waren weder Hundebesitzer zu sehen, die durch den Wald spazierten, noch Läufer, die ihre Kondition verbessern wollten. Um diese Uhrzeit waren sie allein im Tegeler Forst. Die Frau zog ein schmales Seil aus der Tasche.
»Drehen Sie sich um! Hände auf den Rücken.«
Er spürte die Waffe in seinem Nacken. Geduldig wartete er auf eine Gelegenheit, die Unbekannte zu überwältigen. Sellmann wusste sich gut in Form, und die Frau war erheblich kleiner als er. Aber seine Hoffnung, sie würde einen Fehler begehen, wurde enttäuscht. Mit der freien Hand fesselte sie geschickt seine Hände.
»Sie gehen voraus.«
Bis zur Dicken Marie waren es nur wenige Schritte. Sellmann wusste, dass die Stieleiche, die angeblich im Jahre 1107 an der Großen Malche ihre Wurzeln ins Erdreich getrieben hatte, ihren Namen den Gebrüdern Alexander und Wilhelm von Humboldt verdankte. Eine Anspielung auf die wohlbeleibte Köchin im Schloss Tegel. Dass er sich jetzt daran erinnerte, wunderte ihn. Langsam ging er in die Richtung, in die sie gewiesen hatte. Er überlegte, ob er fliehen könnte. Die Prothese würde ihn kaum hindern. Vorsichtig schaute er über die Schulter. Ein paar Meter in den Wald, und die Dunkelheit würde ihn schlucken.
»Denken Sie nicht einmal daran! Ich bin schneller als Sie!«
Er verwarf den Gedanken. »Ich habe Geld. Sagen Sie mir, wie viel Sie wollen!«
Sie lachte bitter. »Knien Sie sich hin!«
Als er zögerte, trat sie ihm kraftvoll in die rechte Kniekehle, sodass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper. Er richtete sich auf und tat, was sie verlangte. Er spürte den Lauf der Pistole in seinem Nacken.
»Geben Sie mir einen Namen!«
Erstaunt drehte er den Kopf und schaute die Frau an. Sie hielt ihm Fotos hin, alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Es war zu dunkel, um genau zu erkennen, was sie zeigten. Kurz darauf schaltete sie eine Taschenlampe ein. Ein junger Mann in einer dunklen Uniform lächelte stolz. Die Rangabzeichen waren unscharf, aber die Gesichtszüge erkannte er sofort. Da wusste Dr. Heinrich Sellmann, dass ihn die Vergangenheit eingeholt hatte.
Der Beamte, der Kräuming auf dem Flur abfing, nuschelte etwas von einer Leiche. »Genickschuss, möglicherweise eine Hinrichtung. Außerdem hat der Tote Geld im Mund. Alles deutet auf Mafiamethoden hin. Sie sollen sich das anschauen.« Kräuming sagte dazu nichts.
Sein Kopf brummte. Die Kombination Zigaretten und Tante Fannys Bar hatten ihm mehr zugesetzt als erwartet. Einige Positionen ihrer persönlichen Hitliste, inklusive Mixanweisungen, waren abgehakt. »Sonnenschein« – Fanta mit Eierlikör – hatte sich nicht als überzeugender Einstand erwiesen. Der Wechsel zu »Asbach-Cola« – das traf eher seinen Geschmack. Drei davon. Eindeutig zwei zu viel. Es folgte »Jambosala mit Sekt«. Das Gelage beendete er mit einem »Großen Laubfrosch« – Blue Curaçao mit Orangensaft.
Keine gute Idee, wie er sich nun reumütig eingestand.
Seit der italoamerikanische Schriftsteller Mario Puzo den Bestseller Der Pate geschrieben hatte und der Film mit Marlon Brando als Don Vito Corleone über die Kinoleinwände geflimmert war, glaubten sogar einige Kriminalbeamte, jeden rituell angehauchten Mord der Mafia zuschreiben zu können. Zwar herrschten in Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse, und verfestigte Mafiastrukturen ließen sich nicht nachweisen, aber die Bemühungen des organisierten Verbrechens, Fuß zu fassen, wurden durchaus mit Sorge beobachtet.
Dass man ihn zurate zog, zauberte Kräuming ein Lächeln auf die Lippen, warum also gleich Zweifel äußern. Er notierte sich die wichtigsten Angaben. Dicke Marie, Schwarzer Weg und Tegel. Zufrieden stieg er in seinen Volvo, zündete sich eine Zigarette an und beschloss, den Tag als einen guten zu betrachten.
Der Tote lag in einer Senke, kaum zwanzig Meter entfernt von der altehrwürdigen Eiche. Der Kopf schien verdreht. Die stumpfen Augen starrten in die grauen Wolken. Noch regnete es nicht, aber die Hektik deutete darauf hin, dass die Spurensicherung jeden Moment damit rechnete. Ein Beamter schoss mit ernster Miene Fotos aus allen möglichen Positionen. Bei seinen Bemühungen erinnerte er eher an einen Künstler als an einen sachlich agierenden Polizisten. Nur sein distanzierter Gesichtsausdruck verriet, dass es sich um eine Leiche und nicht um ein aufwendig arrangiertes Kunstobjekt handelte.
Der Tote lag auf der rechten Seite, die Arme waren auf dem Rücken fixiert, die Beine nach hinten abgewinkelt. Die Verschmutzungen der Hose verrieten: Der Mann hatte gekniet, als er starb. Ein paar Geldscheine, die zusammengeknüllt in seinem Mund steckten, verstärkten die Annahme einer Hinrichtung.
Kräuming zeigte kurz seinen BKA-Ausweis und tauchte unter der Absperrung hindurch. Aufmerksam beobachtete er die Arbeit der Berliner Kollegen. Die Spurensicherung erfasste konzentriert alles, was ihnen hilfreich schien. Zwar hatte er schon bei der Mordkommission Mönchengladbach und später auch beim BKA Leichen gesehen, das abrupte Ende eines Lebens machte ihn dennoch jedes Mal nachdenklich. In den letzten Jahren hatte er vor allem mit Junkies zu tun gehabt, die sich den goldenen Schuss gesetzt hatten oder an unreinem Heroin zugrunde gegangen waren.
Zwischen den Beamten stand ein Mann, der mit seiner grau melierten Haarpracht eher einem balladenträllernden Musikpoeten glich als einem Rechtsmediziner. Affektiert hielt er ein kleines Diktiergerät in der Hand und formulierte seine Erkenntnisse akkurat in die Stenorette. »Der Täter stand hinter seinem Opfer. Einen Kampf gab es offensichtlich nicht.«
Der Mann sprach perfekt Deutsch mit deutlich erkennbarem spanischem Akzent. Die Betonung der letzten oder vorletzten Silbe klang etwas albern, passte aber vorzüglich zu seiner exzentrischen Erscheinung.
»Sie müssen Horst Kräuming sein.«
Er drehte sich um. Vor ihm stand ein wohlgenährter Beamter mit tränenden Augen und roter Nase, der im Werbefernsehen ein perfektes Schnupfenopfer abgegeben hätte, das ein Linderung versprechendes Heilmittel anpries. Ohne die Antwort abzuwarten, schnäuzte er in ein frisch gebügeltes Taschentuch, knüllte es achtlos zusammen und ließ es in der Jacketttasche verschwinden.
»Noch ist es nicht einmal Herbst. Und mich plagt eine Erkältung. Ich reiche Ihnen lieber nicht die Hand. Kriminalhauptkommissar Waldemar Gotzkofski. Ich bin der verantwortliche Ermittler in dem Fall. Ich hoffe, Sie bringen Licht ins Dunkel.«
»Ist mein erster Arbeitstag beim LKA. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich zu dieser Ehre komme.«
»Ich habe um fachliche Unterstützung gebeten. Jemand, der sich mit derartigen Dingen auskennt«, erwiderte Gotzkofski und deutete auf die Geldscheine. »Der Chef hat dem entsprochen.«
»Voigt? Der Leiter des LKA 1?«
Gotzkofski nickte. Dass Kräuming einen halben Kopf größer war, irritierte ihn. Da er zu einem Mitarbeiter nicht andauernd aufschauen wollte, drehte er sich zur Seite und beobachtete die Arbeit der Spurensicherung.
»So kurz vor der Bundestagswahl sind diverse Kollegen wegen der Terrorismusbedrohung anderweitig eingesetzt. Obwohl wir Berliner nicht mal wählen dürfen. Das Viermächteabkommen verbietet das. Die Angst vor Anschlägen oder Entführungen ist gerade groß. Ehrlich gesagt habe ich gar nicht mehr damit gerechnet, einen Mordfall zu bekommen. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen, in zwei Monaten gehe ich in Pension. Abgesehen davon brauche ich jemanden, der mir den symbolischen Schnickschnack erklärt, Sie haben doch Mafiaerfahrung, oder?«
Hüstelnd zog er das Taschentuch erneut aus dem Jackett und faltete es auseinander. »Ein Geschenk meiner Frau zum fünfzigsten Geburtstag. Ein bis zwei muss ich täglich einsauen, sonst ist sie beleidigt.«
Kräuming amüsierte die Erklärung.
»Können Sie mir sagen, wer der Herr mit den Gummihandschuhen ist?« Er deutete in Richtung des Gerichtsmediziners, der sich einen Holzspachtel von einem Mitarbeiter reichen ließ und vorsichtig die Zähne des Toten aufhebelte, um die Banknoten unbeschädigt herausziehen zu können. Als er sie nun betrachtete, nahm sein Gesicht einen verblüfften Ausdruck an. Er schaute in ihre Richtung.
»Elmar von Kirchau, hinter vorgehaltener Hand auch ehrfurchtsvoll der Maestro genannt. Relativ neu bei uns. Kam vor zwei Jahren aus Bolivien. Die Eltern sind vor den Nazis ins Exil geflohen und haben sich in Lateinamerika niedergelassen. Der Mann war Professor an der Universität in La Paz, eine Kapazität auf dem Gebiet der Pathologie, zuweilen etwas unorthodoxe Methoden. Nach dem Tod seiner Frau ist er hier in Berlin gestrandet. ALS, Amyotrophe Lateralsklerose, eine Nervenerkrankung mit degenerativem Muskelschwund, furchtbare Sache. Ihr konnte niemand helfen. Von Kirchau hat seine Professur zurückgegeben und Bolivien den Rücken gekehrt. Ich schätze, eine Art selbstauferlegtes Exil. Kommen Sie mit! Schauen wir uns an, was der Maestro gefunden hat.«
Es waren vier Banknoten. Von Kirchau betrachtete jede aufmerksam von beiden Seiten. »Fünf, zehn, zwanzig und fünfzig Pfund Sterling«, murmelte er erstaunt. »Ausgegeben 1934, 1935 und 1936. Seid ihr noch gültig?«, fragte er argwöhnisch, ohne eine Antwort zu erwarten. Er ließ die Banknoten in eine Beweismitteltüte fallen und reichte sie Gotzkofski, der sie kritisch betrachtete.
»Das gefällt mir gar nicht. Geldscheine im Mund? Was soll das bedeuten? Ist das eine Botschaft? Hat der Kerl sich kaufen lassen? Hat er Geheimnisse verraten? Ist das eine Anzahlung für den Bestatter? Ich hasse Rätsel. Mir reicht schon am Wochenende Das klingende Sonntagsrätsel mit Hans Rosenthal. Meine Frau liebt …«
Gotzkofski beendete den Satz nicht. Er übergab die Tüte mit den Banknoten einem Mitarbeiter der Spurensicherung und suchte stattdessen einen halbwegs trockenen Zipfel seines Taschentuches, um sich erneut zu schnäuzen.
»Das Seil könnte weiterhelfen«, bemerkte von Kirchau und deutete auf die gefesselten Hände. »Den Knoten nennt man Mastwurf oder Webleinstek. Ein typischer Seglerknoten. Ist hier mit zwei Schlägen gesichert.« An seinen Assistenten gewandt wies er an: »Das Seil verbleibt an der Leiche. Wir entfernen das erst bei der Obduktion. Die Spusi hat zugestimmt. Die schauen sich das später genauer an.«
Seufzend beugte er sich vor, murmelte etwas Unflätiges auf Spanisch und untersuchte aufmerksam das Einschussloch im Nacken.
»Die Waffe ist aus kurzer Entfernung abgefeuert worden. Schmauchspuren und Brandverletzungen auf der Haut.«
Abschätzend betrachtete er Kräuming. Ein erfreutes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wie groß sind Sie?«
Kräuming schaute erst von Kirchau und dann dessen Assistenten erstaunt an. »Morgens oder abends?«
Diesmal war es an dem Gerichtsmediziner, verwundert zu sein.
»Gibt es da einen Unterschied?«
»Hängt von der Anzahl verbaler Nackenschläge ab. Ich schätze, angesichts der frühen Stunde ein Meter dreiundachtzig.«
Zufrieden mit der Antwort deutete von Kirchau auf den Boden. Wortlos zog sein Assistent eine Beweismitteltüte aus der Tasche und breitete sie auf dem feuchten Laub aus.
»Knien Sie sich bitte hin. Ich will eine These prüfen.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Wenn ich bitten darf, es dient einem guten Zweck.« Kriminalhauptkommissar Gotzkofski verkniff sich mit Mühe ein Grinsen und vollführte eine einladende Geste. Da Kräuming keine Anstalten machte, der Aufforderung Folge zu leisten, zog von Kirchau die buschige rechte Augenbraue hoch, murmelte etwas Unverständliches auf Spanisch und säuselte mit honigsüßer Stimme: »Junger Mann, zieren Sie sich nicht wie eine Jungfrau!«
Kräuming, der eine unorthodoxe Arbeitsweise durchaus zu schätzen wusste, tat ihm kopfschüttelnd den Gefallen. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, nicht nur von den amüsierten Kollegen der Spurensicherung beobachtet zu werden. Seiner Intuition gehorchend starrte er in den Wald. Bevor er etwas erkennen konnte, wurde sein Kopf aber mit Nachdruck in die richtige Position gebracht.
»Stillhalten!«
Von Kirchau stellte sich hinter Kräuming, streckte den Arm aus, zielte mit dem Finger auf den Nacken und simulierte mit einem Plopp den Schuss.
»Ich glaube, unser Täter war einer von der Gattung Gartenzwerg, heißt, groß war er nicht. Genaueres verrät uns der Schusskanal bei der Obduktion.«
Erneut zielte der Gerichtsmediziner mit dem Finger auf Kräumings Nacken und bewegte ihn auf und ab.
»Wir sind hier fertig. Kannst du die Sachen ins Auto bringen?«, bat er seinen Mitarbeiter, der dem Wunsch kommentarlos nachkam. Sobald der verschwunden war, bemerkte Gotzkofski: »Sehr gesprächig ist dein Kollege aber nicht.«
»Eine nicht hoch genug einzuschätzende Eigenschaft. Deswegen arbeite ich so gern mit ihm.«
»Seit wann hast du denn wieder einen Assi?«, fragte von Kirchau.
»Er ist nicht mein Assistent. Ein Kollege vom BKA. Er ist mir zugeteilt worden. Bis auf Weiteres.« Er schniefte leidend, bevor er weitersprach. »Spezialist für Ritualmorde.«
»Das ist Lichtjahre von der Wahrheit entfernt«, widersprach Kräuming, der immer noch kniete und prüfend seinen Nacken auf Unversehrtheit abtastete.
»Wissen wir eigentlich, um wen es sich handelt?«, fragte Gotzkofski, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
»Dr. Heinrich Sellmann.« Von Kirchau zeigte auf eine Tüte, in der sich eine Brieftasche befand. Gleichzeitig zog er routiniert die Gummihandschuhe aus und warf sie in eine Mülltüte. Energisch winkte er zwei Beamten zu sich.
»Leiche einpacken und ab damit in die Pathologie. Und Herr Bisauf-Weiteres, Sie können wieder aufstehen.«
Kräuming, der das Grinsen der Kollegen spürte, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und erhob sich, soweit es überhaupt möglich war, würdevoll. Aufmerksam schaute er in die Richtung, aus der er glaubte, beobachtet worden zu sein, entdeckte aber nichts Ungewöhnliches im Unterholz.
»Das mit dem Spezialisten für Ritualmorde kann ich so nicht bestätigen. Mir ist es nur gelungen, Mitglieder des organisierten Verbrechens hinter Gitter zu bringen.«
Weder Gotzkofski noch den Gerichtsmediziner schien das zu interessieren. Da niemand auf seinen Einwand einging, zuckte Kräuming mit den Schultern und fasste kurz das Naheliegende zusammen: »Ausgeraubt wurde der Doktor offensichtlich nicht.«
»Sieht so aus«, bestätigte von Kirchau.
»Ist schon abzusehen, wann die Leiche obduziert wird? Wir brauchen den genauen Todeszeitpunkt, die Todesursache, das Übliche«, sagte Gotzkofski und versuchte vergeblich, einen Hustenanfall zu unterdrücken.
»Fürs Erste lässt sich sagen: Länger als einen Tag liegt der Tote nicht hier. Abgesehen davon, mit der Erkältung gehörst du ins Bett.«
Gotzkofski machte eine resignierende Geste, als verstünde er selbst nicht, was er hier tat. Ja, Bettruhe wäre dringend angeraten. Um das zu unterstreichen, gedachte er, laut zu niesen, aber der Versuch scheiterte schon im Ansatz.
»Morgen sind wir alle schlauer«, versprach von Kirchau.
»Ist recht. Die Leiche läuft ja nicht weg.«
Einen Augenblick fand Kräuming den Gedanken eines möglichen Fluchtversuchs des Toten faszinierend, verwarf ihn aber und erinnerte sich daran, warum er hinzugebeten worden war. Er wies in Richtung der abtransportierten Leiche und fällte sein Urteil.
»Geldscheine im Mund? Britische Banknoten aus den Dreißigern? Genickschuss? Ich glaube kaum, dass die Mafia dafür verantwortlich ist.«
»Keine Mafia? Wunderbar!«, stellte Gotzkofski erleichtert fest und zog fröstelnd den Kopf ein.
»Sieht mir eher nach einer psychologisch-pathologischen Sauerei aus«, sagte Kräuming beiläufig.
Den alten Kommissar schauderte es sichtlich, während von Kirchau den jungen BKA-Kollegen skeptisch ansah.
»Sie meinen, das ist die Handschrift eines Psychopathen? Gehe ich richtig in der Annahme, der Täter will der Polizei etwas mitteilen? Traumatische Kindheit. Dysfunktionale körperlich-geistige Konstitution. Rache, um den Vaterkomplex zu überwinden? Krankhaft wahnhafte Liebe zur Mutter. Weitere Leichen folgen? Meinen Sie so etwas in der Art?«
Bevor Kräuming antworten konnte, klopfte ihm der Gerichtsmediziner freundlich auf die Schulter, wie einem treuen Ackergaul, der die nächste Zeit damit verbringen wird, den Boden eines Feldes umzupflügen. »Klingt ausgesprochen vielversprechend. Viel Spaß die Herren!«
Mit einer müden Handbewegung winkte Gotzkofski ab.
»Junger Mann, vorsichtig mit Spekulationen. Ich halte es für denkbar, dass die Geldscheine nur eine Ablenkung sein sollen. Verrätseln, um uns in die falsche Richtung zu leiten. Wäre nicht das erste Mal. Glauben Sie mir, es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Bisher wissen wir so gut wie gar nichts.«
Während die Leiche ihren Weg zur Obduktion in die Invalidenstraße antrat, informierte sie der Chef der Spurensicherung Bernd Hämmerling über einen wichtigen Fund.
»Neben der Leiche haben wir eine Patronenhülse entdeckt und wenige Meter vom Tatort entfernt ein Fahrrad. Was sollen wir damit machen?«
Für Kräumings launige Bemerkung: »Beides eintüten!«, zeigte der bullige Beamte keinerlei Verständnis. Er strich sich über die roten Haarstoppeln im Nacken und verdrehte die Augen.
»Wer hat denn die Leiche gefunden?«, erkundigte sich Gotzkofski, um weitere Albernheiten zu unterbinden.
»Pinscherelli!«, rief ein betagter Polizist, der hinter der Absperrung stand und grinsend über seinen Schnauzer strich. »Oder wie es amtlich korrekt heißt: Frau Elisabetta Scheuneburg. Die Züchterin vom gleichnamigen Rehpinscher-Welpenhof. Wegen Pinscherelli gibt es ständig Anzeigen. Lärmbelästigung, mangelnde Hygiene, Angriff kläffender Kampfmaschinen.«
»Haben Sie die Adresse?«
»Können Sie gar nicht verfehlen, geradeaus, erster Weg bis zur Straße, dann links. Gehen Sie bis zum Ende. Das Haus ist nicht zu übersehen. Ich mahne zur Vorsicht, die Frau ist gemeingefährlich. Pinscherelli hat mal beim Verteidigen ihrer Lieblinge einem Spaziergänger in die Hand gebissen, weil er mit einer Zeitung nach ihren Hunden geschlagen hat. Die eigenwillige Dame und ihre Tölen sind nicht sonderlich beliebt in der Gegend. Wenn Sie die befragen wollen, machen Sie besser einen Umweg und kaufen vorher eine Tüte Leckerlis beim Fleischer. Wenn die Pinscher Sie lieben, liebt Pinscherelli Sie garantiert auch.«
Kräuming hatte den Tipp des schnauzbärtigen Polizisten beherzigt und ein halbes Dutzend Schweineohren gekauft. Zwar hatte Kriminalhauptkommissar Gotzkofski auf sein Angebot, die Befragung zu übernehmen, einen Moment gezögert und die Anweisung des Chefs des LKA 1 – bis auf Weiteres! – mit abwägendem Kopfwippen auf Auslegbarkeit geprüft. Doch angesichts der triefenden Nase, seines schweren Kopfes und seiner allgemeinen Mattigkeit hatte er schließlich entschieden, dass die neue Verstärkung dieser Aufgabe gewachsen sei.
Das Haus, in dem Elisabetta Scheuneburg ihre Hundezucht betrieb, verdiente den Namen kaum. Aufmerksam und misstrauisch betrachtete Kräuming das Gebäude. Es war aus alten Mauersteinen zusammengestückelt worden, entweder im Krieg oder kurz danach. Der Putz war großflächig abgefallen. Das Dach wirkte wenig vertrauenerweckend. Die verwitterten Holzfenster waren schon beim Einbau alt gewesen. Neben den gepflegten Häusern in der Nachbarschaft wirkte die Bruchbude wie ein Irrtum. Als Kräuming den Klingelknopf bediente, wunderte er sich fast, dass die betagte Konstruktion tatsächlich funktionierte. Sofort setzte infernalisches Gekläffe ein. Kurz darauf öffnete sich die Wohnungstür. Eine verhärmte Frau in einer selbstgestrickten Hose und einem ebenfalls von groben Stricknadeln gefertigten Poncho betrachtete ihn abschätzend. Ein Rudel hochbeiniger, magerer Pinscher stürmte auf ihn zu. Auch wenn das Gartentor robust und die Welle der rotbraunschwarzen, kläffenden und zähnefletschenden Minimonster nur seinen Waden gefährlich werden konnte, trat er erschrocken einen Schritt zurück.
»Kommissar Kräuming, Kriminalpolizei«, stellte er sich schnell vor und hielt statt seines BKA-Ausweises die Tüte Schweineohren hoch. »Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«
Um sein Anliegen zu unterstreichen, zog er ein prachtvoll blaugeädertes Ohr aus der Tüte und wedelte damit in der Luft herum. Augenblicklich wurde es ruhig, und Elisabetta betrachtete ihn skeptisch.
»Sie haben den Toten im Tegeler Forst gefunden? Es dauert nicht lange, aber ein paar Fragen müsste ich Ihnen stellen.«
»Sind dit frische?«
»Gerade vom Fleischer geholt.«
»Eijentlich möjen meene Babys die lieber, wenn se’n paar Tage inne Sonne jereift sind. Schmecken würzijer. Na ejal! Werfen Se eens übern Zaun.«
Kräuming tat, wie ihm geheißen. Augenblicklich stürzte sich das Rudel auf das Ohr, wobei zwei Pinscher gleichzeitig beherzt zuschnappten und wie verrückt daran zerrten. Die anderen attackierten die balgenden Widersacher, die daraufhin vor Angst das Weite suchten. Schließlich wollte es der Zufall, dass einem abseitsstehenden zitternden Rehpinscher, der vorbeugend einen rotkarierten Hundemantel gegen Kälte trug, das Ohr vor die Füße fiel. Auch wenn der rosige Lauschlappen halb so groß war wie er selbst, suchte der Bemantelte sein Heil in der Flucht in den hinteren Teil des Gartens. Die kläffende Meute stürmte hinterher, und Kräuming wünschte dem Mutigen viel Erfolg.
»Komm’ Se rin. Ick hab jerade Tee jekocht. Eijene Ernte aus’m Jarten.«
Kleine Hunde mögen nur übersichtliche Pfützen machen, dennoch verzog Kräuming das Gesicht, als er sich den Mineralgehalt bepieselter Kräuter vorstellte. Schnell folgte er der alten Dame ins Haus, wobei er den hinteren Teil des Grundstücks im Blick behielt. Offensichtlich hatte das Ohr erneut den Besitzer gewechselt, denn der Zitternde mit dem roten Wärmeschutz leckte sich die Wunden und gab jammernde Geräusche von sich.
»Ich bin nur hier, um Sie kurz über die Umstände zu befragen, wie Sie die Leiche aufgefunden haben.«
Elisabetta Scheuneburg räumte einen Sessel frei, auf den sich Kräuming setzen sollte, nahm ihm die Tüte mit den restlichen Ohren ab und verzog sich in die Küche, um den angedrohten Tee zu holen.
Es roch streng nach Ammoniak. Offensichtlich liefen einige der Viecher zuweilen aus. Kräuming schaute sich berufsbedingt um. Jede Wohnung verriet Details über seine Bewohner. Zeig mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist. An diesem Wohnzimmer stimmte etwas nicht. Anfangs dachte er, es liege an der spärlichen Einrichtung und dem diversen Hundespielzeug auf dem Boden. Dann erkannte er, dass es der Farbton des Zimmers war, der ihn verwirrte. Egal ob Sofa, Sessel oder Teppich, alles besaß die gleiche rotbraunschwarze Tönung. Erst da begriff er, dass es Hundehaare waren, die die Zeit verfilzt hatte. Den Würgereiz zu unterdrücken, gelang Kräuming gerade noch, bevor Pinscherelli, wie er sie in Gedanken längst ebenfalls nannte, wieder aus der Küche kam.
»Danke, ich vertrage Kräutertee überhaupt nicht«, beeilte er sich zu erklären. »Davon bekomme ich immer Hautausschlag. Pusteln und rote Flecken.«
Ihr Schulterzucken beruhigte ihn. Er war sich sicher, in diesen vier Wänden würde er sogar auf reines Wasser allergisch reagieren.
»Können Sie mir kurz beschreiben, wie Sie die Leiche gefunden haben?«
»Woll’n Se sich nich setzen?«
»Ich habe es im Kreuz und stehe lieber«, log er erneut, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ick bin wie immer jeden Morjen mit meene Babys spazieren jejangen. Hunde brauchen täglich Ausloof. Dit ist jut für ihre Jesamtkondition. Auch wenn se kleen sind, tief in se drin schlummert noch imma der Wolf.«
Kräuming war sich absolut sicher, dass dem so war. Inständig hoffte er, dass das Schweineohr noch eine Weile allen Knabberbemühungen trotzen würde.
»Als ick heute um sieben Uhr anne Dicke Marie vorbeikam, seh ick dit Fahrrad an eem Baum lehnen. Ick kieck ma um. Aber weit und breit nüscht zu sehen. Ick hab sofort erkannt, dass dit’n teures Modell is. Meene Babys mögen Fahrradfahrer überhaupt nich und rejen sich immer mächtich uff, wenn se eenem bejegnen. Zu groß, zu schnell und für so zarte Wesen natürlich ne jefährliche Bedrohung. Dit sehen aber die wenigsten ein. Meene Lieblinge sind zwar kleen, aber mutig, und wehe, ihnen kommt eener quer. Der kann wat erleben! Dit sag ick Sie!«
»Sie haben also das Fahrrad gefunden. Und weiter?«
»Na, ick habe mir jewundert, dit so een wertvolles Stück mutterseelenalleene im Walde steht. Da dacht ick mir, vielleicht muss der Besitzer ma pinkeln, ick meene austreten. Als aber nach na janzen Weile keener kam, hab ick laut jerufen. Hallo, hab ick gerufen. Een paar Mal. Und dann hat Attila plötzlich anjeschlagen.«
Völlig unerwartet begann Elisabetta die Meldung des Hundes nachzuahmen.
»Da wusste ick, wat Schreckliches is jeschehen. Und dann hab ick die Leiche entdeckt. Meine Babys waren janz uffjeregt. Na, die sehen ja ooch nich jeden Tach een Toten.«
Kräuming versuchte, verständnisvoll zu nicken.
»Daraufhin haben Sie die Polizei informiert?«
»Nee, hab ick nich. Mit de Beamten hab ick dit nich so. Außerdem, der Tote war doch Dr. Heinrich Sellmann, der Arzt. Den kennt jeder hier. Ick hab die Frau Doktor anjerufen, die Ilse, und die hat dann die Bullen informiert. Ick meene die Polizei.«
Die Vorstellung, die Nachricht über den Tod eines geliebten Menschen von Pinscherelli übermittelt zu bekommen, machte Kräuming einen Augenblick sprachlos. Dann fragte er: »Ist Ihnen vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Ich meine auf dem Weg zum Fundort. Sind Ihnen Personen begegnet?«
Pinscherelli schüttelte den Kopf.
»Bronson hat sich een bisschen komisch verhalten. Als hätta ne Spur jefunden. Der issa een Stück jefolgt, aber naja, er is nich jerade der Mutigste. Mehr als zehn Meter entfernt der sich nie von mir.«
»Bronson ist der mit dem roten Mantel, der so zittert?«
»Jenau, der Arme ist hochsensibel und kann mit Druck janz schlecht umjehn.«
»Ich verstehe«, erwiderte Kräuming. »In welche Richtung hat Bronson denn die Spur verfolgt?«
»Zum Tegeler Schlossjarten wollta.«
Mehr gab es nicht zu fragen. Dem Hinweis, dass der Mörder möglicherweise in Richtung Alt-Tegel verschwunden war, würde er nachgehen. Offensichtlich war der Täter im Dunkeln durch den Wald gegangen, womöglich mit einer Taschenlampe, was die These eines geplanten Mordes stützte. Erleichtert, keine weiteren Fragen mehr zu haben, bedankte er sich und war im Begriff zu gehen. Pinscherelli machte keine Anstalten, ihn zu begleiten. Zufrieden saß sie im Sessel und nippte an ihrem Kräutertee. »Wenn Se die Tür öffnen, halten Se Attila, dem großen Hochbeinijen mit dem zerfetzten Ohr, Ihre Hand hin. Wenna merkt, dit von Ihnen dit Schweineohr kam, tuta Ihnen ooch nischt. Hunde riechen, ob Menschen ihnen wohljesonnen sind.«
Kräuming war sich nicht sicher, ob die Rehpinscherbande das genau so sah. Vorsichtig öffnete er die Tür. Keine zähnefletschende Bestie weit und breit zu sehen. Erleichtert atmete er durch. Bis zum Tor waren es fünf Meter. Auch wenn es für einen Kriminalkommissar unangemessen war – ein kurzer Sprint, und er befand sich wieder auf sicherem Terrain. Seine sportliche Einlage schien von den Wadenbeißern unbemerkt geblieben zu sein. Keine der kläffenden Miniaturausgaben interessierte sich für ihn. Erleichtert zog er eine halbvolle Schachtel Atika aus seinem Parka, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Aromatischer Würztabak und im Rauch nikotinarm, versprach der Anbieter. Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu haben. Er rauchte das Kraut, weil es leicht war und weniger krebsfördernde Stoffe enthielt. Dummerweise kompensierte er das dadurch, dass er öfter zur Schachtel griff.
Einer der Vorhänge bewegte sich. Elisabetta Scheuneburg hatte seine sportliche Einlage beobachtet. Aber das war Kräuming egal. Er stieg in den Volvo, und obwohl er rauchte, glaubte er nach Pinscherpipi zu riechen. Am liebsten hätte er einen Abstecher in Tante Fannys Wohnung gemacht, um ausgiebig zu duschen. Ärgerlicherweise aber wartete sein verschnupfter Chef im Büro auf ihn.
Es begann zu regnen, große Tropfen, und es wurden mehr. Er startete den Volvo und schaltete die Scheibenwischer an, die quietschend über die Frontscheibe glitten.
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