Diagnose: Mingle - Martina Leibovici-Mühlberger - E-Book

Diagnose: Mingle E-Book

Martina Leibovici-Mühlberger

3,8

Beschreibung

Sie sind weder Singles noch gebunden, sondern etwas dazwischen: Die Mingles werden von den Teenagern bis zur Generation 50 plus zum Massenphänomen. Sie konsumieren vom Kinoabend zu zweit, über den romantischen Wochenendausflug bis zum Sex die angenehmen Seiten von Partnerschaften, doch wenn es ernst wird, hauen sie ab. Sich einlassen und Verantwortung übernehmen passt nicht in ihr Beziehungsschema, das auf Unverbindlichkeit basiert. In meiner psychotherapeutischen Praxis habe ich in den vergangenen Jahren miterlebt, dass sich die Menschen in ihrem inneren Kern verändert haben , sagt die renommierte Ärztin und Psychotherapeutin Leibovici-Mühlberger. Die Hardware Herz ist zunehmend beschädigt. Wir sind auf dem Weg zur fühltauben Gesellschaft. Es entstehen distanzierte Seelenfreundschaften mit Sexualoption ohne Vermischung von Lebenssphären. In ihrem Buch zeigt Leibovici-Mühlberger präzise und überzeugend, woher das Phänomen kommt, und wie wir damit umgehen. Sie macht Mut zum Ausbruch aus einem emotionalen Korsett, das auch uns zu vielleicht chiquen, doch innerlich leeren Mingles machen kann.

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Martina Leibovici-MühlbergerDiagnose: Mingle

Alle Rechte vorbehalten© 2014 edition a, Wienwww.edition-a.at

Lektorat: Anatol VitouchCover: Kyungmi ParkGestaltung: Hidsch

Gesetzt in der PremiéraGedruckt in Europa

1 2 3 4 5 — 17 16 15 14

Print-ISBN: 978-3-99001-099-0eBook-ISBN 978-3-99001-145-4

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

If God is a DJLife is a dance floorLove is the rhythmYou are the musicYou get what you’re givenIt’s all how you use it

Liedtext »If God is a DJ« – PINK

Inhalt

Einleitung

Warum wir nicht mehr fühlen können – Ein böser Verdacht

Wenn man sich für Motorräder interessiert …

Ein Brathuhn zum Verlieben

Warum wir lieben

Das losgelöste ICH

Die alte Geschichte von Narziss

Die bewährten Schergen der narzisstischen Gesellschaft im Alltagsleben

Eine unglückliche Liaison und wo wir damit gelandet sind

Ich liebe dich – von der Begriffsbestimmung der »Liebe« in einer narzisstischen Gesellschaft

Liebe, Sex und …?

Die Reaktionsbildungen der kollektiven Fühltaubheit der narzisstischen Gesellschaft

Die depressive Einbunkerung

Die aggressive Instrumentalisierung

Wie wir wieder lebendig werden

Der Ausweg aus der Misere – der selbstmächtige Mensch

Ansätze zu lebendigem Leben – die Liebe entdecken Die Geschichte vom konstruierten EGO oder vom Verlust des wahren ICH – bekannt als die story von der »Erbsünde«

Die Entthronung des EGOs als Voraussetzung für die Heimkehr zum ICH

Die Quellen meiner ICH-Sättigung und meinen Dienst erkennen lernen

Die Suche nach dem »bestätigenden Blick« – unsere grundsätzliche Liebesfähigkeit und mich zur Grundkraft des »Lieben-Wollens« bekennen – ICH liebe DICH

Anna und Paul

Eines der schwierigsten Kapitel: die eigene Sexualität in Besitz nehmen

Die Angst vor Abhängigkeit und der Mythos von Unabhängigkeit, der immer böse Abhängigkeit erzeugt. Warum nur wechselseitige Abhängigkeit wirklich Freiheit zu schenken vermag

Hingabe statt Angabe – Mut zum Bekenntnis statt Taktieren und Machtausübung

Schmerz akzeptieren und konstruktiv überwinden, statt Fixierung in Wehleidigkeit, Opferstatus und Leiden

Sich dem Leben anvertrauen, um dem Tod freudvoll entgegenzuwachsen

Epilog

Einleitung

Die größten Abenteuer sind im Kopf und werden durch das Herz begründet. Jene Interaktionen zwischen Denken und Fühlen, die in Menschen zu Überzeugungen und inneren Wirklichkeitskonstruktionen führen, bilden die Grundlage, auf Basis derer sie dann ihre äußere Realität schaffen. Wer davon überzeugt ist, dass die Welt ein gefährlicher, vertrauensloser Ort ist, schafft es auf magische Weise immer wieder, in Situationen zu kommen, die ihm dies beweisen. Wer mit Kraft und Grundvertrauen durch die Szenerie seines Lebens marschiert, dem erscheinen die härtesten Stolpersteine, die ihm das Leben in den Weg legt, wie kleine Herausforderungen. WIE Menschen diese, ihre Wirklichkeit erschaffen, das hat mich immer fasziniert. Als Kind in der Uniformität eines Gemeindebaus aufgewachsen, in der so ziemlich alle gleich viel hatten und mit den gleichen sozialen Problemen des Aufsteigen-Wollens kämpften, waren die so unterschiedlichen Formen »gücklichen und unglücklichen« Lebens, die sich in den zahllosen Boxwohnungen dieses Labors abspielten, für mich Gegenstand intensiver Beobachtung und Fragestellung. Später, noch als Studentin der Medizin, habe ich zu einem Zeitpunkt, als Psychotherapie noch psychologische Beratung hieß und mit einem am Magistrat formlos zu lösenden Gewerbeschein möglich war, mich in noch viel intensiverer Weise mit dem Innenleben von Menschen auseinanderzusetzen begonnen.

Heute überblicke ich als Psychotherapeutin einen langen Zeitraum und bin alarmiert. Die Menschen scheinen sich in den letzten Jahren rasant in ihrem innersten Kern verändert zu haben. Früher hat das Zusammenspiel zwischen Herz und Hirn, geschaffen aus den frühen Erfahrungen des betroffenen Menschen, eine mehr oder weniger zuversichtliche oder leidensbereite Wirklichkeitskonstruktion und Lebensrealität geschaffen. Die Übereinkunft, »einen Partner lieben zu wollen«, erfuhr eine korrespondierend mehr oder weniger geglückte oder leidvolle Umsetzung.

In den letzten Jahren aber erscheint es mir so, als lebten wir zunehmend in einer Welt, in der die »Hardware« Herz beschädigt ist, nicht mehr ihren Dienst und Beitrag zu leisten vermag. Irgendetwas, ein ganzes Bündel an Ursachen, vergiftet unser Herz immer mehr, lässt es klamm, steif und auch hart werden. Das Fühlen-Können und damit unsere Liebesfähigkeit sind in dieser Gesellschaft im Absterben begriffen, mit allen schrecklichen Konsequenzen und Facetten von Unabhängigkeitswahn bis Bindungsflucht. Denn was ist das für eine Gesellschaft, in der nicht mehr Herz und Hirn die Wirklichkeit bestimmen, sondern nur mehr der nüchternen Ratio mit ihrer Maximierungswut der rote Teppich kluger Gültigkeit ausgerollt wird? Unsere Welt, die Welt der reichen Technologiegesellschaften, mit ihren ausgefeilten Sicherheits- und Kontrollsystemen, in der nicht einmal der privateste Raum unausgeleuchtet bleibt, ist kalt geworden. Gefühlt wird anderswo. In Holly- und Bollywood oder in den gierig verschlungenen TV-Serien. Wir lassen fühlen und bleiben, sehnsuchtsvoll oder resigniert, im Zuschauersessel. Für jene, die Unverbindlichkeit in der Beziehung zelebrieren, gibt es das Wort »Mingles«, von »mixed Singles«. Mingles gibt es in allen Generationen. Während der Begriff ein Modewort ist, der die jüngeren Generationen zu charakterisieren scheint, ist die Unverbindlichkeit in den Beziehungen altersunabhängig geworden. Selber zu fühlen, sich auszusetzen, sich einzulassen auf sein Herz, mutet immer mehr Menschen als zu gefährlich und risikoreich an. Die »Fühltaubheit«, wie ich diese Erkrankung nenne, geboren aus einem Zusammenwirken der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre und einer nahezu jedem von uns inhärenten, primären narzisstischen Traumatisierung, breitet sich wie ein Flächenbrand als neues Betriebssystem eines neuen und sehr mutlos wirkenden menschlichen »Miteinanders« aus. Doch damit stirbt die Liebe und mit ihr die Lebendigkeit, denn Liebe und die ihr innewohnende Bindungskraft hält buchstäblich alles zusammen und am Leben.

Eine Bilanz der Reduktion auf das Materielle ist ernüchternd. Selbst die Masse unserer eigenen physischen Existenz, jene unseres Kohlenwasserstoff-Organismus, passt in sich zusammenfallend auf eine Stecknadelspitze. Was uns zusammenhält und Form gibt, sind alleine die Bindungskräfte zwischen den Atomen, die den vielen leeren Raum mit Sinn zu füllen vermögen. Es ist also die Bindungskraft, die »Liebe« zwischen den Atomen, die unsichtbar und dennoch äußerst kraftvoll wirkt. Erst dieses »Nichts« verleiht uns Fülle, lässt uns zu dieser Gestalt werden, die wir unseren Körper nennen. Und erst unsere Fähigkeit zu fühlen und zu lieben und dabei durchaus auch durch Schmerz und Irrtum zu gehen, macht uns zum Menschen. Die Fühltaubheit entmenscht uns, sie tötet unsere Lebendigkeit sukzessive ab und reduziert uns damit auf das kleine, kalte Massepaket, das auf die Nadelspitze passt.

In dieser grauen, ängstlichen, von Kälte geprägten Welt, in der ich Gefühle nur auf einem Flachbildschirm betrachten oder aus zweiter Hand in einer mit maximalen Reizen versehenen Eventkultur konsumiere, will ich nicht leben. Mir graut vor dem Mingle-Dasein. Ich will bereit sein, dann, wenn das Leben mich unvermutet und außer meiner Kontrolle ruft, mein eigenes Herz wild in meiner Brust schlagen zu fühlen. Ich will das Zittern meiner eigenen Knie wahrnehmen, wenn es die Situation erfordert, will den Mut finden, das, was ich fühle zu bekennen, und will auch den mir auf diesem Weg gegebenen Schmerz ohne Wehleidigkeit ertragen und als den Boten eines für mich notwendigen Lernschritts erkennen lernen. Ich will diesen Weg des fühlenden, vom Lebensstrom und nicht am Designerschreibtisch eines Programmierers geschriebenen Lebens, diesen Weg einer neuen, freien, aus der eigenen Person begründeten Liebe, die der Lebendigkeit verpflichtet ist. Ich will ihn für mich und meine Kinder, für ihre und unser aller Zukunft. Und ich wünsche mir, dass viele den Mut finden, ihn mitzugehen. Denn dieser Text soll eine Liebeserklärung an die Lebendigkeit sein.

Warum wir nicht mehr fühlen können – Ein böser Verdacht

Eigentlich nahmen alle Überlegungen für mich damit ihren Anfang, dass ich begann, mit dem ICD-10 auf Kriegsfuß zu stehen. Der ICD-10 ist, entgegen seinem Namen, kein Schnellzug, sondern das Diagnosemanual für uns Mediziner. Eine Art Bibel, mit der wir die Erkrankungen jedes Fachbereichs, also auch psychische, in einen vierstelligen Nummerncode pressen können. Eine tolle Sache in einer Gesellschaft, der Einrasterung und Klassifizierung sakrosankt ist. Eine Leitlinie, die Objektivität und Realität abzubilden vermag, die eine Krankheitswertigkeit festlegt und somit Orientierung zwischen krank und gesund anzubieten vermag. Damit tritt sich dann auch eine ganze Lawine von handlungsanweisenden Leitlinien für die Behandlung los, und alle sind glücklich. Die behandelnden Ärzte und Therapeuten, die wissen, was sie nun lege artis zu tun haben, und auch die Patienten, die endlich ein fassbares Etikett für ihre Probleme bekommen. In früheren Jahren meiner Tätigkeit hatte ich das befriedigende Gefühl, punktgenau ins Schwarze zu treffen, wenn ich zum Beispiel das F 34.0 nach Zusammenschau und Abwägung aller Anamnesedetails eines Patienten auf den Diagnosebogen malte. In den letzten Jahren überwog mehr das Gefühl, gerade einmal die Zielscheibe getroffen zu haben.

Immer mehr befiel mich der Eindruck, dass bei vielen Patienten ein wesentlicher, ja fundamentaler Aspekt ihres Leidens in der gängigen Diagnostik keine Abbildung findet. Bei vielen meiner Patienten war eine eindeutige Verflachung ihres Gefühlsspektrums, eine deutliche Abnahme der Intensität der Gefühlsqualität, die zwischenmenschliche Prozesse auszulösen vermochten, ja sogar eine Art Fühltaubheit zu bemerken. Diese Schwäche des Gefühls bezog sich eindeutig auf den Bereich der Bindungsprozesse zu anderen Menschen, im Speziellen auf das, was man im allgemeinen Sprachgebrauch als Liebesbeziehungen bezeichnet. Es schien mir, als würde es zu einem zunehmenden Abzug von Bindungsenergie und Bindungsqualität gegenüber anderen Menschen kommen. Stattdessen konnte ich eine Verlagerung der emotionalen Besetzung auf andere, stark »selbstzentrierte« Bereiche und Objekte bemerken. So sehr, dass andere Menschen zu »Selbstobjekten« instrumentalisiert wurden. Gleichzeitig schien diese Strategie von wenig Erfolg im Sinne einer beglückenden Konzeption des persönlichen Lebens gekrönt zu sein. In vielfacher Weise war sie mitverursachend für jene Leiden, die mir die Patienten in der Sprechstunde zur Therapie anboten. Immer häufiger befiel mich das Gefühl, dass hier etwas grundsätzlich und allgemein faul sein müsse, wenn immer mehr Menschen keine Bindungsbesetzung für andere Menschen aufzubringen vermochten und sich, bewusst oder unbewusst, der ständig wachsenden Schar der Mingles anschlossen. Immer mehr bekam ich den Eindruck, hier zwar noch vor einer Nebelwand zu stehen. Aber ich spürte die Gewissheit, dass sich hinter diesem zunehmenden Phänomen weit mehr als das erklärbare persönliche Lebensdisaster von ein paar Individuen verbarg. Die Fühltaubheit oder pragmatische Beziehungsführung schien mir zu etwas wie einem gesellschaftlichen Grundphänomen geworden zu sein. Die Entsorgung der Liebe und damit all dessen, was uns erst Tiefe und Fülle, ja Sinn für jene kurze Zeit zu verleihen vermag, in der wir als flüchtige und verletzbare Kohlenwasserstoffverbindung diesen Planeten bevölkern.

Wurde hier, in dieser Besetzungsverschiebung, die letztendlich das höchste Liebesobjekt immer wieder nur in sich selbst erblickt, die Entkulturalisierung unserer Menschlichkeit eingeläutet? Zahlreiche Fälle aus meiner Praxis gaben dazu beredtes Zeugnis ab. Auch von den damit verbundenen, jedoch in ihrem Zusammenhang oft nicht erkannten Konsequenzen.

Ralf sucht mich zum Beispiel wegen hartnäckiger Schlafstörungen auf. Diese quälen ihn nun schon seit Jahren, allerdings hat das Ganze die Tendenz, immer bedrängender und häufiger zu werden und geht mit einem sich ewig wiederholenden Albtraum einher. Dabei steht mit Ralfs Leben eigentlich alles zum Besten. Er ist einer, der es wirklich geschafft hat, wie man so sagt. Als junger Doktor der Technik hat er vor knapp 30 Jahren eine kleine, aber bemerkenswerte Neuerung in einem Spezialzweig industrieller Fertigung geschaffen und mit dem damit verbundenen Patent Millionen gemacht. Als einer, der gerade von der besseren in die schlechtere Hälfte des Jahrzehnts zwischen 50 und 60 gewechselt hat, könnte er sich behaglich zurücklehnen und sein Leben in vollen Zügen und mit beträchtlichem Wohlstand genießen. Ist ihm das Wetter in Wien zu trüb, so fliegt er für eine Woche zum Golfen nach Thailand oder in sein Haus nach Fort Lauderdale. Doch leider fliegen seine Schlafstörungen und der mit ihnen verbundene Albtraum immer mit, egal an welchem Jet-Set-Point des Globus er sich befindet. Jetzt ist er bereit, tiefer zu graben. In seinem Albtraum fährt er auf einem Motorrad auf einer langen, sonnenbeschienenen Straße. Plötzlich beginnt sich das Wetter zu ändern, und die Straße, die zuerst perfekt glatte Asphaltierung zeigt, bricht an immer mehr Stellen auf, so als würde im Untergrund ein großes Tier wüten. Ralf vermag unvermutet auftauchenden Schlaglöchern und Querrillen nur mit großer Mühe und in letzter Sekunde auszuweichen. Gleichzeitig beschleunigt das Motorrad ganz von alleine. Auftauchender Nebel behindert die Sicht zunehmend. Siedende Angstgefühle durchfluten Ralf und stehen in scharfem Kontrast zu der immer schneidenderen Kälte des Fahrtwinds. Am Ende taucht eine graue Granitwand vor Ralf auf. Der Zusammenstoß ist unvermeidbar, und schweißgebadet wacht er an dieser Stelle des Traums auf. »Jedesmal bin ich dann vollkommen erschöpft und total fertig, brauche eine gute Stunde, um mich wieder emotional zu orientieren und dieses Todesgefühl abschütteln zu können«, berichtet er. In den meisten Nächten, in denen dieser Albtraum auftritt, ist danach an weiteren Schlaf nicht mehr zu denken. Ich sehe ihn mir genauer an. Eine elegante Erscheinung, sportlich, dynamisch, natürlich gebräunt und strahlendes Lächeln, nackte Füße in Wildledermokasins der teuersten Sorte, genauso wie das restliche Outfit, in dem ein gut trainierter und sorgfältig gepflegter Body steckt. In der Bewegung wirkt er etwas steif, manieriert könnte ich es mit weniger Gutmütigkeit, geckenhaft mit Spottlust nennen. In seinem Tagesablauf ist er gut durchbeschäftigt. Die zwei Stunden Bodybuilden habe ich ihm schon vorweg angesehen, sonst Zeitungen und News zur Orientierung, ein wenig tägliche Verfolgung von Aktienkursen, Mittagessen mit dem einen oder anderen Freund oder manchmal mit seinem Sohn. Ausstellungen, Einladungen Folge leisten oder selber in kleiner Runde einladen, sonstige Veranstaltungen, eine Aufsichtsratssache, seine Hobbys und nicht zu vergessen die »Hasenjagd«. Attraktiv, jung und unkompliziert müssen sie sein, um in Ralfs Beuteschema zu passen. Er ist großzügig aber lässt sich auf nichts wirklich Festes mehr ein, wie er mit seiner sehr wohlklingenden Stimme ausführt. Seinen Panzer wird keine mehr zu durchdringen vermögen. Auch das stellt er sogleich klar. Das Lehrgeld seiner Ehe war ein bitterer Nachgeschmack. »Zwei Jahre Glück habe ich mit nachfolgend 20 Jahren Verfolgung und dem Verlust meiner Kinder bezahlt«, beschreibt er mir seine Lebenserfahrung zum Thema Liebesbeziehungen. Seine Bemühungen um die Kinder waren fruchtlos und teuer. Das zu einer Zeit, wo er das Geld dringend in der Firma gebraucht hätte. Als Ergebnis vermag er heute nur eine emotional sehr distanzierte Beziehung zu seinem Sohn vorzuweisen, seine Tochter verweigere, von der Mutter indoktriniert, nach wie vor jede Kontaktnahme. Eine zweite tiefere Beziehung, ein paar Jahre nach der ersten Scheidung, ist an den parallel laufenden Kämpfen mit der Ex-Frau gescheitert. Leidenschaft lässt er seit Jahren nur mehr bei seinen Hobbys zu. Golfen, Old-Timer sammeln und Rennen fahren. Er hat sich dazu auch eine eigene Werkstatt eingerichtet, in der er stundenlang herumschraubt, poliert, adjustiert oder Teile erneuert. Früher waren es auch Motorräder, aber mit denen hat er wegen des Albtraums aufgehört.

Doch Ralf ist nicht mein einziger Patient, der diesen Weg der »Gefühlsvertaubung« gegenüber zwischenmenschlichen Liebesbeziehungen für sich als Lebensstrategie gewählt hat.

Da gibt es Klaus, der seine Frau während der Schwangerschaft, in der sie wegen vorzeitiger Wehen nicht mit ihm schlafen kann, damit konfrontiert, seinen Hormonspiegel mit Unterstützung einer früheren Freundin abbauen zu müssen. Und der meint, nur auf diese Weise über genügend Energie zu verfügen, um sich auf ihr gemeinsames Kind unbeeinträchtigt freuen zu können.

Oder auch die Volksschuldirektorin Elisabeth, die nun, am Ende ihrer 40er, endlich mit Hilfe von Internetforen und einer Freundinnenschar einen klaren Katalog all jener Bedürfnisse angelegt hat, die ihr zukünftiger Traumpartner befriedigen muss. Den kann sie heute im Schlaf und kompromisslos herunterbeten. Die durch entsprechende Plattformen herangeschafften Kandidaten werden rigoros, wenngleich in den letzten beiden Jahren ergebnislos, vermessen. Ein frustrierendes Unterfangen, das ihren abendlichen Alkoholkonsum immer mehr verstärkt hat.

Hartmuth, ein habilitierter Neurologe, in dessen Hände ich meinen Schädel mit blindem Vertrauen legen würde, hat es scheinbar viel besser gemacht. Jedenfalls hat er viele Neider wegen seiner 25 Jahre jüngeren Frau, die er von einer Urlaubsreise aus Rumänien mitgebracht hat. In äußerst bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ist sie das sexuelle Haushaltspaket seiner mittleren und späteren Jahre. Sie verbindet den Vorzug von Unterlegenheit mit jenem mangelnder Sprachkenntnisse. Sogar einen kleinen Sohn hat er sich auf diese Weise noch anschaffen können, wie er es mir gegenüber nennt. Damit ist auch für die Beschäftigung der bildhübschen jungen Frau aus dem nordöstlichsten und ärmsten Teil von Rumänien gesorgt. Mehr ist da nicht, keine tieferen Gefühle, wehrt er meine Nachfrage fast entrüstet ab. Seine wirkliche Leidenschaft gilt seiner Karriere und Motorradtouren im wilden Gelände, die früher gut gegen seine Depressionen gewirkt haben.

Die erfolgreiche Versicherungsmaklerin Regina wiederum setzt auf die Lebensfreundschaftsbeziehung statt auf eine Liebesbeziehung zu einem Mann. Mit Karl, einem regionalen Immobilienmakler, den sie noch aus Jugendjahren kennt, hat sie den idealen Konterpart gefunden. Sie teilt viel an gemeinsamer Freizeitaktivität, beruflichem Austausch und wechselseitigem Beistand in den unterschiedlichsten Lebensanliegen mit ihm. Aber sicher nicht Sexualität und Liebe. Alles, was im Leben der 52-Jährigen über Freundschaft hinausgehen könnte, ist tabu. »Dafür bin ich einfach zu alt«, hat sie entschieden. Bei mir auf der Couch liegt sie wegen ihrer zwanghaften Hypochondrie.

Nun ließe sich an dieser Stelle sicher gut einwenden, dass es sich hier um ein altersgruppenspezifisches Phänomen handeln könnte. Die mittleren Lebensjahre eben, mit ihren Stromschnellen, die die schon viel weiter oben im Strömungsverlauf angelegten Schwierigkeiten zu Tage treten lassen. Eine Überlegung, die auch für mich beim ersten Hinsehen großen Charme ausstrahlte. Handelte es sich hier etwa nur um das Problem einer kleinen, speziellen Randgruppe von Patienten, die ihre Midlife-Crisis nicht erfolgreich zu überwinden gewusst hatte und so in das Mingle-Schema der totalen Unverbindlichkeit gerutscht war? Die schon aus der Kindheit mit schlechten Bewältigungsstrategien ausgerüstet und eventuell bereits traumatisiert nun psychisch oder psychosomatisch auffällig wurde? Und die als vielleicht neu zu beschreibendes »Gruppensymptom« die Fähigkeit von tiefer emotionaler Bezugsfähigkeit auf ein Partnergegenüber vermissen ließ? War es eventuell auch ein durch die Emanzipationsbewegung erklärbares Generationsproblem der heute 45 bis 60-Jährigen? Jener Frauen also, die schon mit dem vollständigen Konzept, was es bedeutet, eine emanzipierte Frau zu sein, in ihre jungen Frauen- und Beziehungsjahre gegangen waren, nur um auf jene weiterhin in Sachen Emanzipation verschlafen sozialisierten jungen Männer zu treffen, die sich im Zweifelsfall doch besser am patriarchalen Rollenmodell festhielten? Stand hier die Wiege des Mingle-Daseins? Da hatte es sicher genügend Möglichkeit gegeben, einander in Rollenunverträglichkeit ausgiebig an die Kehle zu gehen und Blessuren zu schlagen. Die zarter Besaiteten landeten dann eben auf der Couch und gaben in Sachen Liebe in der einen oder anderen Weise auf.

Wie sah es dagegen bei meinen jüngeren Patienten, also jenen »Millennials« aus, die allesamt ein Geburtsdatum jenseits von 1980 aufweisen? Welche Bedeutung und welchen Stellenwert in ihrer Selbstkonstruktion nahmen Beziehungen für sie ein? Diese Frage beschäftigte mich als nächstes.

Nina ist irgendwo im Umfeld von Linz aufgewachsen. Ihre Mutter ist Volksschuldirektorin, ihr Vater Jurist in einem großen Unternehmen. Nina besucht das lokale Gymnasium, genauso wie ihre zwei Jahre ältere Schwester. Die Beziehung der Eltern ist schwierig und konfliktreich. Der Vater unterhält über Jahre eine Beziehung mit einer Arbeitskollegin, die Familie weiß davon. Die Eltern können sich weder voneinander trennen, noch für den permanent schwelenden Konflikt eine Lösung finden. Irgendwann gibt es einen kleinen Halbbruder für Nina und ihre Schwester und eine Depression für die Mutter, doch an der Grundkonstellation ändert sich nichts. Nina empfindet für beide Eltern nur Verachtung. Als sie am Milleniumssilvester ihren 18. Geburtstag gefeiert und im darauffolgenden Jahr die Matura hinter sich gebracht hat, geht sie nach Wien und studiert Betriebswirtschaft. Ihre eigenen Beziehungen sind flüchtig, explorativ, situationsbezogen, wie sie es nennt. Ihr Studium ist ihr wichtig, und nach einem ersten Job bei einem Handynetzprovider winkt nach fünf Jahren ein Angebot in London, das sie begeistert annimmt. Dort wird ein Arbeitskollege aus Malaysia ihr ständiger Begleiter, mit dem sie, auch um die hohen Londoner Mietkosten teilen zu können, eine Beziehung eingeht. Doch das junge Glück ist von starken kulturellen Spannungen und Revierkämpfen überschattet. Und in der Karriere zurückstehen, um den Beziehungsraum gestalten zu können, will keiner wirklich. Nina leidet unter den Spannungen der sexuellen Wohngemeinschaft mehr als ihr Partner. Immer häufiger verschafft sie sich mit Shopping-Touren Stressabbau und Glücksmomente. Die Situation wird zunehmend unerträglich. Turbulenzen in der Firma führen letztendlich dazu, dass sie vor knapp einem Jahr zurück nach Österreich kommt. Jetzt lebt sie alleine und ist wegen ihrer Kaufsucht bei mir in Behandlung. Männer lässt sie aus Überzeugung nur mehr als One-Night-Stand in ihrem Leben zu.

Mark hat dagegen ein ganz anderes Problem. Er ist 31, gelernter Tontechniker und lebt bei seinen Eltern in deren Haus in Perchtoldsdorf. Der Vater ist ein pensionierter, cholerischer Forstrat, die Mutter eine verhärmte, depressive Hausfrau, wie Mark es beschreibt. Das ist ein feines Arrangement, zumindest aus seinem Blickwinkel, denn die Einliegerwohnung mit ihrem separaten Eingang bietet ihm genügend Privatsphäre, und gleichzeitig sind alle Infrastruktur- und Versorgungsthematiken über die Eltern mitabgehandelt. Er spart enorm Kosten und Energie, weil er sich um Gemeindeabgaben, Strom und Heizung nicht kümmern muss und die Wäsche von Mutters Zauberhand versorgt wird. Rebecca ist Marks Dauerfreundin, seit sechs Jahren, etwas Fixes würde man sagen. Es ist nett mit ihr, angenehm, so beschreibt er die bisherige Beziehung, doch im letzten Jahr hat sich nach Marks Einschätzung ein problematischer Unterton eingeschlichen, der die Leichtigkeit bedroht. Rebecca drängt ihn. Sie will mehr. Die netten Abende in ihrer Wohnung oder bei ihm, die gemeinsamen Urlaube, die Partys und zusammen absolvierten Kino- oder Veranstaltungsbesuche sind ihr zu wenig. Und das, obwohl er sich doch eindeutig dazu bekennt, mit ihr zusammen zu sein. Sie will eine richtige Beziehung, wie sie es nennt, und Mark entwickelt spürbar zunehmende Fluchttendenzen vor der geforderten Verbindlichkeit. Gemeinsam etwas aufbauen ist nicht sein Ding. Das klingt nach Mühe, täglicher Abstimmungsnotwendigkeit und eindeutiger Festlegung auf einen Menschen. Im schlimmsten Fall sogar nach einem gemeinsamen Kind. Wie soll ich wissen, ob ich das morgen noch will, kontert Mark und verschanzt sich hinter der pseudophilosophischen Worthülse, dass das Leben ein Fluss sei, dessen Lauf man sich eben frei anzupassen hätte. In Marks Fall muss man allerdings konstatieren: ohne das Risiko eingehen zu wollen, sich nass zu machen.

Birgit und Phillip scheinen da eindeutig weiter zu sein, denn unter Birgits braunem Schlauchrock wölbt sich bereits eine ansehnliche Schwangerschaft, die irgendwo zwischen dem fünften und sechsten Monat angesiedelt sein muss. Schließlich demonstrieren sie auch damit Ernsthaftigkeit, dass sie zur Auseinandersetzung und Beratung gemeinsam in meinem Sprechzimmer sitzen. Bei Phillip sind die Segel auf Familiengründung gesetzt. Der 32-Jährige, hoch aufgeschossene junge Mann mit einer Figur wie ein Cornetto, hat sich bereits sehr erfolgreich seine Sporen bei einem internationalen Personalentwickler verdient und möchte nun den Hafen Familie anlaufen. Aus Birgits Blickwinkel sieht die Sache jedoch gänzlich anders aus. Für Sie, gerade 30 geworden, passt der Zeitpunkt, um ein Kind, nämlich IHR Kind zu bekommen. Doch sich Phillip »ausliefern«, wie sie es nennt, möchte sie nicht. Sie hat ein klares Konzept vor Augen, wie sie ihre Mutterschaft als autonome und auch wirtschaftlich unabhängige Frau leben möchte, was sie ihrem Kind alles geben möchte. Mit Hinweis auf die »beschissene Ehe« und den jahrelangen nachfolgenden Rosenkrieg ihrer Eltern, von dem nahezu ihre gesamte Kindheit überschattet war, vertritt sie ihr Recht, dieses Risiko mit Mark gemeinsam nicht eingehen zu wollen. Pragmatische Verhältnisse sind ihr lieber. Klare Grenzen, klare Aufgabenverteilungen, kein Zusammenwohnen. Natürlich soll ihr Sohn, das Geschlecht ist schon per Ultraschall festgestellt worden, eine gute und intensive Beziehung zu seinem Vater aufbauen. Phillip soll sich also nicht nur als »Zahlvater« einbringen, aber bitte mit seperatem Lebensterrain. Wie es zwischen ihr und Phillip als Paar weitergehen soll? Das sieht sie gelassen. Mit dem zukünftigen Kind fühlt sich Birgit nun emotional vollkommen auf der sicheren Seite des Lebens angekommen. Denn ihren Sohn wird sie absolut und hingebungsvoll lieben, das spürt sie schon jetzt. »Das ist eine ganz andere, viel sicherere Ebene«, argumentiert sie mit großer Überzeugung, »denn ein Kind liebt einen absolut und enttäuscht sein Gegenüber darin nicht.« »Mit der anderen Ebene hast du recht«, denke ich mir. Doch genau darin liegt die Problematik. Eine schwierige, mit großen Erwartungen beladene Kindheit wartet auf diesen noch ungeborenen Sohn.

Auch die Reihe meiner jüngeren und jungen Patienten, bei denen diese seltsame, spezifische »Fühlschwäche«, diese grundsätzliche Abnahme der Wichtigkeit von Liebesbeziehungen, ja sogar Entwertung derselben, feststellbar ist, ließe sich beliebig fortsetzen. Alles lauwarm, alles cool ist die Devise. Ganz ohne Pulsbeschleunigung soll es sein und sich als taktischer Baustein in ein streng eigenorientiertes Lebenskonzept ohne Anpassungsbereitschaft fügen. Wenn dies allerdings nicht für beide involvierten Teile gilt, sprengt die Konfrontation mit dieser Haltung für den emotional involvierten Partner einen tiefen Krater in die derart geschundene Seele. »Schwangerschaftsberatungen« wie die von Phillip und Birgit sind heute in meiner Praxis keine Seltenheit mehr. Mal ist es der weibliche mal der männliche Teil, der sich für eine verbindliche Beziehung auf der Elternebene nicht wirklich bereit fühlt. Bisweilen wirkt es fast so, als ob vor dem Eintritt der Schwangerschaft in einer Art stillem Arrangement ein mit viel anderen Inhalten und persönlichen Zielen aufgepolstertes und abgelenktes Leben nebeneinander geführt wird. Die Schwangerschaft wird dann zum Offenbarungszeitpunkt, denn sie erfordert Bekenntnis und endgültige Klärung, ob man bereit und fähig ist, sich aufeinander einzulassen und für dieses Kind eine neue soziale Einheit als Basis zu schaffen. Liebesgefühle werden vielfach als bedrohlich erlebt, eine damit einhergehende »Auslieferung« assoziiert und diese als zu hohes Risiko bewertet. Konsumieren in Leichtigkeit, in einem abgesteckten Rahmen, der gleichzeitig Unverbindlichkeit garantiert oder zumindest Hintertüren offen hält, das suchen diese Patienten. Die Dämpfung des Fühlens repräsentiert eine neue Form des strategischen Beziehungsmanagements, das jedoch, wenn ich mich unter meinen Patienten so umblicke, gerade das nicht zu erfüllen scheint, was es anstrebt: nämlich, die Menschen glücklich zu machen.

Zu diesem Zeitpunkt meiner Beobachtungen bewegte ich mich mit meinen Überlegungen noch im Feld meiner Patienten. Ich war der Überzeugung, in dieser Fühltaubheit, dieser Reduzierung der affektiven Besetzung eines Gegenübers, einen Mechanismus zu erblicken, der Ausdruck eines pathologischen Grundgeschehens war. Menschen, die auf Basis unsicherer frühkindlicher Bindungsangebote und entsprechender Traumatisierungen einen »fehlerhaften« Zugang zu einer befriedigenden zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung entwickelt hatten, waren zwar nichts Neues. Ja, sie sind sogar die Grundmatrix der psychotherapeutischen und psychiatrischen sowie psychosomatischen Sprechzimmer. Doch schien es mir eindeutig, dass eine tektonische Verschiebung im Untergrund der Bewältigungsstrategien dieser schmerzhaften Lebenssituation der Einsamkeit und Isolation erfolgte. Denn die Liebesbeziehung als grundsätzliches emotionales Lebensziel war in den früheren Jahren nicht infrage gestellt worden. Mit einem unzureichend reifen Bindungs- und Beziehungsinstrumentarium ausgerüstet, hatten meine früheren Patienten durchaus ihr »Scheitern am Gegenüber oder an sich selber« in heißen Kämpfen, frustrierenden Rückzugsschlachten und zähen, letztendlich ergebnislos verlaufenden Verhandlungen erlebt. Doch am Grundprinzip, am Streben nach einer befriedigenden Partnerschaft, war nicht gerüttelt worden. Nach einer unterschiedlich langen Periode, die sie brauchten, um sich vom Boden zu erheben, Wunden verheilen zu lassen und den Staub der letzten Niederlage aus den Kleidern zu klopfen, waren sie, wie von einem inneren Uhrwerk angetrieben, ganz selbstverständlich wieder aufgestanden. So hatte sich jener starke, auf einen anderen Menschen gerichtete Wunsch nach Nähe und Bindung wieder ganz von selbst eingestellt. Wie Kinder, die beim Laufenlernen unermüdlich nach jedem Sturz wieder aufstehen und weitermachen. Das schien sich jedoch in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert zu haben, gerade darin schien die Veränderung zu liegen. Die Menschen schienen aufzugeben. Einen anderen Menschen überhaupt noch tief und rückhaltlos lieben zu wollen, kam aus der Mode. Das war neu. Wo war die Kraft hingekommen? Es schien mir, als hätten meine heutigen Patienten im Gegensatz zu meinen früheren auf ihrem Weg den Glauben verloren, als würde die analoge Erfahrung aller Betroffenen: »Scheiße, das war nicht der/die Richtige, das tut verdammt weh!« nicht mehr zu einem »Okay, dann muss ich etwas ändern, dazulernen, verbessern, auf etwas beim nächsten Mal mehr aufpassen« führen, sondern zu einem bitteren Erkenntnisprozess. Zu einer Grundhaltung von: »Also Beziehungen sind grundsätzlich scheiße, ich mach jetzt gar nichts mehr und kümmere mich nur mehr um mich, der/die Nächste wird sich bei mir gehörig anstrengen müssen, aber ich lass keine/n mehr wirklich an mich ran.« Eine Rücknahme der Besetzungsenergie auf sich selber, ein überzogenes Ausmaß von Beschäftigung mit sich und im Untergrund ein Eisberg an Enttäuschung und Frustration schienen die Folge dieser Schwäche zu sein. Resignation des psychischen Apparats, ein Motivationssystem, das nicht mehr genügend motiviert, die Hand mit Mut nach dem Gegenüber auszustrecken, sondern rät, nur ganz bei sich zu Hause zu bleiben. Bei meinen jüngeren und jungen Patienten schien mir die Sache noch viel grundsätzlicher zu verlaufen. Es mutete an, als würden viele von ihnen bereits an der Basis mit diesem Mangel an Begeisterungsfähigkeit für ein Gegenüber ausgerüstet sein. Schon von Beginn an schienen sie so geprägt in das zwischenmenschliche Beziehungsfeld einsteigen, ganz so, als würde ein zentrales Dogma das sich offen gebende, vertrauensvolle Lieben als gefährlich, unsicher und daher als zu vermeiden entwerten. Ein für die zwischenmenschliche Begegnung bereits zu invalidisierter psychischer Apparat, dem die Brille des Egos aufgeschweißt ist. Aber es ging ihnen allen schlecht damit und, auch wenn dies das rationale Wachbewusstsein mit lautem Pathos abstritt, so hoffte doch jeder ganz im Geheimen, in der letzten tiefsten und von zahlreichen Schlössern abgesicherten Kammer irgendwann dem Traumprinzen oder der Prinzessin zu begegnen. Dem Menschen, der sie mit ihrer Liebe wie das Sterntalerkind überschütten würde. Allerdings frei nach dem Motto: »Geliebt werden will ich schon, aber lieben nicht!« Doch unsere Biologie ist nicht zu betrügen. Der Mensch, das aristotelische zoon politikon, ist als homöostatisches System, sprich als ausgeglichener, gesunder, befriedigter Mensch unter solchen Vorzeichen nicht lebensfähig. Es lebt dann in einem kalten, allein mit Spiegelwänden ausgekleideten Kosmos und verbraucht einen Großteil seiner Energie mit der beständigen Verleugnung und Ablenkung von seiner einsamen Situation. Leben kann so nicht aus seiner Lebendigkeit heraus gestaltet werden. In einem strengen Konzept der Selbstinszenierung, das nur jene Begegnungen und Abläufe zulässt, die diesem kleinen, verunsicherten »Ego« genügend Kontroll- und Steuerungsgefühl vermitteln, wird konsumiert. Güter, Beschäftigungen, Hobbys oder auch andere Menschen. Wenn die Grundgeborgenheit im Lieben aber nicht gegeben ist, können weder genug Kleingeld, skurrile Sammlerleidenschaften, rastlose Selbstbeschäftigung, noch endloses Fitnesstraining helfen. Und auch die sexuelle Trophäensammlung vermag keine ausreichende Wärme zu entwickeln, um die existentielle Einsamkeit nachhaltig zu überwinden.

Nun, hier bewegte ich mich immerhin beruhigenderweise noch im Fahrwasser des Patientenmodells. Es mochte sich also um einen Mechanismus handeln, dessen Erforschung möglicherweise durchaus interessant sein konnte, der allerdings nur auf Personen mit einer entsprechenden Zuordnung zu psychischer Beeinträchtigung zutraf. Zwar waren es immerhin stolze 38% der europäischen Bevölkerung, die irgendwann einmal eine klinisch relevante psychische Störung aufwiesen. Aber dennoch war das eine Minderheit, per definitionem eingerastert und abgesondert gegenüber der psychisch gesunden Normalbevölkerung.

Wenn man sich für Motorräder interessiert …

… dann sieht man sie plötzlich überall. Ist Ihnen dieser Mechanismus unserer selektiven Aufmerksamkeit schon einmal aufgefallen? Wenn wir uns für ein Ding oder eine Sache interessieren, dann fällt sie uns plötzlich viel stärker auf. Dies gilt für Motorräder, wenn wir gerade Motorrad fahren gelernt haben, genauso wie für Kinderwägen mit Babys, wenn wir vor wenigen Tagen einen positiven Schwangerschaftstest gemacht haben. Plötzlich ist die Welt voller Motorräder oder Kinderwägen mit schnuckeligen Babys. Natürlich nimmt weder die Zahl der Motorräder noch die der Babys in unserem Umfeld von einem magischen Mechanismus angetrieben auf einmal zu. Alles bleibt so, wie es das statistische Auftreten für Motorräder oder Babys in unserem Umkreis vorgibt. Was sich ändert, ist unsere Aufmerksamkeit dafür. Motorräder oder Babys werden durch den inneren Bezug, den wir zu ihnen entwickelt haben, einfach interessant und fallen uns deswegen mehr auf. Wir gehen nicht mehr achtlos an ihnen vorüber und vergessen sie sofort wieder, sondern sie treten sehr klar als Gegenstand der Auseinandersetzung in unser Bewusstsein. So in etwa begann es mir mit dem Phänomen der »Fühltaubheit« und der damit einhergehenden starken Rücknahme von Bindungsenergie gegenüber anderen Menschen zu gehen. Ich begann, den Beziehungskosmos, die Liebesbeziehungen der Menschen um mich herum, auf ihre Feinmechanik hin zu durchleuchten. Wie legten meine Freunde und Bekannten, wie Menschen, denen ich in Alltagskontexten und nicht im Therapiezimmer begegnete, ihr Lieben an? Welche Rolle spielte es in der Gesamtkonstruktion ihres Lebenskonzepts? Was waren ihre Schlüsse und Resümees zum Thema Liebe?

Mathilde lerne ich bei einem Galaabendessen kennen, der Auftaktveranstaltung für ein großes Frauenevent am nächsten Tag, zu dem ich als Podiumsdiskutantin geladen bin. Jede Menge Small Talk also, während wir Häppchen auf überdimensionalen Tellern nach dem Protokoll einer zwanghaft kreativen Speisekarte verzehren. Jeder Gang wird extra angekündigt und die Verlesung braucht ungefähr so lange, wie es dauert, sich das Kunstwerk einzuverleiben. Doch mit Mathilde wird es wirklich interessant. Eine dynamische, attraktive Frau, im Styling erste Sahne, gerade noch unter der 40er-Marke, über die hinaus erfolgreiche Frauen nicht altern dürfen. »Talkative« nennt man den Typ. Darum hat sie es in der Medienbranche auch weit gebracht. Bis nach dem »Gruß aus der Küche« und der »Kaltschalensuppe«, die mich irgendwie an den viel würzigeren Gurkensalat der Badeausflüge meiner Kindheit erinnert, haben wir ihren beträchtlichen Karriereweg durchgekaut. Die Branche ist hart, verlangt einem viel ab, da darf es kein Zaudern geben und permanenter Einsatz ist eine Grundvoraussetzung, aber noch lange nicht Garantie für Erfolg. Als das »Wolllämmchen in Kürbiskruste« auf einem exotischen Gemüse serviert wird, sind wir in den privaten Bereich vorgedrungen. Mit Kindern hat Mathilde nichts am Hut, viel zu aufwändig, viel zu unsicher als Zukunftsinvestition, also eine klare Behinderung. Als sie erfährt, dass ich vier Kinder habe, mutiere ich zur Bewohnerin einer anderen Galaxis. Das bringt uns dann zum Thema Beziehungen. Auch hier winkt Mathilde ab. Selbst in der besten Verpackung steckt ein fauler Inhalt, das ist ihr Resümee. Alltag, Interessenungleichheit, abschlaffender Sex, schlechte Angewohnheiten. Schmetterlinge im Bauch, die nach kurzer Zeit nur mehr fad herumknotzen statt heftig zu flattern. Zähe Verhandlungen über Zahnpastatuben und Haushaltsaufteilung haben sie eindeutig kuriert. Heute sind Männer nur mehr »Appetithäppchen« für sie, durchaus auch mal ein geregelteres »Sexualkombinat« für mehrere Monate, weil das Mühe spart. Aber nach klaren Spielregeln und ohne Herzflattern oder Verbindlichkeit. So richtig nahe lässt sie keinen Mann mehr ran. Und wenn grad keiner an der Hand ist, stört es sie auch nicht, wie sie mir über das bauchige Rotweinglas hinweg konspirativ erklärt, denn selbst ist die Frau. Ansonsten legt sie für ihre Altersvorsorge zurück, was sicher vernünftig ist und mir mit meinen vier Kindern so ziemlich verwehrt bleibt. Sie treibt rasend viel Sport, weil auch dies vorsorgend ist, und macht sich Sorgen ums Älterwerden. Ihre wirkliche Leidenschaft sind romantische Soaps. An Wochenenden bunkert sie sich manchmal ein und zieht sich ganze Staffeln mit Prosecco und Chips hinein. Was natürlich weniger gesund ist, aber irgendwie unvermeidbar, fast zwanghaft, wie sie bekennt. »Dann heul ich Rotz und Wasser«, gesteht sie mir beim vierten Rotweinglas. »So schön, so innig, aber leider alles nur im Kino!« Mathilde lehrt mich an diesem Abend einiges zum Thema »akzeptierte Desillusion als Lebenskonzept«. Doch ich lasse mich, ganz außer Dienst, über ein unspezifisches »Hm« hinweg dazu verführen, ihr heftig darin zu widersprechen, dass all das, was sie da sieht, nur Fiktion ist und mit realem Leben nichts zu tun hat. So fragt sie mich nach dem Dessert nach meiner Karte.

Ein paar Wochen später ergibt es sich, dass ich in meiner Praxisküche mit meiner ältesten Tochter sitze und Kaffee trinke. Ich habe gerade eine Arbeitspause eingeschoben, und sie wartet auf eine Freundin, die sie zum Sport abholen kommt. Ein feines Privileg, bereits eine so erwachsene Tochter zu haben, denke ich mir und freue mich auf eines dieser in seinem Verlauf ungeplanten, aber immer sehr persönlichen und innigen Gespräche, wenn alle anderen Geschwister noch in der Schule sind. Wir plaudern über ihr Studium in Berlin, ihre Firma und ihre nächsten Arbeitsprojekte. Plötzlich sagt sie dieses »Mutter«, mit seiner bedeutungsschweren Pause, bevor sie fortfährt. Das ist genau der Ton, der mir sagt, dass jetzt ein Anliegen kommen wird. Diesmal bezieht es sich auf Gigi, jene Freundin, die sie gleich abholen wird. »Die ist total fertig, völlig durch den Wind«, beschreibt sie mir. »Es hat sie gerade wieder ein Typ gedumpt, echt fies, wie der das gemacht hat, und das nach sechs Monaten.«

»Hm«, ich rutsche etwas unbequem auf meiner Küchenbank hin und her, »sowas kommt vor«, versuche ich mich rauszuwinden. Doch meine Tochter winkt ab. »Sie ist echt fertig, aus, game over, die macht jetzt völlig zu.« Dabei fährt sie zur Bekräftigung mit der flachen Hand wie mit einem Messer hart über die Tischplatte. »Verstehst du, Mutter, aus dem vollen Honeymoon heraus. Völlig ohne irgendwas davor, einfach so. Das ist nicht zu packen. Wie soll man da noch auf die eigenen Gefühle vertrauen können? Kannst du nicht ein wenig mit ihr reden?«

Wenig später sitzt Gigi, eine dampfende Kaffeetasse vor sich, bei uns am Tisch und zündet sich ihre erste Zigarette mit zitternden Fingern an. Es werden noch einige mehr werden. Es geht ihr tatsächlich miserabel, sie sieht schlimm aus. Eigentlich kenne ich sie als zielorientierte, arbeitsame, gut organisierte junge Frau, ein paar Jahre älter als meine eigene Tochter, so um die 27, die sich in der harten Filmbranche als versierte, zuverlässige Cutterin etabliert hat. Ein Kerl zum Pferdestehlen, eine Frau, die viel Einsatz für ihre Projekte zeigt und positives Klima in ein Team zu bringen weiß. Heute ist von ihrem Strahlen nichts zu bemerken. Sie hat sicher eben noch geweint. Tiefe Augenschatten zeugen von schlaflosen Nächten. Im Blick liegt jene gewisse Leere und Ferne, die Resignation in ein Gesicht malt. Das mit dem »Sport« war wohl ein »therapeutischer Vorschlag« meiner Tochter gewesen, um sie irgendwie rauszureißen.

Doch was sie erzählt macht auch mich etwas ratlos. Alles hatte super angefangen. Filipe war engagiert, keiner der mit seiner Faszination für Gigi hinter dem Berg hielt. Der Sex war traumhaft und immer passend, so als würde man mit einem geheimen Signalsystem aufeinander abgestimmt sein. Unzertrennlich waren sie die letzten Monate gewesen, zärtlich, romantisch und bis über beide Ohren verliebt. Schon nach drei Wochen war es selbstverständlich, dass sie gemeinsam entweder bei ihm oder bei Gigi die Nacht verbrachten. Diese Beziehungskiste hatte alle Insignien von echt und verbindlich gezeigt, und Filipe hatte dies gerade in intimen Momenten auch seinerseits und ohne Nachfrage oder Drängen von Gigi immer wieder thematisiert. Nun war er vor ein paar Tagen und ohne, dass der Idylle die geringste Erschütterung vorausgegangen wäre, damit gekommen, dass es nun genug sei. Ein emotionales Horrorszenario für Gigi. Der Moment, als er plötzlich vollkommen distanziert und verschlossen vor ihr gestanden war und gemeint hatte, dass es jetzt aus wäre, einfach weil es genug sei. Keine andere Frau, nichts was ihn störe, aber eben genug, lang genug, genug Zeit miteinander verbracht, genug Sex miteinander gehabt. Jetzt wolle er einfach wieder frei sein und schauen, was ihm das Leben so Neues bringt. Unter neu fällt Gigi nun mal nicht mehr.

»War das alles nur eine Show?«, fragt sie mich mit tiefer Verzweiflung in der Stimme. »Da war gar nichts, was mich hätte warnen können. Wenn er wenigstens eine andere hätte, könnte ich mich damit abfinden, aber so ohne Grund. Einfach, weil es genug ist und nicht mehr neu? Was war denn das, was so wie Liebe ausgesehen hat?«

Ich weiß auch nicht recht, welchen Trost ich ihr anbieten kann, außer, dass dieser junge Mann wohl ein schwerwiegendes Problem mit Nähe haben muss. Doch das hilft ihr nicht wirklich weiter, denn sie ist nachvollziehbarerweise tief in ihrem Werte- und Evaluierungssystem verunsichert und vermag ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr zu vertrauen. »Ich werde nie mehr jemanden an mich ran lassen, egal wie toll es sich anfühlt«, schließt sie ihre Erzählung, »das muss einfach vorbei sein.«

»Scheiße«, denke ich mir, »sie könnte nun zu einer ›coolen Jägerin‹ mehr auf der Bahn werden, die prompt jenen jungen Männern, die sie wirklich lieben werden, nur mehr mit Kälte entgegentreten kann.«

Wie gerne hätte ich Gigi damals als Lösung angeboten, dass es sich bei Filipe ganz sicher um einen bedauerlichen Einzelfall handelt, etwas, das ihr ganz sicher nie mehr im Leben würde passieren können. Doch es waren mir viel zu viele Fälle bekannt, in denen nach dem Abschwellen der ersten Verliebtheit einer der Partner, oder bisweilen sogar beide, in pragmatischer Akzeptanz auf Basis des nachlassenden »Kicks« beschlossen hatte/n, neue Wege zu gehen. Die Suche nach dem Neuen, Besseren schien in der Kriterienhierarchie zunehmend an Bedeutung zu gewinnen, ja sie bekam mehr und mehr den Charakter einer logischen Konsequenz. Psychodynamisch fragte ich mich, ob in all diesen Konstellationen überhaupt wirkliche Bindung gegeben war oder ob sie nur als Simulation existierte? Die Anziehung wurde ausgelebt, durchkonsumiert, ausgeschöpft, der narzisstische Gewinn der Selbstbestätigung eingefahren. Aber wenn es um tieferes Sich-Einlassen, den Aufbau von Gemeinsamkeit und die Abstimmung von Interessen ging, es also anstrengender, weniger spektakulär und unmittelbar befriedigend wurde, wenn die Notwendigkeit von eventueller Bedürfnisverschiebung oder gar ein Stück Selbstverzicht an der Reihe waren, dann zerbrach das Konstrukt, das als oberflächliches Sofortbelohnungssystem konzipiert war. Für jenen Partner, der über grundsätzliche Bindungsbereitschaft verfügte und zu emotionaler Investition fähig war, entwickelte diese Erfahrung eine desasteröse Dimension für seinen Selbstwert und sein Vertrauen in seine Einschätzungsfähigkeit emotionaler Prozesse eines Gegenübers. Jene Konstellationen, in denen beide Partner sich zu einem derartigen Strichcode eines Ablaufdatums bekannten, muteten mehr wie Geschäftsbeziehungen an. Die »Liebe« als klarer Deal. Man kauft Sex, kuscheln, gemeinsame Unternehmungen unter der Devise, dass es cool ist, und entsorgt das Ding, wenn es nicht mehr den Erwartungen entspricht, erste Abnützung zeigt oder man Lust auf etwas Neues hat.

Meine Überraschung war vor etwas mehr als eineinhalb Jahren noch recht groß gewesen, als ich in Alpbach gemeinsam mit einer deutschen Soziologin zum Thema »Beziehungen der Zukunft« ein Planspiel mit einer Schar junger »High Potentials« durchführte, in dem es um die Entscheidungsfindung betreffend eines interessanten Jobangebots in Übersee ging. Einbeziehen eines Beziehungspartners in die Entscheidung rangierte ganz unten, genau genommen hatten nur zwei der einen ziemlich großen Saal füllenden TeilnehmerInnen dieses Kriterium überhaupt in Betracht gezogen. Auf meine Nachfrage hin wurde mir nahezu entrüstet geantwortet, dass Beziehungen ja grundsätzlich unberechenbar und unsicher und außerdem ja wieder ersetzbar seien, das große Jobangebot aber von bleibendem Wert, da es der eigenen Selbstentwicklung und Karriere diene. Es klang zwar logisch, ja im Sinne einer strategischen, auf materielle Werte und Sicherheit ausgerichteten Lebensführung bestechend sinnvoll, doch spürte ich gleichzeitig, wie ich Gänsehaut bekam. Wie wird es all diesen »High Potentials« in zehn Jahren gehen, wenn sie in ihren mittleren oder sogar oberen Führungspositionen sitzen werden, wenn sie abends in ihre leeren Designerwohnungen an irgendeinem der Top-Wirtschaftsstandorte in Asien oder Südamerika kommen oder einen rasch abgeschleppten, vorübergehenden Sexualproviant hinter sich herschleifen? Irgendwann ist auch der längste und produktivste Arbeitstag zu Ende. Wo werden sie das Gefühl von Geborgenheit finden? Wie werden sie es anstellen, die auf sie wartende Stille nicht als Leere zu empfinden? Skypen, endlos in Bars abhängen, bis sich die notwendige Bettschwere einstellt, hundert Programme durchzappen, Fotos auf Facebook hochladen und sich über das Einsammeln von »Likes« Community vorspiegeln? Werden sie sich »irgendetwas Gutes gönnen«, viele Gläser Rotwein als Schlaftrunk oder auch härteren Stoff? All diese Lösungsstrategien waren mir bereits heute von meinen Patienten bekannt und standen letztendlich nicht wirklich für eine befriedigende, ausgeglichene Lebenskonzeption, auch wenn sie »trendy« waren und als »cooles Leben« etikettiert wurden.

Meine nächsten Monate verliefen als heroische Feldforschung, im Zuge derer ich so ziemlich jeden mit meiner ewigen Einstiegsfrage: »Welche Bedeutung haben Liebesbeziehungen für dich?« verfolgte. Ich erhielt sehr unterschiedliche Antworten. Oft entwickelten sich erstaunliche und umfassende Gespräche, nicht immer ohne Kontroverse. Mehr und mehr kam ich zur Einsicht, hier einen sehr heiklen Punkt zu treffen, den Finger in eine schwelende Wunde zu legen, eine Wunde, an deren Heilung viel nicht mehr so recht glaubten. Eine Wunde auch, für die gerade die unterschiedlichsten palliativen Behandlungsmethoden in Erprobung waren, bis hin zu einer Vogel-Strauß-Politik ihrer Verleugnung.