Im Namen des Kindes - Martina Leibovici-Mühlberger - E-Book

Im Namen des Kindes E-Book

Martina Leibovici-Mühlberger

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Beschreibung

Der maßgebliche Ratgeber zur neuen Obsorgeregelung Wenn die Eltern sich trennen, wird für die betroffenen Kinder deren Lebenskrise zur Lebenskatastrophe und oft zum Trauma. Doch in der "Schlacht um das Kind" fehlt vor Gericht der Anwalt des Kindes. Die neue gesetzliche Obsorgeregelung verpflichtet Eltern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen - zum Schutz des Kindes. Martina Leibovici-Mühlberger, die bekannte Erziehungsexpertin, zeigt in diesem Buch, wie Eltern es schaffen können, den Scheidungsprozess so zu gestalten, dass Kinder darin nicht aufgerieben werden. Anhand von Fallbeispielen aus ihrer Praxis, die den Blickwinkel des Kindes zeigen, gibt sie konkrete Hilfestellungen und Anwendungshinweise zu allen Entwicklungsphasen und Problemfeldern. Denn es geht nicht um Frauen-, nicht um Männerrechte, sondern um Kinderrechte!

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Im Namen des Kindes

MartinaLeibovici-Mühlberger

Im Namen des Kindes

Family Coaching statt Rosenkrieg

Besuchen Sie uns im Internet unter:www.amalthea.at

© 2013 by Amalthea Signum Verlag, WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Silvia Wahrstätter, vielseitig.co.atUmschlagmotiv: © Can Stock Photo Inc./YarrutaLektorat: Martin BrunySatz: Gabi Adébisi-SchusterGesetzt aus der Elena 11/13,8Printed in the EUISBN 978-3-85002-842-4eISBN 978-3-902862-46-4

Inhalt

Einleitung

Geleitwort eines Kindes

1. »Was, du bist noch nicht geschieden?« Warum wir als Gesellschaft hier angekommen sind

2. Warum Kinder an beiden Elternteilen so sehr hängen

3. Die Trennung/Scheidung der Eltern Ein lebenslanges Trauma?

4. Der apokalyptische Reiter – Scheidung am Horizont

5. Wie sagen wir es unserem Kind?

Zuerst die Planung

Der konkrete Zeitpunkt

Der richtige Ort

Beide Eltern gemeinsam

Welche Informationen für unser Kind wichtig sind

Modell eines Eltern-Kind-Gesprächs

Was ganz sicher nicht das Thema des Kindes ist

Vom Idealfall zur Realsituation:Wie geht man mit folgender Situation um ...

6. Wie reagieren Kinder auf die Scheidung der Eltern? Die ersten Stunden und die Zeit danach – Families in transition

Bettina oder der Mythos, dass die Scheidung der Eltern von Teenagern leicht verkraftet wird

Alexander oder der Mythos, dass die Wut des Kindes ein Zeichen unserer Schuld wäre

Julia oder der Mythos, dass »unauffällige Kinder« die Scheidung ihrer Eltern besser verkraften

7. Was bedeutet die Scheidung der Eltern für unterschiedliche kindliche Altersgruppen?

Säuglinge und Kleinkindalter – Ein Leben beginnt

Kindergartenkinder und Vorschulkinder – Das magische Zeitalter

Schulkinder bis etwa zum neunten Lebensjahr – Die Entdeckung des Selbst

Die Vorpubertät – Pre-Teens, der Zeitraum der Wandlung

Teenager – Das endgültige Ringen um Autonomie

Was Eltern grundsätzlich für ihre Kinder rund um die Scheidung tun können oder Was Kinder sich wünschen

8. Obsorge und Kontaktgestaltung – Kooperative Elternschaft

Grundsätzliches zur Obsorge und Kontaktgestaltung

Kooperative Elternschaft

Die Akzeptanz der Subjektnatur des Kindes und des damit verbundenen Liebeswunsches des Kindes zu beiden Elternteilen

Die Akzeptanz der Unkündbarkeit der eigenen Elternschaft und der des Expartners bzw. der Expartnerin

Die Akzeptanz, dass Paarkonflikt und elterliche Verantwortlichkeit zwei getrennte Geschäftsfelder sind, die keinerlei Bezugnahme aufeinander erfahren dürfen

Die Akzeptanz getrennter Wirksphären beider Elternteile

Die Akzeptanz der Wichtigkeit wertschätzender Kommunikation

9. Hello! Goodbye! Das Wochenende – Von einer Welt in die andere und retour

Wie erklärt man einem Kind Obsorge?

Über eine sinnvolle Kontaktfrequenz im Bezug auf das Lebensalter des Kindes

Wie interessiert sollte ich daran sein, was mein Kind beim anderen Elternteil erlebt?

Schwierige Übergänge von einem Elternteil zum anderen – Was steckt dahinter und was kann getan werden, wenn das Kind den Kontakt zu einem Elternteil ablehnt?

Um aus Besuchswochenenden Bausteine einer wachsenden Beziehung zu machen ...

10. Wenn Eltern streiten! Strittige Obsorge- oder Kontaktregelung und wie die Kinderseele darauf reagiert

11. Jemand, den ich dir gerne vorstellen möchte Der Blickwinkel des Kindes auf neue Partnerschaften und Patchwork-Familien

Was heißt es für das Kind, wenn ein »neuer wichtiger Mensch« im Leben seines Vaters bzw. seiner Mutter auftaucht?

Brief an Vater Staat und Tante Justitia!

Brief an die Eltern!

Anmerkungen

Einleitung

Mein Großvater, Geburtsjahrgang 1890, hat es, wie er mir als 90-Jähriger versicherte, zeit seines Lebens nie für notwendig erachtet, über Scheidung nachzudenken. Auch für meine Eltern, die einander 1953 die Hand zum »Bund des Lebens« reichten, und noch für die meisten Verwandten der damaligen weitläufigen Sippe, war Scheidung kein ernsthaftes Thema ihres Lebenshorizonts.

Aber bereits in meiner Generation, der jetzt gut in der Lebensmitte Stehenden, sieht es in dieser Frage ganz anders aus – und für jene, die nun gerade heiraten, so sie dies noch tun, oder für Paare, die erst vor ein paar Jahren eine Familie gegründet haben, stehen die Chancen 50:50, dass diese Konstruktion wirklich Lebenshafen bleibt und nicht irgendwann die Sturmmarke ihres Ablaufdatums erreicht.

Neben diesem gesellschaftlichen Stimmungsbild heißt das in Zahlen, dass um 1900 Scheidungen als ein recht marginales Phänomen angesehen werden konnten. Es verlangte extreme Umstände, um zu jenen wenigen zu gehören, die vorm Scheidungsrichter landeten. Auf 1,9 belief sich die damalige Gesamtscheidungsrate, also jener Prozentsatz der Ehen, die durch eine Scheidung (und damit nicht durch den Tod eines der beiden Ehepartner) endeten.1

Basis für die Berechnung der Gesamtscheidungsrate sind die im jeweiligen Jahr beobachteten Scheidungen, die in Beziehung zu jenen Eheschließungsjahrgängen gesetzt werden, aus denen sie stammen. 1957 lag dieser Wert noch bei 13,7, um dann konstant in die Höhe zu klettern und 2007 die bisherige historische Höchstmarke von 49,5 zu erreichen.2

Betrachtet man ergänzend auch die Zahl der Eheschließungen, so zeigt sich, dass im Vergleich zwischen 1947 mit 75.484 Eheschließungen, was 10,8 auf 1000 der Bevölkerung bedeutet, und 2011 mit seinen im Vergleich mageren 36.426 Hochzeiten, und damit 4,3 auf 1000 der Bevölkerung, mehr als eine Halbierung der Ehewilligkeit zu verzeichnen ist.3

Damit verbunden und für unser Thema natürlich von besonderer Relevanz ist eine Zunahme der Unehelichenquote, also jener Zahl der Kinder bezogen auf jeweils 100 Vergleichskinder, die nicht in ehelichen Verhältnissen zur Welt kommen. 2011 lag dieser Wert bereits bei 40,4.4

Die Sprache der Statistik ist scheinbar eine sehr nüchterne, doch ihre Aussagen bergen tief greifende Veränderungen des emotionalen Lebens, ja des Selbstverständnisses des Einzelnen und des dahinterliegenden sich neu formenden Menschenbilds einer Gesellschaft in sich. Im Untergebälk der Basiseinheit des Staates, der Kleinfamilie, brodelt es ganz ordentlich. Scheidung ist in. Heiraten ist out. Magmablasen einer um sich greifenden grundsätzlichen Infragestellung und ein Experimentallabor neuer Familienformen legen davon in vielgestaltiger Weise und auch auf der Plattform des Mediendialogs beredtes Zeugnis ab.

Die Familie wäre schon längst tot und immer schon eine neurotische Zwingburg gewesen, frohlocken die einen und proklamieren einen bunten Reigen neuer, dem jeweiligen Lebensabschnitt angepasster Beziehungsformen. Konservative Hardliner auf der anderen Seite leisten ungebrochen Überzeugungsarbeit, dass nur der, der auf dem Schiff Familie anmustert, die Lebensstürme sicher durchsegeln wird. Wie immer zeigen Polarisierung und Lagerbildung eine dahinterliegende Ratlosigkeit auf.

Ein grundsätzlicher und fataler Irrtum tut sich in diesem so aktiven gesellschaftlichen Umbaufeld von Familie, Trennung/ Scheidung und neuen Familienformen aus meinem Blickwinkel auf: Die Kontroverse wird aus der Sichtweise der betroffenen Erwachsenen, ihrer Bedürfnisse, Lebenspläne und Enttäuschungen geführt und nicht aus dem Blickwinkel der in diesen Konstellationen aufwachsenden Kinder. Dabei sind sie die eigentlich Betroffenen, denn das ihnen angebotene unmittelbare Alltagsleben, die Qualität der Beziehungen und erlebbaren Bindungen – all das entscheidet über ihre Prägungen und das Weltbild, das sich im heranwachsenden jungen Menschen etabliert. Letztendlich sprechen wir, um es in eine heute jedem Menschen leicht zugängliche Metapher zu bringen, vom »Aufsozialisieren des Grundbetriebssystems«, mit dem unsere Kinder ihre jeweilige persönliche Zukunft meistern müssen.

Betrachtet man den Zuwachs von psychischen Erkrankungen im Kindesalter, die breite Palette der Verhaltensauffälligkeiten von ADHS bis zum Anstieg von mit Autismus assoziierten Syndromen sowie auch den physischen Gesundheitszustand unserer Kinder,5 so müssen wir davon ausgehen, dass es bei vielen von ihnen zu einem »schadhaften Aufspielen des Grundbetriebssystems« kommt. Einer großen Zahl von Kindern gelingt es nicht, sich während des Lebensabschnitts Kindheit in einem stabilen Kosmos von Bindung und Beziehung einzurichten.

Dabei wirkt die Tatsache, eine so tief greifende Lebensveränderung wie die Trennung/Scheidung der Eltern in ihrer Bedeutung für die kindliche Entwicklung auf gesellschaftlich breiter Basis bisher außer Acht zu lassen, genauso wie das Fehlen eines grundsätzlich ritualisierten gesellschaftlichen Selbstverständnisses von Auseinandersetzung, Information und Unterstützung wie ein gefährlicher blinder Fleck, rechnet man die zukünftige Leistungsfähigkeit und strukturelle Gefügtheit unserer gerade heranwachsenden Zukunftsgesellschaft hoch. Stellt man nun noch, unabhängig vom persönlichen Leiden des einzelnen Kindes, die große Zahl der Kinder in Rechnung, die durch diesen herausfordernden Lebensphasenwechsel der Trennung/Scheidung der Eltern pro Jahr hindurch müssen, so erscheint die bisherige gesellschaftliche Taubheit weniger naiv denn fahrlässig.

Doch Kinder haben leise Stimmen. Kinder organisieren keine Demonstrationszüge, die sich in Kundgebungen und der Proklamierung eines Forderungskatalogs Gehör verschaffen können. Kinder werden eventuell verhaltensauffällig, also eine Belastung für ihr engeres soziales Umfeld oder auch die Institutionen, in denen sie sich bewegen, und sollen dann, bei aller Beteuerung der Hilfestellung, die man ihnen geben möchte, doch letztendlich wieder verhaltensbegradigt und angepasst werden.

Viele leiden auch einfach still, wirken unauffällig oder manchmal sogar unbeteiligt bis unberührt, um dennoch tiefe Wunden in ihrer Seele davonzutragen. Manche werden in dieser schweren Zeit ihrer Eltern »erfreulicherweise« sogar besonders erwachsen und selbstständig, versuchen sich als Stütze und Anker, ja als Coach ihrer eigenen Eltern – und bieten sich sogar als Partnerersatz und geduldiger Zuhörer an, damit sich ihre Eltern ihr Herz erleichtern können. Im Extremfall lassen sich Kinder in ihrer Liebe zu ihren Eltern sogar zu willfährigen Kampfgenossen im Rosenkrieg ausbilden und mutieren damit zum Henker ihrer eigenen Lebensinteressen.

Kinder werden, entgegen der Beteuerung und der sogar aus tiefstem Herzen geäußerten Überzeugung ihrer Eltern, »das Beste für ihre Kinder in dieser so schweren Zeit zu wollen«, oftmals bedingungslos im Scheidungs- und nachfolgenden Obsorgekrieg aufgerieben. Im Unterschied zum biblischen Bild des »Streits um das Kind«, in dem die wahre Mutter ihr Kind lieber freigibt, denn es zerteilen zu lassen, werden heute zahlreiche Kinder in den Obsorge- und jahrelangen Kontaktrechtstreitigkeiten ihrer Eltern psychisch zerrissen. Die Lebenskrise der Scheidung der Eltern wächst sich zur Lebenskatastrophe des Kindes mit allen damit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen des Lebenspotenzials aus. Die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes werden in der Hitze des Gefechtes »ums Recht haben« übersehen, denn der Anwalt des Kindes fehlt vor Gericht.

Eine tragische Situation, denn aus jahrzehntelanger Praxis ist mir vertraut, dass in den allerseltensten Fällen böswilliges Kalkül am Werk ist, das die Verletzung des eigenen Kindes kaltherzig, im Wunsch, den Expartner bzw. die Expartnerin zu treffen, in Kauf nimmt. Vielmehr werfen sich hier »löwenherzige« Eltern in »die Schlacht um das Kind«, ein oft erbitterter Feldzug gegen einen vermeintlichen Schattenfeind, vor dem es gilt, das Kind zu schützen.

Mit diesem Buch wird die Absicht verfolgt, die Trennung/ Scheidung der Eltern als krisenhaften Lebensphasenübertritt für die betroffenen Kinder besser bewältigbar zu machen. Es geht hier also darum, den Kindern, ihren Bedürfnissen und Nöten Stimme zu verschaffen. Es ist das Ansinnen, Eltern und allen im jeweiligen Scheidungssystem miteinbezogenen Personen, also auch Großeltern, Freunden oder Pädagogen, konkrete Einsichten zu vermitteln, auf deren Basis Handlungsoptionen entstehen, die dem Kind Unterstützung dabei bieten, wieder sicheren Boden und Lebensbalance in der neuen Lebenssituation zu finden. Das »beste Wollen« soll zum »besten Tun« transformiert werden.

* Was sind die dringendsten Anliegen des Kindes bei der Trennung/Scheidung seiner Eltern?

* Was braucht ein Kind in dieser Zeit der Auflösung seiner gewohnten Familienverhältnisse?

* Was schadet und was nützt?

* Was ist besonders wichtig, dem Kind zu vermitteln?

* Wie gelingt es in einer Zeit des Umbruchs, glaubwürdig zu bleiben und dem Kind Nähe und Sicherheit zu vermitteln?

* Wie vermittelt man als Elternteil, wo man selber steht, ohne das Kind zu belasten?

* Was wünscht sich ein Kind, auch wenn es dies nie aussprechen würde?

* Wie ist kindliche Verhaltensauffälligkeit während der Trennung/Scheidung der Eltern zu deuten?

* Wann ist Beratung angezeigt?

* Was bedeutet ein neuer Partner bzw. eine neue Partnerin des Elternteils für das Kind?

Fragen über Fragen, die mit dieser herausfordernden Phase der Trennung/Scheidung verbunden sind – drängende Fragen, denn die Suche nach einer neuen Reiseroute in die Zukunft duldet keinen Aufschub.

Fragen, denen wir uns als Eltern und Gesellschaft im Sinne struktureller Weichenstellung also zu stellen haben. Fragen, deren Beantwortung wir nicht einfach dem Zufall oder der Entwicklung der Situation überlassen können, sondern für die wir verantwortungsvolle Bewusstheit auch unter Nachreihung unserer persönlichen und von aufgeregten Emotionen beeinflussten Interessen entwickeln müssen. Es ist hoch an der Zeit und in unserem eigenen tieferen Interesse, denn unsere Kinder sind die Basis der uns im Alter versorgenden Zukunftsgesellschaft.

In diesem Buch werden reale Kinder aus meiner beruflichen Tätigkeit, natürlich mit veränderter Namensidentität, mit ihrem Blickwinkel zu Wort kommen – es handelt sich vielfach um berührende Geschichten, so berührend, dass ich diesen Text schreiben musste ...

Wenn es gelingt, diese Kinder, ihren Empfindungskosmos, ihre tatsächlichen Bedürfnisse – die sich in ihrem Schweigen, ihren Zeichnungen, ihrem oft abstrus anmutenden Verhalten, ihren Erzählungen, ihrer Ratlosigkeit und ihren Versuchen einer Bewältigung verbergen – mit diesem Text Gestalt werden zu lassen, wenn es gelingt, dass sich damit tiefere Nachvollziehbarkeit für die beteiligten Erwachsenen für die wirklichen Anliegen der Kinder ergibt, dann ist die angestrebte Zielsetzung erreicht.

Dieser Text verzichtet deswegen auch nahezu vollständig auf die fundierte Wissenschaftssprache des Expertentums. Weiterführende Anmerkungen und Referenzierungen sind nur dort, wo sie absolut unverzichtbar erscheinen, eingestreut. Damit soll eine mögliche Irritation beim Lesen zugunsten empathischer Einfühlung in den jeweiligen Situationskontext vermieden werden. Hier sind die Kinder am Wort.

Immer wieder werden auch spezifische, recht schematisch anmutende Fragen an Eltern zu den behandelten Unterthemen rund um das Thema Scheidung gestellt. Diese Form wurde gewählt, um es Eltern zu erleichtern, von ihrem möglicherweise noch von schwelendem Streit belasteten Kommunikationsmodus möglichst weit Abstand zu gewinnen. Es handelt sich hier um anamnestische oder diagnostische, zumeist sehr neutral anmutende und im Grundsatz im Ergebnis auf das Kind ausgerichtete Fragen, deren Beantwortung jeder Elternteil für sich vornehmen kann. Sie können nicht als Türöffner in wechselseitige Vorwürfe verwendet werden, sondern in sehr auf das Kind bezogener Form, je nach ihrem Ergebnis, Handlungsbedarf demonstrieren.

Dies ist einerseits ein Versuch eines aktiven Brückenschlags in die jeweilige mögliche Trennungs-/Scheidungssituation des Lesers bzw. der Leserin und soll andererseits dazu beitragen, über das indirekte Auftreten des Kindes durch die Situationsanalyse bei Eltern über ihre persönliche Scheidungssituation hinweg kooperative Elternschaft zu initiieren.

Geleitwort eines Kindes

Liebe Mama! Lieber Papa!

Ich habe euch sagen hören, dass ihr das alles, was gerade geschieht, nie gewollt habt, und ihr euch früher, als ihr noch so richtig ineinander verliebt gewesen seid und ich in Mamas Bauch war, nicht vorstellen hättet können, dass so etwas einmal passieren könnte. Ich weiß, dass eure Scheidung für euch eine sehr schwere Zeit ist. Mama weint jetzt sehr oft oder ist furchtbar wütend, und Papa ist die meiste Zeit sehr ernst oder tut so, als hätte er furchtbar viel zu tun, damit ich nicht merke, dass auch er traurig ist.

Für mich ist diese Zeit auch sehr schwer. Das haben wir also alle drei gemeinsam. Aber sonst gibt es auch eine Menge Unterschiede zwischen eurer und meiner Situation, und das ist ziemlich bedeutungsvoll, zumindest für mich.

Irgendwie seid ihr beide zu der Überzeugung gekommen, dass ihr euch »enthebt« habt und nicht mehr miteinander zusammen leben könnt. Es ist also besser, habt ihr gesagt, dass Papa auszieht.

Für mich ist das mit dem Liebhaben ganz anders. Für mich hat sich da gar nichts geändert. Ich habe euch ganz genauso fest und stark lieb wie vorher, auch jetzt, nachdem ihr mir das mit dem sich »scheiden lassen« gesagt habt. Für mich wäre es eine super Lösung, wenn Papa zu mir ins Kinderzimmer ziehen würde. Dann könnte er sich von Mama scheiden lassen und wäre trotzdem bei mir. Sarah in meiner Kindergartengruppe findet das auch total richtig so. Aber ihr habt gesagt, dass das nicht geht.

Papa wird also weggehen, und für euch ist das logisch – für mich aber nicht. Ich will das nicht. Ihr seht also, wir haben da ziemliche Unterschiede in dem, was wir uns wünschen. Ihr würdet das Interessen nennen. Neben dem, dass ihr ja der Überzeugung seid, dass es die richtige Lösung ist, sich »scheiden zu lassen«, während ich das gar nicht so fühle, sind unsere Möglichkeiten, mit so einem großen Kummer umzugehen, ziemlich unterschiedlich.

Für euch ist ein Lebensplan, wie man so sagt, geplatzt, für mich mein ganzes bisheriges Leben. Ihr habt einander vor zehn Jahren als große Menschen mit Lebenserfahrung, wie Oma das nennt, kennengelernt und ineinander verliebt. Papa hat damals schon einen Bart gehabt und Autos konstruiert – und Mama war fast mit ihrer Universität, so heißt doch das alte Gebäude, fertig. Auf dem Hochzeitsfoto schaut ihr zwar viel jünger und fröhlicher aus, aber ihr seid schon richtige Erwachsene gewesen. Dann habt ihr diesen Lebensplan miteinander gemacht und ein paar Jahre später bin ich geboren worden. Und dann haben wir Merlin, unseren Kater, bekommen und sind in unser Haus gezogen.

Irgendetwas, das ich nicht verstehe, ist danach geschehen, denn jetzt ist das alles vorbei und ihr wollt ein anderes Leben, von dem ihr glaubt, dass es richtiger für euch und mich und natürlich Merlin ist. Ich kann das gar nicht so sehen wie ihr, mit diesem Blickwinkel, dass dieses Leben nicht mehr passt, und der Perspektive, dass ein neues Leben, in dem wir nicht mehr alle zusammen sind, besser sein soll. Denn dieses Leben ist das einzige, das ich kenne. Ich kann mir ein anderes Leben nicht so einfach vorstellen wie ihr. Da ist nur ein schwarzes Loch. Und ich habe auch noch keine Erfahrung, wie man mit so schwierigen Dingen richtig umgehen kann.

Alles, was ich habe, ist, dass ich euch vertraue, dass ihr das Richtige für uns alle entschieden habt – auch wenn ich das jetzt gar nicht so sehen kann – und dass ich euch beide ganz rasend lieb habe und brauche, damit ich mich in dieser schwierigen Zeit zurechtfinden kann und irgendwann dann vielleicht wirklich feststellen kann, dass jetzt alles besser geworden ist.

Dass ich euch jetzt ganz stark brauche und auch Merlin unbedingt bei mir im Bett schlafen muss, ist euch ja klar, denn ihr, Papa und Mama, habt mir ja beide schon gesagt, dass ihr mich ganz toll lieb habt und immer für mich da sein wollt. Auch wenn ihr einander also nicht mehr lieb habt, so habt ihr mich doch noch genauso lieb wie vor der Zeit, als euch das mit der Scheidung eingefallen ist. Nur habt ihr mich eben nicht mehr zusammen lieb, sondern getrennt, jeder für sich.

Das ist schon etwas kompliziert, das müsst ihr doch zugeben. Und das, so glaube ich, muss ich erst erleben, dass das nämlich auch klappt und sich nach richtigem Liebgehabtwerden anfühlt. Aber vielleicht sind ja Kinder auch sehr kompliziert und nicht ganz einfach für ihre Eltern zu verstehen. Ich mach mir nämlich ziemlich Sorgen, ob die ganze Sache mit der Scheidung nicht meine Schuld ist. Papa hat schon oft gesagt, dass ich ihm den letzten Nerv ziehe, und oft habt ihr wegen mir gestritten, weil ihr euch nicht einigen konntet, was richtig für mich ist.

Auf der anderen Seite habe ich echt Angst, dass ihr gar nicht sehen könnt, wie sehr ich euch beide brauche und mit jedem von euch zusammen sein will. Frederick hat mir erzählt, dass er seinen Papa jetzt fast nicht mehr sieht, seit seine Eltern geschieden sind, und seine Mutter dauernd über ihn schimpft. Das macht Frederick ganz stark traurig, und manchmal macht er sich jetzt in die Hose. Seine Mutter hat gemeint, dass sein Vater an allem schuld sei und sie Frederick mit ihm nicht mehr zusammenlassen werde. Sie hat seinen Vater auch einen »Idioten« genannt, obwohl Frederick solche Worte nicht sagen darf, ohne dass seine Mutter auf ihn sehr böse wird. Frederick tut das ganz stark in seinem Herzen weh; er liebt doch seinen Vater genauso stark wie seine Mutter – aber er hat aufgehört, das zu sagen.

Ich möchte nicht, dass es mir wie Frederick ergeht. Ich fürchte, dass Mamas und Papas manchmal ihre Interessen – das ist doch das Wort für die Dinge, von denen die Erwachsenen überzeugt sind, dass sie richtig sind – und die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht auseinander halten können. So als wäre das ein und dasselbe – aber das habe ich ja schon zu erklären versucht, dass das gar nicht so ist.

Damit das nicht geschieht, dass Mamas oder Papas meinen, der andere wäre »nicht gut« für das Kind, weil sie so gekränkt voneinander sind – Konfluenz nennen sie das in der Fachsprache -, ist dieser Text geschrieben worden. Hier erzählen wir Kinder, zum Teil in unseren eigenen Worten, wie wir erleben, was mit uns geschieht, und was wir brauchen. Zum Teil erzählen wir es so, wie wir es sagen würden, wenn wir schon Worte hätten. Denn die Jüngsten von uns können sich nur über ihr Verhalten ausdrücken.

Den aggressiven Alexander werdet ihr treffen, dem seine Eltern vermitteln wollten, dass ihre Scheidung super sei, und die dabei die ganze Zeit totale Schuldgefühle haben. Wie soll denn da ein Kind nicht verwirrt werden und das dann noch ernst nehmen?

Dann sind da noch Julia, die immer so vernünftig war und dabei ganz dick geworden ist, Georg, der gemeint hat mit Beten seine Eltern wieder zusammenzubringen, und der dann später, als sie nach der Scheidung noch immer ganz irre gestritten haben, aufhören wollte an den lieben Gott zu glauben. Thomas, der das dann auch getan hat, Bettina, die etwas ganz Schlimmes gemacht hat, und Miriam, die ganz klein ist, aber ihren Papa ganz toll lieb hat, weil ihre Eltern das super eingefädelt haben. Und Manuela, Dominique und noch viele andere mehr, deren Geschichte in der einen oder anderen Form vorkommt.

Schließlich kommen noch ein paar richtige Erwachsene vor, wie Roman, dessen Mutter einfach davongelaufen ist, oder Claudia, die auch eine ziemlich komplizierte Geschichte erlebt hat, obwohl bei ihr äußerlich immer alles so gut ausgesehen hat. Sie erzählen heute als Erwachsene, wie sie als Kinder die Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, und sie meinen, dass es sehr wichtig ist, bei einer Scheidung zu bedenken, wie es Kindern dabei geht, was sie wirklich brauchen und wie Kinder beide Eltern behalten können. Sie wollen nämlich, dass es für andere Kinder besser klappt als bei ihnen und sie dann nicht als Erwachsene noch immer in ihren eigenen Überzeugungen davon beeinträchtigt sind oder eine Therapie machen müssen.

Dieser Text, liebe Mama, lieber Papa, soll euch also mit unseren Kinderaugen durch eure Scheidung führen, damit ihr unseren Blickwinkel besser verstehen lernt. Beginnend damit, wie ihr es uns sagt, und bis dorthin führend, wo wir eine Patchworkfamilie werden könnten. Wenn ihr euch auf den Boden setzt, bekommt die Welt ja auch eine ganz andere Perspektive und es fallen euch andere Dinge auf, als wenn ihr von oben nach unten blickt. Mama hat zum Beispiel das Kaugummi, das ich unter den Küchentisch geklebt habe, auf diese Art gefunden – und Papa meine große blaue Murmel, die unter die Couch gerollt war.

So ähnlich ist dieser Text gemeint. Darum ist er auch nicht in dieser wissenschaftlichen Sprache abgefasst, aber natürlich doch in einer Erwachsenensprache, damit er euch in eurem Verständnis entgegenkommt. Wirklich wichtig sind die Stellen, wo die Kinder zu Wort kommen. Lest weniger mit dem Kopf als mit dem Herzen, auch wenn euch das seltsam vorkommen mag. Wenn ihr das so macht, bin ich ganz sicher, dass ihr verstehen werdet, dass Papa unbedingt mein allerliebster Drachenbau-Papa bleiben muss und Mama meine allerwichtigste Zu-Bett-geh-Geschichten-Mama, und dass ich euch beide ganz lieb habe und brauche und ihr einen Weg finden müsst, um einander als Eltern zu respektieren und das, wie ihr Erwachsenen sagen würdet, »kooperativ« zu leben.

1.

»Was, du bist noch nicht geschieden?«

Warum wir als Gesellschaft hier angekommen sind

Warum finden sich Menschen eigentlich und gießen dann auch noch diese Beziehungen in die Form einer Ehe? Was ist der ursächliche, begründende Driver für die Paarbeziehung?

Die Liebe natürlich, das weiß doch jedes Kind, wird die leicht genervte Antwort eines jeden auf diese unnötig anmutende Frage sein. Die Liebe als existenzbegründendes Ingrediens eines Paares steht außer Zweifel, ja bekleidet sogar den Status der Ausschließlichkeit, denn wer aus anderen Motiven denn der reinen Liebe eine Beziehung oder gar eine Ehe eingeht, gilt landläufig als moralisch äußerst zweifelhafter Charakter.

Diese Ideologie trägt heute den Wesenszug einer unantastbaren Kulturvariablen, ist tief in unserem gängigen Selbstverständnis verankert und wird mit allen Stilmitteln der Kunst von Hollywood bis Bollywood zum Teil bis in die Groteske hinein bedient.

So selbstverständlich, ja »natürlich« uns dieses auf der romantischen Anziehung zwischen zwei Menschen beruhende Konzept heute erscheint, so vergleichsweise neu ist es, betrachtet man den Gesamtzeitraum, seit unsere Spezies die Paarbildung erfunden hat.

Das will allerdings nicht sagen, dass Liebe zwischen Mann und Frau früher nicht existiert hätte, die Weltliteratur ist voll von berührenden wie tragischen Liebespaaren, deren Geschichten uns noch heute anzurühren wissen. Hier soll nur verdeutlicht werden, dass ursprünglich anderen Faktoren als der Liebe der Rang einer ursächlichen Begründung für eine dauerhafte Beziehung zwischen Mann und Frau zukam.

Geheiratet wurde lange Zeit, ausgehend vom festgesteckten gesellschaftlichen Segment, dem man durch die Geburt angehörte, nach Rang- und Positionsüberlegungen und wirtschaftlicher Günstigkeit. Geliebt wurde unter Umständen woanders.

Die Ehe war »Funktionsmittel« des Auftrags »wachset und vermehret euch«. Achtung und Respekt der Ehegatten voreinander, einhergehend mit einer klaren Rollenbefüllung und Rollenaufteilung, Ausdruck einer »positiven Betriebskultur« auf diesem Weg und Liebe zwischen den Eheleuten, waren zwar für den Alltag förderlich, aber nicht notwendig – und schon gar nicht ehebegründend. Aus Liebe allein zu heiraten, wäre absurd gewesen und hat, auch hiervon gibt die Weltliteratur eindrucksvoll Zeugnis ab, sofort besorgte Eltern und Abwehr auf den Plan gerufen. Für eine Welt, in der der Einzelne sein Selbstbild zum überwiegenden Teil aus der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und nicht in erster Linie aus sich selber schöpft, in der der Geburtsrang der jeweiligen Gesellschaftsschicht und zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer speziellen Handwerkerzunft Selbstgefühl und Identität des Menschen bestimmen und damit gleichzeitig den Lebensplan und alle darin enthaltenen Lebensoptionen festschreiben, ist dies auch durchwegs nachvollziehbar. Liebe als Ehebegründung wäre in diesem Gesellschaftsentwurf störend, ja könnte sogar gefährliche Unruhe und Aufmischung einer als »gottgewollten Ordnung« erlebten Gesellschaftskonstruktion bedeuten.

Dies ändert sich erst, als das Ich und damit eine mehr individualisierte Selbstwahrnehmung des Einzelnen in den Vordergrund zu treten vermag. Der einzelne Mensch beginnt sein Selbstbild und damit einen verbindlichen Verhaltenskodex zunehmend nicht mehr aus seiner Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht oder Berufsgruppenzugehörigkeit zu beziehen, sondern aus der eigenen Individualität. Das eigene Sein speist sich aus der Quelle der Ich-Wahrnehmung und die damit verbundenen Lebensentscheidungen werden nicht mehr im Spiegel vordefinierter, verbindlicher Verhaltensnormen von Bezugsgruppen getätigt, sondern finden Begründung im eigenen Wollen und im Spiegel der Selbstevaluation der persönlichen Möglichkeiten. Damit betritt auch die Liebe schön langsam, beginnend in intellektuellen Kreisen, in damals revolutionärer Form als allein beziehungsbegründend die Ehebühne. Das romantische Ideal greift um sich und hat bis heute ungebrochene Gültigkeit.

Aber wo stehen wir als Gesellschaft heute wirklich? Institutionen wie auch die Ehe müssen nüchtern betrachtet als gesellschaftliche Antworten auf spezifische Problemstellungen gesehen werden, wie das der bedeutende Soziologe Niklas Luhmann schon vor mehreren Jahrzehnten erstmals schlüssig ausgeführt hat.6 Die Ehe hat damit im strengen Sinn eine Transformation von einer wirtschaftlichen Besicherungseinheit (als Lösung für das wirtschaftliche Überleben des Einzelnen und Erhöhung des Aufzuchterfolgs für Nachkommen) hin zu einer die emotionalen Bedürfnisse der beiden Partner besichernden Einheit (emotionale Bestätigung durch ein sicher verfügbares Gegenüber) vollzogen.

Wie steht es heute, angesichts derartig hoher Scheidungsraten allerdings damit? Vermag die Ehe die in sie gesetzten Erwartungen noch zu erfüllen? Der Wunsch nach einer dauerhaften Verbindung, vertieft man sich zum Beispiel in die letzte Jugend-Wertestudie,7 findet sich auch bei der jungen Generation heute wieder. Ehe und Familie haben hohen Sehnsuchtswert.

Und dennoch hat sich einiges geändert. Hinterfragt man genauer, wie auch wir dies in einer von unserem Institut geleiteten Umfrage unter jungen Menschen gerade vergangenes Jahr wieder getan haben,8 so wird auffällig, dass zwar der Wunsch nach Ehe und Familie ungebrochen besteht, ja vielleicht als »Naturvariable« angesehen werden kann, dass aber der Glaube an eine Realisierung als dauerhaftes Beziehungsmodell deutliche Einbußen zu verzeichnen hat. Zu viel Enttäuschung des romantischen Ideals kursiert in der Umgebung und füllt die Seiten von Lebenstagebüchern.

Parallel und kontrovers wirkend zu dieser eher pessimistischen Sicht betreffend Dauerhaftigkeit des angestrebten Beziehungsmodells existiert eine fast traumhaft anmutende inhaltliche Befüllung des romantischen Ideals. Es mutet an, als wäre in einer zunehmend fragmentierten Welt, die dem Einzelnen zwar noch nie dagewesene Freiheit in der Entwicklung eines hochindividualisierten Selbstentwurfs zubilligt, ihm aber andererseits damit einhergehend auch die volle Wahlverantwortung für das Gelingen aufbürdet, die Zweierbeziehung der letzte, einzige Rückzugsort, an dem man Geborgenheit tanken und Selbstbestätigung über den Beziehungspartner bzw. die Beziehungspartnerin erlangen kann. Die das Paar verbindende Liebe schafft ein Erleben von persönlicher Totalität, einer eigenen, das individuelle Paar begründenden Realität, einer Insel im Meer von umgebender Unsicherheit.

Denn »nix is fix« in einer von pluralistischen Wertevorstellungen bevölkerten und von traditionellen Normen zunehmend entkleideten Gesellschaft. Der Einzelmensch als höchst individuelles Wesen muss sich ständig selbst definieren und begründen. Bezugsgruppen und Arbeitsplätze wechseln, ja sogar die eigene Stammfamilie bietet, oftmals bereits durch Scheidung in der Elterngeneration ihrerseits aufgesplittert und durch hohe Mobilitätsansprüche bisweilen auch unmittelbar schlecht erreichbar, kein stabiles Fundament mehr. Es scheint so, als wäre die Paarbeziehung der letzte Zufluchtsort für die Beglaubigung der eigenen Individualität.

Damit einhergehend ist jene inhaltliche Erwartungsüberfrachtung zu sehen, die mir auch dieses Jahr anlässlich eines Seminars mit jungen High Potentials zum Thema »Beziehungen der Zukunft«, das ich gemeinsam mit der deutschen Soziologieprofessorin Cornelia Koppetsch in Alpbach halten durfte, entgegenschlug.9 Partnerschaft soll heute nicht nur unsere wirtschaftlichen Interessen und Wünsche nach Sicherheit und Wohlstand erfüllen können, sondern auch unsere emotionalen nach Zuwendung, Geborgenheit, Treue, Verständnis, Freundschaft – und so weiter, denn der Katalog der Ansprüche ist lang.

Mit unserem Traumpartner bzw. unserer Traumpartnerin wollen wir täglich neuen aufregenden Sex und tolle Reisen erleben, und außerdem unsere Hobbys leben können; er bzw. sie soll in seinen bzw. ihren politischen Ansichten so ticken wie wir, von denselben Menschen fasziniert sein und sich für dieselben Filme begeistern wie wir. Außerdem natürlich gestylt und nicht zu weit vom Attraktivitätsideal entfernt sein, wenn man es sich aussuchen kann. Kurzum, er bzw. sie soll ein Gegenüber sein, das alle unsere Sehnsüchte und Wünsche zu erfüllen versteht und beständig, am besten 24 Stunden am Tag, mit einem strahlenden Lächeln bereit ist, allumfassende Liebe zu mir und meine Einzigartigkeit zu bestätigen; er bzw. sie soll mich also glücklich machen.

Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Konzept allerdings als sehr störanfällig, und abgesehen von der »Honeymoon Time« als wenig alltagstauglich. Da hilft es nicht, wenn mühselig Erspartes in überdimensionale, von »Wedding Plannern« zu Staatsempfängen hochstilisierte Hochzeitsfeste gesteckt wird, um den »schönsten Tag im Leben« zum unvergesslichen Moment im Sinne erfolgreichen Eventmanagements zu machen. Die Enttäuschung ist bitter, wenn im Zuge der Realanforderungen diese eigentlich hinter allem stehende Sehnsucht nach Aufmerksamkeit vom Gegenüber nicht mehr ausreichend erfüllt wird, und es nimmt nicht Wunder, dass dies häufig mit dem Auftreten von Kindern in der Paarbeziehung seinen Anfang nimmt. Aus jahrzehntelanger Praxis kenne ich die Klagen und Anwürfe in der Aufarbeitung der nachfolgenden, als unausweichlich erlebten Beziehungsaufkündigung:

»Er hat mich mit dem Kind überhaupt nur mehr alleine gelassen.«

»Er hat einfach sein eigenes Leben weitergelebt.«

»Sie hat nur mehr das Kind gesehen und für mich keine Energie gehabt.«

»Wir haben keinen aufregenden Sex mehr gehabt.«

»Meine Interessen waren überhaupt nicht mehr wichtig.«

»Ich fühlte mich total betrogen; ich habe es mir ganz anders vorgestellt, Familie zu sein.«

Die Liste der Enttäuschungen ist beliebig lang fortsetzbar, der Weg von Entfremdung, »Entliebung«, Bitterkeit, dem Gefühl, betrogen worden zu sein, Abwendung und nachfolgender Neuorientierung ist vorgezeichnet, wenngleich er unterschiedliche persönliche Geschichten schreibt.

Gemeinsam ist allen der Sturz vom Olymp in den Hades, die Enttäuschung durch einen vormals zum Ideal stilisierten Menschen. Den wenigsten Menschen ist es, dank des zuvor skizzierten gesellschaftlichen Zerrbilds der Ehe, das beziehungs- und damit auch erwartungsbegründend wirkt, ohne entsprechende bewusste Auseinandersetzung möglich, die Überfrachtung und die damit verbundenen Stolpersteine für das tägliche Beziehungsleben zu erkennen.

»Wir waren wie zwei untrainierte übergewichtige Seiltänzer, die man hinauf in die Zirkuskuppel geschickt hat, um einen Salto zu wagen. Unser Blick war vernebelt. Unser Absturz war programmiert. Jeder von uns hat den anderen als den Verantwortlichen für das eigene Glück gesehen, und als wir enttäuscht wurden, wollten wir unsere Kränkung aneinander rächen. Der Obsorgekrieg um unsere Kinder war das Spielfeld«, so drückte es einer meiner Klienten in später Selbsterkenntnis einmal aus.

Das Scheitern des so sträflich überfrachteten romantischen Ideals führt in manchen Fällen – dort, wo das Ich besondere Bedürftigkeiten umfasst und zum Teil sogar existenzielle Abstützung im Gegenüber sucht – zu besonderer Bitterkeit, denn im persönlichen Erleben der Betroffenen handelt es sich um eine tief erlebte Entwertung. So wird es auch verständlich, dass gerade in diesen Fällen erbitterte Obsorgekriege oft den letzten zähen und jahrelangen Akt im Kampf um die Aufmerksamkeit und darum, Recht zu haben, bilden, um der tiefen narzisstischen Kränkung, die mit diesem Verlust des Lebensplans einhergeht, Raum zu bieten. Der vormals als ideal erlebte Partner bzw. die Partnerin durchläuft in der reaktiven Bewertung eine Dämonisierung. Der andere Elternteil, mit dem wir gemeinsam bis zur definitiven Abwendung unser Kind erzogen haben, wird nun als grundsätzlich verantwortungslos oder gar als potenzieller Missbraucher erlebt, vor dem es unser Kind zu schützen gilt. Eine entsprechende Mechanik wird in Gang gesetzt – und die Leidtragenden dabei sind die Kinder.

Das romantische Ideal im 21. Jahrhundert

* Mit der »Erfindung« des Ich und des Individualismus geht eine veränderte Selbstwahrnehmung und die Etablierung des romantischen Ideals als beziehungsbegründend einher.

* Die Wichtigkeit von sozialer Einbindung und Gruppenzugehörigkeit für die Selbstbeglaubigung des Einzelnen tritt in den Hintergrund.

* In einer zunehmend fragmentierten, hyperindividualistischen Gesellschaft wird die Paarbeziehung zum letzten Rückzugsort eines reklamierten Angenommenseins.

* Die Paarbeziehung erleidet als »Zuständigkeitsort des Lebensglücks« eine die Leistbarkeit übersteigende Überfrachtung.

* Ein Scheitern der Paarbeziehung als Projektionsort des Lebensglücks wird vielfach als tiefe narzisstische Kränkung erlebt und schafft die Basis für Rachebedürfnisse.

* Dies bildet bedingt durch die damit einhergehende hohe Emotionalisierung die Basis für die primäre Unmöglichkeit, das Scheitern der Paarbeziehung von der dem Kind geschuldeten elterlichen Verantwortung zu kooperativer Elternschaft abzugrenzen.

2.

Warum Kinder an beiden Elternteilen so sehr hängen

Die knapp sechsjährige Sibylle nimmt die Information, dass ihre Eltern sich scheiden lassen, mit scheinbar großer Gelassenheit zur Kenntnis. Die Aussicht, dass ihre Eltern nicht mehr zusammenleben werden und damit die ewigen lautstarken Streitereien ihr Ende haben, findet sie sehr positiv. Schließlich geht sie ja auch selber in ihrer eigenen Kindergartengruppe einem Jungen, der sie immer wieder geneckt hat, aus dem Weg und ist mit dieser Methode sehr gut gefahren.

Die Erklärungen ihrer Eltern zu deren Scheidung sind für sie schlüssig und nachvollziehbar. Als ihr Vater jedoch zwei Wochen nach dem Aufklärungsgespräch beginnt, seine persönlichen Sachen zu packen, und den Abtransport einiger Einrichtungsgegenstände mit der Mutter diskutiert, ändert sich der Sachverhalt plötzlich dramatisch. Sibylle kann abends nicht mehr allein einschlafen, wacht von Alpträumen geplagt mehrfach auf und beginnt einzunässen. Es stellt sich heraus, dass sie davon ausgegangen ist, dass ihr Vater nach der Trennung von der Mutter zu ihr ins Kinderzimmer ziehen würde. Jetzt fühlt sie sich von ihm verlassen und ist völlig verstört.

Sibylle ist »nur ein unvernünftiges« junges Kind, und dennoch manifestiert sich in ihrer Reaktionsweise auf die Scheidung der Eltern, wie in ihrem nachfolgenden Verhalten, eine tiefere, sehr alte, ja man ist geneigt zu sagen, evolutionsbiologische Vernunft. Dass ihre Eltern nicht mehr miteinander können, ist ihr, am Modell ihrer eigenen Lebenswelt anschließend, durchwegs nachvollziehbar und macht angesichts der belastenden Konfliktsituation auch Sinn.

Doch Sibylle liebt beide Eltern gleichermaßen. Sie bezieht von beiden Elternteilen in deren jeweiliger Rolle als Vater und Mutter Nahrung, Schutz, Geborgenheit, Identität und einen Beitrag für die Herausbildung ihrer eigenen Geschlechtsrolle. An Sibylles Beziehungsbedürfnis zu beiden Elternteilen hat sich durch den Paarkonflikt nichts geändert.

Ihr Papa bleibt ungebrochen jene Person, der sie sich in wilden Spielen anvertraut, mit der sie wohlige Erinnerungen an Kartonburgbauten und zahllose andere Erlebnisse, die die Basis des Vertrauens bilden, verbindet. Dies gilt für Sibylles Mama ebenso, mit der sie zuerst an der Brust und später mit einem Kuscheleinschlafritual gelernt hat, sich dem Schlaf anzuvertrauen, mit der sie Friseur spielt und der sie mit kleinen Gesten im Haushalt zu helfen beginnt.

Sibylles persönliche Beziehungsinteressen zu beiden Elternteilen sind also, unbeeinflusst vom »Beziehungs-Aus« auf der Paarebene, ungebrochen. Die Annahme, dass ihr Papa nun zu ihr ins Kinderzimmer ziehen würde, das noch dazu ein zweites Bett beherbergt, erscheint aus der kindlichen Logik, so abstrus dies für den Erwachsenen wirken mag, durchwegs nachvollziehbar. Umso mehr ihre nachfolgende Reaktion, als sie erfahren muss, dass ihr geliebter Papa von zu Hause wegzieht und sie, wie sie es als Erstreaktion des Totalitarismus junger Kinder befürchtet, verlässt. Auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn Sibylle verstört reagiert.

Warum ein Kind durch die Trennung der Eltern eine existenzielle Bedrohung verspürt, ist eine sehr alte Geschichte. Vor rund zweieinhalb Millionen Jahren haben sich die Entwicklungslinien von Schimpansen sowie Bonobos und die unserer eigenen Spezies voneinander zu trennen begonnen. Unsere Spezies verdankt ihren fundamentalen und unleugbaren Entwicklungserfolg, wenn wir unsere »nächsten Verwandten« betrachten, einer spezifischen sozialen Erfindung, über die wir, dank ihrer Selbstverständlichkeit, nicht gewohnt sind nachzudenken: der Erfindung des Paares. Dieser entscheidende Schritt, der uns von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, deren Entwicklung die letzten zweieinhalb Millionen Jahre vergleichsweise unspektakulär ablief, abgekoppelt hat, ermöglichte in der Folge Unwahrscheinliches – letztendlich, dass wir heute Wolkenkratzer bauen, zum Mond fliegen und iPads benutzen.

Die Erfindung des Paares und daran anknüpfend die Ausbildung von Familiengefühl und Zugehörigkeit verliehen nämlich einer anderen Entwicklung, dem kontinuierlichen aufrechten Gang, erst wirklich Sinn. Dieser, der aufrechte Gang nämlich, hatte sich als äußerst nützlich erwiesen, um zu einem besseren Überblick im Busch- und Savannenland und somit einem besseren Informationsstand über potenzielle Feinde zu kommen. Es ist leicht einzusehen, dass es sich dabei um eine äußerst nützliche Sache für Exemplare einer derart wehrlosen Spezies wie der unseren handelt, denn weder scharfe Reißzähne noch Klauen, feste Panzerungen oder besondere Geschwindigkeit und Ausdauer stehen in unserer physischen Ausrüstung zur Verfügung. Entgegen immer wieder geäußerten Behauptungen, der Mensch wäre der Jäger, waren wir den überwiegenden Teil unserer von der Evolution geprägten Existenz über die Gejagten. In der Conclusio muss attestiert werden: Der aufrechte Gang war ein echter Hit, ein Propeller in der Besiedlung neuer Lebensräume – doch nur in Kombination mit weiteren neuen Strategien.

Es war noch kein nachhaltiger Weg gefunden, um im Überlebenskampf einen Pokal gewinnen zu können. Im Unterschied zu im sonstigen Tierreich erprobten Angriffs- oder Verteidigungsausrüstungen, Tarn- oder Fluchtmechanismen, setzte Mutter Natur bei unserer Spezies auf eine neuartige, ganz andere Strategie: ein großes, gut vernetztes und überaus lernfähiges Gehirn. Intelligenz und Schlauheit statt Kraft und Wehrhaftigkeit, Tarnen oder Fliehen.

Diese notwendige Forderung nach einem großen, ausdifferenzierten Gehirn stellte den endlich aufrecht marschierenden und dank seines Überblicks jetzt auch ins offene Land sich hineinwagenden Vertreter unserer Spezies allerdings vor ein empfindliches Problem: Im ständigen aufrechten Gang sind, begründet durch mechanische und statische Anforderungen an die Rahmenkonstruktion des Körpers, der Beckendurchgangsöffnung im knöchernen Becken, also dem Durchtrittspfad des kindlichen Kopfes durch den Geburtskanal, klare Grenzen gesetzt. Was man da – salopp gesprochen – maximal durchbringt, ist, trotz des Tricks eines partiellen Übereinanderschiebens der Schädelknochen während des Geburtsprozesses, wenn es wirklich eng wird, letztendlich nicht verhandelbar – und leider, man muss es zugeben, kein besonders großes Gehirn.

Damit wäre im Sinn der Zielvision einer herausragenden Intelligenz wenig Staat zu machen. Wenn wir in Rechnung stellen, dass wir gerade einmal mit einem Viertel unseres endgültigen Gehirngewichts von rund 1450 Gramm geboren werden, vermag dies den Sachverhalt ziemlich eindeutig zu beschreiben. Erwachsene Schimpansen bewältigen im Vergleich dazu mit 400 Gramm ihr Alltagsleben, was doch sehr eindeutig die dahinterliegende Strategie der Natur bei unserer Spezies, als Lösungsmodell auf »Intelligenz« zu setzen, demonstriert.

Die Evolution sah sich hier in ihrem Plan, uns größere Besiedelungsräume, nämlich auch das offene Land, zur Verfügung stellen zu wollen, vor eine ernsthafte Anforderung gestellt. Wie ist es zu schaffen, aus einem kleinen und noch sehr unreifen Gehirn bei der Geburt eine überlegene Superschaltzentrale zu machen, die punktgenau die jeweilige Situationsanforderung erkennt und adäquat darauf reagieren kann?

Als Lösung dieses Problems behalf sich die Natur mit einer notwendigen, vergleichsweise zu allen anderen Lebewesen extrem langen nachgeburtlichen Reifungsphase. Diese Entwicklung wiederum musste eine langfristige soziale Bindung, die Zuordnung eines bestimmten Weibchens zu einem bestimmten Männchen für lange Zeit, nach sich ziehen, da diese enorm betreuungsintensive, lange Periode nicht von der Mutter alleine bewerkstelligt werden kann. Das Paar und erste Bindung wurden erfunden und unser Siegeszug der Besiedelung begann. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Man könnte hier, in dieser ersten langfristigen Verbindlichkeit, die Wurzel einer rudimentären Ehe sehen und auch den Beginn von Haltungen wie Verantwortungsbereitschaft, Kontinuität, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Anteilnahme, Unterstützung, Verteilungsgerechtigkeit im engeren Rahmen – die Ursprungskeime all dessen, was wir heute vielleicht unter Grundethik verstehen und was im Zusammenhang mit einem über die engen Grenzen des eigenen physischen Ego hinausreichenden Verhalten steht.

Wenn man so in die tiefsten Schichten unserer grauen Vorväter evolutionspsychologisch zurücktaucht, vermittelt dies vielleicht auf diese Art auch völlig ideologiefrei, nämlich rein auf seiner puren Entwicklungs- und Seinsgeschichte begründet, dass ein langfristiges, unverrückbares, bedingungsloses Bekenntnis zueinander eine sehr ursprüngliche, tiefe, überlebensbesichernde, gesellschaftsbesichernde und zukunftsbesichernde Funktion in sich trug.