Dickicht - Nina Bußmann - E-Book

Dickicht E-Book

Nina Bußmann

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Beschreibung

Auf eigene Faust auszunüchtern, schaffen die wenigsten. Wer mit dem Trinken aufhören will, sollte Anschluss an eine Gruppe suchen. Die suchtkranke Ruth kennt solche Lehren, glaubt aber nicht daran. Allein kommt sie am besten zurecht. Als sie nach einem schweren Sturz im Krankenhaus aufwacht, braucht sie jedoch Unterstützung und wendet sich an eine Mitpatientin, Katja. Der passiert das ständig, Leute bitten sie um einen Gefallen, eine Unterschrift, etwas Kleingeld. Helfen gibt ihr ein gutes Gefühl, auch wenn sie weiß, dass sie sich später nur schwer abgrenzen kann. Sie merkt bald, Ruth zu mögen ist nicht leicht. Und es gibt noch andere, die sich darum bemühen – Max, der sie mit seinem linken Kollektiv beim Kampf gegen die neue Vermieterin unterstützen wollte. Katja kennt ihn nur aus Erzählungen und empfindet Eifersucht. Was ist das für einer, der angeblich nie die Geduld verliert, keine feste Widerstandsfläche bietet?

Nina Bußmann erzählt von drei Menschen in der Großstadt, die um Kontrolle kämpfen, sie aber längst verloren haben. In prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse verstrickt, taumeln sie zwischen Abhängigkeiten und Freundschaften, Therapieversprechen und spirituellen Verlockungen. Ohne Rausch kommt kaum einer aus. Und dennoch suchen sie alle nach Klarheit.

»In Nina Bußmanns Büchern ist es die Genauigkeit der Beschreibung, die die Unschärfen des Lebens erkennbar macht.« Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung

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Seitenzahl: 394

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Nina Bußmann

Dickicht

Roman

Suhrkamp

Dickicht

Wie man Dämonen vertreibt

In der Kristallographie beschreibt man als Störung eine Unregelmäßigkeit in der Gesamtstruktur, Verwerfungen, die unter normalen Bedingungen unbemerkt bleiben. Man darf sie sich vorstellen wie die kleinen unsichtbaren Risse in einer angeknacksten Eierschale. Die Spannung baut sich allmählich auf. Wenn der Druck zu stark geworden ist, kommt es zum Bruch. Die aus der Grundstörung des Menschen stammende Energie hat, obwohl sie hochgradig dynamisch ist, weder Trieb- noch Konfliktform. Es ist nicht etwas Aufgestautes, für das man eine Abfuhr suchen muss, sondern eher eine Not, die entweder aktuell besteht oder schon fast das ganze Leben hindurch bestanden hat.

Ich selbst bin in meinem Leben noch niemals richtig zornig gewesen. Dass ich Lust bekam, alles kurz und klein zu schlagen, dass ich gar nicht mehr anders konnte: Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Mein Bruder war derjenige von uns beiden, der Tobsuchtsanfälle bekam und manchmal noch immer bekommt. Inzwischen hat er gelernt, damit umzugehen. Wenn er spürt, dass es anfängt (eine starke körperliche Empfindung, stelle ich mir vor, wahrscheinlich rast sein Herz, und in seinen Ohren rauscht es), steht er vom Tisch auf, stellt sich ans Fenster, schaut hinaus und atmet in seinen Bauch hinein. Ich war noch nie dabei, aber ich kann mir denken, wie das aussieht: Er muss an sich halten, und seine Mitarbeiterinnen beziehungsweise seine Familie müssen warten, aber in der Regel geschieht nichts.

Was ich kenne, ist, dass ich die Geduld verliere, wenn zum Beispiel im Supermarkt am Rückgabeautomaten für Leergut schon eine Schlange steht und dann auf dem Bildschirm neben dem Schlund für die Flascheneingabe eine Anzeige erscheint: »Störung« oder: »Hintergrund voll«, und dazu ein ganz aufgeregter Signalton. In solchen Momenten merke ich, wie etwas hochkommt in mir. Ich bin dann nicht wütend auf diese Röhre, die Stockungen am Fließband, auf die Anordnung der Waren in den laufenden Regalen, nicht auf das Display oder die Musik aus den unsichtbaren Lautsprechern, falls überhaupt Musik gespielt wird. Ich bin wütend auf diesen Menschen in der Schlange vor mir, die Tragetaschen voller Bier- und Limoflaschen, die er oder sie aus dem Gebüsch im Park und aus öffentlichen Mülltonnen zusammengesucht oder vielleicht auch zu Hause angesammelt hat, möglich ist beides, ich weiß auch nicht, warum ich nicht auf die Verhältnisse wütend bin, sondern auf diese Person vor mir, von der ich nicht mal das Gesicht sehen kann, nur die Haltung. Warum ich mich derart zusammenreißen muss, bis endlich alles wieder seinen Gang geht, die PET-Flaschen von der Maschine zu Ballen verpresst werden und ich bald an der Reihe bin.

Im Alten Testament ist die Rede von Saul, der von einem Dämon befallen und von diesem zu Zornesausbrüchen veranlasst wird. Manche benutzen den Ausdruck »böser Gottesgeist«, andere reden von kleinen Teufeln. Zwischenwesen aus einer Region, die nicht zur Welt des Geistes und nicht zu der des Fleisches gehört. Das Problem im Umgang mit ihnen ist ihre Flüchtigkeit. Sie scheinen keine Ziele zu verfolgen und können sich leicht verwandeln. Immer wieder gelingt es ihnen, den Körper eines Menschen in Besitz zu bekommen und seine Handlungen zu lenken. Strittig ist, wie ihnen das gelingt. Zuerst muss die Seele die betreffende Person verlassen, dem Halbwesen Platz gemacht haben. Aber warum sollte sie das tun? Und wie lässt es sich beweisen?

Störungen der Impulskontrolle sind noch wenig erforscht. Nicht immer bemerkt man ihr Auftreten, oft geschieht es so leise, dass die Betroffenen es selbst gar nicht mitbekommen, bis sie die Haut an ihren Fingern so lange bearbeitet haben, dass Wunden entstehen. Andere reißen oder zupfen sich das Haar aus, am Kopf und seltener an anderen Körperstellen. Sie berichten, keinen Schmerz zu spüren, stattdessen Erleichterung und Befriedigung, manche sprechen von Trance.

In unserem Dorf gerieten die Leute regelmäßig außer sich. Es wurde als gesund betrachtet, etwas, das zum Leben dazugehört, dass jemand auch mal mit schweren Gegenständen wirft und laut wird. Das ist die Wahrheit, hieß es, die dann aus so jemandem herauskommt. Heraus: Normalerweise also sitzt sie in unserem Innern fest und hält still, damit wir im Alltag gut zurechtkommen. Später lernte ich, dass das Gehirn des Menschen in drei Bereiche unterteilt werden kann. Ein Reptilgehirn für die Instinkte, ein Säugetiergehirn für die Gefühle und ein Großhirn, das alles unter Kontrolle behält, oft aber auch für Verwirrung sorgt, weil es Gedanken produziert, die unsere Instinkte in Frage stellen.

Wenn ich meinen Bekannten in der Stadt davon erzähle, wollen sie wissen, ob in unserer Gegend viel getrunken wird, ob es viele Arbeitslose gibt. Ohne je dort gewesen zu sein, wissen sie, dass vor allem die an solchen Orten verbliebenen jungen Männer sich und ihre Langeweile nicht im Griff haben, einen Schuldigen wofür auch immer suchen und deshalb mit ihren Autos gegen Bäume rasen, Wohnhäuser in Brand setzen, zertrümmern, was sie finden können, Jagd machen auf alle, die ihnen in die Quere kommen.

Die Mutter meiner Freundin hatte immer etwas Porzellan bereitliegen, um es zerschmeißen zu können, wenn sie den Drang verspürte. Sie suchte mit Bedacht die hässlicheren oder billigeren Stücke aus. Sie wollte etwas haben, womit sie um sich werfen konnte, ohne es später bereuen zu müssen. Wenn alles vorbei war, kehrte sie die Scherben auf und saugte die ganze Wohnung durch, vor allem die dunklen Teppichböden. Wenn man gerade dann vorbeilief, lachte sie ein bisschen hektisch und rief: Entschuldigung, ihr sei beim Ausräumen etwas aus der Hand gerutscht. Sie fuhr mit dem Staubsauger in alle Ecken, sie wollte nicht, dass Kinder oder Katzen sich an den bis zur Unsichtbarkeit winzigen Splittern verletzten. Im Biologieunterricht lernten wir, dass die Heftigkeit der Gefühle unter anderem chemischen Ursprungs ist und von körpereigenen Drüsen reguliert wird.

Gesehen habe ich diese Ausbrüche nie. Nur das bereitgelegte Geschirr in einem Kartondeckel auf dem Boden, wie etwas, das man aussortiert hat. Heute frage ich mich, warum diese Stapel aus Untertassen und Tellern nie verschwanden, nicht einmal weniger schienen sie zu werden, immer war etwas zum Aussortieren und Zerschmeißen verfügbar. Damals war ich natürlich noch nicht ganz raus aus dem Alter, in dem man die Handlungen der Eltern vielleicht merkwürdig findet, aber hinnimmt wie einen fremdartigen Brauch. Vor allem hatten wir genug anderes im Kopf. Ich war immer froh, wenn ich auf diesem dunklen Flur niemandem begegnete und wenn niemand uns in das Zimmer meiner Freundin folgte, ich war sogar froh, wenn wir es aus dem anderen Zimmer scheppern hörten. Solange hatten wir jedenfalls unsere Ruhe. Heute frage ich mich, wie gesagt, woher all das Geschirr kam. Sie wird es mitgehen lassen haben in dem Hotel, in dem sie kellnerte. Aber dass das dort keinen kümmerte, kann ich mir nicht vorstellen. Ihr Chef konnte ziemlich streng sein.

Manche halten an der Idee einer genetischen Veranlagung fest, andere meinen, es hat mit dem Klima meiner Heimat zu tun, es ist als Reizklima eingestuft. In kleinen Dosen soll es gesund sein. Wenn man es übertreibt, nicht. Unser Städtchen ist ein staatlich anerkanntes Seeheilbad. Hell getünchte Villen säumen den Strand. Man sagt von solchen Orten, sie hätten im Lauf des letzten Jahrhunderts viel an Glanz eingebüßt. In unserem Dorf gibt es noch immer einen Badearzt. Die Luftqualität und die Wasserqualität werden regelmäßig kontrolliert. Das ganze Jahr kommen die Leute wegen der Luft, die nach Ginster und Salz riecht und in alle Straßen der Stadt weht. Schon ein kurzer Spaziergang putzt die Atemwege, das Hautbild und sogar die Gedanken der Erkrankten. Ich bin seit Jahren nicht dorthin zurückgekehrt, aber das Bild der Promenade und des Meers mit den Gischthauben steht mir noch vor Augen, die Fassaden der Villen auf ihrer sandigen Erhebung. Auch den allmählichen Verfall der Villen versuche ich mitzudenken. Obwohl es wahrscheinlicher ist, dass man sie entweder abgerissen oder verkauft und frisch gestrichen hat, sehe ich das Weiß von ihren Fassaden blättern, das Holz aufweichen in der Meeresluft, ihre Fundamente scheinen in den Dünen zu versinken, und die Luft verdichtet sich zu Nebel, einer kompakten Trübnis.

Ich will nicht wissen, ob sie wirklich völlig betrunken war an dem einen besagten Abend und nicht gehört hat, was in dem Raucherzimmer los war, das sie morgens mit offener Tür vorfand, mit vollen Aschenbechern und zertrümmertem Mobiliar. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass meine Freundin betrunken gewesen sein soll, auch wenn sie schon lange nicht mehr meine Freundin ist. Mir gefallen überhaupt betrunkene Frauen nicht. Aber mir gefällt auch nicht der Gedanke, sie könnte ganz nüchtern oder jedenfalls bei wachem Bewusstsein den merkwürdigen Gästen die Tür zu dem sonst immer verschlossenen Raucherzimmer aufgemacht haben, nachdem sie diese Leute, vor allem den Mann, ausführlich als ziemlich unangenehm beschrieben hat. Mir gefallen die meisten Gedanken nicht, die ich mir bisher zu dieser Geschichte gemacht habe.

Viele fragen sich, warum sie den Ort nicht längst verlassen hat wie ich und übrigens alle ihre Freunde. Ihre Mutter ist tot, der Vater umgezogen, als sie noch ein Kind war. Vor kurzem will sie ihn vor einem Spielautomaten stehen gesehen haben, sicher war sie sich nicht, immer stehen Männer vor diesen Spielautomaten in der Kneipe, nicht sehr schön angezogen, sagte sie zu mir.

Es ist vielleicht ein Problem, dass sie nie einen richtigen Beruf oder überhaupt irgendetwas gelernt hat, doch die Betten in leeren Zimmern aufschütteln und zwischendurch lesen oder auf das winterliche Meer schauen könnte sie auch woanders. Sie hängt an dem Hotel, es ist ein schönes Gebäude, eine Villa aus dem vorletzten Jahrhundert mit Risaliten und kunstvollen Schnitzarbeiten. Köpfe von Blüten, von Löwen und Engeln und Drachen schmücken die Fassaden, die Balkonbrüstungen, die Treppengeländer. Wenn man sie anstarrt, starren sie zurück, als wären sie lebendig.

Inzwischen hat der Drache an Autorität verloren, zumindest in der westlichen Welt, steht im Buch der imaginären Wesen. Entsprechend gilt es nicht mehr als Heldentat, ihn zu töten. Er erscheint uns kindisch und steckt die Geschichten, in denen er vorkommt, gewöhnlich mit seiner Kindischkeit an. Die Ansteckungsgefahr des Kindischen hat meine Freundin allerdings noch nie gescheut. Eine Substantivbildung wie Kindischkeit klingt in ihren Ohren nicht komisch. Es ist so, dass es sehr häufig Spuk gibt, sagte sie zu mir, mit der Überzeugung von einer, die das in einer vertrauenerweckenden Quelle gelesen hat. Es gebe jetzt ein Institut in Freiburg, in dem Wissenschaftlerinnen das Übernatürliche erforschten. Jahrhundertelang habe man sich bemüht, vernünftige Erklärungen zu finden für die Überzähligen und die Wiedergänger, die im Wald und an den Dorfrändern warteten. Jetzt komme man wieder auf sie zurück. Es wird ein bisschen totgeschwiegen, aber die Wissenschaft hat begonnen, sich in den eigenen Schwanz zu beißen!, erklärte meine ehemalige Freundin, vorsichtig triumphierend, ein bisschen so, als wüsste sie doch nicht ganz sicher, ob das wirklich eine gute Nachricht ist.

1

Während das Narkosemittel zu wirken begann, wurde Ruth aufgefordert, an etwas Schönes zu denken. Eine Blumenwiese, eine Felsenbucht, einen Sandstrand. Das Taubheitsgefühl würde von den Extremitäten zur Körpermitte hin wachsen. Manche empfänden das, solange sie noch wach waren, als unangenehm, deshalb wäre es gut, sich abzulenken. Mit Kalenderfotos?, wollte sie ironisch zurückfragen, brachte aber auf die Schnelle kein besseres Bild auf. Sie spürte die Augenmuskeln nachgeben, Tagesrestbilder schoben sich übereinander. Die Fußwaschung ihrer Bettnachbarin. Max’ schmales Zimmer in der vergessenen Fabriketage knapp hinter einer Baustellenkante, die bewachsenen Böschungen auf der anderen Seite des Bauzauns, der glatte Schlick an den Ufern des Biotops. Das Zimmer, in dem sie sich jetzt befand, schmal, vollgestellt, mit metallenen Regalen, einer verstellbaren Liege, neben der Liege einem Ständer für die Geräte, unordentlich, provisorisch und zu klein, ein Vorraum, hatte sie erst angenommen oder gehofft, aber es sah so aus, als sollte alles hier stattfinden.

Eine Wanderung durch ein ausgewaschenes Flussbett, von der ein Kollege ihr vor ein paar Tagen erst erzählt hatte: Wie er immer wieder falsch gegangen und endlich froh gewesen war, sich nur noch vorwärts zu bewegen, dem Flusslauf folgend. Muschelschalen und Reste von Krustentieren an den weißen Steinen, schwarze Wasserpflanzenskelette, Moos und Farne an den Wänden der Schlucht. Keine Markierungen mehr. Anfangs war er oft stehen geblieben, um Bilder von Felsformationen aufzunehmen, Kegel und in die Höhe gedrechselte Pyramiden, Steine in Form von riesenhaften Tropfen. Er hatte nichts zu trinken mitgenommen, es war nicht einmal als Wanderung gemeint gewesen. Ein Spaziergang, weil er es auf der Restaurantterrasse mit seinen Freunden nicht mehr ausgehalten hatte, die Beine vertreten, hatte er gemurmelt und war losgelaufen, enge geschotterte Serpentinen abwärts. Ich bin einfach immer weitergelaufen, hatte er zu Ruth gesagt, auf dem schmalen Balkon vor dem Konferenzraum, am Rand eines Umtrunks. Sein Reden verlor sich wie der beschriebene Weg, sie kämpfte mit ihrem Feuerzeug und dem Wind, er half ihr. Einfach immer weiter, wiederholte er, ich merkte, wie es dämmerte, ich wusste, dass ich angetrunken war und dabei zu dehydrieren, dass ich kein Wasser dabeihatte, aber es war, als hätte jemand anders übernommen, ich sah keinen Grund, zurückzukehren. Er schaute sie an, aufmerksam, ein schmales offenes Gesicht, gierig schon, er stellte sein leeres Glas auf ein Tablett, griff ein volles, hielt ihr eins hin, wollte sie wirklich nichts?

Etwas Schönes denken. Was, wenn man nicht mal das hinbekommt? Jemand setzte ihr die Atemmaske auf das Gesicht und drückte ihren Kopf zurück. Kurzatmige Denkfetzen schwammen zwischen den Fingern weg, verklumpten zu etwas Gleichgültigem, verschwanden hinter einem Moltontuch, es ließ sich nicht zur Seite schieben, nicht einmal anfassen. Später: Rohbeton hinter einer nassen Scheibe, von der Seite einfallendes Licht, ausdauernde Vegetation, Grünspan, Flechten, Algen auf den Kieselsteinen am Boden des Schachts.

Sie wäre gern im Aufwachraum geblieben. Natürlich lag es an den Mitteln, die sie ihr gegeben hatten und noch gaben, zum Abschleifen aller Kanten, sogar ihr eigener Körper kam ihr plötzlich viel handlicher vor. Ein gemachter Traum, eine induzierte Ruhe, nichts, was sie normalerweise nützlich fand, schon gar nicht hier, wo einen doch alles traurig oder wütend stimmen sollte, die an die Wand geschraubten Spender für Seifen und Desinfektionsmittel, der Plexiglasrahmen über dem fotografierten Lavendelfeld. Ein flacher Himmel hinter getönten Scheiben, Lachsschinkenscheiben mit sich aufrollenden Rändern. Baumelnde Haltegriffe über den Betten, Tropfständer und Flügelhemden, links ein Bett, rechts ein Bett, alles, wovor man sich normalerweise fürchtet, kommentierte Ruth, erzählte es im Kopf jemand Drittem, wie sie es später erzählen wollte, wenn sie erst wieder hier heraus wäre, mit geschientem Arm, Prellmarken am Körper und einer genähten Wunde am Kopf, ansonsten aber ganz die Alte.

Sie lagen zu dritt im Zimmer. So nah, dass sie einander bei den Händen hätten fassen können: das Mädchen rechts beim Fenster, die schlafende Alte bei der Tür, Ruth in der Mitte, als hätten sie versucht, eine Reihenfolge einzuhalten. Das Mädchen mit dem schweren Zopf und dem aufsässig gelangweilten Gesicht, fahl wie der Himmel hinter den abgedunkelten Scheiben. Als hätte jemand mit kräftigen Stiften zu zeichnen begonnen, dunkler Pony, durchgehende Brauen, und nach ein paar Strichen die Kraft oder die Entschlossenheit verloren. Ein verwischter Schatten auf der Oberlippe, die Augen müde glänzend, wenn sie antwortete: Beim Schlafwandeln aus dem Fenster gefallen. Man konnte nicht sagen, wie sie klingen wollte, ironisch oder anklagend, wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht, dachte Ruth und entschied sich für Sachlichkeit: Aha. Aus welchem Stockwerk denn? Das Mädchen schaute wieder so zurück. Aus dem dritten.

Die ältere Frau bekam Besuch und in Alufolie eingewickelte Würste und Kuchen von einer jüngeren mit großen rostfarbenen Locken und zugeknöpfter Jeansjacke. Sie brachte nasse Luft ins Zimmer, Zigarettengeruch, räumte ein Schrankfach um, setzte sich dicht ans Kopfende des Bettes, holte ein Telefon heraus und zeigte der Frau im Bett Bilder: um einen Tisch unter Bäumen versammelte Menschen, eine Wandergruppe auf einem Bergrücken, ein Junge, der sich an die Kühlerhaube eines funkelnden Sportwagens lehnte. Wenn jemand die Schlafende ansprach, reagierte sie sofort. Sie schlief nicht, sie wartete. Wie es die wenigsten können: mit zum Himmel gewendeten Handflächen, ohne Fragen, darauf, dass jemand kam, sie mit einer Vorrichtung aus Schlaufen und Gurten aus dem Bett hob, auf einen Toilettenstuhl setzte, weg- und wieder zurückschob, die Verbände am Fuß wechselte, das kranke Gewebe abwusch und salbte. Ruth schaute zu. Das schwarz gewordene Fleisch, das aufwärts zur Zimmerdecke gerichtete Gesicht.

Sie selbst bekam keinen Besuch, ihr Telefon war bei dem Unfall kaputtgegangen, sie konnte niemanden benachrichtigen, niemand schien nach ihr zu suchen, was ihr vorläufig ganz recht war. Sie wusste niemanden, den sie sich an den Bettrand gewünscht hätte, verschreckt auf sie herabschauend, vorsichtig neben ihr hergehend zu den Fahrstühlen, zur Cafeteria mit den Fenstern zum Hubschrauberlandeplatz. Die Kleider, die man ihr gegeben hatte, weil sie ihre Sachen hatten zerschneiden müssen und die Hose nicht mehr hatte gereinigt werden können, oder so erklärte sie es sich, bisher hatte sie niemand informiert. Sie trug Krankenhauswäsche oder Jogginghose und T-Shirt, Sachen, die aussahen, als ob sie einem Dreizehnjährigen gehörten. Als die Stationsärztin sie bei der Anamnese fragte, ob sie allein sei, klang das so offiziell, dass ihr nur nächste Verwandte einfielen, Vater, Bruder, ihr geschiedener Mann, Menschen, die ihr sonst nie einfielen. Sie müssen niemandem Bescheid sagen, ich bin doch sowieso bald wieder heraus hier, schüttelte sie entsetzt den Kopf, es würde sich nicht lohnen. Die Ärztin band ihren Pferdeschwanz neu. – Wie Sie meinen. Ein Bündel Haare hatte sich mit dem Zopfgummi gelöst und schwebte zu Boden, sie griff danach und schob die Faust in die Tasche ihres Kasacks. Sie war noch dünner als Ruth, die Stimme schartig, aber hell. Wahrscheinlich musste sie, um nicht immer für eine Hilfsschwester gehalten zu werden, so reden: zügig, auf gleichbleibender Höhe, mit zusammengezogenen Brauen. Sie hatte Ruths zertrümmerten Unterarmknochen mit Zugschrauben und einer externen Platte fixiert, um die Spannung innerhalb des Knochens günstiger zu verteilen. Unter Druck wüchsen die Fragmente schneller zusammen. Ohne Druck möglicherweise gar nicht oder nur schief. Es stand also schlimm. Sonst hätten sie den Arm geschient und sie nach Hause geschickt, sie hätte Schmerzmittel genommen und abgewartet, dafür brauchte sie keine Klinik. Und wann kommt das wieder raus?, wollte Ruth wissen, im Kopf das Bild einer Schraube, die sich über eine längere Zeit und unter Krafteinwirkung so fest in ein rostiges Gewinde oder weiches Material, Holz zum Beispiel, eingedreht hat, dass man sie auch mit gutem Werkzeug nicht wieder herausbekommt.

Das Mädchen Nadire im Nebenbett war gerade zum zwölften und lange nicht letzten Mal operiert worden, schluckte täglich zwanzig Tabletten, gegen Spasmen, gegen Infektionen, für die Blase, für den normalen Ablauf aller Funktionen, sie würde noch eine Woche bleiben müssen, dann zurück in die Rehaklinik, eine Einrichtung an einem Flussufer, in flacher Landschaft, anderthalb Autostunden entfernt. Es schien sie nicht zu stören, sie freute sich sogar. Dort habe ich Freunde, erklärte sie Ruth, es gibt ein Schwimmbad, nachts habe ich meine Ruhe. Sie sprach langsam und flach und mit beneidenswerter Überzeugung.

Am zweiten Tag war die Polizei da gewesen. Ein Mann und eine Frau, sie sahen wie Geschwister aus, mit den gleichen herzförmigen Gesichtern und dichten dunklen Haaren, die Arme verschränkt, warteten sie im Türrahmen, damit sie zusammen zu den Kübelpflanzen und festgeschraubten Bänken am Ende des Stationsflurs gingen und Ruth erzählte, was sie von ihrem Unfall erinnerte, bestätigte, dass sie nicht angegriffen worden war, ein paar Mal musste sie das wiederholen, am Schluss unterschreiben, mit zwei Fingern des verletzten Arms, zum Glück war ihr Nachname kurz. Wie meine Unterschrift sieht das aber nicht aus, ich hoffe, das gibt später keine Probleme, versuchte sie zu witzeln, und kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Das Polizistenpärchen lächelte nicht. Der Mann sprach leise und nahm ihr den Stift aus der Hand. Ein Erzieher, der es gut meint und schon aufgegeben hat mit einem bockigen Kind. Sie blieb bei den Aloepflanzen sitzen, zwei Mädchen in federnden Schuhen liefen vorbei und musterten sie, sie musterte zurück.

Ich war in Gedanken, hatte Ruth zu Protokoll gegeben, und dass sie ein wenig nachtblind sei, deshalb auf dem Heimweg durch den dämmrigen Park gestolpert. Es war die Wahrheit, angegriffen hatte sie niemand, getrunken hatte sie nichts. Ein Hund war schräg von hinten gekommen, einen gegabelten Ast im Fang, den er ihr in die Kniekehlen rammte, so dass sie den Boden unter den Füßen verlor und stürzte. Man konnte es komisch finden, so war es gewesen: Sie konnte sich nicht gut abfangen und schlug mit einzelnen harten Körperstellen auf dem Asphalt auf und auch mit dem Kopf.

Um zehn ungefähr hatte sie das Gartenfest verlassen, zu früh und ohne sich richtig zu verabschieden. Seit sie nicht mehr trank, verstand sie solche Feste nicht mehr. Die Abkürzung genommen, unter den Eisenbahnbrücken hindurch am Kanal entlang durch den Schlosspark. Dünner Nebel über den Wiesen und künstlichen Bachläufen. Es war eben noch hell genug, sich zurechtzufinden. Sie lief zügig, die Wirbelsäule schief gezogen vom Gewicht ihrer Tasche, wie immer trug sie zu viel mit sich herum, Notizblöcke und Briefe, Kalender, Tabakbeutel und eine Flasche Cola, ein Buch, das Max ihr unbedingt hatte leihen oder schenken wollen, kurz bevor er ohne Abschied verschwunden war. Groß mit eckigen Schwimmerschultern, doch er konnte schleichen wie eine Katze. Eine Weile hatte er sich an ihrer Seite aufgehalten, still und vage vorwurfsvoll. Sein Fehlen bemerkte sie nicht sofort, versuchte sich zu erinnern, ob sie ihn an einem Punkt des Gesprächs verloren oder missachtet hatte, ihm über den Mund gefahren war, er konnte ziemlich empfindlich sein.

Dir hängt da was, sagte eines der Mädchen an der Pforte des Gartens, zupfte Laub von ihrer Schulter und einige Zweige, Geste einer Tante, die einem den Kragen zurechtrückt. Du blutest. Das zweite Mädchen streichelte ihren Hals.

Sie suchte niemanden, sie war nicht in Gedanken, als sie so durch den Park lief, den Blick gesenkt, sie konzentrierte sich auf die Nahsicht. Das Rudel, das im Park aus der unbeschnittenen Wiese gebrochen und quer in ihren Weg gejagt war, hatte sie natürlich gesehen und vorher schon gehört. Ohren, Augen, Lefzen, Fell, eine hetzende Welle, ein Pack. Sie stoppte. Ein paar Nachzügler versuchten, Schritt zu halten, von hinten, von der Seite, und einer von denen musste sie zu Fall gebracht haben. Die Tiere liefen in der Wiese auseinander, als gehörten sie nicht zueinander, die Grashalme bogen sich zischend weg, zwei schnüffelten noch an der Pfütze, die sich um sie gebildet hatte, dem nassen Telefon, dem nassen Schal, einer, der Schwarze mit der verstümmelten Pfote und der grau gewordenen Schnauze, an ihrem verdrehten Körper und ihrem Gesicht. Die anderen hörten die Pfeife der Hundesitterin vom Ende der Wiese und machten in schönem Bogen kehrt.

Ein Rudel? Ein ganzes Pack mit einer Hundesitterin? Hier hatten die Polizisten zweimal nachgefragt. Hundesitterinnen arbeiten üblicherweise nicht in der Nacht. – Kann sein, das Wort Rudel ist übertrieben, was weiß ich, ob diese Person arbeitete. Wie gesagt: Die Sicht war schlecht, und das menschliche Gedächtnis ist unzuverlässig. Das wissen doch alle. Für die Geschichte hätten zwei oder drei Tiere genügt. Also schreiben wir: zwei oder drei. Das geht nachts schnell, dass sie sich mit ihren Schatten multiplizieren.

Die Frau oder das Mädchen, die den scharrenden Hund am Nackenfell packte, anleinte und forschend zu ihr herunterschaute, schickte sie wieder weg. Es ist alles in Ordnung, sagte sie und sagte es noch einmal, jetzt drohender, weil die Frau stehen blieb, mit durchgedrückten Beinen und vielen Leinen in den Fäusten. Links und rechts saßen hechelnd aufgereiht die Tiere, auch der Mund der Menschenfrau stand leicht offen, die Gesichtszüge konnte Ruth nicht gut erkennen, nur eine tief in die Stirn gezogene Strickmütze, leuchtende Zähne und leuchtendes Augenweiß.

Okay, sagte sie, schulterzuckend, aber in fragendem Ton, fasste die Leinen fester und ging, drehte sich noch einmal um, beschleunigte. Die Tiere trabten mit gesenktem Kopf neben ihr her. Manche trugen Halsbänder mit reflektierenden Streifen, die Schemen der Körper verloschen in der Dämmerung, die mit hellem Fell zuletzt. Das Gras wurde feuchter. Einmal erschrak Ruth kurz, weil sie etwas vergessen hatte, dass es wichtig war, wusste sie noch, etwas, das sich nicht nachholen ließ. Sie streckte sich nach der Tasche, suchte nach dem Schlüssel, fand Maxʼ Buch klebrig und feucht wie alles andere, Tabakbeutel und Blättchen, der Buchkalender mit den zwischen die Seiten geschobenen Briefen und Umschlägen. Das zersprungene Telefondisplay leuchtete auf, als sie die Home-Taste drückte, mehrmals nacheinander, bis es nicht mehr reagierte und sie es erleichtert fallen ließ, sie hätte doch nicht gewusst, wie sie es erklären sollte und wem. Sie rollte noch etwas tiefer in die Wiese und hielt still. Sie hatte zu wenig gegessen auf dem Fest, wenn sie sich bewegte, kippte der Horizont zu schnell und sie spürte die Stellen, auf die sie gestürzt war, es war besser, liegen zu bleiben, abzuwarten, bis der Kreislauf sich wieder gefangen hatte.

Ein paarmal hörte sie noch Menschen vorbeikommen, einzeln oder in Gruppen, auf Fahrrädern, zweimal sah sie, wie sich jemand nach ihr umdrehte, kurz einzuordnen versuchte, wegsah. Ungehalten oder erschrocken, sichtbar unschlüssig. Seit sie mit dem Kopf aufgeschlagen war, konnte sie nicht mehr ganz klar sehen, aber sie erkannte genug.

Manchmal schaute sie dann natürlich doch auf ihr Telefon, wischte es mit dem Ärmel ab, hauchte die zersprungene Scheibe an, rubbelte Sand und Fasern aus den Bruchstellen, freute sich kurz über die Vorstellung, die verlorenen Anrufe und Nachrichten hingen genau dort fest, im Zentrum des Netzes aus gesplitterten Linien, und nicht in einer entfernten Speicherwolke, in einem Rechenzentrum weit weg. Obwohl sie dort, weit weg, wahrscheinlich besser aufgehoben wären. Solange sie nicht wusste, ob jemand sich gemeldet hatte, konnte sie nicht reagieren. Es wird ein paar Tage warten können. Sie war Kassenpatientin, sie würden sie entlassen, sobald sie konnten, und solange das nicht passierte, stand es jedenfalls schlimm genug. Arbeiten konnte sie vorerst sowieso nicht.

Wollte sie nicht ohnehin längst raus aus alldem? Nur wohin? Hier ging es nicht weiter. Etwas würde sich finden, etwas hatte sich doch bis jetzt immer – Warum lachst du?, fragte das Mädchen. – Ich lache nicht, ich seufze. – Und was gibt es zu seufzen? – Lange Geschichte. – Erzählst du sie mir? – Wenn ich meine Stimme wiederhabe. (Wenn ich Lust habe, Nerven, Geduld, nenn es, wie du willst, jetzt möchte ich gern die Augen schließen und nicht ansprechbar sein.)

Sie schlief schlecht, aber nicht schlechter als draußen, vielleicht konnte man sogar sagen, besser, denn hier gab es jedenfalls immer einen äußeren Grund, in so einem Raum voll rauschendem Atem, gluckernden Geräuschen, aus Körpern hinaus- und in sie hineinführenden Schläuchen, hier würde doch jeder normale Mensch flach schlafen, lauern, aufwachen, weil jemand nebenan aufwachte oder schon jemand auf dem eigenen Brustkorb hockte, sich auf die Prellmarken gesetzt hatte, drückte und vorerst nicht mehr lockerließ.

Auf dem Flur brannte permanent Licht. Als Kind hatte sie wie die meisten so einen leuchtenden Türspalt zum Einschlafen gebraucht, wissen müssen, dass die Welt noch da war und sich draußen weiter bewegte, jetzt erschöpfte sie der Gedanke. Einmal hatte sie den Rufknopf gedrückt, weil der Atem der alten Frau sie geweckt hatte, stoßhaft und schnappend. Als die Schwester dann kam, war alles längst wieder vorbei. Wir machen unsere Arbeit schon, Sie brauchen sich keinen Kopf machen. – Ich mache mir keinen Kopf. – Alles gut, sagte die Schwester und lief aus dem Zimmer, die Hosenbeine rieben zischend aneinander.

Sie merken, wenn du schlauer bist oder dich dafür hältst. Meistens hast du davon nichts. Das war schon immer so, schlau genug, daraus etwas Anwendbares zu lernen, warst du bisher nicht. Deine Versuche, nett zu sein, höflich, verbindlich oder was du darunter verstehst, machen es nicht besser, höchstens schlimmer, es passiert dir mit allen Leuten, die du zu grob findest, immer schon, mit Lehrerinnen, Sachbearbeitern, Laboranten und Sekretärinnen. Du kannst dein Scheitern oder wie du es nennen willst auf die Welt schieben, Veränderungen, die du nicht in der Hand hast. Eine ganze Menge Menschen werden übermorgen überflüssig sein und nicht versorgt, da hast du recht, recht haben kannst du, aber du weißt auch: Andere mit den gleichen Problemen, ähnlichen Voraussetzungen winden sich da besser hindurch, anderen gelingt es, nicht andauernd jemand gegen sich aufzubringen.

Die violetten Flecken in der Armbeuge, wo sie ihre Adern nicht gefunden hatten (nicht finden wollten), bekamen fransende gelbe Ränder, dehnten sich aus, färbten sich allmählich grün. Fange ich an zu verfaulen? – Nein. Sie haben einfach schlechte Adern.

Sie wachte noch ein paarmal auf vom unruhigen Atem der anderen, offensichtlich aber nicht jedes Mal. An einem der letzten Morgen war das Bett neben ihr leer, frisch bezogen, es kam ihr unwahrscheinlich vor, aber gemerkt hatte sie nichts.

2

Max konnte nicht mehr sagen, was er sich vorgestellt hatte, wie Ruth jetzt wohnte, er wusste nur, nicht gerade so. Eher schon: gar nicht mehr. Als verschwänden die Leute nach einer Räumungsklage nicht aus einer Wohnung, sondern gleich ganz aus der Welt. Nachdem man im Aktionsbündnis mit allen Mitteln gekämpft und das zu verhindern versucht hatte. Von anderen, die schon länger dabei waren, wusste er, dass es danach schwer war, den Kontakt zu den Betroffenen zu halten, sie zogen in andere Stadtteile und hatten keine Zeit und kein Geld für eine U-Bahn-Fahrt. Man lief einander nicht mehr zufällig über den Weg. Das Bündnis war für die akuten Kämpfe da, und mit Ruth war es von Anfang an schwierig gewesen. Sie hatte sich aus der gemeinsamen Arbeit zurückgezogen, bevor sie richtig angefangen hatte. Er hatte zu den Letzten gehört, die sich noch kümmerten. Aber auch er hatte Zweifel gehabt, ob es bei ihr wirklich so dringend war oder sie nur ein bisschen Wind hatte machen wollen, vielleicht mit ihrem Vermieter eine Rechnung offen hatte. Sie hatte etwas Taktierendes, fanden einige, andere zitierten sie mit latent antisemitischen Äußerungen, bedürftig oder verzweifelt wirkte sie nicht. Ein paarmal hatte sie vorbeigeschaut und war dann nicht mehr zu den Treffen gekommen.

Die Adresse, die sie ihm genannt hatte, lag außerhalb des Rings. Siedlungen, ein waldartiger Park, wieder Siedlungen, Schulgelände, ein Festplatz im Aufbau, glitzernde Fahrgeschäfte auf der gesperrten Straße. Zwischen den Hochhäusern war der Himmel weit, ihres stand allein, ein Schiff, das ins Offene stieß. Hochhaus = Hochseeschiff. Immer musste er das denken. Von der Außentreppe ging der Blick zur Stadt, Wind riss an den Planen eines noch nicht ganz abgebauten Gerüsts, es gab ihm das Gefühl von Bewegung, als ob es hier tatsächlich vorwärtsginge. Im Inneren war der Hausflur entkernt, Bauschutt in den Ecken, an vielen Türen sah er statt Klingelknöpfen Löcher, abgeschnittene Kabelenden, er musste suchen, ehe er ihre Tür fand, zehnter Stock, Strang fünf, kein Name, eine mit Bleistift an die rohe Wand geschriebene Zahl, daneben lehnten Styroporplatten und anderes Verpackungsmaterial. Er atmete Kalkstaub. Drinnen waren die Oberflächen hart und blank, es roch nach Plastikfolien wie etwas eben Ausgepacktes, frisch produziert, noch nicht benutzt.

Eine Fensterfront nach Süden, ein großer Raum, ein kleiner, die Küche ein Schlauch mit weißen grifflosen Oberflächen. Ein Aschenbecher auf dem Nachttisch, ein Strauß Schnittblumen auf der Fensterbank. Keine Regale, keine Bücher. Auf dem Küchentisch eine Tüte, darin ein Stoß isländischer Krimis, eine angebrochene Keksschachtel. An einer Wand standen bis unter die Decke gestapelte Kisten. Hinter dem Fenster sandgelber Himmel, vorbeischießende Mauersegler und schwer auf der Balkonbrüstung aufsetzende Nebelkrähen. Die Balkontür stand offen, Wärme strich herein, Halme und Plastikfetzen und Laub. Auf dem Laminat lag ein Vogeljunges, nackt und bläulich, mit großen geschlossenen Augen. Du wirst sehen, ich habe mich verbessert, hatte Ruth am Telefon gesagt.

Der Vogel lag mehrere Schritte weit im Raum, aber er konnte noch nicht fliegen mit diesen an die Seite geklebten Flossen, er musste ins Zimmer hineingeschleudert worden sein, von jemandem. Max merkte, dass er anfing, die Finger aneinander zu reiben. Er hörte auf damit, bückte sich und griff nach dem Tier. Er wollte es einwickeln, fand aber in der Wohnung kein Küchenkrepp, nicht einmal genug Toilettenpapier. Obwohl die Angst vor Ansteckung ihm plötzlich lächerlich vorkam und außerdem ungerecht. Welche Gefahr sollte ausgehen von diesem winzigen nackten Wesen? Es war kleiner als sein Handteller, im Freien geschlüpft, an Mauervorsprüngen, aber so etwas gab es hier ja gar nicht? Er versuchte, nicht nachzudenken, er wusste, dass Mauersegler kaum je am Erdboden landen, mit pestkrankem Geflügel war es sicher nicht in Berührung gekommen. Nur bedecken wollte er es. Zum Schluss ging er doch an die Schrankwand im Flur, nahm ein Hemd mit dünnen Trägern und wickelte es zu einem Bündel um den Vogel, schob ihn in seine Tasche und fing an zusammenzusuchen, was sie ihm am Telefon aufgetragen hatte. Plus die Dinge, die sie nicht genannt hatte, die Leute im Krankenhaus aber brauchten, Wäsche, Zahnseide und Lesebrille und Ladekabel und persönliche Dinge. Wie auf den Packlisten, die er früher für Edna abgearbeitet hatte, immer war dieser Posten dort aufgeführt gewesen, nicht mal bei seiner Schwester hatte er entscheiden können, was das sein sollte. Wie sollte er es bei Ruth können?

Vor dem Unfall hatten sie monatelang nicht gesprochen. Oder Wochen, es kam ihm aber wie Monate vor. Die Zeit war dicht gepackt, sein erstes Jahr in der Stadt. Er erinnerte sich gut an das letzte Treffen, sie waren lange durch ihr altes Viertel gegangen, den Park mit den gesperrten Brutzonen um den schmalen Teich, Mitte, Ende Mai. An einem langen Biergartentisch tranken sie mit fast Fremden kleine klare Schnäpse aus Bodenseeobst, später zum Abkühlen eine Flasche Sancerre, dann noch eine, immer war sie es, die bestellte, und sie, die sich wieder bei ihm meldete, einen Kaffee trinken oder eben ein Glas Wein. Meistens ein Glas Wein, immer spontan und sofort. Es hatte etwas Unstetes, Getriebenes, ihm tat es gut, fand er. Zusammen brachten sie sich rasch in einen Zustand, da sie alles witzig und interessant fanden. Sie lud ihn zu sich ein zum Weitertrinken. Ich habe noch viel bessere Sachen bei mir, sagte sie und schaute neugierig. Nie blieb er über Nacht. Einmal hatte sie bei ihm geschlafen, Anfang Dezember, sie hatte sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt und er ihr geholfen. Ruth war es gewesen, die angefangen hatte, ihn anzufassen. Auch wenn sie ihn berührte, hatte es etwas Neugieriges, Prüfendes. Das erste Mal: Zumindest er war davon ausgegangen, es wäre der Anfang von etwas. Man würde sehen, von was genau. Er ließ sich erzählen, wie sie als Fleischbeschauerin gearbeitet hatte, später als Tierschutzbeauftragte, zuletzt im Seuchenschutz. Ich habe meine Entscheidungen immer schnell getroffen, sagte sie, schaute ihm in die Augen und lachte dabei.

Er stellte sich vor, sie zur Hochzeit seines Vaters mitzunehmen. Wieso eigentlich nicht?, fragte er, mein Vater heiratet eine Praktikantin, nicht mal seine eigene, vielleicht war sie bei ihm in Behandlung, sie ist vierundzwanzig. Gesehen habe ich sie noch nie. Ich weiß nicht, ob er ihren Namen aussprechen kann. Jedenfalls bin ich eingeladen und darf jemanden mitbringen. Ein Townhouse in Accra, eine Rooftopparty, behauptete Max, obwohl er keine Ahnung hatte, nur dass ihre Familie nicht ganz arm war, wusste er, von einem Pool hatte sein Vater ihm erzählt, von Meeresfrüchten, als gäbe es nichts Wichtigeres. Als hätte er Angst, ich könnte sonst nicht kommen wollen. Hätte. Er hat Angst. All sein Handeln ist von Angst bestimmt. Ich frage mich, warum es dieser Frau, wenn sie so schlau ist, nicht auch auffällt. Es wird guten Gin geben, sagte er zu Ruth, und Langusten aus dem Atlantik, nächste Woche, ich würde es mir überlegen. Sie war in Lachen ausgebrochen wie sonst, wenn er etwas besonders Trockenes geäußert hatte, das ihr gefiel, sie lachte laut, so dass die Leute sich nach ihnen umdrehten, unsicher, ob das von dieser zarten Person gekommen war.

Sie wurde rasch ruhig. Ich käme gern mit, es wäre sicher ein Spaß, aber es geht nicht, ich muss verreisen, ab morgen bin ich für zwei Wochen weg. – Du musst? – Kurzfristig. Es hat sich ergeben. – Und die Arbeit?, fragte er, als wäre das jetzt sein dringendstes Problem, das Amt, kann man da so einfach Urlaub nehmen, kurzfristig? – Mach dir darum keine Sorgen, sagte Ruth, griff kurz seine Schulter, stellte ihr Glas ab und winkte dem Kellner. Amüsier dich gut und melde dich, wenn du aus Afrika zurück bist.

Es gab genug andere offene Stellen in seinem Leben. Etwas später flog er nach Accra, feierte Hochzeit und verbrachte ein paar Tage in der Stadt bei der Familie seiner Stiefmutter, danach fuhr er mit dem Überlandbus zu einem Projekt, das er über eine Volunteeringplattform gefunden hatte. Zwei Wochen lang half er tagsüber in der Dorfschule aus, verschlief die Nachmittage und lief abends, auch wenn alle ihn davor warnten, allein hinaus in die Felder, am Brunnen vorbei über den Schotterweg, schaute den Mond an und lauschte. Nacht in den Tropen, wie sie in Filmen markiert wird, nur dass die Laute hier fordernder waren. Feldgrillen, ratschende Frösche. Die Sterne ein verdichtetes Gewimmel. Max dachte an seine Schwester, die wusste, wie man sich in der Dunkelheit orientiert. Sie hatte eine feine Nase, Wildtiere erkannte sie am Geruch ihrer Losung. Er legte sich in den Schotter und schaute, bis Hinter- und Vordergrund endgültig nicht mehr zuzuordnen waren, und stellte sich vor, nicht mehr zurückzukehren, den Verstand zu verlieren, einer dieser irr gewordenen Weißen zu werden. Auf Märkten und an einer Bushaltestelle hatte er solche Männer gesehen, verbrannte Gesichter und verfilzte Haare, wahrscheinlich wurde man schnell so, ein paar Jahre, vielleicht reichten Monate. Im Dorf erzählte ihm jemand von den Geistern und Untoten, die jenseits der Ortsgrenzen wohnten. Deswegen will ich ja dorthin, sagte Max, und der Mann lächelte und nickte, wie zufrieden er mit dieser Antwort ist, dachte Max und ärgerte sich.

Das war, was er antwortete auf die Frage, wie es in Afrika gewesen sei. Jedes Mal kam er sich beim Erwähnen der Männer und Geister lächerlicher vor, versuchte stattdessen, sich auf die Familie der neuen Frau seines Vaters zu konzentrieren. Zu beschreiben: reiche Leute, Superreiche oder Mittelschicht? Woran erkannte man das, dort? Sie hatten Dienstboten und Nachtwächter für ihr Haus. Auf dem Fest wurden Getränke auf Tabletts gereicht, es gab ein großes Buffet. Da warst du ja ganz abgeschottet vom echten Leben, sagten die anderen. Er ließ das Erzählen schließlich sein, er wollte nichts zusammenfassen müssen und nicht immer wieder erklären: Wie solche Feiern eben sind. Es wurde viel gefilmt und noch mehr getanzt, wenn die Getränke knapp wurden, bestellte jemand einen Lieferdienst. Die Verwandten, seine neuen Verwandten!, hießen ihn willkommen, sie fragten, ob ihm die Stadt gefalle, und lobten, wie ähnlich er seinem Vater sei, ob sie in Deutschland zusammenlebten, ob er eine Freundin habe, würde er auch Arzt werden? Bevor er etwas antworten konnte, tat es sein Vater in grauenhaftem Englisch, er konnte gerade genug Vokabeln, um etwas zusammenzulügen, staunend saß Max daneben, beim dritten Mal unterbrach er ihn und korrigierte: Actually, no, so ganz stimmt das leider nicht, mit dem Studieren habe ich aufgehört. Dropped out, sagte er und freute sich über den schnappenden Klang.

Wie alt war er gewesen, als er feststellte, wie bestürzt manche Leute seine Mutter anschauten, ihre spitzen Ellbogen, die große Narbe auf ihrem Bauch? Er begriff, dass er seinen Vater für den Rest seines Lebens hassen würde. Und bewundern. Bis jetzt hatte er gebraucht, um zu verstehen, dass das alles gleichzeitig möglich war. Er traf Entscheidungen, von denen sein Vater nichts hielt, die ihn enttäuschten oder schockierten, auch Ruth wäre so eine Entscheidung gewesen.

Nach seiner Heimkehr suchte er eine Astrologin auf und bezahlte für die Sitzung so viel wie für eine warme Monatsmiete. Das Licht ging durch die Haut und nährte ihn. Er fühlte sich schwindlig, aber auch klar, er fuhr fast jeden Tag lange Schichten, schneller, als man es mit einem verrosteten Hollandrad konnte. Max konnte. Er spürte keine Müdigkeit. Er entschied, seine Behauptung von der Hochzeit wahrzumachen und sich vom Studium abzumelden. Ohnehin war er schon lang nicht mehr hingegangen. Nichts Verwaschenes mehr, dachte er bei einer Pause auf einem aufgewärmten Stein im Park neben dem Planetarium. Er kündigte beim Lieferdienst und bewarb sich als Praktikant in einem Kindergarten, er hörte mit dem Rauchen auf, mit dem Trinken, zeitweise auch mit dem Essen, er nahm ab, obwohl er gar nicht mehr an seine Ernährung dachte. Das war noch nie geschehen. Im Kindergarten kam er als einer der Ersten und ging als Letzter. Er fegte die Veranda, die Kacheln um die Sandkästen, er mochte es, den Tag vorzubereiten für die anderen. Manchmal wachte er mutlos auf. Es war aber keine Zeit, dem nachzuhängen, und wenn er sich nicht darum kümmerte, ging es von allein vorbei.

Er schrieb dem Aktionsbündnis, er werde sich endgültig zurückziehen. Er hatte immer ein fremdes Gefühl in der Gruppe gehabt, aber erst jetzt, über dem Kampf mit den Formulierungen, merkte er, wie fremd. Wahrscheinlich hatten auch sie ein komisches Gefühl mit ihm gehabt. Sie fanden es problematisch, wenn sie nicht wussten, wie jemand politisch tickte. Und das wusste er schließlich selbst nicht. Max überlegte, was für Schlussstriche er noch ziehen konnte: Als Nächstes wäre die WG an der Reihe gewesen. Ein Zuhause braucht man, wenigstens ein Zimmer, davon gehen die Leute aus, ein Dach über dem Kopf und auch sonst einiges. Ein Girokonto, einen Mobilfunkvertrag, eine Krankenversicherung und einen gemeldeten Wohnsitz. Max wusste, dass Menschen in Indien und Schweden inzwischen mit einer einzigen Nummer erfasst wurden. Ohne diese Nummer bekam man große Probleme. Viel genauer wusste er es nicht. Ist es in Deutschland verboten, keinen Wohnsitz zu haben? Er hatte über Timon und die Gruppe ein paar Leute kennengelernt, die keinen Status hatten. Gehetzte Existenzen, zumindest hatte er solche vor Augen gehabt, bis Timon ihm Granit vorstellte. Granit, es war wirklich sein Vorname. Er wohnte in einer Gartenhütte auf einem verlassenen Grundstück an der S-Bahn-Böschung und hielt sich mit verschiedenen kleinen Jobs über Wasser. An seinen Wänden hingen gerahmte Bilder und Plakate, auf einem Gaskocher brodelte Kaffee. Sie hatten ihn auf seiner Holzveranda getrunken und Sonnenblumenkerne geknackt, er zupfte an seiner Sharki, sie sangen. Es wurde leicht, die Zeit zu vergessen, die Möglichkeit, dass die Polizei kommen könnte. Und wenn, sagte Timon später, schlimmstenfalls wird er abgeschoben, dann kommt er in ein paar Monaten wieder, und wie er es sagte, hörte es sich nach einer einfachen Angelegenheit an, anstrengend, aber nicht kompliziert und nicht menschenunmöglich. Max fand Granit schön, er fand seinen trockenen Garten schön und die staubige Schale mit den an der Bahnböschung gepflückten Mispeln und dass es kein Klo gab, man musste an den Brombeerschlag. Oder noch weiter weg, in das Wäldchen hinter der Kolonie.

Timon hatte selbst keinen festen Wohnsitz, Max hatte es zufällig herausgefunden, als er neben ihm auf einer Ufermauer gesessen und zugeschaut hatte, wie er sich einen Schlafplatz für die Nacht organisierte, Nachrichten tippte und Anrufe machte, hej, lange nicht geredet, sagte er dreimal hintereinander zu verschiedenen Leuten. Max verstand endlich ein paar Dinge, er musste nicht mehr fragen, er fragte sich nur, wieso er bis jetzt gebraucht hatte, zu begreifen: Er hat diesen Rucksack, das ist sein ganzer Besitz, und irgendwo im Hintergrund eine Person, Freundin der Familie, über deren Konto sein Handyvertrag läuft, dafür, dass er ihr manchmal mit dem Computer hilft.

Warum wurde er, während er Timon sprechen hörte, immer schwerer? Ein hohles ängstliches Gefühl im Magen und in der Kehle. Nach dem Telefonat wartete er kurz. Als wäre ihm das jetzt eben so eingefallen: Sonst kannst du auch zu mir. Zu uns, meine ich. Je abgeklärter jemand tut, desto deutlicher spürt der andere, dass es um was geht. Timon schaute auf, das ist nett, aber ich habe jetzt schon was gefunden. – Wir haben ein Gästebett, beharrte Max. Falls du wieder mal was brauchst. Er umfasste seine Bierflasche mit den Händen, sie war leer, Timon konnte sich über Stunden mit einem einzigen Bier beschäftigen. Den Kopf aufgestützt, lag er da und schaute zu, wie Max seine Flasche einem Sammler reichte. Er schaute alle Leute so an, er wusste vielleicht gar nicht, was für Augen er hatte, oder wusste es wahrscheinlich doch, dunkelblau, fast lila, kräftige Wimpern, ein ganz reines Weiß. Damit es ein bisschen gefährlicher aussah, breiter Kajal. Er wird nicht fragen, das wusste Max, er interessierte sich nicht für das Gästebett, er sah, wie sein Herz klopfte, Timon war nicht blöd. Sein nicht auszuhaltender Blick. Zumindest war es hier leicht, sich abzuwenden, zum vorbeiziehenden Wasser, zum staubroten Himmel über den Bäumen am anderen Ufer, zur trommelnden Frau. Seit sie hier waren, saß sie im Lotossitz vor ihrem Instrument und schlug einen monotonen Rhythmus, den Blick auf ihre Hände gesenkt. Max entschied, nicht von seiner Mutter zu erzählen. Ich wusste nicht, dass du kein Zimmer hast. – Seit ein paar Jahren nicht, sagte Timon und sah ihn weiter an. Wie Max an seinem Zigarettenstummel sog, wie er ihn neu anzünden musste. Ich habe gemerkt, dass es für mich nicht funktioniert. Wenn man mich einrichten will, werde ich unruhig. Max nickte und sagte, das kenne ich. (Ich nicke viel zu oft. Ich nicke und sage ja, bevor er auch nur ausgeredet hat.)

Nachts stand er lange in seinem Zimmer und schaute sich alles an, wie jemand, dachte er, der sich nach einem Besuch verabschiedet: das japanische Tuch an der Wand über dem Bett, das selbstgebaute Regal aus Brettern und Steinen. Ein toter Ast klemmte schräg zwischen den beiden Wänden. Max hatte ihn nach einem der Unwetter im Herbst gefunden. Die Grube vor dem herausgerissenen Wurzelteller, die Erdklumpen in den Wurzelenden. Er hatte den größten Ast ausgesucht, den er gerade eben noch tragen konnte, zuletzt schleifte er ihn. Kurz zuvor war er mit Timon in der Dschungel-Bar gewesen, wo man sich unter Ästen und Blattwerk ducken musste. Ausgestopfte Tiere hockten in den Zweigen, künstliche Lianen langten bis zum Boden. Er hatte alles anfassen wollen und Timon ihn angestrahlt und immer noch eine Runde Moscow Mules bestellt. Am nächsten Tag las er von Unwetterwarnungen: Das Haus möglichst nicht verlassen, und hielt sich daran. Am übernächsten war er anstatt zur Uni mit seinem Skizzenbuch und dem Fahrtenmesser in den gesperrten Park gegangen und am überübernächsten auch. Die Stürme hatten sich längst gelegt. Aber er konnte sich schon nicht mehr vorstellen, im Seminar zu sitzen. Er hatte den Ast in der letzten Hofeinfahrt trocknen lassen, Schmirgelpapier gekauft und das Holz abgeschliffen. Es war eine tagelange Arbeit, über so etwas konnte er alles andere vergessen. Auch in der WG-Küche hatte er einiges angebaut und festgeschraubt, und es kam auch wirklich immer mal jemand vorbei und freute sich, dass der Tisch nicht mehr wackelte und es jetzt eine zweite Arbeitsfläche gab, und die sich nicht freuten, benutzten sie zumindest.

Ein Tisch in der Ecke, den er im Hof gefunden hatte. Eine Collage, die Edna ihm als Erinnerung an eine Reise nach Portugal gebastelt hatte. Bücher von Makarenko, von Maria Montessori und Alice Miller. Ein Filmposter, das er plötzlich albern fand und von der Wand riss. Ein Paar Hanteln und einige Kisten mit Tagebüchern, Muscheln und Bordpässen. Eine Rumflasche als Kerzenständer. Das Rennrad, das sein Vater ihm zum Abitur geschenkt hatte. All das ließ sich leicht loswerden. An Ednas Collage hing er, an dem japanischen Tuch und an dem gefundenen Ast. Das Rennrad benutzte er kaum, er mochte es nicht, damit durch arme Viertel zu fahren, er mochte nicht das schwere Bügelschloss, das er brauchte, und die Nachrichten, die sein Vater ihm von seinen eigenen Touren schickte: Fotografien von sich auf dem Mont Ventoux, von Höhenkämmen und Wolkenformationen, Vermerke über zurückgelegte Strecken, seine Höchst- und Durchschnittsgeschwindigkeit.

Wenn er erst mit dem Praktikum fertig war, konnte er das Rad verkaufen, einen Rucksack packen, die Bilder, das Zimmer räumen, den Ast der Freiheit überlassen und nach Süden trampen, nach Katalonien, Albanien, Kampanien, Hauptsache, er blieb in Bewegung. Er erzählte Timon davon, so beiläufig er konnte, er rechnete ihm vor, was er für das Rad bekommen konnte, es würde für sie beide reichen, in einem billigen südlichen Land würde man damit sicher monatelang überleben können, auch zu zweit. Timon hörte ruhig zu. – Klingt gut.

Max sagte seiner WG