Drei Wochen im August - Nina Bußmann - E-Book

Drei Wochen im August E-Book

Nina Bußmann

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Beschreibung

»Ein paar Tage am Meer können reichen, um alles in Frage zu stellen.«

Ein abgelegenes Ferienhaus an der französischen Atlantikküste: Hier will Elena mit ihren Kindern drei unbeschwerte Wochen verbringen. Ihr Mann ist zu Hause in Deutschland geblieben, die Ehe läuft nicht gut. Dafür hat Elena die Babysitterin Eve und eine Freundin der dreizehnjährigen Tochter eingeladen. Doch was als entspannte Auszeit beginnt, wird immer stärker bedroht, von außen wie von innen: Die ausgetrockneten Wälder stehen in Flammen, unangekündigte Gäste tauchen auf, Konflikte spitzen sich zu – befeuert von Eifersucht, Misstrauen und Abhängigkeiten. Bis eines der Mädchen plötzlich verschwindet.

Drei Wochen im August ist ein intensives Kammerspiel in der Hitze des Sommers. Alles scheint harmonisch, aber die Abgründe lauern im Idyll. Eine unbedachte Bemerkung, eine falsche Verdächtigung, und das komplexe Beziehungsgeflecht droht zu zerreißen. Davon erzählt Nina Bußmann mit großer psychologischer Klugheit und einem feinen Gespür für Spannung.

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EPUB
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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Nina Bußmann

drei wochen im august

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Arbeit an diesem Roman wurde von der Akademie der Künsteund vom Land Berlin gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025

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Umschlaggestaltung : Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Susanne Giring, Pool II, 2004, Öl auf Leinwand, 150cm x 290cm

eISBN 978-3-518-78202-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

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ELENA

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ELENA

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ELENA

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ELENA

EVE

ELENA

EVE

ELENA

EVE

Danke

Informationen zum Buch

drei wochen im august

ELENA

Ich war es, die hierher wollte und alle anderen überredet hat. Ich wollte ins Licht. Glattgezogene Strände, der heranrollende Atlantik. Goldgräberstädte an den Küsten, ein Garten im Hinterland. Im September werden die Zelte und Buden eingeklappt, die Küstenorte schließen. Man kommt für die Sonne und die Gischt. Eve sagt, sie kann nicht zu lang auf diese Wellen schauen, sie ziehen alles aus ihr heraus.

Als Ali bei einer Mittagspause im Winter erwähnte, Nanas Haus in Frankreich stehe im Sommer leer, wenn wir wollten, könnten wir es nutzen, habe ich ohne zu überlegen ja gesagt. So schnell, dass es selbst sie irritierte. »Musst du nicht erst deine Lieben fragen?« – »Besser nicht«, sagte ich und sah zu, wie sie versuchte, sich einen Reim zu machen. Meine Chefin. Meine älteste Freundin. Einmal hatte ich sie überrascht.

Die besten Entscheidungen in meinem Leben sind ohne Nachdenken zustande gekommen. Ich kannte die ganzen Probleme, ich wusste, dass ihre Partnerin in New Mexico von einem Glioblastom dahingerafft wurde. Und wenn Ali so etwas sagt wie »Zum Heiraten ist es vielleicht zu spät«, dann verstehe ich erst, wie weit das Ganze geht. Auch reichen Leuten passieren traurige Geschichten. Ich weiß das alles. Aber in dem Moment hatte ich es komplett vergessen, ich dachte nicht mal daran, zu fragen, warum das Haus leer stand. In der Hochsaison. Ich habe unsere Teller weggeräumt, Kaffee gekocht und mich zurück an den Schreibtisch gesetzt, um noch etwas zu schaffen, bevor ich mit Rinus zur Ergotherapie musste. Ich erreichte endlich die Kuratorin in der Schweiz, der ich seit Wochen hinterhertelefonierte, ich bestellte Schwertlilien für das nächste Open Studio und hatte am Ende noch Zeit, nach Flügen zu suchen.

»Hast du schon zugesagt«, fragte Kolja als Erstes: drei Wochen im August. So lange würde er sich nicht freinehmen können, eben erst hatte er einen neuen Auftrag angenommen. So lange würden wir unser Haus nicht allein lassen dürfen. Wir hatten uns so viel vorgenommen für den Sommer. Wir wollten endlich die ewige Baustelle abschließen. Er schaute mich an wie damals, als ich das Bild von Anna Zemánková ersteigert und in meinem WG-Zimmer aufgehängt hatte. Sein Blick, als wüsste er, was ich dafür ausgegeben hatte.

»Wir zahlen keine Miete«, erinnerte ich ihn, das machte es nur schlimmer. Er hat gelernt, dass man sich nichts borgt, was man nicht zurückzahlen kann, und es sich erst recht nicht schenken lässt. Inzwischen verdient er genug Geld für Fahrräder mit elektronischer Schaltung und Rahmen aus Aluminiumlegierungen, die fast nichts wiegen und mehr kosten als ein dreiwöchiger Familienurlaub. Er hat noch nie dieses Licht gesehen, die Gewalt des Ozeans gespürt. Bei Ebbe weicht die Uferlinie um Hunderte Meter zurück. Die Flut nähert sich beharrlich und ist plötzlich da. Wo eben noch weite harte Sandfläche war, sind dann nur noch schwindende Inseln. Das Meer folgt dem Mond, eine gefügige Herde starker Tiere. Nur Lebensmüde schwimmen weiter hinaus, der Rest spielt in den Uferwellen. Den Körper zur Planke versteifen und sich mit dem Gesicht nach unten in die Welle legen, genau wenn sie bricht.

»Wir sind seit Jahren nicht verreist.«

»Ich kann die anderen nicht hängenlassen.«

»Sagen die anderen das umgekehrt eigentlich auch?«

»Elena. Ich muss Geld verdienen.«

Jemand muss das Geld verdienen. Das hatte ich schon verstanden. Aus eigenen Stücken würde er nie diese Reise machen. Und würde nicht stillsitzen können in diesem Garten fremder Leute. Allein der Gedanke an die daheim vertrocknenden Beeren würde ihm keine Ruhe lassen, das Sonnendach, das wir über der Terrasse anbringen wollten, der auszubessernde Zaun. Auch in Nanas Garten gibt es Brombeeren, einen riesigen Schlag. In der Mittagshitze streiche ich über das Grundstück und pflücke eine Handvoll, wir essen die reifen, die wir finden, vom Strauch in den Mund und lassen den Rest den Vögeln oder der Sonne. Kolja würde im Kellerschuppen suchen, bis er eine Leiter findet und gute Schutzkleidung, er würde eine Ernte beginnen, nichts soll vergehen.

Seit wir das Haus im Finkenweg haben, verbringt er all seine freien Stunden damit, Bäume zu beschneiden, Böden abzuschleifen, ein Hochbett für Rinus zu bauen und ein Podest für Linns Zimmer. Im Sommer und Herbst steht er bis in die Nacht in der Küche und kocht Obst ein. Im letzten Winter rammte er sich einen Splitter in den Handballen und hörte erst zu arbeiten auf, als seine Hand violett wurde und zu puckern begann. Wenn er nicht arbeitet, spielt er. Er fährt mit den Kindern an den See, ins Schwimmbad, zum Basketballplatz, er übt Klettern mit ihnen. Selbst wenn wir Freunde einladen, zieht er die Gesellschaft der Kinder vor. Er spielt lieber, als mit einem Glas Wein in der Hand herumzustehen und Konversation zu treiben. Das will ich allen sagen, die fragen, lässt er eigentlich jemals locker? Hat er eine Seele? Er würde es nicht schaffen, sich der Hitze geschlagen zu geben, Eis an den Schläfen schmelzen zu lassen und auf das Sinken der Sonne zu warten.

Manchmal frage ich mich, was mich geritten hat, Eve mitzunehmen: Eine Freundin für Linn, eine Eve, wie Rinus sagt, für uns alle. Eine Babysitterin. Eine Nanny. Eine Hilfe. Ich habe kein Wort, das passt. Sie hilft uns seit Jahren, sie holt Rinus von der Kita ab, hält das Haus in Ordnung und bleibt bis in die Nacht, wenn ich abends zu einer Veranstaltung muss und Kolja es nicht rechtzeitig aus dem Büro schafft. Die Kinder hängen an ihr, selbst Linn. Niemand in ihrer Klasse hat noch ein Kindermädchen. Wenn sie uns darauf hinweist, erinnere ich sie daran, dass ihr Bruder noch klein ist und mehr Fürsorge braucht. Kann sein, es gibt Dreizehnjährige, die sich kümmern, die man selbst mit Babys allein lassen könnte. Linn hat das nie lernen müssen. Sie ist selbst noch ein Kind. Sie wacht nicht auf, wenn er einen Alptraum hat. Und wenn sie wach ist, kann sie ihn nicht hören. Mit ihren Ohren ist alles in Ordnung. Es ist ihre Gabe, sich auf der Stelle zu versenken. Schon als Einjährige konnte man sie vor die Balkontür auf den Boden setzen, und sie war zufrieden, nichts zu tun, als die Wolken anzuschauen, die Bewegungen der Baumwipfel hinter dem Dachfirst gegenüber. Rinus greift nach der Welt, anstatt sie nur zu beobachten. Er fing ganz schnell an, sich am Türgriff hochzuziehen und seine Handflächen ans Glas zu drücken. Er wollte nach draußen.

Auch wenn sie keinen kleinen Bruder hätte, würde ich Linn nicht die halbe Nacht allein lassen. Sie durchschaut das. Meine Tochter ist nicht dumm. Eves Geschenke hat sie immer gern angenommen, wenn auch unsicher, denn Eve brachte sie ohne Anlass. Plüschtiere aus knisternder Synthetik, blaue Plastikponys mit bodenlanger Mähne und Himbeerduft und eine sprechende Puppe mit platinblondem Haar. Für Rinus Schwerter und Pistolen. Vor Eves Augen konnte ich sie ihm nicht wegnehmen, später wollte er sie nicht mehr hergeben, er wurde nicht müde, herumzulaufen und Leute totzuschießen. Eve wollte die Sachen in einem Hauseingang gefunden haben, originalverpackt. Ich habe mich über diese Puppe informiert, sie war nicht billig, aber ich habe nicht weiter gefragt. Ich habe ausgeharrt, bis Linn von der Stimme dieses Wesens selbst genug hatte. Es war, wie ich vermutet hatte, sie wurde sehr schnell unansehnlich. Linn war fast zehn, zu groß für Puppen. Aber es fällt ihr schwer, sich zu trennen. In ihrem Zimmer bewahrt sie tote Schmetterlinge und Falter auf und experimentiert mit Methoden, sie für die Ewigkeit zu präparieren. Nur zu diesem Zweck benutzt sie ihr Haarspray. Von dieser Puppe wollte sie lang nicht lassen, auch als das Plastikhaar verfilzte und der Lautsprecher in ihrer Brust den Geist aufgab. Linn nähte ihr Kleider und sprach mit ihr, wenn sie sich allein glaubte. Ich hörte sie durch die dünne Wand und wurde traurig bei dem Gedanken, dass sie irgendwann aufhören würde, die Dinge zu beseelen. Sie wird aufhören, Naturprozesse an anderen Körpern aufhalten zu wollen, und sich ihrem eigenen zuwenden. Sie wird nach Make-up verlangen, nach eigenen elektrischen Geräten und falschen Wimpern wie ihre Freundin, sie wird wachsen und das bekämpfen wollen. Vielleicht rasiert sie sich den Kopf und bringt ihre Brüste zum Verschwinden. Auch ich komme mit Veränderungen nicht gut klar.

Manchmal lackiert Eve ihr die Nägel, färbt ihr bunte Strähnen und bringt ihr bei, Eiswürfel auf ihre Brauen zu drücken, bevor sie ihr jedes Härchen einzeln auszupft. Ich versuche, mich nicht einzumischen und Linn trotzdem zu vermitteln, dass ihr Körper okay ist, wie er ist, ich versuche an Angela McRobbie zu denken: Die Schönheitsbemühungen im Mädchenzimmer gehören zu einem Reigen subversiver Riten.

Eve weiß, dass es unter den Eltern in Linns Klasse die Abmachung gibt, den Kindern erst ab dem achten Schuljahr eigene Telefone zu kaufen. Sie sieht, wie es mir geht, wenn Ali sich im Internet Feinde macht und ich versuche, meinen Job zu erledigen, ihre Position zu erklären, und zur Antwort bekomme, ein ungefickter Pfannkuchen zu sein. »Die Erfindung des Netzes verändert uns weitreichender als die der Atombombe.« Das ist nicht von mir, das ist von Ali, die sich ohne ihre Endgeräte nicht einmal schlafen legt.

Vor ihrem vierzehnten Geburtstag will ich keine Bilder meiner Kinder im Netz, keine Filter auf ihren Gesichtern, sie sollen sich keinen Kommentaren aussetzen müssen. Ich will nicht, dass meine Tochter ihren Willen und ihre schöne Kraft darauf verwendet, in der Taille schmaler zu werden als ein DIN-A4-Blatt.

»Die Gefahr ist nicht gegeben, glaube ich«, lachte Eve und zeigte auf das Blech Zimtschnecken, das sie erst nachmittags zusammen gebacken hatten. Über der Stuhllehne hing einer von Linns schwarzen Onesies, bespritzt mit dunklem Sirup, Eve hatte Linn zwingen müssen, ihn in die Wäsche zu geben.

»Sie soll sich nicht von außen sehen müssen.«

»Alles gut.«

Ich soll mich einkriegen. Ich weiß, dass sie das denkt. Sie erdet mich, und meistens bin ich dafür dankbar. Eve ist die Einzige außer mir, die Rinus abends beruhigen kann. Die Einzige, die etwas mit Linns Haaren machen darf.

Linn kommt in die achte Klasse, Rinus haben wir vorläufig zurückstellen lassen. Eve hat sich gekümmert, als wir ihn nach ein paar Wochen wieder aus der Schule nehmen mussten, sie hat mit ihm Lesen und Schreiben geübt und vor allem das Malen. Mit den Buchstaben hat er Probleme, oder sie interessieren ihn nicht. Wer einmal gesehen hat, was er für Häuser und Schiffe entwerfen kann, wird nicht mehr denken, dass mit seinen kognitiven Fähigkeiten etwas nicht stimmt. Sein Strich ist fein und gerade, gezogen wie mit einem unsichtbaren Lineal. Konzentration ist nicht sein Problem.

Ich will, dass sie Zeit haben, ich will, dass sie nachmittags nach Hause kommen und versorgt sind, sie sollen nicht den ganzen Tag in Betreuungseinrichtungen verbringen, voll von schreienden Kindern mit einer schrecklichen Angst, nicht gehört zu werden. Das halten beide nicht gut aus. Aber ewig werden wir Eve nicht behalten können. Irgendwann werde ich sie gehen lassen müssen. Vorher muss ich ihr etwas geben, dachte ich an dem Abend im Frühling und fragte, »willst du nicht mit?«.

Sie hielt es für einen Witz. Ich war selbst überrascht. Es war in der Nacht, eins unserer flüsternden Gespräche zwischen Tür und Angel. Sie schon in ihren Stiefeln. Sie wollte wissen, wer auf dem Fest gewesen war, welches Fingerfood und welche Drogen es gegeben hatte. In ihren Nachfragen wurde mein Erlebtes größer, als es war. Ich musste nicht lügen und fühlte mich doch wie eine Hochstaplerin. Aber es tut auch gut, mit solchen Leuten zu reden, die aus einiger Entfernung auf das eigene Leben schauen, ein bisschen neidisch, grundlos bewundernd. In ihrem Blick zeigt sich, wo es glänzt.

Sie erkundigte sich, mit wem ich gesprochen hatte, und verlangte, Bilder von Alis neuen Arbeiten zu sehen. Sie hat ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, bis sie merkte, dass es »nichts für sie war«, aber sie interessiert sich und kennt Namen. Mich wundert, dass wir keine gemeinsamen Bekannten haben. Wir haben eine Zeitlang in derselben Gegend gewohnt, wir sind im gleichen Alter, wir müssen einander über den Weg gelaufen sein, ich frage mich, warum sie mir nicht aufgefallen ist. Sie ist so zierlich, dass sie aussortierte Kleider meiner Tochter tragen kann. Aber man übersieht sie nicht. Neben ihr bin ich ein breites sattes Kind. Manchmal finde ich sie beim Heimkommen mit Linns Aquarellfarben am Küchentisch über einem großen Format. Ihre Sachen sind von einer souveränen Abstraktheit und dabei so zart, wie man es nicht lernen kann. Ich weiß nicht genau, was in Eves Leben schiefgelaufen ist. Ich weiß überhaupt fast nichts über sie. Einmal während ihrer Zeit bei uns nahm sie sich frei für einen Umzug, seitdem diese weiten Wege. Viele, die mit mir an der Kunsthochschule waren, sind nicht reich geworden, einige sind allein mit einem Kind. Aber niemand wohnt in einem Hochhaus am Stadtrand, und niemand arbeitet in privaten Haushalten anderer. Niemand hängt, wie sie es getan hat, einen Zettel am Schwarzen Brett im Biosupermarkt auf, um ihre Dienste anzubieten.

Ich wollte sofort mit ihr befreundet sein. Wovon bist du eigentlich so erschöpft, dachte ich damals, du hast kein Recht, und riss den Schnipsel mit ihrer Telefonnummer ab. Ich stellte mir eine ältliche Person vor, die mit dem Internet nicht umzugehen weiß, ich war nicht vorbereitet auf die Frau, die noch am selben Tag vor meiner Tür stand. Rothaarig und einschüchternd hübsch. Sie trug das fuchsfarbene Haar aufgetürmt, eine große Sporttasche über der Schulter und streckte mir die Hand hin. Damals war das eine ganz normale Geste, nur kannte ich kaum Menschen, die das taten. Meine Freunde und ich küssten und umarmten uns, alle anderen fasste man gar nicht an. Sie schaute an mir vorbei und ging in die Knie, wie um ein Tier anzulocken. Rinus lief auf sie zu, als wäre sie keine Fremde. Später zog er sie vom Tisch weg, um ihr etwas zu zeigen, er wollte sie nicht mehr aus seinem Zimmer herauslassen. »Das macht er nicht mit jedem«, sagte ich zu ihr. Sie wirkte ungerührt: »Ich weiß. Ich bin gut mit Kindern.«

Eine Hausfrau, die die Eignung einer Bediensteten prüft: Noch nie hatte ich diese Rolle ausfüllen müssen. Ich stellte Fragen zu ihrem Lebenslauf, zählte auf, was es bei uns zu tun und zu beachten gab, zeigte ihr das Haus, den Garten, die Zimmer der Kinder und meinen Schreibtisch in der Loggia, »Wir sind gerade erst eingezogen«, erklärte ich, sie nickte: »Ich weiß.«

Woher, dachte ich. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ihr Gesicht hätte ich mir gemerkt. Auch wenn ich mich daran gewöhnt hatte, dass in der Siedlung alle uns kannten, mit unserem Fahrradanhänger, der Wildblumenwiese vor dem Haus, dem Kundschafter-Ranzen unserer Tochter. Man wusste, wer wir waren. Ich konnte vor allem die Frauen unter den Nachbarinnen immer noch nicht auseinanderhalten. Eve wäre mir aufgefallen.

Tatsächlich war unser Einzug sechs Monate her und außer den Zimmern der Kinder nichts fertig. Wahrscheinlich wusste sie auch das und sagte nichts, folgte mir durch das Haus und betrachtete die Zeichnungen an den Wänden im Flur, die im Bad gestapelten Kacheln, den Dachboden mit dem Estrich, meinen Arbeitsplatz mit den Klebzettelchen an der Wand und den beschlagenen Scheiben der Loggia. »Hier arbeite ich«, sagte ich, »oder versuche es.« Sie lachte nicht und stellte keine Fragen. Ein Post-it löste sich vom feuchten Glas und segelte zu Boden wie ein toter Falter zu den anderen. Auch dieser Ort musste für sie wie ein Kinderzimmer aussehen, dachte ich. Schäumender Flieder hinter den Scheiben, buntes herumfliegendes Papier.

In Wahrheit prüfte sie mich.

»Ich brauche jemanden, die mir die Kinder ein paar Stunden abnimmt, ich werde sonst verrückt«, sagte ich und versuchte ihr zu schildern, wie ein Leben als freie Kuratorin funktionierte. Ich bestellte meiner Freundin Flugtickets und organisierte das Catering für ihre Vernissagen, ich verfasste nahezu unbezahlte Texte für Zeitschriften und schrieb Anträge für meinen Projektraum. – »Projektraum?«

Ich müsste diese Arbeit überhaupt nicht machen. Ich verdiene fast nichts dabei, und mehr als die Hälfte bezahle ich für Eve, ich könnte das genauso gut sein lassen. Wir leben vom Geld meiner Mutter und vom Gehalt meines Mannes, damals wie heute. Damals schenkte ich mir oft schon um elf den Rest Weißwein aus dem Kühlschrank ein, eine Pfütze, die man sowieso nicht aufheben konnte, »eine Pfütze reicht«, sagte ich ihr. Das hatte ich noch nie jemandem erzählt. Alles Mögliche sagte ich ihr, was ich noch nie einem Menschen erzählt hatte. »Andere Leute haben ganz andere Probleme«, sagte ich, damit Eve es nicht dachte. »Natürlich«, meinte sie nur, »natürlich wird man sonst verrückt.«

Eve sagt solche Sachen nicht, um Ansprüchen zu genügen. Ich war es, die ihr gefallen wollte. Ich hatte das Wohnzimmer aufgeräumt, Blumen auf den Tisch gestellt und Apfelkuchen gebacken. Und als sie sich das alles ansah, wieder so neutral und allenfalls ein bisschen überrascht, zwei Kuchenstücke aufaß und feststellte, »Rauchen darf man hier sicher nicht«, war ich drauf und dran zu sagen, doch, natürlich, hier darf man alles. Wären wir allein im Haus gewesen, hätte ich einen Aschenbecher auf den Tisch gestellt. Jetzt folgte ich ihr nach draußen auf den Treppenabsatz und muss so geschaut haben, dass sie mir die Schachtel ohne ein Wort hinhielt. Schwindel erfasste mich, als wäre es meine erste Zigarette überhaupt.

»Wollen wir nicht du sagen?«

»Gern«, nach einer Pause, was hätte sie auch sonst sagen sollen?

Immer wieder überschreite ich diese Grenze. Immer achtet sie darauf, sie zu wahren, ohne mich bloßzustellen. Sie muss gemerkt haben, wie einsam ich damals war. Heute weiß ich, sie war es selbst.

»Du strahlst ja«, sagte mein Mann, als er heimkam.

»Ich habe jemanden kennengelernt«, lachte ich, durchdrungen von Aufbruchsgefühlen.

»Was ist sie für ein Mensch?«

»Die Kinder haben sofort Zutrauen gefasst.«

Und ich versprach ihm, dass er sie kennenlernen würde, ich hatte sie gleich für das Wochenende zu meinem Geburtstagsfrühstück eingeladen. Sie freute sich, das war zu merken, sie sagte nicht zu und nicht ab, ich wusste, dass sie nicht kommen würde, und habe doch den ganzen Nachmittag auf sie gewartet.

Ein einziges Mal noch hat sie mich hängenlassen, viel später, und dazu nur gesagt, ich konnte nicht. Gelogen hat sie nie. Aber auch nie etwas begründet. Am Montag nach meinem Geburtstag brachte sie mir ein Geschenk. »Ich habe es nicht geschafft«, erklärte sie ein bisschen barsch und überreichte mir ein Päckchen aus Seidenpapier. In viele Lagen eingeschlagen war ein goldenes Kettchen mit einem Anhänger aus eingefasstem Amethyst. Es war wie alle Geschenke, die sie später meinen Kindern gemacht hat, ein wenig zu groß, ein wenig zu nah und nie etwas, das ich selbst ausgesucht hätte.

»Das wäre doch nicht nötig gewesen!«

»Wieso nicht.«

Sie ging nicht hoch mit der Stimme, es klang aggressiv. Sie beobachtete, wie ich die Kette anlegte.

»Eine Freundin hat sie gemacht.«

»Eine Goldschmiedin!«

Sie reagierte nicht auf meine Begeisterung, erst als wir nebeneinander in den Badezimmerspiegel blickten, wirkte sie zufrieden. Immer würde ich fortan diese Kette tragen, wenn wir uns trafen. Hier im Urlaub habe ich damit aufgehört. Gut vertragen hat meine Haut das Material noch nie, in Verbindung mit dem Salz und der Sonne würde es einen schlimmen Ausschlag geben. Ich kann nur hoffen, dass sie das einsieht. Gefragt hat sie noch nicht.

Ihr Mann war für seine Spielsucht ins Gefängnis gegangen. Für den Rest ihres Lebens würde sie seine Schulden bezahlen. Das erzählte sie mir bei unserem ersten Zusammentreffen. Wie sie mit ihrer Tochter am Frühstückstisch in ihrem Reihenhäuschen saß, versuchte, das Kind zur Eile anzutreiben, und sah, dass die Katze gefüttert werden musste, als Nächstes hörte, wie die Polizei die Tür eintrat. Kollegen ihres Mannes. Die Frau hatte Highlighter auf den Wangenknochen. Warum trug man Highlighter auf, bevor man eine Uniform anzog und bei befreundeten Menschen eindrang. Gestern war sie mit dieser Natascha noch beim Krav Maga gewesen. Sie hatte wirklich keine Ahnung gehabt, was ihr Mann in seinem Kellerzimmer am Computer machte. Sorgen, das ja, aber in die ganz falsche Richtung. Dass er sich mit Leuten austauschte, die komische Ideen hatten.

Ich weiß noch, wie mich das damals erleichterte. Dass wir uns in Bezug auf diese komischen Ideen offenbar einig waren. Als sie mir sagte, wie beruhigt sie jedes Mal gewesen war, Spielkartensymbole auf seinem Bildschirm zu sehen, Bube und Dame auf grünem Grund.

Ich war froh, dass sie mir das erzählte, und dass sie es mir so früh erzählte, auch wenn es klang wie eine dieser Randspaltennotizen aus der Regionalzeitung. Jemandem müssen diese haarsträubenden Sachen schließlich passieren. Ich versprach, Schweigen zu wahren, auch gegenüber meinem Mann.

Ich weiß, dass diese Geschichte so nicht stimmen kann. Es gibt keinen Schuldturm mehr, und bei einer Sache wie dieser würde keine Beamtin als Erstes eine Haustür eintreten. Alle meine Recherchen haben das bestätigt. Ich weiß auch, dass Eve nicht lügt. Sie hat etwas kräftiger eingefärbt aus Sorge, den Punkt sonst nicht herüberzubringen zu einer wie mir.

»Die Sorge ist völlig berechtigt«, sagte ich zu meinem Mann, als ich kurze Zeit später mein Schweigeversprechen brach. Damals war es unvorstellbar für mich, Geheimnisse vor ihm zu haben. Er dürfte ohnehin gemerkt haben, dass es mir keine Ruhe ließ: Wie sie überhaupt in diese Situation kommen konnte. Sie kann Transporter fahren und kämpfen, sie ist mit sechzehn in ihre erste eigene Wohnung gezogen, sie wirkt nicht wie jemand, die sich etwas vormachen lässt.

»Hattest du Spaß?«, wollte sie wissen, als ich von der Vernissage zurückkam, früher als sonst, sie war noch dabei, die Küche aufzuräumen, sie wischte die Anrichte bis in den letzten Winkel, Putzmittel schäumte, ich schaffte es, nichts zu sagen.

»Fahrt ihr weg in den Ferien«, versuchte ich abzulenken und bereute es im selben Moment.

»Vielleicht mal an den See.«

Sie lächelte nachsichtig und zupfte mir ein Stück trockenes Laub aus dem Haar.

Als Eve damals zu meinem Geburtstag nicht gekommen war, war ich enttäuscht gewesen, aber auch dankbar für den diskreten Hinweis. Ich sah ein, dass sie recht hatte. Sie liebte unsere Kinder und in ihrer speziellen Weise auch uns, ungefiltert und impulsiv, aber sie war professionell.

»Rinus würde sich sehr freuen«, setzte ich trotzdem nach. Wie er seine imaginären Freunde oder Kuscheltiere vorschiebt, um Bedürfnisse auszusprechen, benutzte ich jetzt ihn. Wirklich stimmte es ja, schon ein paar Mal hatte er gefragt, »Kommt Eve eigentlich mit nach Frankreich? Wenn Linn Noémie mitnehmen darf, möchte ich, dass Eve mitkommt.« Manchmal fiel ihm auch ein, eine seiner Erzieherinnen einzuladen oder seine Ergotherapeutin oder Sanna von der Musikalischen Früherziehung. Aber das hier ist etwas anderes, an Eve hängt er. Ich könnte eifersüchtig sein.

»Wollt ihr nicht für euch sein?«

»Du gehörst doch dazu.«

Ich rechnete fest damit, dass sie ablehnen würde. Sie nahm ihre schwere Tasche, hob die Hand zum Abschied und lief die Straße hinunter in Richtung S-Bahn, immer in großen schwingenden Schritten, nicht wie jemand, die nur noch schlafen gehen will. Kürzlich hatte sie ihr altes Moped verkauft. Wir sollten ihr ein Rad besorgen, dachte ich, sie könnte Linns altes Rad haben und es für den Weg zum Bahnhof benutzen und dort stehen lassen. Immer hat sie diese Tasche dabei. Ich hatte aufgehört zu fragen, was sie da herumschleppte. Auf solche Fragen reagierte sie empfindlich.

Wochenlang sprachen wir nicht mehr über die Ferien, bis sie mich wenige Tage vor unserer Abreise im Büro anrief und fragte, »Gilt dein Angebot eigentlich noch?« Das erste Mal, dass sie mich anrief. Lieber schickt sie mehrere Sprachnachrichten hintereinander. Ich sah ihren Namen aufleuchten und dachte, sonst was sei passiert.

»Welches Angebot?« In dem Moment erinnerte ich mich wirklich nicht mehr.

»Das Haus in Frankreich.« Sie sagte: Das Haus. Als wollte sie es für sich allein. Ich begriff, sie war nervös. Das kannte ich nicht. Angebot, dachte ich, »Ja klar«, sagte ich, »wir freuen uns.« Ich freute mich wirklich. Sie auch. Wir würden ein großes Auto mieten, sie könnte es fahren, sie liebt das Fahren. Sie weiß, wie ich es hasse und fürchte.

Kurz verstand ich nicht, was sie meinte mit ihrer Frage, »Wären tausend Euro okay?«

»Du musst nichts bezahlen. Das Haus gehört meiner Freundin.«

»Süße«, sagte sie zu mir. Von wem sonst würde ich mir das gefallen lassen? »Ich meinte meinen Lohn. Pro Woche«, und sie rechnete mir vor, wie sie auf diesen Betrag gekommen war, »sonst mach du einen Vorschlag.«

Sie diktierte die Bedingungen. Wir einigten uns. Noch immer wird mir heiß, und ich fange an, am Stoff meiner Kleidung herumzuzupfen, wenn ich daran denke. Ich hatte geglaubt, sie könnte uns ihre Zeit schenken.

»Die Kinder werden sich freuen«, sagte ich ihr. Rinus jedenfalls vibrierte. Das Grün seiner Augen wird noch tiefer, wenn er in diesem Zustand ist. Im ganzen Raum spürt man das Rasen seines Herzens. Linn sammelte den Brotkorb auf, den er im Aufspringen vom Tisch gerissen hatte: »Okay? Wir brauchen einen Babysitter im Urlaub?«

Aber ich weiß, auch sie hängt an Eve. Als ich sie gefragt hatte, »Willst du eine Freundin mitnehmen? Noémie zum Beispiel?«, hatte sie nicht anders reagiert. Oft möchte ich sie nehmen und schütteln und fragen, ob sie eigentlich überhaupt noch etwas will. Die letzten Jahre waren nicht einfach für Kinder, heißt es. Drei Jahre, für Rinus ist das sein halbes Leben. Linn hat es noch nie etwas ausgemacht, allein in ihrem Zimmer zu bleiben. Jetzt findet sie nicht ins Leben zurück. Wenn ich sie anschaue, starrt sie mit aufgerissenen Augen zurück, bis ich den Blick sinken lasse. Egal, was ich sage, es ist das Falsche. Einmal habe ich sie aus der Tagesklinik abgeholt und sie gesehen, bevor sie mich sah. Als sie ein Kleinkind war und in die Kita ging, gab es kaum etwas, das mich mehr faszinierte: wie sie sich bewegte, wenn sie vergessen hatte oder nicht wusste, dass wir sie beobachteten, allein inmitten anderer Leute, so anders als zu Hause, wo wir immer in der Nähe waren. Am liebsten wäre ich noch länger hinter der Hecke stehen geblieben, um zu sehen, wie sie wirklich ist. Anders als die für mich zurechtgemachte Version. Sehen, was sie mir nicht erzählt. Denn das hat sie damals schon kaum getan. Auf der Wiese hinter den verdunkelten Glaswänden des Klinikfoyers sah ich sie Squash spielen, angefeuert von einem Mann mit scharf gezogenem Scheitel, der aussah wie vom Wachschutz. Jemand hatte ihr Sportkleidung gegeben, ein erbsengrünes Fußballtrikot und glänzende Shorts. Ich sah ihren Schrei, als sie sich nach einem heranfliegenden Ball streckte, Schweiß stand an ihren Schläfen. Kurz war ich unsicher, ob ich sie nicht verwechselt hatte. Ein anderes Mädchen mit hellen Locken, dem dieses Fußballtrikot wirklich gehörte. Das Trikot gehörte ihr, erfuhr ich später, der Mann mit dem strengen Habitus war Sozialarbeiter und mochte sie offenbar, er hatte es ihr geschenkt. Zuhause hat sie es nie getragen. Sie trägt überhaupt nichts anderes mehr als schwarze T-Shirts in Männergrößen, mit Ärmeln bis über den Ellbogen, dazu Jogginghosen, Leggings, immer lang, nachgiebige, weiche Stoffe. Sie wechselt sie selten. Anfangs habe ich mich gefreut, als sie losging und sich von ihrem Taschengeld diese neue Rüstung kaufte. Ein Akt der Verweigerung, so will ich es sehen. Von mir aus auch ein Versteck. Aber ich wünschte doch, sie würde sich öfter waschen. Und ich würde gerne wissen, was sie unter dieser Hülle verbirgt. Einen Buckel. Ein Paar Flügel.

»Wozu brauchen wir einen Babysitter im Urlaub, du bist doch da«, fragte sie zum wiederholten Mal und setzte die Müslischale an die Lippen, um den Rest Milch auszutrinken. Kolja streckte den Arm aus und wischte ihr das Bärtchen von der Oberlippe. Wie lang ihre Haare dort wuchsen. Was er alles darf, dachte ich.

»Eve ist kein Babysitter. Ihr seid ja auch keine Babys.«

»Was ist sie dann?«

»Eine Freundin.«

»Ach so?«

Zuletzt waren vor allem andere überrascht, dass ich an meinen Plänen festhielt. Freunde, die sonst weniger Angst hatten, wussten von Reisewarnungen. Ich hätte möglicherweise das Recht, kostenlos alles zu stornieren. Aber ich habe mir die Karten genauer angesehen, die Herde der Feuer lagen in einer ganz anderen Gegend, Hunderte von Kilometern entfernt, und sie wurden schon in den Tagen vor unserer Abreise nach und nach gelöscht. »Natürlich fliegt ihr«, sagte Ali, als ich sie in Albuquerque erreichte. Sie stand im Patio von Nanas Hospiz und wusste nicht, wovon ich redete. Ob sie es würde einrichten können, auch zu kommen, war »unsicher, aber ihr fahrt natürlich hin!«.

Kolja und ich hörten auf, das zu diskutieren. Er würde mit dem Zug nachkommen, das letzte Stück des Wegs mit dem Rad. Die Kinder, Eve und ich flogen voraus. Ich habe nicht die Nerven für eine vierzehnstündige Zugfahrt, den Umstieg in Paris mit einem kleinen Kind und zwei geistesabwesenden Teenagern. Aber das musste ich ihm gar nicht erklären, so umstandslos akzeptierte er das Ganze, dass es einem komisch vorkommen konnte, aber vielleicht hatte auch er nur beschlossen, seine Schlachten weiser zu wählen. Am Abend vor der Abreise half er mir, Rinus’ Sachen und eine Reiseapotheke für uns alle zusammenzusuchen, wir wählten Wanderrouten aus, Höhlen und Kirchen und Vogelschutzgebiete, die wir gemeinsam anschauen wollten, zu zweit. Wann sind wir zuletzt zu zweit gewesen? Schon am Flughafen fing ich an, ihn zu vermissen. Seine schmalen festen Schultern, seinen Griff in meinen Nacken, um mich zu erden.

»Ihr seht ja aus wie auf der Flucht«, lachte Eve über unsere Seesäcke. Ich lachte mit ihr. Sie war erkennbar nervös und trug ein Kleid, wie ich es noch nie gesehen hatte an ihr, es dauerte, bis ich meinen eigenen Kaftan erkannte. Er machte ihre Schritte kleiner. Es verschaffte mir Auftrieb, einmal die Furchtlosere von uns zu sein. Flugzeugabstürze halte ich für unwahrscheinlich, wie alle echten Katastrophen jagen sie mir keinen Schrecken ein. Weil sie zu abstrakt sind, ist Koljas Deutung. Der Grund, warum Blockbuster über das Ende der Welt so erfolgreich seien: weil sie ein Comicszenario entwerfen, an das man nicht glaubt. Für mich gilt das nicht. Ich glaube den Prognosen. Aber auch daran, dass man nach dem Kipppunkt nicht allein ist. Was dann kommt, betrifft alle gleich. Im Angesicht des Kollapses habe ich mich immer lebendig gefühlt.

EVE

Ich habe diese Einladung nur angenommen, weil es keine Einladung war. Sondern eine Bitte. »Wollt ihr nicht für euch sein?«, war meine erste Frage. Und das wollte sie eben nicht. Manchmal denke ich, sie hat Angst vor ihren eigenen Kindern. Sie hatte vor zu arbeiten in diesen Ferien. »Außerdem meine Ehe retten.« Oder eine Pause machen von ihrer Ehe, um einen klaren Kopf zu bekommen. Auf mich jedenfalls will sie nicht verzichten. Abends geht sie zum Telefonieren in den Garten, sie muss ihre Freundin erreichen, die auch ihre Chefin ist, oder ihren Mann oder die Eltern von Linns Freundin. Etwas gibt es immer zu besprechen. Der Empfang hier ist eine Katastrophe. Man muss bis in die hinterste Ecke des Gartens, um eine Nachricht zu laden. Wenn sie zurückkommt, ist sie in Aufruhr.

Drei bezahlte Wochen am Meer. Es wäre verrückt, so ein Angebot nicht anzunehmen, da waren sich alle meine Freunde einig. Nur Dennis meinte, einen Haken müsste die Sache haben. Er an meiner Stelle würde aufpassen. Bei solchen Andeutungen beließ er es. Da habe ich entschieden, zu reisen.

Am Flughafen erkannte ich die Familie von weitem und wäre am liebsten umgekehrt. Sie trugen dunkles Leinen und braune Seesäcke, als spielten sie eine Flucht nach und nicht eine Reise in den Urlaub. Selbst in Sack und Asche hebt Elena sich heraus aus der Menge. Auch wenn sie es nicht darauf anlegt. Sie hat ein seltsames Gesicht, die Augen groß und weit auseinanderstehend. Nicht hübsch, aber schön.

Wie sie sich auf diese Reise gefreut hatte. »Du musst dieses Meer riechen«, sagte sie zu mir und zeigte ein Foto des Hauses. Eine verwitterte Villa zwischen alten Eichen. Es gab nur dieses eine Bild. »Ein prima Ort für Einbrecher«, sagte Dennis, als ich ihm erzählte, dieses Haus wirkt wie ganz allein auf der Welt. Er wolle nicht wissen, wie die Badezimmer aussahen. Seine Art, sich für mich zu freuen. »Nimm genug Desinfektionsmittel mit«, empfahl er und küsste mich auf die Stirn. Ich nahm eher an, dass das Gelände geschickt fotografiert war und die nächste Ferienanlage sicher gleich nebenan. Andererseits – diese Freundin von Elena beziehungsweise deren Freundin war reich, Immobilien in Wien, New Mexico und eben Südwestfrankreich, Elena hatte mir genug davon erzählt.

Wir würden morgens und abends schwimmen und nachmittags auf der Veranda Pastis trinken. »Und du mietest dir ein Moped«, sagte sie zu mir, »und fährst abends in den Ort und findest einen schönen Mann.« Du hast meinen nie gesehen, dachte ich. Sie hat mir Kleider geschenkt für die Reise. Sie hat mir schon oft Sachen von sich angeboten, die ihr nicht mehr passen oder nicht mehr gefallen, bisher habe ich es immer geschafft, höflich abzulehnen. Diesmal bestand sie darauf, dass ich sie anprobierte. Sie sitzen wie selten etwas, das ich im Laden kaufe. Strandkleider aus guten Stoffen. Ich werde sie nicht behalten nach dieser Reise. Sie sagt, ich schulde ihr nichts.

Selbst meine Freunde würden mich nicht erkennen in diesen Kleidern. Nichts von dem, was hier passiert, zählt in Wirklichkeit. »Das hat Urlaub so an sich«, lacht Elena. Manchmal behandelt sie mich, als wüsste ich von nichts etwas. Ich bin schon bis Marokko getrampt, aber nie hatte ich so stark wie hier das Gefühl, einen Film zu beobachten. Etwas abzustreifen und mit Tarnkappe loszugehen. Am Morgen unserer Abreise versetzte es mich noch in Unruhe. Ich trug ihren mit Schilf bedruckten Kaftan und roch nach ihren Lavendelsäckchen. Verkleidet war ich, doch es schien niemandem aufzufallen. Sie waren mit sich selbst beschäftigt.

Der Kleine musste gerade geweint haben, wirr hing das Haar ihm ins Gesicht, er schaute weg, als ich ihn drückte. Linn trug wie immer in letzter Zeit etwas Schlafanzugartiges und eine in die Stirn gezogene Basecap, auf den Handrücken ein Muster aus blauen Schnörkeln. Eben hatten sie ihren Vater verabschiedet. Seine Warnweste entfernte sich in der Menge. Er hat die Bäder in ihrem Haus selbst gefliest und macht alle Reparaturen selbst, er singt im Chor und fährt täglich dreißig Kilometer mit dem Rad zu seiner Arbeit. Was ich über ihn weiß, weiß ich aus Elenas Erzählungen. Dass seine Mutter alleinerziehende Klavierlehrerin war und er noch immer CDs kauft, anstatt zu streamen. Weil das im Klang einen Unterschied macht und er diesen Unterschied hört. Dass sie sich in einer Kneipe kennengelernt haben, ganz unwahrscheinlich, denn er verbrachte seine Zeit damals schon anders. Er liebt die Kunst und kommt mit Künstlern schlecht zurecht. Mit ihren Freunden verträgt er sich, er ist überhaupt einer der verträglichsten Menschen, den sie kennt, sagte sie zu mir, »er hat ein gewinnendes Wesen«. Man werde eifersüchtig neben ihm. Er kann einen lustigen Abend mit ihren Leuten verbringen. Aber richtig leiden kann er sie nicht. Den ganzen Winter schwimmen Linn und er im See. Sie gehen nicht bloß ein paar Schritte hinein mit einer Wollmütze auf dem Kopf. Sie tauchen ganz ein und kraulen. Elena und er kennen einander seit über zwanzig Jahren. Für den Rest des Lebens werden sie das gemeinsame Haus abbezahlen. »Wir schlafen trotzdem gut.«

Was Elenas Mann arbeitet, scheint ihr selbst ein wenig dunkel zu sein. »Rinus könnte ich es jedenfalls nicht erklären«, hat sie zu mir gesagt. Organisationsentwicklung und Rhetorik, er bringt Führungskräften bei, ihre Entscheidungen besser zu begründen. Er hilft Bestimmern, wie sie noch mächtiger werden, würde ich einem Kind beschreiben, Unternehmensberatung wäre das in meinen Worten, aber den Begriff hören sie nicht gern. Er redet den ganzen Tag so viel, dass er abends keine Kraft mehr hat zu erklären. In seinem Büro hat er Platz für ausladende Gebäude aus Legosteinen für seine Ideen und geht barfuß, »Nirgends kann man besser Radschlagen üben als dort auf dem Teppich«, erzählte mir Linn.

Während der Pandemie fing er an, mehrere Tage am Stück in diesem Büro zu verbringen, dann wurden es Wochen. Seine Geschäfte liefen gut, nicht schlechter als sonst jedenfalls. Er hatte große Aufträge und kam zu nichts, wenn er daheim auf der Baustelle saß und unter ihm seine Kinder sangen und schrien. »Er hat viel zu tun«, sagte Elena, als mir nach Tagen etwas komisch vorkam und ich sie fragte, ob er auf Dienstreise sei. Es gab keine Dienstreisen, das wusste ich selbst. »Ein forderndes Projekt.« Ich glaube nicht, dass außer mir und den Kindern jemand etwas mitbekommen hat von seiner wochenlangen Abwesenheit. Was immer er in seiner Agentur tut, es wirft ziemlich viel Geld ab. Jeder würde verstehen, dass sie ihn halten will.

Ich bin ihr Zuständigkeitsbereich, nicht seiner. Wenn sie unterwegs ist und er mir die Kinder übergibt, erklärt er mir, welche Reste sich noch im Kühlschrank befinden, ob und wie lang Rinus am Mittag geschlafen hat, was für Termine die beiden noch haben, wie ihre Verfassung gerade ist. Umgekehrt erkläre ich ihm die gleichen Dinge, wenn er abends als Erster nach Hause kommt. Darüber gehen unsere Gespräche nicht hinaus. Einmal habe ich ihn im Supermarkt gesehen, wie er sich seinen Weg bahnte und seinen Einkaufswagen füllte, nicht einmal den Fahrradhelm hatte er abgesetzt. Mich erkannte er zuerst nicht, dann war es ihm schrecklich unangenehm. Ich glaube, dass er in Ordnung ist.

Elena schob meinen Koffer zur Seite und umarmte mich, ihr Bauch drückte sich an meinen. »Übergänge sind immer schlimm«, erklärte sie, Rinus über den Kopf streichelnd, und erzählte mir von dem Raumschiff, das sie am Morgen noch hatten suchen müssen, der Tauchermaske, die sie im letzten Moment erst gefunden hatten, dem Waschbär, den er in der S-Bahn fast verloren hätte. Und so weiter. Sie war überdreht. Sie wollte wissen, ob ich schon eingecheckt sei, und beorderte Linn, mir damit zu helfen. Vielleicht froh, sie loszuwerden.

Mit gesenktem Blick ging Linn neben mir her. Sie ist ein massiges Mädchen mit einem Schritt so leise wie ein Gespenst. Trotzdem teilte die Menge sich vor uns.

»Hattet ihr Stress?«

Sie hob nur ganz leicht die Hände wie bittend: »Mein Bruder. Du hast nichts verpasst.«

»Und du? Was ist mit deiner Freundin?«

Ich versuchte, mich an den Namen zu erinnern. Helene, Ismene, Madita, Sophie. Ein paar dieser Mädchen kannte ich, noch im Frühjahr hatte ich sie alle zusammen zum Reiten gefahren, zum Tanzen, zum Theater. Ich habe ein gutes Gedächtnis, aber die Namen dieser Freundinnen habe ich nie gelernt. Linn hat immer betont, sie alle gleich gernzuhaben. Erst seit kurzem verbrachte sie die meiste Zeit bei ihrer neuen besten Freundin. »BFF«, hatte Elena mir verkündet, spöttisch und stolz.

»Sie heißt Noémie.«

»Freust du dich?«

Schweigen.

»Es gab einen Rohrbruch, deshalb sind die U-Bahnen zu spät. Ich hatte auch Probleme. Sie schafft das bestimmt noch. Wir haben doch noch Zeit«, behauptete ich, dabei hatte ich keine Ahnung, ich war selbst nervös.

Erst vor der Check-in-Säule wurde sie wach und sachlich, »Ausweis«, verlangte sie knapp, hielt mir die Hand hin und ihn unter den Scanner, Strahlen in ihrem Gesicht, als sie meinen Boardingpass aus dem Ausgabefach holte.

»Danke. Das hätte ich nicht so schnell hinbekommen.«

»Echt? Das ist total intuitiv!«

Seit einiger Zeit achtet sie darauf, beim Lächeln ihre Zähne nicht zu zeigen. Jahrelang kannte sie nichts Besseres, als mich beim Einkaufen zu begleiten, gebannt lief sie neben mir durch die Supermarktgänge und warf teure Süßigkeiten in den Wagen. Unvermittelt hat sie die Lust daran verloren. Manchmal leihe ich ihr mein Handy, oder wir schauen gemeinsam Tutorials an. Wie ausgeknipst starrt sie auf den Bildschirm. Mondschön ist Elenas Wort. Linn merkt nicht, was sie mit ihren Händen macht. Sie faltet und verschränkt sie immer wieder neu, sie formt Fäuste und streicht damit an ihren Oberschenkeln entlang. Sie fing auch jetzt wieder damit an, als wir uns den anderen näherten, die Freundin fehlte noch immer, Elena hatte ihr Telefon am Ohr und raufte sich das Haar. Vor uns noch eine einzige Familie, eine Frau versuchte, das Baby auf ihrer Hüfte zu beruhigen und ihre anderen Kinder unter Kontrolle zu bringen, Jungen und Mädchen zwischen fünf und zwölf, es sah nicht aus, als ob es schnell vorangehen würde. Elena streckte die Hand nach Linn aus, Rinus wollte auf meinen Arm, eine Frau in Warnweste schob uns weiter, er hob zu wimmern an. Immer noch sah er in allen Leuten mit Warnwesten seinen Vater oder erinnerte sich an ihn, ich musste ihn ablenken, noch einen Anfall konnten wir jetzt nicht gebrauchen. Ich setzte ihn ab und ließ ihn vor mir durch den Scanner gehen. Er macht alles mit, man muss es ihm nur als Abenteuer verkaufen. Linn folgte uns. Es war entschieden, dass wir auf die Freundin nicht mehr warten sollten.

»Schon okay«, murmelte Linn beim Warten am Gate. Sie ist niemand, der Szenen macht. Sie nahm ihren Platz im Flugzeug vor mir ein, schnallte sich an, schlug ein Buch auf und schaute nicht mehr auf, auch nicht, als das Mädchen zustieg. Es war schwer, das nicht mitzubekommen. Selbst ich habe kurz meinen trockenen Mund vergessen und nicht mehr nach den Notausgängen geschaut.