Didaktik und Neurowissenschaften - Petra A. Arndt - E-Book

Didaktik und Neurowissenschaften E-Book

Petra A. Arndt

0,0

Beschreibung

Didaktik und Neurowissenschaften ist das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen der Neurowissenschaften, Didaktik, Psychologie sowie ferner der Erziehungswissenschaft. Durch das Zusammenführen von Wissensbeständen wird, Schlaglichter setzend auf Fragen, die für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen relevant erscheinen, der Versuch unternommen, Erkenntnisse zu verdichten und in verständlicher Sprache zugänglich zu machen. Dazu werden Erkenntnisse aus Hirnforschung, Didaktik, Pädagogik, pädagogischer und kognitiver Psychologie, Emotions- und Entwicklungspsychologie und der Bildungsforschung verknüpft. Didaktik und Neurowissenschaften will Knotenpunkte im Wissen schaffen und zum Dialog zwischen den Wissenschaften sowie zwischen Wissenschaft und Praxis anregen. In sog. "Praxisfenstern" wird die Bedeutung der empirischen Befunde für den Unterricht diskutiert, Impulse für die Unterrichtsgestaltung werden entwickelt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Arndt / Michaela Sambanis

Didaktik und Neurowissenschaften

Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0066-3

Inhalt

0. Prolog1. Verortung und Zielsetzung1.1 Rezeption von Gehirnforschung1.1.1 Distanzierung1.1.2 Direkte Aufnahme1.1.3 Kritische Übersetzung und Begründung der angestrebten Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik2. Gehirn und Hirnentwicklung2.1 Ein Gehirn entsteht: Von einer dünnen Zellschicht zur komplexen Struktur2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen2.3 Ein Schritt nach dem anderen: Hirngebiete entwickeln sich nacheinander2.4 Vom Feldweg zur Schnellstraße: Myelinisierung von Nervenfasern2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung2.5.1 Stabilität und Störanfälligkeit: Beispiel Wahrnehmung2.5.2 Nutzung alternativer Hirnstrukturen und Strategien2.5.3 Was lange währt… : Der präfrontale Cortex2.6 Adoleszenz: Eine ganz besondere Zeit2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der EntwicklungAusgewählte Literaturhinweise3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns3.1 Aufmerksamkeit in Pädagogik und Hirnforschung3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von Aufmerksamkeit3.3 Aufmerksamkeit als Auswahlprozess3.3.1 Sensorische Auswahl und Orientierung3.3.2 Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle3.4 Aufmerksamkeit und Entwicklung3.4.1 Aufmerksamkeit und Hirnreifung3.4.2 Zusammenspiel der verschiedenen Aufmerksamkeitssysteme3.5 Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung3.5.1 Verankerung von exekutiver Aufmerksamkeit und exekutiver Kontrolle im Gehirn3.5.2 Exekutive Funktionen3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen3.6.1 Förderung der Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen3.6.2 Gestaltung aufmerksamkeitsförderlicher Rahmenbedingungen3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht?3.7.1 Ist Langeweile positiv oder negativ?3.7.2 Tritt Langeweile in allen Schulfächern auf?3.7.3 Welche Charakteristika von Unterricht könnten Langeweile begünstigen?3.7.4 Was machen Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich langweilen?3.7.5 Was tun? – Maßnahmen gegen Langeweile4. Emotionen und Motivation4.1 Emotionsstudien im Kindergarten- und Grundschulalter4.1.1 Erkenntnisse aus der Bildungshaus-Studie4.2 Akzeptanz von Schule: die Willingham-These4.3 Sprachverwendungsangst in der Fremdsprache4.3.1 Diskursfähigkeit und Sprachverwendung4.3.2 Foreign Language Anxiety als situationsspezifische Angst4.4 Mathematikphobie4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation4.5.1 Motivationsstufen4.5.2 Grundbedürfnisse4.5.3 Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht4.6 Emotionen im GehirnAusgewählte Literaturhinweise5. Bewegung und Lernen5.1 Welche Erkenntnisse liegen zu Bewegungen als Ausgleich vor?5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor?5.2.1 Szenisches Lernen5.2.2 Effekte beim Fremdsprachenlernen im Kindergartenalter5.2.3 Effekte beim Erwerb von numerischen Kompetenzen auf der Elementar- und Primarstufe5.2.4 Wie lassen sich die Effekte erklären?6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin?6.1 Wie ist Wissen eigentlich im Gehirn gespeichert?6.2 Wo genau steckt jetzt das Wissen?6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln6.3.1 Habituation: Anpassung an das, was ist6.3.2 Perzeptuelles Gedächtnis: Abbildung von Wiederkehrendem6.3.3 Lernen durch Assoziationsbildung: schnell zugreifen können6.3.4 Prozedurales Gedächtnis: etwas können6.4 Deklaratives Gedächtnis: Ich weiß, was ich weiß6.5 Denken und Gedächtnis: Strukturierung von Repräsentationen6.6 Enkodierung: Aufnahme von Information ins Gehirn6.6.1 Sensorische Aufnahme und Mustererkennung als Basis der Enkodierung6.6.2 Einfluss von Weiterverarbeitung und Vertiefung enkodierter Information auf die Gedächtnisbildung6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten6.7.1 Stärkung neuronaler Gedächtnisspuren als Basis der Langzeitspeicherung6.7.2 Lernen im Schlaf6.8 Abruf, Erinnern und VergessenAusgewählte LiteraturhinweiseEpilog im PraxisfensterAbbildungsverzeichnisSachregisterLiteraturSachregister

0. Prolog

Über das Gehirn gibt es zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen, außerdem auch weniger um Wissenschaftlichkeit bemühte Publikationen, die aber zumindest in der Öffentlichkeit oftmals größere Beachtung finden als die eigentliche „wissenschaftliche Kost“. Das ist einerseits irgendwie verständlich, andererseits kann es mitunter auf Irrwege führen. Nicht alles, was sich leicht lesen lässt und interessant daherkommt, was vom Gehirn, unserer Steuer- und Lernzentrale, berichtet, die all das repräsentiert, was wir tun, denken und erleben, trifft auch zu. Umgekehrt muss allerdings auch eingeräumt werden, dass vieles von dem, was die Forschung an Wissen hervorbringt, gar nicht nach außen kommt und somit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen sowie Praktikerinnen und Praktikern nicht bzw. nicht immer auf geeignete Weise zugänglich gemacht wird.

Mit Didaktik und Neurowissenschaften möchten wir Ihnen von Befunden berichten, die im Kontext des Themas Lernen (einschließlich der Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse) bedeutsam erscheinen. Außerdem möchten wir zum Dialog, insbesondere zwischen Wissenschaft und Praxis, aber auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, anregen und einen Beitrag dazu leisten. Bei einigen Leserinnen und Lesern rufen diese Anmerkungen zur Zielsetzung des Buchs wahrscheinlich die Assoziation „NeurodidaktikNeurodidaktik“ hervor, was nicht falsch ist und doch auch nicht ganz zutreffend. Inwiefern der vorliegende Band sich von bisherigen Transferversuchen unterscheidet, welchen Weg er wählt und aus welchen Gründen, das wird in Kapitel 1, der Einleitung, dargelegt.

An die methodischen Überlegungen und eine Orientierung der Leserinnen und Leser schließen sich ab Kapitel 2 inhaltliche Darstellungen an: Hier erschien es folgerichtig, bei dem anzusetzen, mit dem alles beginnt, nämlich bei StammzellenStammzellen und NeuroblastenNeuroblasten, kurzum bei der Hirnentwicklung. Kapitel 3 befasst sich mit AufmerksamkeitAufmerksamkeit und LangeweileLangeweile. Kapitel 4 geht dann nicht kognitiven Aspekten von Lernen, nämlich EmotionenEmotion und MotivationMotivation, nach, während Kapitel 5 Befunde verschiedener Disziplinen zu Bewegung beim Lernen selbst sowie zwischen einzelnen Lernphasen darstellt. Kapitel 6 schließlich ergänzt Kapitel 4 und knüpft zugleich an Kapitel 5 an, indem es sich mit dem Gedächtnis befasst. Die genannten Themen werden nicht nur aus Sicht der Hirnforschung, sondern ebenso mit dem Blick aus der Didaktik und in die Didaktik bearbeitet.

„Benutzen Sie Ihr Gehirn nicht nur, verstehen Sie es auch!“, lautet eine Empfehlung Manfred Spitzers (2013).1 Auch wir möchten zum Benutzen des Gehirns einladen, denn es wird durch Gebrauch immer leistungsfähiger, aber dazu später mehr. Darüber hinaus möchten wir mit dem vorliegenden Band etwas zur Verfügung stellen, das das Verstehen des Gehirns unterstützen soll und zwar nicht nur um des Verstehens willen, sondern um im Dialog Anwendungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung zu entdecken und auszuloten. Didaktik und Neurowissenschaften richtet sich an Studierende – an Lehramtsstudierende verschiedener Fächer für alle Schularten, an Studierende der Erziehungswissenschaft, der Frühen Kindheit, Frühpädagogik, Sozialen Arbeit, der pädagogischen und biologischen Psychologie –, an Referendare, Lehrkräfte, Bildungsverantwortliche, Lehrwerkskonzipierende sowie Aus- und Fortbildende.

Als Autorinnen blicken wir auf die spannende, erhellende und arbeitsreiche Phase der Recherche, des Austauschs und des Schreibens am Manuskript zu diesem Buch zurück und wir hoffen, dass dessen Publikation Anstöße geben kann. Wir möchten es an dieser Stelle auf keinen Fall versäumen, uns bei jenen zu bedanken, die uns unterstützt haben: Ein herzliches Dankeschön an Laura Wendland für die kritische Lektüre des Manuskripts und die Unterstützung bei der Formatierung, an Annika Jäkel für die Erstellung von Graphiken zur Neurobiologie und an Anastasia Sambanis für die Übersetzung unserer teilweise kryptischen Bildbeschreibungen in stimmige Zeichnungen. Bedanken möchten wir uns außerdem bei unseren Kolleginnen und Kollegen in der Didaktik des Englischen an der FU Berlin und am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Ulm sowie bei den vielen Studierenden, Lehrkräften, Erzieherinnen etc., die uns mit ihren Fragen und ihren Berichten aus der Praxis bestätigen, dass es ein lohnendes und wichtiges Unterfangen ist, Didaktik und Neurowissenschaften zusammen in den Blick zu nehmen.

 

 

Ulm/Berlin, im Sommer 2017

 

Petra Arndt

Michaela Sambanis

1. Verortung und Zielsetzung

Der vorliegende Band ist das Ergebnis intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen verschiedener Disziplinen, darunter im Besonderen die Neurowissenschaften sowie die Didaktik, die Psychologie und die Erziehungswissenschaft. Durch das Zusammenführen von Wissensbeständen soll, Schlaglichter setzend auf Fragen, die für die Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse relevant erscheinen, der Versuch unternommen werden, Erkenntnisse zugänglich zu machen und zusammen zu bringen. Das Referieren in verständlicher Sprache, jedoch ohne unzulässige Vereinfachungen, bildet eine der Zielsetzungen des vorliegenden Bandes.1

Verschiedene Aspekte dessen, was unter Lernen subsumiert wird, sind in den zurückliegenden Jahren erforscht worden, und unterschiedliche Disziplinen, darunter die Neurowissenschaften, haben mit ihren jeweiligen Herangehensweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung dazu beigetragen, dass das Verständnis wachsen kann. Aber es ist nicht immer der Versuch unternommen worden, relevante Wissensbestände auch aufzuschlüsseln, sodass z.B. Studierende, Lehrkräfte etc. in geeigneter Form davon erfahren konnten. Ebenso ist es nicht immer gelungen, Knotenpunkte herzustellen, bei denen Evidenzen2 unterschiedlicher Disziplinen zusammengeführt wurden. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Komplexität des Unterfangens. Bereits angesichts der Fülle an neurowissenschaftlichen Publikationen jährlich – die Zahlen variieren zwischen 40.000 und etwa dem Doppeltem (vgl. Sambanis 2015: 155) – wird erkennbar, dass eine Orientierung in diesem Feld und die Kenntnisnahme von Evidenzen und Gegenevidenzen eine immense Herausforderung darstellt. Hinzu kommt die Frage, wie Befunde angemessen aufgeschlüsselt werden können, damit sie auch für die Praxis des Lehrens und Lernens nutzbar werden, ohne unzulässige Verzerrungen oder Verkürzungen zu erfahren.

Die Neurowissenschaften zeichnen sich als eine forschungsaktive Disziplin mit mehreren Teildisziplinen und Ebenen dadurch aus, dass sie, einfach formuliert, zumeist anders forschen als […] [z.B.] die Fremdsprachendidaktik, in einer anderen Forschungstradition stehen und eine beachtliche Menge an Publikationen und spezifischen Erkenntnissen hervorbringen, die oftmals nur nachvollziehbar sind, wenn der Rezipient zumindest mit üblichen Vorgehensweisen, Arten der Datengenerierung und typischen Studiendesigns in dieser Disziplin vertraut ist. (ebd.)

„The time for evidence-based education has arrived“, konstatieren Sigman et al. (2014: 497), denn nach wie vor stellt Schule „the largest learning experiment ever attempted“ (ebd.) dar, d.h. es wird vieles gemacht, wie es schon immer gemacht wurde oder Neues beherzt implementiert. Vor Innovationsentscheidungen liegt es eigentlich nahe und erscheint vernünftig, die Frage nach verfügbarem Wissen zu stellen, allerdings wird dieser Schritt mitunter übergangen oder bestenfalls hastig genommen. Der vorliegende Band möchte dazu anregen, rechtzeitig und konsequent die Frage zu stellen: Was wissen wir eigentlich schon?

Die Neurowissenschaften können einen spezifischen Beitrag zur „Aufklärung über die Natur des Lernens selbst“ leisten (Blakemore & Frith 2006: 197) und zwar durch „kontra-intuitive Erkenntnisse über das Lernen“ (ebd.: 21). „[…] neuroscience provides important insights for psychological and educational research by describing the general neurophysiological preconditions of successful learning“ (Stern et al. 2007: 32). Diese Einsichten sind für die Didaktik von zentraler Bedeutung, denn: „Education is about enhancing learning, and neuroscience is about understanding the mental processes involved in learning“ (The Royal Society 2011: V). Dennoch darf bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik herzustellen, nicht in Vergessenheit geraten, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zwar dazu beitragen, die beim Lernen ablaufenden Vorgänge und damit die neurophysiologischen Voraussetzungen von Lernen zu erfassen. Die Didaktik muss dann aber als „die Wissenschaft vom pädagogisch angeleiteten Lehren und Lernen“ (Friedrich 2009: 272) Antworten auf die Frage finden, wie das angestrebte learning enhancement unter Berücksichtigung der identifizierten neurophysiologischen Vorgänge sowie der Anforderungen an Unterricht und der gegebenen Kontextfaktoren erreicht werden kann. Aus unserer Sicht besteht die vordringliche Aufgabe darin, die Fragen nach dem Was wissen wir? und dem Was kann daraus auch unter Einbezug weiterer Wissensstände und Sichtweisen für das Lehren und Lernen geschlossen werden? aufzugreifen und in einer wechselseitigen Transferdiskussion zu verankern.

Bei dem Versuch, mögliche Antworten auf die Frage nach Konsequenzen für die Praxis zu finden, werden sich neue Fragen ergeben und mit ihnen der Wunsch, diese so beantworten zu können, dass auch sie zu einer „evidence-informed practice“ (Nevo & Slonim-Nevo 2011) beitragen können. Dies verweist auf die Prozessualität des gesamten Unterfangens: Evidenzbasierte Didaktik kann nicht statisch sein. Sie speist sich aus Forschungsfeldern, die sich durch Dynamik auszeichnen. Sie kann daher nicht beanspruchen, eine Art unerschütterlicher Heilslehre zu vermitteln.

Ein zeitgemäßes Verständnis von einer sich auch auf Erkenntisse der Neurowissenschaften stützenden Didaktik bedarf eines Weiterdenkens und teilweise auch Ablegens dessen, was gemeinhin mit dem Begriff NeurodidaktikNeurodidaktik assoziiert wird, nämlich, auf eine einfache Formel gebracht, das Ziehen von Schlussfolgerungen aus Befunden der Neurowissenschaften, oftmals ohne vorherige Auseinandersetzung mit möglichen Vorgehensweisen und ohne bewusste Entscheidung für ein Prozedere. Das eher intuitive und vor allem rein lineare Übertragen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, z.B. in die „Pädagogik als Anwendungsfeld“ (Müller 2009: 56), scheint zu kurz zu greifen und wird schon Ende der 1990er-Jahre in dem vielzitierten Artikel von Bruer (1997: 5) als „a bridge too far“ bezeichnet.

Seit einiger Zeit wird zum Umdenken aufgefordert: „knowledge needs to go in both directions“ (The Royal Society 2011: 18, kursiv im Original). Daraus ergibt sich beim Verbinden von Neurowissenschaften und Didaktik die Aufgabe, sich von dem linearen Modell zu lösen, den Blick zu erweitern, d.h., wie oben erwähnt, den Versuch zu unternehmen, Knotenpunkte im Wissensstand herzustellen. Anstelle einer einspurigen Kommunikationsführung, bei der die Gehirnforschung ihre Befunde anderen Disziplinen vermittelt, sollte es die NeurodidaktikNeurodidaktik als ihre Aufgabe verstehen, den Dialog zwischen den Neurowissenschaften, der Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Praxis anzuregen, weiter zu befördern und zu moderieren:3

[…] when asking how neuroscience can be useful to education it is insufficient to focus solely on our current understanding of brain function. Efforts to make change may be wasted if they are not accompanied by a reflection on how the translational process can be efficiently organized. (Sigman et al. 2014: 500)

Um darstellen zu können, wo sich der vorliegende Band verortet und wie versucht wird, den translationalen, reflektierenden und vermittelnden Auftrag zu erfüllen, werden im Folgenden zunächst kurz bisherige Entwicklungsströmungen und mögliche Positionen im Feld der bisherigen NeurodidaktikNeurodidaktik umrissen und vor diesem Hintergrund eine Positionierung vorgenommen.

1.1RezeptionRezeption von Gehirnforschung

In seinem Beitrag zu pädagogischen Implikationen der Hirnforschung stellt Müller (2005) systematisch dar, wer zu den Rezipienten der Neurowissenschaften zählt, warum und wie die Befunde der Hirnforschung jeweils rezipiert wurden bzw. werden. Im Folgenden sollen einige wichtige Entwicklungen nachgezeichnet und in Orientierung an der von Müller vorgelegten Unterscheidung dreier Rezeptionsmuster dargestellt werden.

Die Analyse der Art und Weise, wie die Schulpädagogik, die Didaktik – streng genommen müsste man von Allgemeiner Didaktik und den einzelnen Fachdidaktiken sprechen (vgl. Arnold & Roßa 2012: 11ff.) – und die Allgemeine Erziehungswissenschaft, ursprünglich vor allem zum Zwecke der „empirische[n] Abstützung radikal-konstruktivistischer Konzeptionen“ (Müller 2005: 71), neurowissenschaftliche Befunde rezipiert haben, erlaubt die Identifikation dreier möglicher Rezeptionsmuster: die kritische Begrenzung und DistanzierungDistanzierung, die direkte Aufnahme und die kritische Übersetzung (vgl. Müller 2005: 73). Während Letztere noch weitgehend als Entwicklungsaufgabe zu betrachten ist, sind die beiden erstgenannten Rezeptionsmuster seit einigen Jahren existent und gut voneinander abgrenzbar.

1.1.1DistanzierungDistanzierung

In den o.g. Disziplinen sowie in weiteren finden sich Vertreterinnen und Vertreter, die den Neurowissenschaften skeptisch bis verschlossen gegenüber stehen.1 Der Wert, teils auch die Aussagekraft und Finalität (vgl. Schirp 2003: 304) oder Genauigkeit neurowissenschaftlicher Studien wird von ihnen infrage gestellt. Oftmals wird die Relevanz der eigenen Disziplin für die Erkenntnisgewinnung hervorgehoben und argumentiert, dass die Hirnforschung keine Erkenntnisse erbrächte, die nicht durch Studien innerhalb der eigenen Domäne mit mindestens ebenso hoher Genauigkeit und Aussagekraft zu erreichen seien. Ein Vertreter dieser Argumentationslinie ist der Psychologe Bowers (2015), der im Zuge seiner die Meriten der experimentellen Psychologie unterstreichenden Argumentation feststellt, dass „understanding the brain […] irrelevant to designing and assessing teaching strategies“ (Bowers 2015: 601) sei. Er begründet seine Distanznahme u.a. dadurch, dass aus seiner Sicht die Hirnforschung zum Feld der education nichts beizutragen habe, „above and beyond what psychology has already established“ (Bowers 2015: 602) oder jenseits dessen, was die Erziehungswissenschaft und Pädagogik2 sowie jede erfahrene Praktikerin und jeder erfahrene Praktiker ohnehin schon längst wisse (vgl. Schirp 2003: 304).

Oft bestätigen neurowissenschaftliche Erkenntnisse die von anderen Disziplinen generierten Befunde bzw. von Praktikerinnen und Praktikern gewonnene Erfahrungen. Von Neuro-SkeptikerNeuro-Skeptikern wird die Bestätigung auf neurowissenschaftlichem Weg als obsolet betrachtet und nicht als eine Verdichtung des Kenntnisstandes beurteilt (vgl. z.B. Bowers 2015: 603). Der „Tendenz nach betrachtet man Hirnforschung als eine Gefahr“ (Müller 2005: 91) für das eigene wissenschaftliche Fachgebiet, dessen Eigenständigkeit und Relevanz. Aus manchen neuro-skeptischen Argumentationen spricht die Sorge, mit der eigenen Disziplin in den Schatten einer populären und zudem noch sehr medientauglichen Wissenschaft zu geraten.3

Die große Popularität der Neurowissenschaften (vgl. u.a. Becker 2006, Heinemann 2012) seit der durch den Senat der USA ausgerufenen Decade of the Brain (1990–2000), gefolgt von der Decade of the Mind (vgl. Sambanis 2015: 153), bricht zwar trotz neuro-skeptischer Stimmen nicht ein, aber in letzter Zeit kann ein gewisser Rückgang des Interesses bzw. der Akzeptanz beobachtet werden. Dafür scheinen zwei Gründe maßgeblich zu sein: zum einen die (Omni-)Präsenz der Neurowissenschaften bis hinein in die Alltagswelt, die nach der anfänglichen, durch die Entdeckung der bildgebenden Verfahren ausgelösten Faszination zu einer Sättigung oder gar Übersättigung geführt hat und zum anderen die Kritik an der bisweilen zweifelhaften Art der Übertragung von Erkenntnissen bzw. an den Neurowissenschaften selbst.4

Die Neurowissenschaften entwickelten sich seit den 1990ern zu einer „populäre(n) Wissenschaft“ (Heinemann 2012: 42), die in viele Forschungs- und auch Lebensbereiche hineindrängte bzw. hinzugezogen wurde: Hirnforschung und Rechtsprechung (Haben wir einen freien Willen und wo zeigt er sich?), Hirnforschung und Religion (Warum sind gläubige Menschen resilienter?), Hirnforschung und Partnersuche (Partnerwahl mit Hirnscan?), Neurogastronomie (Können durch Aromen biochemische Prozesse ausgelöst und z.B. Stimmungen beeinflusst werden?) und natürlich gehirngerechtes Lernen – was wie ein Widerspruch in sich klingt, denn womit, außer mit dem Gehirn, sollte man denn lernen? In der Tat kann man sich fragen: Wo wird die Hirnforschung eigentlich noch nicht bemüht und was kommt noch alles? (Sambanis 2015: 154)

Die DistanzierungDistanzierung von den Neurowissenschaften wird u.a. durch die Vorläufigkeit mancher Befunde begründet (vgl. Müller 2005: 91), durch die Frage nach deren Geltungsbereich, der Relevanz ihres Beitrags sowie teilweise durch eine Problematisierung im Hinblick auf die Kompatibilität neurowissenschaftlicher Befunde mit denen anderer Disziplinen bzw. mit der Praxis. Häufig werden von Skeptikern Beispiele aufgegriffen, bei denen sehr beherzt oder vorschnell (teilweise von Befunden, ohne Berücksichtigung von bereits vorliegenden Gegenbefunden) auf andere Bereiche, z.B. die Gestaltung von Unterricht, geschlossen wurde.

Auch die mitunter ungenügende Bewusstmachung der Tatsache, dass das „Wissen der Hirnforschung über Entwicklung und Lernen […] oftmals ein „negatives“ Wissen ist“ (Müller 2009: 59), d.h. dass es sich um Wissensbestände handelt, die nicht am gesunden Gehirn gewonnen wurden, sondern an Gehirnen mit Beeinträchtigungen, wird als Argument gegen eine Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Befunde ins Feld geführt.

Die von Skeptikern vorgebrachten Argumente können keineswegs generell als trivial betrachtet werden, aber sie müssen nicht zwangsläufig zu einer Ablehnung der Neurowissenschaften und zu einem Sich-Verschließen ihren Befunden gegenüber veranlassen. Bowers (2015: 601) bemängelt, educational neuroscience sei unwarrented, misleading und trivial. Im Zuge der Konzeption eines Neuansatzes zur Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Evidenz für die Didaktik kann dieses Urteil, selbst wenn es auf den ersten Blick tendenziell recht pauschal abwertend anmutet, nicht leichtfertig übergangen werden, zumal es vom Autor minutiös untermauert wird.5 Vielmehr sollte es zur kritischen Auseinandersetzung anregen und zu der Frage veranlassen, wie es gelingen könnte, Fehlinterpretationen, mangelnde wissenschaftliche Absicherung und Trivialität als mögliche Störfaktoren ernst zu nehmen und im Bemühen um Qualität nach Kontrollmaßnahmen zu suchen (vgl. 1.1.3).

1.1.2Direkte Aufnahme

Die Gegenposition zur DistanzierungDistanzierung bildet die direkte Aufnahme. Sie ist in der Erziehungs- und Bildungstheorie seit den 1990er-Jahren in der Regel als „eine selektive und sporadische RezeptionRezeption“ (Müller 2005: 85) zu finden. Dabei rückt u.a. der Gedanke des Anreicherns der „Bildungstheorie um empirisches Wissen“ (Müller 2005: 88) in den Fokus, verbunden mit dem Ziel, einem „Bedeutungsverlust“ der Bildungstheorien (Müller 2005: 89) entgegenzuwirken. Die Neurowissenschaften werden hier, anders als von Vertreterinnen und Vertretern der unter 1.1.1 referierten Position, nicht z.B. aus Sorge um den Bedeutungsverlust der eigenen Disziplin abgelehnt, sondern im Gegenteil als Ressource betrachtet, um die eigene Relevanz zu erhöhen.

Eine Auswertung der erziehungswissenschaftlichen Publikationen mit Bezügen zu den Neurowissenschaften veranlasst Becker (2006: 11) dazu, von einer „zunehmenden Rezeptionsbereitschaft“ ab den 1990er-Jahren zu sprechen:

Erste Rezeptionsversuche finden sich seit Anfang der 1990er-Jahre insbesondere im Bereich der Bildungstheorie und der pädagogischen Anthropologie, seit Ende der 1990er-Jahre lassen sich zudem verstärkte Rezeptionsbemühungen hinsichtlich schulpädagogischer, insbesondere unterrichtsmethodischer Fragestellungen beobachten. (ebd.)

Hirnforschung und Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft sowie Didaktik haben „mit dem Lernen einen gemeinsamen Gegenstand“ (Müller 2005: 74, kursiv im Original). Preiß prägt, wie weiter oben schon erwähnt, Ende der 1980er-Jahre, den Begriff der NeurodidaktikNeurodidaktik und regt u.a. seinen Schüler Friedrich dazu an, sich mit „Applikationen [von Wissensbeständen der Hirnforschung] in der Didaktik“ (Müller 2005: 75) auseinander zu setzen. Friedrich (1995) betrachtet sowohl die hier unter 1.1.1 beschriebene DistanzierungDistanzierung, also das Ablehnen und Ausblenden der Neurowissenschaften, als auch eine unreflektierte Akzeptanz als Gefahr: Das Sich-Verschließen vor den Erkenntnissen der Hirnforschung belasse, bildlich gesprochen, den Ball im Feld der Neurowissenschaften und zwar dann, wenn er von der Erziehungswissenschaft und Didaktik zu übernehmen wäre. Das führe dazu, dass sich Nicht-Experten für das institutionalisierte Lernen zuständig fühlten und „kenntnisfrei über pädagogische Sachverhalte“ äußerten (Müller 2005: 75). Viele Befürworterinnen und Befürworter der direkten Aufnahme beurteilen dies kritisch und sehen sich mit ihrer Expertise für pädagogische Sachverhalte in der Pflicht, tätig zu werden und sich sozusagen vor Übergriffen zu schützen – obschon, zumindest bei einer engen Auslegung, die Entlehnung von Wissensbeständen aus den Neurowissenschaften auch als Übergriff gedeutet werden könnte.

Bei unreflektierter Akzeptanz der Neurowissenschaften bestehe die Gefahr darin, „Begriffe und Erkenntnisse im Sinne einer Modeerscheinung […] naiv zu übernehmen“ (Müller 2005: 76). Aber nicht nur mangelndes Verständnis für neurowissenschaftliche Forschung, sondern auch fehlende pädagogische und didaktische Expertise können zu falschen Schlüssen und trivialen Applikationsversuchen führen. In der Tat stellt die Übertragung von einer Disziplin in die andere eine Herausforderung dar, die als Prozess sorgsam gestaltet werden muss. Gleiches gilt für die Übersetzung von Wissenschaft in die Praxis, die, damit ein Anwendungsbezug zum Praxisfeld möglich wird, oftmals dazu zwingt, Hochkomplexes auf eine einigermaßen griffige Formel zu bringen und in verständlicher Sprache zu kommunizieren.

Kritiker von Applikationsbemühungen greifen aus Neurodidaktiken mitunter Passagen heraus, die, zumindest isoliert betrachtet, den Vorwurf der Trivialität stützen. Beispielsweise schreibt Grein (2013: 8) in ihrer NeurodidaktikNeurodidaktik, dass „[z]wei Faktoren für das Lernen eine bedeutsame Rolle [spielen]: einmal das Gehirn bzw. genauer der CortexCortex […] und zum anderen die Neuronen […].“ Aus zwei Gründen mag diese Aussage in Kritikeraugen naiv oder trivial erscheinen: Zum einen besagt sie, dass es zum Lernen ein Gehirn braucht, was in etwa genauso erhellend ist, wie die Feststellung, dass Lungen recht vorteilhaft sind, wenn man gerne atmen möchte. Zum zweiten sind beide genannten Faktoren, nämlich „einmal das Gehirn […] und zum anderen die Neuronen“ (ebd.) unter dem einen Faktor namens Gehirn bereits subsummiert. Analog braucht man zum Atmen die Lungen samt ihren Lungenbläschen, ohne die Bläschen wäre Atmen ein ebenso fruchtloses Unterfangen wie der Versuch, ohne Neuronen im Gehirn lernen zu wollen. Die Tatsache, dass stellenweise solche eher wenig gehaltvollen Aussagen in Neurodidaktiken zu finden sind, muss aber nicht unbedingt als Naivität interpretiert werden, sondern kann – dies ist als Denkimpuls, nicht als Rechtfertigung oder Ausrede gemeint – auch als ein Hinweis darauf gewertet werden, wie schwierig dieses Unterfangen des Übersetzens auf mehreren Ebenen im Grunde ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem Kritikpunkt der geringen Spezifität und hohen Allgemeingültigkeit von manchen Neurodidaktiken: Entweder, die NeurodidaktikNeurodidaktik bezieht sich nur auf einen umgrenzten Gegenstandsbereich, z.B. das Sprachenlernen, bzw. auf einen Bildungsabschnitt (frühe Kindheit, Schulzeit, Erwachsenenbildung, Lernen im Alter) oder sie leitet aus den Forschungsergebnissen eher allgemeingültige „Lehren für die Didaktik“ ab (Müller 2005: 77). Dieser „eher moderaten neurodidaktischen Position“ (ebd.) werden u.a. Preiß und Friedrich zugeordnet, die daneben auch speziell zum Bereich der frühen mathematischen Bildung entwickelnd und publizierend tätig waren (u.a. 2004, 2009).

Im Jahr 2009 erschien die erste Auflage des „Handbuch[s] für den Schulerfolg“, in dem der Professor für zelluläre Neurobiologie Korte u.a. die „sieben Säulen des kindlichen Lernens“ (Korte 2011: 31ff.) herausarbeitet und in gut verständlicher Sprache viel Wissenswertes aus seinem Fachgebiet und angrenzenden Teildisziplinen darstellt. Obschon der Titel nicht ausdrücklich auf eine NeurodidaktikNeurodidaktik schließen lässt und das Buch sich vorrangig an Eltern, richtet,1 enthält es doch zahlreiche, mithin recht konkrete Hinweise, die als pädagogisch oder didaktisch einzuordnen und auch unterrichtsmethodisch nutzbar sind. Beispielsweise rät der Autor, komplexe Aufgaben zu untergliedern (vgl. ebd.: 55), Neues mit bereits Bekanntem zu verknüpfen (vgl. ebd.: 79), Lernen durch Lehren zu ermöglichen (vgl. ebd.: 251) und Methodenwechsel einzuplanen, um damit die Neugierde zu wecken und die Aufmerksamkeit zu erhöhen (vgl. ebd.: 296). Mit Kortes Buch liegt ein weiteres Beispiel für eine moderate Position der direkten ApplikationApplikation vor. Zugleich steht seine Erwähnung an dieser Stelle stellvertretend für jene Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler, die das Übersetzen der Erkenntnisse in das Feld der Erziehung und Bildung selbst übernehmen.

Eine weniger gemäßigte Position vertritt u.a. die Schulpädagogin Arnold, die einen „Paradigmenwechsel“ (2002: 129) fordert und letztlich ein hohes Konkretisierungsniveau anstrebt. Sie nimmt Bezug auf zu jener Zeit aktuelle Erkenntnisse der amerikanischen Gehirnforschung und fordert Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen, nämlich auf Ebene der Lehrkräfteausbildung, der des „gehirngemäße[n] Lernen[s]“ (Arnold 2002: 235) und der der Curriculumsentwicklung. In Aspekte einer modernen NeurodidaktikNeurodidaktik stellt Arnold Kriterien zusammen, die sich ihr zufolge „direkt aus der Gehirnforschung ableiten lassen“ (ebd.: 236). Dazu zählen u.a. „Emotionen als ‚Türöffner‘ “ (ebd.), die Relevanz von „unmittelbarer Gegenwartserfahrung“ (ebd.: 238), die Multiple Intelligences nach Gardner (vgl. ebd.: 239) und der Einfluss der eigenen Persönlichkeit auf das Lernen (vgl. ebd.: 241). Darauf aufbauend zieht sie didaktische Schlüsse in Form von „acht gehirnmäßigen Elementen“, darunter Angstfreiheit, sinnvolle Inhalte, Wahlmöglichkeiten und unmittelbare Rückmeldung (ebd.: 242). Müller (2005: 77f.) kritisiert, dass Arnold sehr schnell zur Frage nach Schlussfolgerungen übergehe ohne die eigene Position zu analysieren.

Als Gegenbeispiel führt er die Allgemeine Pädagogin Scheunpflug an, ebenfalls eine Vertreterin der Aufnahme von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung. Sie stellt fest, dass „die Psychologie oder die Soziologie [schon lange] erklärte Bezugswissenschaften der Erziehungswissenschaft“ seien (Scheunpflug 2000: 47). Anders verhalte es sich mit der Biologie, deren „Erkenntnisse […] für die Pädagogik rezipiert und [ebenfalls] fruchtbar gemacht werden“ sollten (ebd.). Scheunpflug strebt einen „Kompromiss zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit“ (ebd.: 48) an und äußert sich „didaktischen Rezeptologien“ (Müller 2005: 81) gegenüber skeptisch. Dennoch formuliert auch sie im Sinne einer didaktischen Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Wissensbestände zum Zwecke der ApplikationApplikation mehrere Folgerungen, die sie für plausibel erachtet. Schnittmengen finden sich mit anderen neurodidaktisch ausgerichteten Arbeiten, z.B. bei dem Hinweis auf den Einfluss von Emotionen auf Lernprozesse oder bei der Bestätigung der Sinnhaftigkeit des Nutzens unterschiedlicher Lernzugänge.

Allen erwähnten sowie weiteren Vertreterinnen und Vertretern des in diesem Teilkapitel umrissenen Rezeptionsmusters ist gemein, dass sie zumindest einen Teil der von den Neurowissenschaften generierten Befunde für relevant erachten, diese aufschlüsseln und in Lehr-Lern-Kontexten nutzbar machen wollen, wobei das lineare Modell des „Import[s] neurowissenschaftlichen Wissens in die Didaktik“ (Müller 2005: 83, kursiv im Original) zur Anwendung kommt.

Vertreterinnen und Vertreter dieses Vorgehens haben vor allem dazu beigetragen, ausgewählte Befunde ins Licht der Aufmerksamkeit jener zu rücken, die auf unterschiedlichen Ebenen, z.B. in der Bildungspolitik, in Bildungsinstitutionen, in der Lehrkräfteausbildung etc. bis hinein in die Familien, Erziehung und Bildung gestalten. Dieser Beitrag ist, ohne die Begrenzungen des linearen Ansatzes negieren zu wollen, zu würdigen und stellt gewissermaßen wissenschaftshistorisch – falls der Begriff in diesem Zusammenhang als zulässig erscheint – einen wichtigen Meilenstein dar.

Die Kritik an dieser Position setzt bei der Linearität des Vorgehens an, die das neurodidaktische Unterfangen letztlich auf eine Entlehnung von Wissen reduziert, was dazu führt, dass nicht wirklich der Versuch unternommen wird, einen wechselseitigen Dialog in Gang zu bringen. Das Ziel der direkten ApplikationApplikation ist vielmehr das Vorlegen einer „neurowissenschaftlich ausgewiesene[n] Didaktik“ (Müller 2005: 83) oder, je nachdem worin Ausgangspunkt und Ziel liegen, der Versuch einer zumindest augenscheinlichen wissenschaftlichen Absicherung von didaktischen ÜberzeugungenÜberzeugungen, Beliefs oder methodischen Konzepten bzw. unterrichtlichen Impulsen. Diese Intention verfolgten, um ein konkretes Beispiel, in diesem Fall aus der Fremdsprachendidaktik, zu nennen, Vertreterinnen und Vertreter der Suggestopädie. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der beeindruckende Lernerfolge in Aussicht stellt und mit Suggestion zur Steigerung der Gelingenszuversicht der Lernenden sowie dem Induzieren von Entspannungszuständen durch klassische oder barocke Musik arbeitet. Musik soll außerdem als ein „Katalysator für die LangzeitspeicherungLangzeitspeicherung von Wissen“ wirksam werden (Jäncke 2008: 203). Um die Glaubwürdigkeit des Ansatzes und den Marktwert zugehöriger Produkte zu erhöhen, wurden neurophysiologische und neuropsychologische Befunde entlehnt. Die direkte Anwendung ist in diesem und ähnlichen Fällen sehr kritisch als Legitimationsversuch durch Befunde der Hirnforschung, als Bemühen um Aktualität und als Erhöhung der Attraktivität durch den Anstrich der Wissenschaftlichkeit zu deuten. Sie stellt ein Beispiel für die – ohne Euphemismus formuliert – „Instrumentalisierung neurowissenschaftlicher Wissensbestände“ (Müller 2005: 84) dar. Dabei ist in der Regel in solchen Fällen das Vorgehen höchst selektiv, d.h. es wird ausschließlich nach Befunden gesucht, die die eigene Position stützen und diese werden isoliert dargestellt, was ethisch fragwürdig erscheint, dem Ansehen der eigenen Disziplin schadet und mitunter auch die Glaubwürdigkeit neurowissenschaftlicher Evidenz in Mitleidenschaft zieht (vgl. Sambanis 2015: 157). Auch die Vorläufigkeit mancher Befunde – die Neurowissenschaften sind überaus forschungsaktiv, das Feld ist hochdynamisch und die Erforschung des Lernorgans Gehirn noch lange nicht abgeschlossen2– wird in solchen Fällen selten in der gebotenen Weise berücksichtigt. Im Hinblick auf die Suggestopädie kommt daher der Musikneurologe Jäncke (2008: 233–234) zu folgendem Schluss: „Die von der Suggestopädie und verwandten Methoden propagierte Wirkung von passivem Musikhören auf das Lernen (vielfältiger Inhalte) hält keiner ernsten wissenschaftlichen Überprüfung stand. […] Auch die immer wieder propagierte Wirkung des passiven Hörens von Barockmusik auf das Lernen ist wissenschaftlich nicht bestätigt.“3

Auf der Basis der mit der direkten ApplikationApplikation in den zurückliegenden Jahren gewonnenen Erfahrungen ist es möglich, Überlegungen zu einer Weiterentwicklung der neurodidaktischen Vorgehensweise anzustellen. Als Ansatzpunkt dafür soll das dritte Rezeptionsmuster dienen.

1.1.3Kritische Übersetzung und Begründung der angestrebten Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik

Die „kritische Übersetzung“ (Müller 2005: 102) beschreibt eine Herangehensweise, die darauf basiert, „den Neurowissenschaften sowohl aufgeschlossen als auch kritisch gegenüber[zu]stehen“ (ebd.).1 Eine kritische Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften kann jedoch nur gelingen, wenn man mit deren Methoden, den Forschungszugängen, Designs usw. vertraut ist, sodass auf dieser Basis eine fundierte Einschätzung möglich wird. Zugleich bedarf es bei der kritischen Übersetzung einer ebenso soliden Kenntnis des Feldes der Didaktik bzw. der Erziehungswissenschaft, je nachdem, worauf die Übersetzung zielt.

Während Applikationen und Integrationen suggerieren, neurowissenschaftliches Wissen ließe sich bruchlos in pädagogisches Wissen übertragen, werfen kritische Übersetzungen die Frage auf, was die Neurowissenschaften selbst nicht in den Blick bekommen, für eine pädagogisch sinnvolle RezeptionRezeption aber unabdingbar ist. (Müller 2005: 103)

Um das in den Blick nehmen zu können, was außerhalb des Feldes der Neurowissenschaften liegt, scheinen zwei Maßnahmen von Bedeutung zu sein: zum einen der wechselseitige Dialog, zum anderen wäre ein Beitrag der Didaktik im Sinne von translationaler Forschung wünschenswert. Die Didaktik verfolgt keineswegs nur das Ziel, Unterrichtsimpulse hervorzubringen, sondern sie ist eine forschende Disziplin und als solche in der Lage, zu einer kritischen Übersetzung beizutragen sowie Fragen zu konkretisieren, deren Beantwortung auf interdisziplinärinterdisziplinär kumulativem Weg erfolgversprechend erscheint. Dort, wo die Expertise der Gehirnforschung endet, können Didaktik, Erziehungswissenschaft etc. ansetzen, und die Anwendbarkeit bzw. Aussagekraft von Erkenntnissen der Neurowissenschaften in Lehr-Lern-Kontexten insbesondere mittels Studien im Praxisfeld prüfen.2 Ebenso ist es möglich, dass didaktische Studien Fragen aufwerfen, deren Klärung unter Mitwirkung der Neurowissenschaften vorangebracht werden könnte. Auf diese Weise lassen sich neurowissenschaftliche und didaktische Erkenntnisse koppeln (TranslationTranslation zwischen den Disziplinen) und der Gefahr des rein intuitiven Übersetzens von Erkenntnissen der Hirnforschung in die Unterrichtspraxis entgegenwirken (Translation zwischen Wissenschaft und Praxis). Auf der Grundlage von zusammengeführten Wissensbeständen kann entschieden werden, „ob in einem weiteren Schritt Hinweise für die Unterrichtsgestaltung formuliert […] werden können“ (Sambanis 2015: 157).

Der vorliegende Band sucht nach verfügbaren Wissensbeständen, die für die Gestaltung von Unterricht, verstanden als effektive Intervention, bedeutsam erscheinen. Im Zuge der Auseinandersetzung werden auch Forschungsbedarfe, insbesondere solche für translationale Forschung, benannt. Eine planvolle Verbindung von Neurowissenschaften und Didaktik, die im Zuge der Interpretation von Befunden und des Aufschlüsselns für die Praxis auch Befunde weiterer Disziplinen in den Blick nimmt, könnte sich gegebenenfalls sogar zu einer Disziplin entwickeln, die als Ergänzung zu den einzelnen Fachdidaktiken und als ein Bindeglied zwischen Didaktik und Neurowissenschaften fungiert.

Neurodidaktiken fokussieren in der Regel die Frage nach dem Wie?, also streng genommen die der Unterrichtsmethodik.3 Während die Hirnforschung als „natural science“ (Willingham 2008: 544) forscht, um beschreiben zu können, gehen die Erwartungen an eine NeurodidaktikNeurodidaktik in eine andere Richtung: Sie soll Orientierung geben, Entscheidungen zumindest erleichtern, wenn nicht sogar abnehmen.

Das Abnehmen von Entscheidungen erscheint uns als Autorinnen problematisch, denn es vereinfacht komplexe Zusammenhänge oftmals auf unzulässige Weise, reduziert sie auf die eine, vermeintlich richtige Lösung und das gesamte komplexe Gefüge pädagogischen Handelns auf ein scheinbar einfaches kausales Schema: Wenn man Unterrichtsmethode A anwendet, bekommt man B als Effekt. Dennoch würde ein Werk wie das vorliegende sein Ziel verfehlen, würde nicht der Versuch unternommen, mögliche Schlussfolgerungen für die Handlungsebene zumindest zu diskutieren. Die Verfasserinnen von Didaktik und Neurowissenschaften sind sich des Balanceakts zwischen geforderter Konkretisierung und gebotener Vorsicht sowie notwendiger Offenheit bewusst und möchten, statt fertiger Rezepte, Möglichkeiten in den Vordergrund stellen, die im Dialog zwischen Praktikerinnen und Praktikern sowie zwischen Praxis und Wissenschaft entwickelt werden. Es sollen Anstöße gegeben werden zum Dialog, zum Weiterdenken der Impulse, zum weiteren Erforschen und zum Abgleich mit Erfahrungen. Als Kontrollmaßnahme gegen den Sog der Rezeptorientierung, wählt der vorliegende Band das Format der Praxisfenster:

 PraxisfensterPraxisfenster:4 Zwei Lehrkräfte, eine Didaktikerin und eine Neurowissenschaftlerin tauschen sich in einem fiktiven Kommunikationsprozess aus:5

Peter ist Lehrer an einem Gymnasium und verfügt über langjährige Erfahrung.

Claudia hat vor kurzem ihre erste Stelle als Lehrerin an einer Grundschule angetreten.

Dianne ist Fremdsprachendidaktikerin, lehrt und forscht an einer Universität. Sie ist in der Lehrkräfteaus- und fortbildung tätig und sehr an Knotenpunkten in Wissensbeständen unterschiedlicher Disziplinen interessiert.

Gesa ist Neurowissenschaftlerin. Sie legt Wert darauf, dass die generierten Erkenntnisse diffundieren, am besten auf dem Weg des Dialogs aufgeschlüsselt und genutzt werden können.

Der Text des Buches außerhalb der PraxisfensterPraxisfenster lässt sich wie das Skript zu einer Fortbildungsveranstaltung lesen. An größere Sinnabschnitte, die eine unmittelbare Bezugnahme auf die Praxis nahelegen, schließt sich ein Praxisfenster an. Hier treten die genannten vier Personen in einen Dialog: Kernbotschaften aus dem vorher Referierten werden zusammengefasst, kurz, möglichst verständlich und prägnant diskutiert. Offene Fragen werden im wechselseitigen Dialog zwischen den Disziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis aufgegriffen. Sich abzeichnender Forschungsbedarf und blinde Flecken werden zumindest exemplarisch angesprochen, Fragen der Praxis an die Forschung und der Forschung an die Praxis gestellt. Darüber hinaus wird innerhalb dieses Dialogs ausgelotet, wo Praktikerinnen und Praktiker Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen ihrem Erfahrungswissen und den referierten Erkenntnissen sehen. Außerdem werden Vorschläge gemacht und diskutiert, welche möglichen Schlüsse sich für die Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse ziehen lassen, welche Impulse generiert werden können, ohne diese als allgemeingültige Rezepte verstehen zu wollen.

Das Einrichten der PraxisfensterPraxisfenster ermöglicht es, die verschiedenen Betrachtungsebenen – Ebene der Erkenntnisse, Ebene möglicher Applikationen – textgestalterisch immer wieder voneinander zu trennen. Trotzdem können beide Ebenen inhaltlich im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und eines evidenzbewussten Fokussierens und Reflektierens der Praxis (evidence-aware, vgl. Biesta 2011: 98) aufeinander bezogen werden. Dadurch soll mehr Gewicht auf die geforderte Diskussion in both directions (The Royal Society 2011: 18) gelegt werden und zwar, wie gesagt, zum einen im Sinne einer Diskussion zwischen den Wissenschaften, wobei die Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik eine Hauptachse bildet und im Feld der Didaktik ein Schwerpunkt auf die Fremdsprachendidaktik gelegt wird, was aber die Bezugnahme auf Befunde anderer Fachdidaktiken nicht ausschließt. Zum anderen soll ein wechselseitiger Dialog auch zwischen Forschung und Praxis geführt werden. Die Praxisfenster verstehen sich in diesem Sinne auch als Impulsgeber, um die Diskussion z.B. in Seminaren, bei Tagungen oder Fortbildungsveranstaltungen weiter zu tragen, denn die Praxisfenster müssen gezwungenermaßen exemplarisch und überschaubar bleiben.

Wie später noch ausgeführt wird (vgl. Infobox Kap. 3), können viele der im PraxisfensterPraxisfenster vorgeschlagenen Unterrichtsimpulse in Aktionsforschungsprojekten (vgl. Altrichter et al. 2006) von Praktikerinnen und Praktikern sowie Studierenden, wenn diese z.B. im Rahmen des Praxissemesters ein Lernforschungsprojekt durchzuführen haben, hinsichtlich ihrer Eignung, Akzeptanz durch die Lerngruppe und der intendierten Effekte im Praxisfeld beleuchtet werden. Dadurch können zu einzelnen praxisrelevanten Fragestellungen im Unterricht mit oftmals überschaubarem Aufwand Erkenntnisse generiert werden, die, in ihrer eigenen Art und Weise und mit dem jeweils angemessenen Geltungsbereich, als komplementär zu den Erkenntnissen der Neurowissenschaften betrachtet werden können. 6

Der vorliegende Band verfolgt nicht das Ziel, eine bestimmte Unterrichtsmethode zu legitimieren oder zu propagieren. Vielmehr begeben sich die Autorinnen unvoreingenommen auf Spurensuche nach Wissensbeständen, die für das Lehren und Lernen, insbesondere in institutionalisierten Kontexten, bedeutsam erscheinen. Dabei werden Schwerpunkte gesetzt, die einerseits grundlegende Aspekte des Themas Lehren und Lernen fokussieren, andererseits werden aber auch Schlaglichter gesetzt auf Einzelfragen, die das pädagogische Handeln und ein planvolles Innovieren von Unterricht betreffen. Einige Informationen werden, vom sonstigen Text graphisch abgesetzt, in InfoboxenInfobox bereitgestellt. Sie enthalten vertiefende bzw. ergänzende Informationen oder erläutern Hintergründe.

Als Autorinnen haben sich zwei Wissenschaftlerinnen zusammengetan, die im Bereich der interdisziplinäreninterdisziplinär und auf TransferTransfer ausgerichteten Forschung bereits seit Jahren tätig sind. Gemeinsam decken sie mit ihrer Expertise das Spektrum dessen, was für eine sich aus kritischer RezeptionRezeption speisende Verbindung von Neurowissenschaften und Didaktik samt Verankerung eines wechselseitigen Dialogs unverzichtbar erscheint, wie folgt ab: Neurobiologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Fremdsprachendidaktik sowie langjährige Tätigkeit als Lehrkraft, in der Lehrkräfteausbildung sowie im Coaching und der wissenschaftlichen Begleitung von Bildungseinrichtungen.

Didaktik und Neurowissenschaften lädt zu einer Spurensuche ein, die von Interesse und NeugierNeugier getragen ist, sich um eine kritische Auseinandersetzung mit Wissensbeständen sowie um ein Zusammenführen von Erkenntnissen bemüht und die sich bei der Frage nach Konsequenzen für die Praxis und beim Abgleich mit Praxiserfahrungen statt der Rezeptorientierung dem divergenten Denken verpflichtet fühlt.

Ausgewählte Literaturhinweise

Blakemore, S.-J. & Frith, U. (2006): Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. München: Deutsche Verlags-Anstalt.

Müller, T. (2005): Pädagogische Implikationen der Hirnforschung. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Diskussion in der Erziehungswissenschaft. Berlin: Logos.

2. Gehirn und Hirnentwicklung

In diesem Kapitel werden die grundlegenden Prinzipien des Gehirns vorgestellt. Allerdings reicht es für unsere Zwecke nicht aus, das „fertige“ Gehirn von Erwachsenen zu betrachten, allein schon deshalb, weil sich sehr viele Lehr-Lernarrangements und didaktische Vorgehensweisen an junge, sich entwickelnde Menschen richten. Hinzu kommt, dass sich viele LernprozesseLernprozesse besser verstehen und einordnen lassen, wenn man die Entwicklung des Gehirns berücksichtigt. Jeder neue Lerninhalt bringt eine (mehr oder weniger große) Umstrukturierung des Gehirns mit sich. Die dabei wirkenden Mechanismen werden durch die Betrachtung der Hirnentwicklung sehr deutlich. Der Schwerpunkt der Darstellungen liegt daher auf der Beschreibung der Entwicklung des Gehirns.

Sowohl das Gehirn an sich als auch sein Entwicklungsprozess ist ein faszinierendes Wunder der Natur. Mitunter wird kritisiert, Wissenschaft „entzaubere“ die Welt, beraube sie ihrer „Magie“ und reduziere das Wunder des Lebens auf physikalische, chemische und biologische Zusammenhänge. Für das Gehirn und seine Entwicklung besteht das Risiko einer solchen Entzauberung nicht. Vielmehr ist das Gehirn eine Welt, die mindestens ebenso wundersam ist wie das Wunderland, in dem Alice ihre Abenteuer erlebte (vgl. Carroll 1999).

2.1Ein Gehirn entsteht: Von einer dünnen Zellschicht zur komplexen Struktur

Das menschliche Gehirn enthält ein kompliziertes Geflecht aus etwa 86 Milliarden NervenzellenNervenzellen (vgl. Azevedo et al. 2009).1 Diese Zahl ist so groß, dass man sie sich schlicht nicht vorstellen kann. Würde man für jede Nervenzelle eine 1-Euro-Münze nehmen und die Münzen wie Perlen auf eine Kette auffädeln, dann wäre die Kette so lang, dass sie fünf Mal um die Erde herumreichte.2

Eine andere Möglichkeit, ein Gefühl für die enorme Anzahl an NervenzellenNervenzellen zu entwickeln, ist es, sich zu verdeutlichen, dass während der Schwangerschaft ab der 4. Woche (das ist der Zeitpunkt, ab dem Gehirn und RückenmarkRückenmark angelegt sind) bis zur Geburt pro Minute etwa 250.000 Nervenzellen gebildet werden. Umgerechnet bedeutet das: In jeder einzelnen Sekunde entstehen durchschnittlich etwas über 4000 neue Nervenzellen. Linderkamp, Janus et al. (2009) fassen diesen Vorgang so zusammen:

Das fetale Gehirn entwickelt sich in wenigen Wochen aus einer dünnen Zellschicht zu einem gigantischen und komplexen NetzwerkNetzwerk mit Milliarden von NervenzellenNervenzellen (NeuronenNeuronen) und Billionen von Verbindungen (SynapsenSynapse).

 

Während dieser Zeit entstehen:

das RückenmarkRückenmark voller Neurone, die Signale an die Muskulatur leiten und solchen, die Informationen von den Tastsinneszellen auf unserer Körperoberfläche aber auch aus unserm Körperinneren weiterleiten,

der HirnstammHirnstamm, der RückenmarkRückenmark und Groß- und KleinhirnKleinhirn verbindet und lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Herzschlag und Reflexe wie den Hustenreflex steuert,

das Zwischenhirn, das mit dem ThalamusThalamus eine wichtige Umschaltstation für Informationen von den Sinnesorganen beheimatet und mit dem HypothalamusHypothalamus und der HypophyseHypophyse das Bindeglied zwischen Nervensystem und Hormonhaushalt bildet,

das KleinhirnKleinhirn, dessen dichtgepackte Neurone Bewegungskoordination und Gleichgewicht steuern,

und das Großhirn, das wir in seiner Entwicklung im Folgenden genauer betrachten wollen.

Die vielen Neurone, die später unsere GroßhirnrindeGroßhirnrinde (den CortexCortex) bilden, unsere berühmten „grauen Zellen“, werden von StammzellenStammzellen gebildet, die in einem sehr dünnen Häutchen auf der Innenseite einer bläschenartigen Struktur liegen, aus der sich später einmal das Gehirn entwickelt. Die Stammzellen teilen sich unablässig und bilden Zellen, aus denen sich NervenzellenNervenzellen entwickeln, aber auch weitere Stammzellen. Die neu entstandenen, noch unreifen Nervenzellen, die sogenannten NeuroblastenNeuroblasten, können nicht in dem dünnen Häutchen bleiben, in dem sie „geboren“ wurden. Der Platz ist von den Stammzellen bereits belegt. Also begeben sich die Neuroblasten auf Wanderschaft, um zu der Stelle der Hirnrinde zu gelangen, an der sie später als Neurone ihre Arbeit verrichten sollen. Wie bei den großen Wanderbewegungen der Menschheit auch, nennt man diesen Vorgang MigrationMigration. Allerdings finden die jungen Neuroblasten ihren Weg nicht alleine. Vielmehr erhalten sie bei ihrer Wanderschaft zum ersten Mal in ihrem Leben Unterstützung durch sogenannte Gliazellen. Eigentlich ist der Begriff Gliazellen recht unspezifisch: Man fasst darunter all jene Zellen des Gehirns zusammen, die eben nicht Nervenzellen sind. Gliazellen sind wichtige Helfer und Unterstützer der Nervenzellen. Sie haben sehr unterschiedliche Formen und vielfältige Aufgaben. Im menschlichen Gehirn gibt es etwa ebenso viele Gliazellen wie Nervenzellen (vgl. Azevedo et al. 2009). Sie versorgen die Nervenzellen mit Nährstoffen, halten die Umgebung sauber und frei von Krankheitserregern, dienen als Schutz und Stützgewebe, unterstützen die Kommunikation der Nervenzellen untereinander usw.

Die ersten Gliazellen, die den NeuroblastenNeuroblasten bei ihrer Wanderung helfen, sind langgestreckte RadialgliazellenRadialgliazellen, deren eines Ende bis in die Schicht ragt, in der die Neuroblasten entstehen und deren anderes Ende an der Außenseite der späteren GroßhirnrindeGroßhirnrinde angeheftet ist. So liegen die Radialgliazellen wie die Speichen eines Rades nebeneinander und durchziehen alle Schichten der künftigen Großhirnrinde. Die jungen Neuroblasten hangeln sich entlang dieser Speichen an ihren Bestimmungsort. Dazu wandern sie so lange, bis sie in eine Schicht kommen, die noch nicht von anderen, früher geborenen NervenzellenNervenzellen besetzt ist.3 Dort angekommen, entwickeln sie ihre endgültige Form und werden zu erwachsenen Nervenzellen, den NeuronenNeuronen.

2.2Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales NetzwerkNetzwerk wächst zusammen

Zum „Erwachsenwerden“ von NervenzellenNervenzellen gehört es, dass sie Verbindungen zu anderen Nervenzellen ausbilden. Sie verknüpfen sich zu einem riesigen neuronalen NetzwerkNetzwerk aus Nervenfasern und SynapsenSynapse (Verbindungsstellen). Dieses Netzwerk bildet die Grundlage aller Hirnfunktionen, egal ob Wahrnehmung, DenkenDenken, Lernen, die Steuerung von Handlungen oder auch automatische und unwillkürliche Prozesse. Über die Synapsen sammeln Neurone Informationen und geben sie weiter. Veränderungen und Umbau der Synapsen setzen sich während des gesamten Lebens fort.

Um SynapsenSynapse mit anderen NervenzellenNervenzellen aufzubauen, bilden Neurone verschiedene Arten von Ausläufern aus. Die Ausläufer, die Informationen von anderen Nervenzellen einsammeln, also sozusagen die „Antennen“, nennt man DendritenDendriten. Dendriten bilden Verästelungen, die je nach Lage im Gehirn und künftiger Funktion des NeuronsNeuronen eine sehr unterschiedliche Form haben (Abb. 1).

Abb. 1: Abbildung von zwei NeuronenNeuronen. Je nachdem, wo sie im Gehirn lokalisiert sind und wie sie Informationen aufnehmen und verarbeiten, bilden NervenzellenNervenzellen unterschiedlich geformte Dendritenbäume aus. DendritenDendriten sind Zellfortsätze von Neuronen, über die Signale von anderen Nervenzellen oder von Sinneszellen aufgenommen werden. Über das AxonAxone werden Signale an andere – auch weiter entfernt liegende – Neurone weitergegeben. Axone können unterschiedlich lang sein und Verzweigungen aufweisen. Die Endigungen der Axone werden als Axonterminalen bezeichnet.

Um Informationen weiterzugeben, entwickeln NeuronenNeuronen einen mehr oder weniger langen Fortsatz, das AxonAxone. Über die Axone laufen die Informationen im Nervensystem in Form elektrischer Impulse. An ihrem Ende sind Axone mal stärker, mal weniger verzweigt und bilden den Kontakt mit einem oder mehreren DendritenDendriten oder der Zelloberfläche eines nachgeschalteten Neurons aus (oder auch mit einem Muskel oder einer Drüse). Auch in der Länge und Verzweigung ihrer Axone unterscheiden sich Neurone je nach Lage und Funktion. Damit auch lange Axonfäden ihren Weg finden und z.B. verschiedene Hirngebiete miteinander vernetzen können, sind sie wieder auf die Hilfe von Gliazellen angewiesen. Einige Gliazellen liegen wie Streckenposten an bestimmten Stellen im Gehirn und „weisen“ die auswachsenden Axone in eine bestimmte Richtung, andere locken Axone über chemische Botenstoffe an oder geben Substanzen ab, die als eine Art „Schreckstoff“ verhindern, dass Axone in die falsche Richtung wachsen. So wird sichergestellt, dass die heranwachsenden Neurone sich in der richtigen Art und Weise miteinander verbinden.

Abb. 2: Die Axonterminale (blau) bilden mit der Oberfläche eines Informationen empfangenden NeuronsNeuronen (nachgeschaltetes Neuron, rosa) Verbindungsstellen, die sogenannten SynapsenSynapse. Nervenimpulse laufen über das AxonAxone bis zur Synapse und lösen dort die Ausschüttung von Neurotransmittern aus. Wird (über alle Synapsen zusammen) ausreichend NeurotransmitterNeurotransmitter ausgeschüttet, entsteht im nachgeschalteten Neuron ein elektrischer Impuls, der über das Axon des nachgeschalteten Neurons (nicht abgebildet) erneut weitergegeben wird.

2.1 Warum chemische SynapsenSynapse?

Neurone leiten Informationen in Form elektrischer Signale, der sogenannten AktionspotentialeAktionspotential, teilweise über weite Strecken. Die Übertragung der Aktivität erfolgt aber in den meisten Fällen nicht direkt, indem der elektrische Impuls zwischen NeuronenNeuronen überspringt.1 Vielmehr führt der elektrische Impuls, der über ein AxonAxone zur SynapseSynapse läuft, dazu, dass am Ende des Axons Botenstoffe (NeurotransmitterNeurotransmitter) ausgeschüttet werden. Die DendritenDendriten der nachgeschalteten NervenzelleNervenzellen (und evtl. auch noch andere Stellen auf ihrer Zelloberfläche) nehmen den Neurotransmitter über Rezeptoren auf, die in der Synapse lokalisiert sind. In Abhängigkeit von der Menge des Neurotransmitters öffnen sie einige oder viele Kanäle in der Zelloberfläche. Durch diese Kanäle strömen positiv geladene (Natrium-)Ionen in die Nervenzelle ein und verändern die elektrische Spannung zwischen Innenseite und Außenseite der Nervenzelle. Wenn das an mehreren Stellen der Zellmembran geschieht, strömt so viel Natrium in die Zelle ein, dass ein neuer elektrischer Impuls in die Informationen empfangenden Zelle ausgelöst wird, der dann als sogenanntes Aktionspotential über das Axon der Nervenzelle wieder an weitere Neurone geschickt wird. Auf diese Weise wechseln sich elektrische und chemische Signale ab, wenn Informationen zwischen Nervenzellen weitergegeben werden. Die Umwandlung braucht einige Zeit und beeinflusst die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Nervensystems deutlich. Wo aber liegt der Vorteil dieser komplizierten und zeitraubenden Umwandlung der Signale?

Zum einen sind chemische SynapsenSynapse gut regulierbar. Eine Reduktion oder Anhebung der im AxonAxone verfügbaren Neurotransmittermenge hat umgehend Einfluss auf die Intensität der weitergegebenen Signale. Andere Stoffe z.B. HormoneHormone oder Botenstoffe, die von anderen NeuronenNeuronen oder Gliazellen ausgeschüttet werden, können die Wirkung von Neurotransmittern verstärken oder verringern. Eine solche Feinregulierung ist bei direkter elektrischer Übertragung nicht möglich.

Zum zweiten können chemische SynapsenSynapse ihre Übertragungseigenschaften durch Umbau langfristig und dauerhaft verändern. Diese Fähigkeit zum Umbau wird als synaptische PlastizitätPlastizität bezeichnet. Sie ist die Grundlage von Lernprozessen und erlaubt es, neue Erfahrungen und Lerninhalte im Gehirn zu verankern, indem Synapsen vergrößert werden. Von den größeren Synapsen werden Nervenimpulse schneller und effektiver weiterleitet. In diesen Verbindungen zwischen NervenzellenNervenzellen ist das Wissen repräsentiert und kann durch AktivierungAktivierung des entsprechenden Nervennetzes abgerufen werden.

Bei der Geburt eines Menschen sind die meisten NeuronenNeuronen bereits vorhanden. Auch grundlegende Verbindungen sind bereits angelegt, darunter die Verbindungen zwischen verschiedenen Arealen der GroßhirnrindeGroßhirnrinde, Verbindungen von den Sinnesorganen zur Großhirnrinde2 und von der Großhirnrinde über das RückenmarkRückenmark zur Muskulatur.

Ab der Geburt nimmt die Anzahl der SynapsenSynapse in der GroßhirnrindeGroßhirnrinde rasant zu (vgl. Casey et al. 2005). Das bedeutet, dass sich die VernetzungVernetzung zwischen den NervenzellenNervenzellen sinnvollerweise überwiegend erst nach der Geburt vollzieht, denn so hat das Gehirn die Möglichkeit, seine Vernetzung auf die vorhandene Umwelt auszurichten. Unter diesem Aspekt ist es auch alles andere als verwunderlich, dass der motorische Cortexmotorischer Cortex, also der Teil der Großhirnrinde, der Signale an die Muskulatur sendet, um willkürliche Bewegungen zu erzeugen, bei der Geburt bereits eine intensive Vernetzung aufweist (vgl. Casey et al. 2005). Schließlich hat sich das Kind im Mutterleib schon viele Male bewegt. Ähnlich ist es beim sogenannten somatosensorischen Cortexsomatosensorischer Cortex, der Berührungs- und Tasteindrücke verarbeitet, u.a. eben die Berührung mit Fruchtblase oder Nabelschnur, aber auch die Eindrücke, die entstehen, wenn das Kind sich selbst berührt. Diese beiden Gehirngebiete sind in Abb. 3 dunkelrot und dunkelblau gefärbt. Direkt nach der Geburt folgt die Zunahme der Vernetzung der Hirngebiete, die Signale von Auge und Ohr erhalten, des primären visuellenvisuellCortexCortex (SehcortexSehcortex, pink in Abb. 3) und des primären auditorischenauditorisch Cortex (HörcortexHörcortex, dunkelgrün in Abb. 3). Zwar gibt es im Mutterleib schon viel zu hören und auch ein bisschen was zu sehen, aber diese Sinneseindrücke unterscheiden sich von dem, was ein Säugling nach der Geburt wahrnimmt. Der primäre Hörcortex und der primäre Sehcortex, die als erste Areale der Großhirnrinde die Signale der jeweiligen Sinnesorgane empfangen,3 haben zum Zeitpunkt der Geburt knapp die Hälfte der Verbindungen erstellt, die während des Reifungsprozesses zwischen den NeuronenNeuronen gebildet werden und erreichen die höchste Anzahl an Verbindungen, wenn das Kind etwa sechs Monate alt ist (vgl. Huttenlocher & Dabholkar 1997).

Abb. 3: Seitenansicht der linken Großhirnhälfte. Das GroßhirnCortex ist in vier Bereiche unterteilt: FrontallappenFrontallappen (auch Stirnlappen, rot), ParietallappenParietallappen (Scheitellappen, blau), TemporallappenTemporallappen (Schläfenlappen, grün) und OkzipitallappenOkzipitallappen (Hinterhauptslappen, pink/rosa). Im Frontallappen (hier links abgebildet) finden schwerpunktmäßig Prozesse statt, die mit Handlungen und Bewegungen im Zusammenhang stehen, die anderen Bereiche dienen überwiegend der Verarbeitung und Analyse von Sinnesinformationen. Die primären Arealeprimäre Areale, also die Ein- und Ausgangsgebiete des Cortex sind in dunklen Farben gekennzeichnet (motorisch: rot, somatosensorisch/taktil: blau, auditorischauditorisch: grün, visuellvisuell: pink, die olfaktorischen und gustatorischen Areale liegen weiter unten bzw. innen im Großhirn und sind daher in dieser Seitenansicht nicht erkennbar).

Beim erwachsenen Menschen unterscheiden sich die Regionen der GroßhirnrindeGroßhirnrinde sowohl in ihrer Funktion als auch in ihrem zellulären Aufbau, z.B. in der Dicke bestimmter Schichten oder der Häufigkeit bestimmter Neuronentypen (vgl. Brodmann 1909). Während ihrer Entstehung dagegen sind die kortikalen Regionen einander noch sehr ähnlich und im Prinzip könnte jeder Cortexbereich jede Art von Information verarbeiten. Welche Aufgabe eine Hirnregion letztlich übernimmt, hängt davon ab, welchen Input sie bekommt. Manche Cortexregionen erhalten als Input die Informationen von einem Sinnesorgan, andere haben als Eingangssignal bereits vorverarbeitete Sinnesinformationen oder auch schon vollständig verarbeitete Eingänge aus mehreren Sinnessystemen, die die entsprechende Cortexregion dann zu „Gesamteindrücken“ zusammenfügen kann. Je nachdem, welche Art von Input eine Region erhält, entwickeln sich die NervenzellenNervenzellen und ihre Verbindungen unterschiedlich. Aber nicht nur das Eingangssignal hat Einfluss auf die Funktion eines Hirngebietes. Es ist auch notwendig, dass das Ergebnis der Arbeit einer Nervenzelle sozusagen einen Empfänger hat, der etwas damit anfangen kann. Dieser Empfänger ist eine andere Nervenzelle, entweder im selben Hirngebiet oder in einer anderen, sogenannten nachgeschalteten Hirnregion, die die Ausgangssignale der ersten Hirnregion erhält. Die groben Verbindungen zu der Region, die das Ausgangssignal erhält, sind durch GeneGene und die darauf aufbauenden Entwicklungsprozesse bereits festgelegt (vgl. Infobox 2.3). Wie aber weiß eine Nervenzelle, dass ihre Botschaft empfangen wurde?

Der gesamte Vorgang lässt sich am einfachsten an einem Beispiel erklären: Angenommen, eine NervenzelleNervenzellen im primären visuellenvisuellCortexCortex, also in der Sehrinde, erhält über den ThalamusThalamus ein Eingangssignal von einer Sinneszelle des Auges. Sie reagiert beispielsweise auf rotes Licht. Auf ein einzelnes Eingangssignal reagiert unsere Nervenzelle zunächst noch nicht.4 Wenn aber gleichzeitig oder auch kurz nacheinander mehrere Impulse eintreffen, ist das ein Hinweis darauf, dass „da draußen etwas ist“. Unser NeuronNeuronen erzeugt daraufhin selbst einen elektrischen Impuls, den es als Signal „rotes Licht gesehen“ über das AxonAxone an andere, nachgeschaltete Nervenzellen weiterschickt.

Der NervenzelleNervenzellen ist, bildlich gesprochen, natürlich nicht bewusst, dass sie gewissermaßen eine Entscheidung gefällt hat. Vielmehr haben die Eingangssignale dazu geführt, dass ein AktionspotentialAktionspotential gebildet wurde, das über das AxonAxone der Nervenzelle u.a. an die benachbarten Neurone weitergeleitet wird (vgl. Infobox 2.1). Dieses Aktionspotential ist ein Signal für die benachbarten Neurone, die möglicherweise ebenfalls auf rotes Licht reagieren. Auf diese Weise bestätigen benachbarte Zellen sich gegenseitig, dass sie dieselbe Information erhalten haben. Ein solcher Abgleich ist nützlich, wenn man in seiner Wahrnehmung sicherer, schneller und genauer werden will. Da die Verbindungen wechselseitig sind, hat die Nervenzelle nicht nur die Information bestätigt, sondern auch eine Bestätigung für ihr Signal erhalten. Außerdem wird das Signal an Nervenzellen im nachgeschalteten Hirngebiet geschickt. Dabei erhalten die nachgeschalteten Nervenzellen nicht nur Impulse von der einen Nervenzelle, sondern auch von weiteren. So kann man sich vorstellen, dass einige der nachgeschalteten Nervenzellen nicht nur die Information „rot“ sondern auch noch die Informationen „rund“ und „ungefähr 8–12 cm groß“ erhalten. Diese würden dann bevorzugt auf rote Äpfel aber auch auf kleine rote Bälle reagieren. Diese Zellen geben nun die Information „kleines, rotes, rundes Objekt“ wiederum an andere Hirngebiete weiter, die vielleicht zusätzliche Informationen über den kleinen braunen Stiel des Apfels oder den braunen Blütenrest erhalten (unimodale Assoziationsarealeunimodale Assoziationsareale) oder gar Informationen zum Geruch, der Glattheit einer typischen Apfelschale oder zum Geschmack (multimodale Assoziationsarealemultimodale Assoziationsareale). Zusätzlich geben die Neurone aber auch Signale an die vorgeschalteten Hirngebiete zurück. Das Gehirn ist keine „Einbahnstraße“, sondern Informationen laufen in der Regel in beide Richtungen.

 

2.2 Woher wissen eigentlich die Cortexgebiete, was ihre Aufgabe ist?

 

Mit der Ausbildung der größtmöglichen Anzahl an Verbindungen zwischen den NervenzellenNervenzellen ist ein Gehirngebiet aber noch längst nicht fertig mit seiner Entwicklung. Das Gehirn funktioniert nämlich nicht dann am besten, wenn möglichst viele Verbindungen bestehen, sondern dann, wenn die richtigen Verbindungen gut und stark ausgeprägt sind. Daher folgt der Phase der Synapsenentstehung, der SynaptogeneseSynaptogenese, ein weiterer Schritt, bei dem etwa 40 % der SynapsenSynapse wieder abgebaut werden: das sogenannte PruningPruning. Das klingt zunächst einmal wenig sinnvoll, hat aber durchaus Relevanz und Vorteile (vgl. Casey, Giedd & Thomas 2000). Es ist ein bisschen so wie bei einem Gärtner, der zunächst einmal sehr viele Samen ausbringt und schaut, wie sich die Pflänzchen entwickeln. Die Kräftigsten werden dann von der Anzuchtschale in Blumentöpfe gesetzt, weiter gepflegt und als besonders schöne und üppige Pflanzen gewinnbringend verkauft (vgl. Infobox 2.3).

Wer aber ist im Gehirn der Gärtner, der die Auswahl trifft? Wie wird dort gewählt? Bestehen bleiben diejenigen Verbindungen, die häufig genutzt werden. SynapsenSynapse, über die viel Information läuft, und Verbindungen zwischen NeuronenNeuronen, die gleichzeitig aktiv sind, werden immer größer und stärker (vgl. Infobox 2.1). Diejenigen Synapsen, die wenig genutzt werden, also auch wenig zur Kommunikation zwischen NervenzellenNervenzellen beitragen, verkümmern und sterben ab. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass die Synapsen bestehen bleiben, die das repräsentieren, was der sich entwickelnde Mensch erlebt, wahrnimmt und tut. Auf diese Weise tragen das entstehende Übermaß an Verbindungen und der anschließende Abbau zu LernprozessenLernprozesse bei, bei denen die „überlebenden“ Synapsen die gemachten Erfahrungen und gelernten Inhalte repräsentieren. Diese hohe Formbarkeit – die Hirnforscher nennen sie PlastizitätPlastizität – ermöglicht enorme LernleistungenLernleistung. Daher erscheint es oft so, als würde das kindliche Gehirn sozusagen wie ein Schwamm alles aufsaugen, was es an Informationen bekommen kann.

Und in gewisser Weise stimmt dies auch. Relevant ist die tatsächliche Erfahrung. Das Maß dafür, ob etwas behalten wird, ist, wie häufig es erlebt wird sowie die emotionale Wirkung des Erlebten (vgl. Kap. 4 & 6). Eine Bewertung der Inhalte, etwa hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes oder der Vertrauenswürdigkeit einer Informationsquelle, ist jungen Kindern dagegen noch nicht möglich.

Der anfängliche ÜberschussÜberschuss an synaptischen Verbindungen zwischen NeuronenNeuronen ermöglicht hohe LernleistungenLernleistung. Aber das Übermaß an Verbindungen hat auch direkte Nachteile. So führt der anfängliche Überschuss an SynapsenSynapse zunächst zu einer ungenauen Abbildung der Sinnesinformationen im Gehirn. Dadurch wird die Exaktheit der Wahrnehmung stark beeinträchtigt. Da zudem auch ein Überschuss an Verbindungen zwischen den Hirngebieten und von den Sinnesorganen zum CortexCortex entsteht, kommt es dazu, dass Informationen, die etwa vom Ohr kommen, nicht nur im Hörsystem landen und dort verarbeitet werden, sondern zusätzlich z.B. im SehsystemSehsystem, sodass sie dort u.U. Farb- oder Formeindrücke hervorrufen können, oder auch umgekehrt, dass visuellevisuell Informationen im auditorischenauditorisch Cortex ankommen und dort als Geräusche wahrgenommen werden (vgl. Siegler, Eisenberg et al. 2016). Dies ist nur in Ausnahmefällen von sofort einleuchtendem Nutzen, nämlich wenn eines der Sinnessysteme ausfällt. Wenn etwa aufgrund einer angeborenen Blindheit oder Gehörlosigkeit ein Gehirngebiet nicht die erwarteten Informationen erhält, oftmals nicht einmal die Verbindungen vom Sinnesorgan zum Gehirn hin aufgebaut werden, dann kann das Gehirngebiet die eigentlich aufgrund überzähliger Verbindungen eintreffenden Signale eines anderen Sinnesorgans verarbeiten und so zu einer besseren Wahrnehmungsfähigkeit in den noch verbleibenden Sinnen beitragen.

Wir haben es also mit einer Mischung aus Vor- und Nachteilen zu tun, aus der ein biologischer Nutzen des ÜberschussesÜberschuss an SynapsenSynapse nicht sofort sichtbar wird. Aus Biologensicht ist diese Art des Hirnwachstums sogar ein riskantes Unterfangen. Immerhin benötigen Kinder während der Entwicklung für die Versorgung ihres Gehirns etwa 1,5-mal so viel EnergieEnergie wie Erwachsene – trotz des geringeren Körper- und Gehirngewichts. Am höchsten ist der Energieverbrauch des Gehirns im Alter von 4 bis 5 Jahren. Zu der Zeit werden 43 % der insgesamt aufgenommenen Energiemenge vom Gehirn verbraucht (vgl. Kuzawa, Chugani et al. 2014). Das ist, biologisch betrachtet, ein hohes Risiko. Schließlich ist in der Natur die Versorgung mit Nahrung nicht immer gesichert. Welche Konsequenzen Mangelernährung für die Hirnentwicklung hat, kann man leider immer noch, besonders in anderen Teilen der Welt, beobachten. Angesichts dessen muss es einen guten Grund für den luxuriösen Wachstumsüberschuss im Gehirn des Säuglings geben.

Aktuelle Theorien gehen davon aus, dass der eigentliche Grund für dieses Wachstumsmuster sozusagen technischer Natur ist. Die filigrane und detailreiche Struktur unseres Gehirns, die uns DenkenDenken und intelligentes Verhalten erst erlaubt, ist so komplex, dass die dazu notwendigen Informationen in all ihren Einzelheiten überhaupt nicht in den GenenGene abgelegt werden können (vgl. Changeux & Danchin 1976). Daher nehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, dass die Informationen, die in Form von Erfahrungen und Erlebnissen ohnehin jedem Menschen zu Verfügung stehen, – etwa Licht (hell und dunkel, Farben, Formen), Geräusche (Klänge, Töne, Tonhöhen, Rhythmus) usw. – genutzt werden, um die korrekte Verknüpfung sicherzustellen, ohne dass alles im Detail in den Genen vorweggenommen werden und in den Vernetzungen genetisch gesteuert repräsentiert werden muss (vgl. Karmiloff-Smith 2006). Das bedeutet aber nicht, dass der genetische Einfluss unerheblich wäre. Die grundlegenden, bei der Geburt bereits angelegten Verbindungen (z.B. die großen Verbindungsstränge zwischen Hirngebieten, die Verbindungen von den Sinnesorganen zum Gehirn und vom Gehirn zur Muskulatur) sind genetisch vorgegeben, ebenso, wenn auch in geringerem Umfang (vgl. van den Heuvel et al. 2013), ein Teil der kürzeren Verbindungen. Damit ist eine Grundstruktur, sozusagen ein „Raster“ festgelegt, innerhalb dessen Umwelteinflüsse Details des Wachstums anregen können. Zudem wirken genetische Faktoren über den gesamten Entwicklungsverlauf, initiieren und beeinflussen immer wieder Wachstums- und Veränderungsprozesse im Gehirn (vgl. z.B. Sowell et al. 2003).

2.3 Etwa 40