Die 8 Tage von Olsker - Carl Harry Kirkeby - E-Book

Die 8 Tage von Olsker E-Book

Carl Harry Kirkeby

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Beschreibung

An einem kalten Februartag 2023 wird eine junge Frau aus der Ukraine erschossen. Sie arbeitete als Praktikantin im Andersen Nexø Museum. Ist der Grund in ihrem privaten Bereich zu suchen? Oder vielleicht im Drogengeschäft? Oder ist die Tat politisch motiviert? Es bleibt nicht das einzige Verbrechen dieser Art, und so kristallisiert sich schnell ein wahrscheinliches Motiv heraus. Doch bevor die Ermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam weitere Nachforschungen anstellen können, zeigen die Täter ihre wahren Absichten. Bornholm bebt, und die Auswirkungen reichen bis Kopenhagen. Jan Kofoed muss erkennen, dass er kaum jemandem mehr vertrauen kann. Fast auf sich allein gestellt, wählt er einen hochriskanten Weg, um die Lösung des Falles zu erzwingen.

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2025

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An einem kalten Februartag 2023 wird eine junge Frau aus der Ukraine erschossen. Sie arbeitete als Praktikantin im Andersen Nexø Museum. Ist der Grund in ihrem privaten Bereich zu suchen? Oder vielleicht im Drogengeschäft? Oder ist die Tat politisch motiviert? Es bleibt nicht das einzige Verbrechen dieser Art, und so kristallisiert sich schnell ein wahrscheinliches Motiv heraus.

Doch bevor die Ermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam weitere Nachforschungen anstellen können, zeigen die Täter ihre wahren Absichten. Bornholm bebt, und die Auswirkungen reichen bis Kopenhagen. Jan Kofoed muss erkennen, dass er kaum jemandem mehr vertrauen kann. Fast auf sich allein gestellt, wählt er einen hochriskanten Weg, um die Lösung des Falles zu erzwingen.

Carl Harry Kirkeby betrat 1967 mit seinen Eltern und seiner Schwester erstmals Bornholm. Seitdem ist er fast jedes Jahr wieder dort gewesen und das zu allen Jahreszeiten. So ist die Insel zu seiner zweiten Heimat geworden. Er verfasste unter anderem Namen Reiseführer über Bornholm, Jütland, Kopenhagen und Dänemark. 2022 bekam er die Idee für eine Krimireihe auf Bornholm, deren vierter Band „Die 8 Tage von Olsker“ ist.

In seinem deutschen Leben arbeitet der gebürtige Lübecker Jan Scherping als Personalberater und Coach in Schwerin und veröffentlicht auf seiner Website u.a. regelmäßig Blogs zu seinem Berufsalltag.

www.nord-coach.de

Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis

Organisationen

Tag 1

1

2

Tag 2

3

4

5

Tag 3

6

7

Tag 4

8

Tag 5

9

10

11

12

13

Tag 6

14

15

16

17

18

19

20

Tag 7

21

22

23

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Tag 8

28

29

30

31

32

33

34

Tag 1 danach

35

Tag 2 danach

36

Tag 3 danach

37

38

Tag 4 danach

39

Zum Schluss

Personenverzeichnis

Ermittler auf Bornholm

Christian Dam, jung, aufstrebend und ehrgeizigDitte Holm, studierte Psychologin und lieber vor Ort als am SchreibtischJan Kofoed, erfolgreich und landesweit bekannt, für die letzten Dienstjahre wieder auf Bornholm tätigKaren Rasmussen, Chefin der Bornholmer Polizei, verheiratet mit dem Bibliothekar Tom

Bornholmer(A-Z)

Ole Abrahamsen, nach dem Verkauf seiner Firma wohlhabender RentnerPer Bjerg, IT-Millionär und zwielichtigPelle Bruun, Online-Händler von Bornholmer DelikatessenFreyja und Lennart Carlsen, Ehepaar in KlemenskerLærke Dam, Volksschullehrerin und verheiratet mit ChristianLone Holm, Mitarbeiterin im Bauamt (Byg og Miljø) und mit Ditte verheiratetIda Ibsen, ehrgeizige und nicht nur beliebte PolitikerinRune Kofoed, Sohn von Jan, lebt auf den FærøernTom Rasmussen, Bibliothekar und mit Karen verheiratetAksel Riis, Leiter der Bornholmer BereitschaftspolizeiKarsten Schack, selbstständiger Garten- und LandschaftsbauerSonja Skovgaard, Witwe (Jens-Ole † 2018) und jetzt Partnerin von Jan Kofoed

Dänen(Festland)Mogens Mørch, Chef der Rigspoliti in Kopenhagen

Bornholmer Legenden der Befreiung 1658(A-Z)Povl Ancher, Pastor in Rutsker und HasleVillum Clausen, erschoss den schwedischen Statthalter PrintzenskjöldClaus Kam, Bürgermeister in RønnePeder Olsen, Bürgermeister in HasleHofrat Thienner, Hofmarschall

Organisationen

AktionsstyrkenAktionsstyrken (AKS) ist eine operative Spezialeinheit des Nachrichtendienstes PET. Sie bildet eine operative Antiterrorbereitschaft und unterstützt die Polizei bei besonders schwierigen oder gefährlichen Einsätzen. Das kann die Rettung von Geiseln sein, außerordentlich gefährliche Festnahmen sowie die Wahrnehmung von Aufgaben in der Terrorbekämpfung.

Bornholms Energi & ForsyningBornholms Energi & Forsyning (Beof) ist als Versorger verantwortlich für Strom, Wasser, Wärme und Abwasser. Das Unternehmen ist zu 100 % im Besitz der Bornholmer Kommune.

Det Bornholmske HjemmeværnDet Bornholmske Hjemmeværn (Bornholmer Heimatschutz) wird von wenigen Festangestellten und vielen Freiwilligen gebildet. Seine Aufgabe ist die Unterstützung der Polizei und der Zivilgesellschaft bei Bedarf. Dabei kann es sich z. B. um die Suche nach Verschwundenen handeln oder das Absperren eines Gebietes bei Feuer, Schneeräumung, Bombendrohung oder Ähnlichem.

Politiets EfterretningstjenesteDie Aufgabe des nationalen Nachrichten- und Sicherheitsdienstes Politiets Efterretningstjeneste (PET) ist es, Bedrohungen von Freiheit, Demokratie und Sicherheit in Dänemark zu identifizieren, vorzubeugen, nachzuforschen und entgegenzutreten.

Tag 1

1

Das dunkle Motorrad hielt in Nexø direkt vor der Martin Andersen Nexø Mindestue in der Ferskesøstræde. Der Sozius stieg ab, während der Fahrer den Motor laufen ließ. Es war ein ungemütlicher Tag im Februar, es nieselte ununterbrochen, der Wind war ziemlich heftig, und die Temperaturen waren noch immer sehr niedrig. Bis auf ein paar einzelne Autofahrer an der Kreuzung war um 13 Uhr weit und breit niemand zu sehen. Der Sozius behielt seinen Helm auf und ging strammen Schrittes in das kleine Museum zu Ehren des großen Schriftstellers. Die zierliche Frau mit dem schwarzen Pagenschnitt schaute auf und freute sich über den ersten Besucher heute. Gleich der erste Schuss traf sie in die Stirn. Der Mann ging in die Ausstellung, riss Bilder von der Wand und schubste Schaukästen um. Am Ausgang schenkte er der toten Frau noch einen verächtlichen Blick. Draußen schwang er sich auf das Motorrad, und der Fahrer gab Gas. Sie bogen rechts in die Straße 38 Richtung Aakirkeby ab.

Eine Stunde später betrat ein älteres Ehepaar aus Jütland das Museum. Nach wenigen Schritten sahen sie die tote Frau. Sie griffen nach einander, hielten sich fest, die Frau schrie, der Mann atmete schwer. Im Rückwärtsgang bewegten sie sich zum Ausgang. Wieder an der Straße zog der Mann sein Handy aus dem Wintermantel und rief die 112 an. In der Notrufzentrale nahm eine Frau die Standortmeldung und das Ereignis auf und versprach, umgehend einen Wagen zu schicken. Die Frau bat das Ehepaar, so lange vor dem Haus zu bleiben. Die beiden waren allerdings von ihrem Hotel in Allinge mit dem Bus nach Nexø gekommen und hatten ihren Schirm im Bus liegen gelassen. So beschlossen sie, sich gegenüber bei der UnoX-Tankstelle unterzustellen. Da waren sie auch in sicherer Entfernung.

Die Bereitschaftspolizisten Berger und Knudsen, die beide in Nexø wohnten und deshalb vorzugsweise an der Ostküste im Einsatz waren, nahmen gerade einen Autounfall auf. Auf der Stichstraße hinunter nach Dueodde hatten sich zwei Wagen gestreift. Wie man das auf dieser übersichtlichen Strecke im Februar schaffte, wollte den beiden Polizisten nicht in den Kopf. Anscheinend hatte der Hyundai-Fahrer eher nach links und rechts geschaut, weil ja auf der Straße nichts los war. Zu spät hatte er den entgegenkommenden Dacia bemerkt.

Als der Anruf aus der Polizeizentrale in Rønne kam, mussten sie deshalb ablehnen. Was sie beide mächtig ärgerte, denn ein Mord war natürlich viel interessanter als ein paar Autoschrammen. Aber der Dacia-Fahrer bestand auf einer gründlichen Aufnahme.

So fuhren Sanne Kjøller und ihr Kollege Noah zu einer ersten Inspektion des Tatorts. Sie hatten gerade einen missglückten Einbruchsversuch in Aakirkeby aufgenommen. Ein Fenster war von außen durch ein Stemmeisen in Mitleidenschaft gezogen worden, ebenso die Eingangstür. Aber das Haus war hervorragend gesichert. Es gehörte einem älteren Ehepaar, das früher ein gut gehendes Textilgeschäft in Nexø besessen hatte. Vielleicht hatten die glücklosen Einbrecher hier wertvollen Schmuck oder Bargeld vermutet, vielleicht war das Haus auch nur zufällig ausgewählt worden.

Nun rasten sie mit Höchstgeschwindigkeit die Straße 38 nach Nexø. Die 24-jährige Sanne war eine begeisterte Autofahrerin. Ihr Plan war, Bornholm in den nächsten zwei Jahren Richtung Jütland zu verlassen. In die Nähe von Silkeborg zog es sie, dort befand sich mit dem „Jyllandsringen“ die große dänische Motorsportbahn. Hier würde sie trainieren und an Rennen teilnehmen wollen. Bislang hatte sie dort nur während einiger Stippvisiten ein paar Runden drehen können.

In diesem Moment musste sie erst einmal die ziemlich geraden 15 Kilometer nach Nexø fahren. Sie trieb den Tacho hoch, bremste scharf am Ortseingang am Kreisel und hielt kurz darauf direkt an dem kleinen gelben Museum, vor dem sich schon ein kleiner Pulk gebildet hatte. Jemand aus dem Vereinsvorstand, der das kleine Museum betrieb, stand vor dem Eingangstor und versperrte den Neugierigen den Zugang. Sanne und Noah drängelten sich durch die Ansammlung von Regenschirmen, sie schoben die Handvoll Zuschauer zurück und sperrten die Tür ab.

„Ich bin Sanne von der Polizei, mein Kollege Noah begleitet mich. Wer bist du?“

„Ejner. Ejner Larsen.“

Der Mann war sichtlich mitgenommen, er sagte zunächst nichts, schüttelte nur den Kopf und kämpfte mit den Tränen. Dann hob er wieder den Kopf: „Drinnen liegt Zhanna, unsere Praktikantin. Ich glaube, sie ist erschossen worden, in ihrem Kopf ist ein Loch. Außerdem ist unser Inventar zerstört worden.“ Die Tränen übermannten ihn wieder.

Die beiden Polizisten gingen vorsichtig hinein. Die junge Frau mit den dunklen Haaren lag in geronnenem Blut. Sie schauten Richtung Ausstellung, vieles war umgeschmissen oder zerschlagen worden. Sanne und Noah wollten nicht weitergehen, um die Zerstörung würde sich zunächst die Spurensicherung kümmern.

Sie gingen wieder hinaus zu Ejner Larsen: „Bei unserem zentralen Notruf hatte sich ein Mann gemeldet, der die Frau gefunden hat. Warst du das?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf: „Nein, ich war mit Zhanna verabredet. Als ich sie entdeckt habe, bin ich schreiend rausgelaufen. Das hat wohl ein paar Leute angelockt.“ Aus der größer werdenden Menschenansammlung hob sich eine Hand. Noah ging durch die Wartenden hin und traf auf einen älteren Herrn: „Wir, also meine Frau und ich, haben die tote Frau entdeckt und angerufen. Wir haben uns nur drüben in der Tankstelle untergestellt, hier ist es so nass und kalt.“

„Das verstehe ich gut, kommt bitte mit mir mit.“ In der Zwischenzeit hatte Sanne in der Rønner Polizeizentrale Großalarm ausgelöst, weitere Einsatzkräfte, die Ermittler, der Rechtsmediziner und die Spurensicherung mussten kommen.

Eine gute halbe Stunde später stiegen die Ermittler Jan Kofoed, Ditte Holm und Christian Dam aus dem Wagen, alle eingehüllt in dicke Jacken. Den ersten Neugierigen war es inzwischen zu kalt geworden und zu sehen gab es hier anscheinend auch nichts. Sie gingen zurück in ihre warmen Wohnungen. Drei, vier Leute hatten ihre Handys in die Höhe gehalten und gefilmt, aber viel zu erkennen war vermutlich nicht auf ihren Aufnahmen.

Die Ermittler gingen zunächst in das kleine Museum. Knud Rømer, der Rechtsmediziner, hockte bereits an der Seite der Toten. Er schaute hoch zu den Ermittlern: „Das dürfte ganz einfach sein, die Frau ist mit einem einzigen Kopfschuss umgebracht worden. Kein Kampf zuvor, kein Widerstand, sie ist sicherlich völlig überrascht worden. Wenn die Spurensicherung fertig ist, kann sie zu uns gebracht werden. Ich fahre wieder.“

Jan drehte sich zu seinen Kollegen: „Ditte, du kümmerst dich bitte um die beiden älteren Herrschaften, die die Frau gefunden haben. Sie sollen dir von ihrer Entdeckung erzählen. Christian, du klingelst bitte an den nächsten drei, vier Häusern links und rechts in der Fersekesøstræde, vielleicht hat jemand etwas gesehen. Da hockt der ein oder andere doch bestimmt den ganzen Tag hinter der Gardine.“ Die beiden nickten und gingen hinaus, während Jan sich an Ejner Larsen wandte: „Wer war die junge Frau genau und was machte sie hier?“

Der mittelgroße hagere Mann mit den dünnen silbrigen Haaren und dem völlig durchnässten Trenchcoat hatte sich inzwischen gefangen: „Das ist Zhanna, eine ukrainische Studentin. Sie lebte in Kopenhagen und studierte dort Dänisch. Sie war von Andersen Nexøs Beziehungen zur Sowjetunion sehr angetan und wollte darüber mehr forschen. Sie hat uns gefragt, ob sie hier ein Praktikum machen kann, um in unseren Materialien zu lesen. Wir haben ihr angeboten, dass sie das gerne tun kann, wenn sie auch den Eingangsbereich betreut. Hier ist in dieser Jahreszeit fast nichts los, und wir haben deshalb auch sehr eingeschränkte Öffnungszeiten. Sie konnte also in Ruhe ihren Studien nachgehen.“

„Was weißt du noch über sie? Hat sie eine Familie? Wie lange wollte sie auf Bornholm bleiben? Wie lange wollte sie in Kopenhagen studieren?“

„Ich weiß nicht wirklich viel. Sie war doch erst drei Wochen hier.“ Er begann wieder zu weinen, zitterte. „Sie wohnt in Kopenhagen in einer WG, soweit ich weiß. Sie wollte insgesamt zwei Monate auf Bornholm bleiben, eventuell länger. Ihre Eltern haben wohl Geld, sie stand jetzt mit ihrem Studium nicht unter Zeitdruck. Aber wie lange sie in Kopenhagen bleiben wollte, weiß ich nicht.“

„Wo hat sie hier gewohnt?“

„In Balka, in einem Ferienhaus. Gudrun, eines unserer Vorstandsmitglieder, hat dort ein schönes Haus, das sie ihr zu einem sehr günstigen Preis vermietet hat.“

„Hast du irgendeine Idee, wer es auf Zhanna abgesehen haben könnte?“

„Nein, absolut nicht. Sie war eine entzückende junge Frau, sympathisch, höflich, gut erzogen, herzlich, fröhlich. Ach, was soll ich noch alles sagen? Ich mochte sie einfach. Alle im Verein mochten sie.“

„Ich möchte mir gerne dieses Ferienhaus ansehen. Könntest du mir bitte die Kontaktdaten von dieser Gudrun geben?“

„Moment.“ Larsen fummelte sein Handy aus dem nassen Mantel, drückte kurz darauf und sprach mit besagter Gudrun.

„Sie wohnt in Pedersker, sie versucht in 15 Minuten am Haus in Balka zu sein.“ Er nannte Jan die Adresse.

Ditte kam zurück: „Die beiden Herrschaften haben nichts gesehen, niemanden, der weggelaufen oder weggefahren ist. Es war alles ruhig im Museum, als sie eintraten. Sie haben nichts erwähnt, was uns irgendwie weiterhelfen könnte.“

„Schade, vermutlich ist der Mord schon deutlich früher verübt worden, Knud wird es uns nach der Obduktion sagen können.“

„Jan, eines noch. Die beiden kommen aus Jütland, sind über 80 und wohnen im Badehotel in Allinge. Sie sind mit dem Bus von dort hierhergefahren. Jetzt haben sie die ganze Zeit für uns hier ausgehalten. Sie wollen ihren Nexøbesuch verständlicherweise abbrechen. Kann eine Streife sie zurückfahren?“

Jan kräuselte die Stirn: „Das ist nicht ganz den Vorschriften entsprechend, aber ich glaube, ich kann diese Ausnahme nach oben hin begründen, falls nachgefragt wird.“

„Danke, ich kümmere mich darum.“

So richtig zufrieden sah Christian nicht aus, als er sich Jan näherte: „Bis auf eine Frau hat hier niemand etwas gesehen oder gehört. Die Frau sagt, dass sie ein Motorrad bemerkt hat, weil der Motor die ganze Zeit lief. Da hat sie aus dem Fenster geschaut und das Hinterrad gesehen und den Qualm aus dem Auspuff.“

„Hat sie sich die Farbe des Motorrads gemerkt?“

„Weiß, aber es kann auch schwarz gewesen sein.“

„Es wäre ja auch zu schön gewesen. Und wie lange lief der Motor so ungefähr?“

„Sie glaubt so zwei, drei Minuten. Jedenfalls hat sie nochmals herausgeschaut, weil sie das Geräusch nervte. Und da ist das Motorrad gerade wieder gestartet. Sie meinte aber, da hätte nun noch eine zweite Person draufgesessen.“

„Na, immerhin etwas. Wir müssen uns vortasten. Ditte kümmert sich gerade um die beiden Zeugen und deren Rückfahrt nach Allinge. Wenn sie das erledigt hat, fahren wir nach Balka, da hat unser Opfer in einem Sommerhaus gewohnt.“

Kurz darauf saßen sie zu dritt im Wagen und fuhren das kurze Stück nach Balka. Jan erzählte kurz, was Ejner Larsen über Zhanna berichtet hatte.

Gudrun, die Vermieterin des Hauses, wartete schon in ihrem Wagen. Das Haus war normal groß, vermutlich für vier Personen und lag dicht zum Strand. Die großen Fenster ließen sicherlich viel Licht hinein, nur heute nicht. Alles war in Weiß gehalten, nur Sofa und Sessel waren hellbraun. Während Ditte und Jan langsam durch das Haus schritten, suchte Christian die Außenwände und die Tür ab. Vielleicht hatte der Mörder noch etwas in ihrem Haus suchen wollen. Doch nichts deutete auf einen Einbruchsversuch hin. Auch innen war alles unspektakulär. Zhanna hatte an Klamotten nicht sonderlich viel mitgenommen, aber das Haus besaß ja auch eine Waschmaschine. Ein paar Bücher lagen auf einem Tisch herum, teils auf Russisch oder Ukrainisch, den Unterschied kannte Jan nicht, teils auf Dänisch. Unter ihnen verbarg sich ein Laptop, am Rand stand eine Schale mit Äpfeln und Mandarinen. Der Kühlschrank war recht leer, allerdings war das Gemüsefach bis oben hin voll, in der Tür stand ein Karton Bornholmer Milch, in den Fächern lagen Danskvand Flaschen und darunter standen Joghurt und Ymer.

„Vegetarierin“, murmelte Ditte.

Der Schlafraum war eiskalt, das Bett war ungemacht. Das Bad war sehr sauber, das große Handtuch feucht, Zhanna hatte wohl morgens noch geduscht.

Jan griff sich den Laptop: „Ich glaube, hier kommen wir nicht weiter. Wer auch immer Zhanna aus welchem Grund erschossen hat, war an ihrer Kurzzeit-Wohnung nicht interessiert. Vielleicht verrät uns ihr Laptop noch Geheimnisse. Lasst uns gehen.“ Sie bedankten sich bei Gudrun und machten sich auf den Weg zurück nach Rønne.

„Ich glaube nicht, dass der Grund für diesen Mord auf Bornholm zu suchen ist“, unterbrach Christian das Schweigen, als sie die Kirche in Bodilsker passierten.

„Nein, momentan zumindest spricht nichts dafür. Sie hatte noch alle Papiere bei sich, ihre Unterkunft ist unberührt, und Gewalt ging ansonsten ausschließlich gegen das Museum. Vielleicht war sie nur zufällig das Opfer“, gab Jan ihm recht. „Vermutlich müssen wir uns mal in Kopenhagen in ihrer WG umschauen. Oder die Kollegen dort darum bitten.“

„Im schlechteren Fall liegt der Grund in Kiew“, seufzte Ditte. „Angesichts des russischen Angriffs wird es mühsam sein, mit den Kollegen in Kiew zu kooperieren. Die haben Wichtigeres auf dem Tisch.“

„Das will ich nicht hoffen, dass der Schlüssel dort liegt. Eine andere Möglichkeit ist, dass es hier nicht gegen Zhanna ging, sondern gegen das Museum. Andersen Nexø war bekennender Kommunist, er war begeistert von der Sowjetunion und verlebte seine letzten Jahre in Ost-Deutschland.“

„Aber Jan, der Kommunismus ist in Europa seit 1989 tot, das sind 34 Jahre. Ja, ausgenommen Russland und vielleicht kleinere und unbedeutendere Parteien irgendwo. Warum sollte es jetzt deswegen zu einem Mord kommen?“

„Du hast ja recht, Ditte, es war auch nur so ein Gedankengang. Ich finde noch keinen Ansatzpunkt.“

„Vielleicht einfach Ausländerhass“, warf Christian ein. „Du meinst, da wusste jemand, dass eine Ausländerin am Empfang sitzt, und hat sie deswegen erschossen?“ „Ja, Jan, es gab doch in Deutschland vor einigen Jahren so etwas. Wurden da nicht Türken und Griechen umgebracht? Die Polizei hat doch alle möglichen Motive vermutet und ist erst nach vielen Jahren darauf gekommen, dass die Täter Neo-Nazis waren. SNU-Morde oder so.“

„NSU-Morde. Ja, Christian, das kann natürlich auch sein.“ Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen.

Als sie Aakirkeby und Lobbæk hinter sich gelassen hatten und auf Nylars zusteuerten, durchbrach erneut Christian die Stille: „Jan, hast du eigentlich einmal etwas von Andersen Nexø gelesen?“

„Oh ja, und ob. Vergiss nicht, dass ich fast 30 Jahre älter bin als du. Damals war die Arbeiterliteratur, für die er steht, ein wichtiger und viel gelesener Teil der Literatur. Das harte Leben der einfachen Leute war ein großes Thema. Und auf Bornholm war man sehr stolz, einen der berühmtesten Vertreter ,Sohn der Insel´ nennen zu dürfen. Auch wenn das manchen Leuten zuwiderlief. Die konservativen Bauern und der Kommunist, das war keine unbedingt passende Kombination. Wir haben in der Schule natürlich ,Pelle der Eroberer´ gelesen, den großartigen Film mit Max von Sydow habe ich zweimal gesehen. Der ist zu Recht mit dem Oscar ausgezeichnet worden. 1987 oder 1988, ich weiß es gar nicht mehr so genau. ,Morten der Rote´ habe ich zweimal begonnen, aber nicht in das Buch gefunden. Die ,Bornholmer Erzählungen´ habe ich mir immer wieder genommen, die sind großartig, auch heute noch.“

„Einige von denen haben wir in der Schule auch gelesen, die mag ich, obwohl ich sonst lieber Krimis lese. Den Film hat man uns ebenfalls gezeigt, den fand ich sehr eindrucksvoll.“

„Und du Ditte, du hast doch bestimmt seinen Roman ,Ditte Menschenkind´ gelesen.“

„Auf diesen Witz habe ich schon die ganze Zeit gewartet. Nein, natürlich nicht. Ich habe mich nie für Literatur interessiert, in der Schule hing mein Herz an den Naturwissenschaften, Mathe, Physik, Biologie, weniger Chemie. Gelesen habe ich eigentlich nur später meine Fachbücher für das Studium. Na ja, den ,Bornholmer Erzählungen´ konnte man als Bornholmer Schülerin natürlich nicht entfliehen, die waren Pflicht. Ja, die paar, die wir lesen mussten, fand ich auch ganz okay.“

Sie hatten die Zentrale am Zahrtmannsvej erreicht. „Wie machen wir weiter?“, wollte Christian wissen.

„Ich werde morgen die Kopenhagener Kollegen bitten, sich Zhannas WG anzuschauen. Und ich werde einmal oben in der Rigspoliti nachfragen, wie gerade die Drähte nach Kiew sind, die haben vermutlich gerade andere Prioritäten, wie schon erwähnt. Wir müssen auf jeden Fall irgendwie die Eltern informieren.“

„Und wenn uns beides nicht weiterbringt?“

„Darüber mache ich mir dann Gedanken, wenn es soweit ist.“

Zurück im Büro rief Jan in Kopenhagen an. Die Rigspoliti musste bei der ukrainischen Botschaft anrufen und sie über den Tod einer Mitbürgerin informieren. Gleichzeitig musste geklärt werden, inwieweit ein direkter Kontakt zur Kiewer Polizei herstellbar war. Gut möglich, dass der Grund für die Tat dort zu finden war, deshalb war Jan der direkte Kontakt wichtig. Seinen Gesprächspartner in Kopenhagen, ein gewisser Oliver, kannte er nicht, der musste neu sein. Er versprach, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern und sich schnellstmöglich wieder bei Jan zu melden.

2

Ditte war von diesem Mord stärker als sonst angegriffen. So eine junge Frau, erschossen, einfach so. Weshalb? Sie sah keinerlei Motiv. Meist hatte man anfangs eine Vermutung, ein, zwei erste noch unklare Spuren, die man zumindest näher betrachten konnte. Aber hier? Nichts. Ditte fuhr wie ferngelenkt nach Hause, sie achtete nicht auf den Verkehr, sondern war mit ihren Gedanken weit weg.

Lone und ihr gemeinsamer Retriever Kafka begrüßten sie, als sie durch die Tür kam. Ihre Frau kannte Ditte nur zu gut und ließ sie erst einmal in Ruhe. Sie musste ankommen, war noch zu aufgewühlt. Lone holte eine heiße und lecker duftende Lasagne aus dem Ofen. Die passte wunderbar zu diesem in jeder Hinsicht sehr kalten Tag.

Ditte hatte keine Lust, selbst zu reden: „Wie war dein Tag im Bauamt?“ Lone sollte zum 1. April Abteilungsleiterin werden. Sie freute sich darauf, hatte aber auch ein wenig Angst vor der Herausforderung. Eine gewissenhafte, anerkannte und beliebte Sachbearbeiterin zu sein war eine Sache. Eine ganze Abteilung zu führen und mehr Verantwortung zu übernehmen war eine ganz andere.

„Ich freue mich und fühle mich auch ein wenig geehrt. Und gleichzeitig habe ich etwas Angst. Angst vor der Verantwortung für meine Entscheidungen und für meine Mitarbeiter.“

„Aber du bist doch anerkannt und beliebt.“

„Ja, wobei es schon auch Neider gibt. Ich habe dir einmal von Lene Pedersen erzählt, die aus Rø. Eine junge, superehrgeizige Frau. Die weiß alles, das glaubt sie zumindest. Sie hat nicht nur in Kopenhagen studiert, sondern auch in Sydney und irgendwo in Italien. Für die sind wir eigentlich nur kleine dumme Bauernkinder aus der Provinz. Die war wohl fest davon ausgegangen, dass sie den Job bekommt. Praktisch als Sprungbrett für noch weiter oben. Und schon jetzt beginnt sie gegen mich zu agitieren.“

„Hat sie damit Erfolg?“

„Nein, ich habe alle hinter mir. Aber vielleicht wirkt das Gift doch eines Tages.“

„Dein Chef sollte begreifen, dass er dir den Rücken stärken muss. Nicht nur, weil es sich für einen Vorgesetzten so gehört. Sondern weil sie sonst ihn als Nächsten wegpusten will.“

„Ja, du hast recht. Wenn sich die Lage etwas zuspitzen sollte, werde ich das einmal fallen lassen. Aber dass jetzt so viele auf mich schauen, daran muss ich mich erst gewöhnen.“

„Mein Schatz, als du eine erfolgreiche Langstreckenläuferin warst, in Dänemark viele Rennen gewonnen hast und sogar bis zu den Nordischen Meisterschaften gefahren bist, da haben doch auch viele Leute den Blick auf dich gerichtet.“

Lones Blick wurde leicht sentimentaler und zugleich etwas gelöster: „Ja, da hast du recht. Aber das war nur Sport, das war mein Hobby. Wenn ich gewonnen habe, war das schön, wenn ich verloren habe, ist nicht die Welt untergegangen. Im Amt kann eine Fehlentscheidung böse Folgen haben. Und du weißt, Byg & Miljø auf Bornholm besitzt ohnehin keinen guten Ruf, angeblich zählen wir zu den langsamsten Baubehörden Dänemarks.“

„Ich weiß, aber lass dich davon nicht beirren, das ist nicht deine Schuld. Geh deinen Weg, der war bis jetzt absolut richtig.“

„Ja, danke, Schatz. Was ist mit dem Mord in Nexø?“ Lone wusste, dass Ditte nicht nur aus Interesse nach dem Bauamt gefragt hatte, sondern auch, um sich von dem Geschehen an der Ostküste abzulenken.

Ditte schüttelte den Kopf: „Ich mag darüber jetzt nicht reden, lieber morgen. Ich bin so fassungslos. Welch eine hübsche junge Frau, die noch alles vor sich hatte. Völlig sinnlos.“ Sie stand auf und deckte ab. Lone ging auf das Sofa und griff sich ein Buch über Maltechniken, ihrem neuen Hobby. Nach zehn Minuten kam Ditte mit zwei Weingläsern aus der Küche, legte sich auf das Sofa, ihren Kopf auf Lones Schoß und unter das Buch, und blieb so ganz still liegen. Lone musste das Buch leicht anheben, um es weiterlesen zu können. Sie lächelte, Kafka hingegen schaute etwas verwundert auf diese Konstellation.

In Rønne schliefen Lærke und Christian bald ein, beide mit einer Hand auf Lærkes Bauch. Sie waren gleich nach Weihnachten umgezogen. Endlich hatten sie ein größeres Haus gefunden und waren doch in der Hauptstadt geblieben. Im südlich gelegenen Fredensborgvej waren sie fündig geworden, die Immobilie war nicht ganz billig gewesen, aber da sie ihr eigenes Haus besser als erwartet verkauft hatten, rechnete sich der Erwerb doch. Zudem erhielten sie als Bedienstete des Staates gute Konditionen für die Finanzierung. Dem Haus fehlte der Charme des alten Hauses in der Altstadt, dafür war es geräumiger und moderner. Sogar ein zweites Kinderzimmer war vorhanden. Christian wollte nie in einem dieser gelben Klinkerhäuser wohnen, die fand er irgendwie spießig. Nun besaß er eines und war glücklich. Noch war innen genug zu tun, sie hatten Anfang Januar erst einmal das Kinderzimmer eingerichtet.

Wenige Straßen weiter war auch Sonja schon tief im Schlaf versunken. Nur Jan lag wach. Wo war der verdammte Faden, den er aufnehmen konnte, um sich der Aufklärung zu nähern? Wo fand er wenigstens eine Vermutung, weshalb diese junge Frau sterben musste? Er hatte einen solchen Fall schon einmal gehabt, damals in seiner Zeit in Aarhus, eine Frau und ihre Tochter waren verschwunden. Alles sprach dafür, dass der Ehemann die beiden umgebracht und irgendwo verscharrt hatte. Aber dem war nicht beizukommen. Er hatte für alles Erklärungen und Alibis, er fiel auf keine der gestellten Fallen herein. Es gab keine Spuren, keine Beweise und keine Indizien. Nur eine Vermutung und einen Zeugen, der die drei noch nachmittags an einem der Silkeborger Seen gesehen hatte. Dieser alte Mann hatte ein halbes Jahr später Alzheimer bekommen und fiel als Zeuge aus. Der Fall blieb ungelöst, was Jan heute noch wurmte. Irgendwann würde man die Gebeine der beiden sicherlich finden. Irgendwann. Karen konnte er momentan auch nicht kontaktieren, die war heute früh für vier Tage nach Kopenhagen gereist. Nach dem Tod von Aage, dem Chef der Bornholmer Polizeibehörde, hatte die Rigspoliti mehrere Kandidaten als Nachfolger in Betracht gezogen. Auf Karen als Chefin war schließlich die Wahl gefallen, die alle erwartet hatten. Sie war zwar keine Juristin, wie es für die Stelle eigentlich Vorschrift war, aber sie hatte seit 2014 eine hervorragende Arbeit abgeliefert, war erfolgreich und beliebt, nur Aage hatte sie ab und zu ausgebremst, wenn sie mit diesem „digitalen Quatsch“ kam und die Polizei noch stärker modernisieren wollte, als Kopenhagen es ohnehin forderte. Im letzten Jahr hatte Karen Aage faktisch ersetzt, als der schwer erkrankte. Auch bei der Staatsanwaltschaft und der Verwaltung, die mit zu der Behörde gehörten, hatte Karen als Interimsvorgesetzte Punkte sammeln können. Die Rigspoliti fand auch einen Kniff, wie sie die Nicht-Juristin Karen zur Behördenchefin machen konnte. Kurz vor Weihnachten erhielt sie die frohe Kunde, dass sie eine Ebene höher stieg.

Doch Karen lehnte ab. Sie hatte lange mit sich gerungen, ihre Entscheidung aber noch nicht nach Kopenhagen kommuniziert. Sie war sich sicher, dass es noch länger dauern würde, bis Kopenhagen sich entschied, sie würde schon rechtzeitig ein Signal dorthin senden. So lange hatte sie weiterhin Zeit, alle Fürs und Widers hin- und herzuwälzen. Als plötzlich die Entscheidung der Rigspoliti öffentlich wurde, war Karen überrascht. Ihre Ablehnung begründete sie damit, dass sie keine Frau nur für das Büro sei. Sie brauche die Arbeit auf der Straße, sie sei liebend gern der Kopf eines Teams, das vor Ort ermittle. Jan wusste, dass das so nicht stimmte. Sondern dass ihr tatsächlicher Hauptgrund für die Absage ein anderer war, einer mit drei Buchstaben. Aber er verriet ihn nicht. Der ein oder andere Kollege versuchte, ihn „im Vertrauen“ auszuhorchen, doch er blieb verschlossen wie Fort Knox.

In Kopenhagen wurde Karens Absage missbilligt. Andererseits war ihr Ruf weiterhin hervorragend, und so hatte man sie eingeladen, die neuen Vorstellungsgespräche mit anderen Kandidaten in Kopenhagen von einem Nebenraum mitzuverfolgen. Sie durfte danach ihren Kommentar abgeben, aber sie besaß kein Mitspracherecht bei der endgültigen Entscheidung. Mogens, der Chef der Rigspoliti, war sich sicher, dass Karen nicht für den für sie bequemsten Kandidaten plädieren würde, sondern für den, der am besten nach Bornholm und zu den Mitarbeitern passte. Und sich zugleich nicht scheuen würde, Veränderungen anzugehen.

Sicherlich hatte sie von dem Mord in Nexø bereits erfahren. Aber Jan vermutete, dass sie in Kopenhagen zu sehr eingespannt war. Sonntagabend würde sie zurückkommen, sodass er mit ihr am Montag reden könnte. Er dämmerte weg.

Tag 2

3

Jan hatte schlecht geschlafen und war früh aufgestanden. Nach einem kurzen Frühstück mit Sonja war er in den Zahrtmannsvej gefahren. Er wollte noch einmal ganz in Ruhe das wenige sortieren, was sie wussten. Vielleicht, vielleicht hatten sie ja etwas übersehen.

Nur fünf Minuten nach ihm war Ditte durch die Tür gekommen: „Ditte, guten Morgen, du siehst blass aus, wenn ich das sagen darf. Was ist los?“

„Was wohl, Jan, guten Morgen. Die arme Zhanna, manchmal hasse ich meinen Job.“

„Auch so ein Ereignis wie gestern gehört dazu, leider. Lass uns versuchen, eine Spur zu finden.“ In diesem Moment kam Christian herein: „Oh, ich dachte, dass ich der Erste heute früh bin. Aber da habe ich mich wohl geirrt.“ Er lächelte. „Treibt der Mord euch auch so stark um?“

„Ja, absolut“, nickte Jan. „Wie geht es Lærke und dem Baby im Bauch?“

„Sehr gut. Noch zwei Monate. Oh Mann, ich werde jeden Tag nervöser.“

„Dann lass uns die Zeit bis dahin nutzen, den Mord an Zhanna aufzuklären. Ditte, können wir an deinen Gedanken teilhaben?“

„Ja, ich weiß nicht, ja, eigentlich sind die ziemlich ungeordnet. Also, da sitzt diese Studentin in diesem Museum, am Empfang, ein Mann oder eine Frau betritt das Haus und knallt sie sofort ab. Dann geht er oder sie in den Raum, zerstört Teile des Inventars und geht wieder hinaus.“ Sie schaute ihre Kollegen fragend an: „Und jetzt?“

„Jetzt ist die Frage, gegen wen der Täter etwas hatte. Hasste er Martin Andersen Nexø, weil er Kommunist und glühender Verehrer der Sowjetunion war? Oder hasst er die Ukrainer? Oder gleich alle Ausländer? Oder ist es eine Beziehungstat, hatte sie eine Freundin oder einen Freund in Kopenhagen oder auf Bornholm, und da hat es Schwierigkeiten gegeben? Wer sind ihre Eltern, will sich jemand an denen rächen und erschießt die Tochter?“

Ditte schaute ihn staunend an: „Jan, hast du heute Nacht nicht geschlafen, sondern dir all das überlegt?“

„Du vermutest richtig, ich habe wenig geschlafen, bin immer wieder aufgewacht. Habt ihr noch weitere Ideen?“

„Ja, der Täter könnte ein Frauenfeind sein, wir haben es hier mit einem Femizid zu tun.“

„Stimmt, Ditte, das wäre auch eine Option.“ Die drei grübelten weiter.

„Wie wollen wir die Fragen abarbeiten?“, warf Christian ein. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Energydrink State, als wenn er für die Aufgabe Kraft tanken wollte, die ihm Jan gleich übertragen würde.

„Wir teilen uns folgendermaßen auf: Christian, du kümmerst dich um das Thema Fremdenfeindlichkeit. Was wissen wir über eventuelle Rassisten auf Bornholm? Einzelpersonen oder Gruppen könnten es gleichermaßen sein. Frag mal beim PET nach, was die wissen. Die werden vermutlich ungern etwas herausrücken, aber versuch es, angesichts der Tat sind sie vielleicht kooperativ. Ditte, du kümmerst dich um eventuelle Beziehungen. Hatte sie hier eine? Möglicherweise hat sie jemanden zurückgewiesen, der eine ukrainische Studentin auf Bornholm für leichte Beute hielt? Gibt es in Kopenhagen jemanden? Dabei können dir die Kollegen dort helfen oder du fährst schnell hin. Und ich kümmere mich um das Thema Ukraine. Wer sind die Eltern, was machen die? Kann uns die Botschaft unterstützen? Seid ihr einverstanden?“

Die beiden nickten, standen schweigend auf und zogen sich zurück.

4

Es war kurz nach 10 Uhr, als Tikky und Preecha Suwan ihren Thai-Imbiss am Snellemark aufschlossen. Das Ehepaar stammte aus Aalborg, sie hatten dort schon ein Takeaway besessen und später eines an der Nordsee in Blokhus eröffnet. Nun waren ihre beiden Söhne groß, und sie hatten den beiden Jungs die Imbisse übertragen. Dann hatten sie ihre Sachen gepackt und waren letztes Jahr nach Bornholm gezogen. Sie wollten noch einmal etwas Neues erleben. Bornholm gefiel ihnen, die Leute waren nett, die Touristen im Sommer meistens auch, ihre Speisekarte kam sehr gut an, und sie verdienten ordentlich. Deshalb hofften sie, dass sie ihre karge Wohnung im Rønner Norden bald verlassen und in ein schönes Häuslein ziehen könnten. Eines mit einem kleinen Garten.

Sie stellten ihre Einkäufe hinten in der Küche ab, die meisten Zutaten erhielten sie von einem Ostasien-Händler aus Kopenhagen, den Rest holten sie bei Netto am Markt. Aber sie verwendeten auch ganz frisches Gemüse, das sie lieber bei Kvickly kauften, es erschien ihnen qualitativ besser. Und wie jeden Tag griff sich Tikky zwei Einkaufstaschen, um den Snellemark hinunterzugehen. Ihr Mann räumte sich derweil die Sachen so hin, wie er sie später brauchen würde. Preecha war der Koch, seine Frau verpackte die Essen und gab sie aus, nachdem sie kassiert hatte. Tikky drückte ihrem Mann einen Kuss auf die rechte Backe, er lächelte sie an, und sie ging aus der Tür.

Tikky zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Es war verdammt kalt, und der Nieselregen machte alles nur schlimmer. Nur gut, dass es nicht auch noch stürmte. Heute würden sich wohl nicht viele Leute ein Essen bei ihnen holen. Wer nicht rausmusste, tat es auch nicht.

Kurz nachdem Tikky weggegangen war, ging die Tür des „Sala Thai“ wieder auf. Hatte sie etwas vergessen? Preecha packte weiter aus. Er hörte ein Geräusch und drehte sich um. Ein Mann in Motorradkleidung, den Helm hatte er noch auf. Er hob den Arm, in der Hand hielt er etwas. Preecha gelang es nicht mehr, noch etwas zu sagen. Er knallte auf den Boden.

Tikky hatte das Snellemark Center mit ihren gut gefüllten Taschen verlassen. Sie hatte Paprika gekauft, Blumenkohl und Zuckerschoten und einiges mehr. Draußen war es so unangenehm kalt, sie freute sich, gleich wieder im Imbiss zu sein. Der wurde zwar an Tagen wie diesen auch nicht richtig warm, weil die Tür ständig geöffnet wurde. Aber das war immer noch besser als diese feuchtkalte Luft draußen. Es war still. Nur zwei Autos fuhren gemächlich vom Hafen hoch Richtung Markt. Vor dem Radladen an der Ecke lieferte ein Lkw von BHS anscheinend Waren an. Und der Paketwagen von Post Nord hielt gerade gegenüber.

Sie betrat das „Sala Thai“ und rief den Namen ihres Mannes. Keine Antwort. Er antwortete doch immer. Irritiert ging sie weiter Richtung Küche. Sie sah ihn. Ein gewaltiger Schrei hallte durch den Imbiss. Tikky lief hinaus und schrie immer weiter. Der Fahrer von Post Nord begriff sofort und lief auf sie zu. Er hielt sie fest und fragte, was los sei. Tikky zeigte immer nur Richtung Imbiss und schrie. Der Mann hatte eine Ahnung. Er griff sein Handy aus der Jacke und wählte den Notruf. Eine ältere Fußgängerin blieb irritiert stehen, der Mann erklärte ihr die Situation. Keine fünf Minuten später hielt ein Streifenwagen vor dem Imbiss.

15 Minuten später standen Ditte, Jan und Christian vor dem Lokal. Drinnen nahmen die Spurensicherer ihre Arbeit auf. Tikky war noch immer nicht ansprechbar. Esat, der Paketbote, schilderte, was sich zugetragen hatte. Dann bat er darum, weiterfahren zu dürfen, sein Wagen war noch gut gefüllt.

„Wieder ein Ausländer“, stellte Christian fest. Er bibberte genauso wie Ditte, Jan und die anwesenden Bereitschaftspolizisten.

„Ja, ich vermute mal, alle meine Überlegungen letzte Nacht haben sich damit erledigt. Da macht jemand Jagd auf Ausländer oder Migranten.“

„Bist du ganz sicher, dass zwischen den beiden Taten ein Zusammenhang besteht?“, warf Ditte ein.

„Ja, instinktiv zumindest, beweisen kann ich dir das nicht. Noch nicht. Aber ich bin sicher, dass dieselbe Waffe benutzt wurde.“

„Das hat aber nicht zwangsläufig mit Ausländerhass zu tun.“

„Wie meinst du das?“

„Der Grund für die beiden Morde könnte zum Beispiel auch mit Drogenhandel zu tun haben. Oder Schutzgeld.“

„Ein Thai und eine Ukrainerin ergeben Drogenhandel? Ist das nicht zu sehr aus der Klischeekiste?“

„Bloß weil es entsprechende Vorurteile gibt, muss es doch nicht falsch sein.“

„Zweifelsohne nicht. Wir werden die neue Situation gleich im Büro besprechen. Wo ist Knud eigentlich?“

„Der ist unabkömmlich.“

Knud Rømer war hauptberuflich Arzt in Bornholms Hospital. Er half außerdem bei der Polizei als Rechtsmediziner aus, was ein Glückfall war, so musste die Polizei nicht jedes Mal jemanden aus Kopenhagen anfordern. In diesem Moment stand er allerdings im OP-Saal.

Inger von der Spurensicherung kam aus dem Imbiss: „Der Imbiss ist sehr sauber, es gibt nur wenige Spuren. Wir müssen die noch auswerten, aber da ist jemand mit recht großen Füßen und Motorradstiefeln im Laden gewesen. Es sieht so aus, als wenn der Mann mit nur einem Schuss in die Stirn getötet wurde. Aber das wird Knud euch kompetenter sagen können, es ist nur eine Vermutung von mir. So ein bisschen was habe ich in den letzten Jahren immerhin auch gelernt.“

Die Ermittler bedankten sich, dann gingen sie ins „Sala Thai“. Der Raum war recht schmucklos, nur sechs Tische mit ein paar einfachen Stühlen und ohne thailändische Folklore an den Wänden. Gemütlich ging anders, das Hauptgeschäft waren wohl die Abholer. Oder im Sommer diejenigen, die sich draußen hinsetzten. Christian erinnerte sich, dass dann dort mehrere Tische standen. Die Küche war blitzblank. Eigentlich. Preecha lag auf dem Rücken, das Loch in der Stirn schien übergroß. Umgeschmissen oder zerstört war nichts. Er war einfach überrascht worden, wie gestern Zhanna. Was hatte er verbrochen?

Ditte ging zu Tikky, die vorne auf einem der Stühle saß, unaufhörlich weinte und ihre Hände in ihren Haaren verkrallt hatte.

„Wo warst du, als das passiert ist?“

Es dauerte etwas, bis die Frau sich so beruhigt hatte, dass sie sich einigermaßen verständlich äußern konnte: „Ich war noch zu Kvickly gegangen, um ein paar Sachen zu holen, Obst und Gemüse vor allem.“ „Machst du das jeden Tag?“

„Ja, die frischen Sachen, die uns bei Netto nicht so gut gefallen, holen wir bei Kvickly. Preecha bereitet inzwischen immer schon die Küche vor.“

Es konnte also sein, dass jemand dieses Ritual kannte und so abgewartet hatte, bis Tikky losgegangen war. „Seid ihr mal bedroht worden?“

„Nein, nie, alle Leute waren immer sehr freundlich zu uns.“ Tikky schüttelte sehr heftig den Kopf.

„Und im privaten Bereich? Also ich meine, hattet ihr mal Streit mit z. B. den Nachbarn?“

„Nein, wir kennen auch nicht viele, weil wir immer arbeiten. Aber es waren immer alle nett und haben uns gegrüßt.“

„Gibt es Rivalitäten zwischen den asiatischen Imbissen auf Bornholm?“

„Nein, einige kennt man, andere nicht, aber es gibt keinen Streit.“

„Wie sieht es mit Schutzgeld aus, habt ihr das gezahlt?“ „Nein, wir haben das immer abgelehnt, schon mein Vater hat das getan, und unsere Söhne machen das jetzt auch.“

„Dein Vater?“

„Ja, mein Vater.“ Sie versuchte sich zu beruhigen und atmete tief durch. „Er hatte einen Imbiss in Aalborg, er ist 1973 mit meiner Mutter aus Thailand nach Dänemark gekommen und hat einen Imbiss aufgemacht. Ich wurde ein Jahr später geboren. Als er sich zur Ruhe gesetzt hat, haben Preecha und ich den Laden übernommen.“ Die Frau wirkte mit einem Mal ganz gefasst.

„Und wie war das bei Preecha?“

„Ja, wie soll ich sagen, seine Mutter wurde hierhergelockt. Ihr wurde ein guter Job versprochen, aber als sie in Dänemark angekommen war, musste sie in einem Bordell in Kopenhagen arbeiten. Dann hat sich ein Mann in sie verliebt und sie da weggeholt.“

„Das ging so einfach?“

Tikky starrte Ditte an, ihre Augen schienen immer größer zu werden, monoton sprudelte es aus ihr heraus: „Nein, der Mann war Politiker und hatte gute Verbindungen zur Polizei. Wie genau, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat er Preechas Mama da herausbekommen. Ob er diesem Mann vom Bordell gedroht hat oder ihm Geld gezahlt hat, das hat sie nie erzählt.“

„Und der Mann ist Preechas Vater?“

„Ja, sie haben geheiratet, und Preecha kam zur Welt.“ „Okay, das habe ich verstanden. Du hast also keinerlei Idee, wer Preecha hätte umbringen wollen?“

„Nein, nein, nein, es gab keinen Grund, überhaupt keinen. Er war ein so guter Mann.“ Die Frau starrte Ditte nun wortlos an. Plötzlich erwachte sie aus ihrer Starre, die Gefühle bahnten sich wieder ihren Weg, Tränen begannen zu strömen, lautes Schluchzen füllte den Raum. Alles brach aus ihr heraus. Ditte gab einer Bereitschaftspolizistin ein Zeichen, die kümmerte sich sofort um Tikky.

Die Ermittler verließen das „Sala Thai“ tief bedrückt. Jan schaute auf das Schild: „Was heißt eigentlich ,Sala´? Ditte, wie gut ist dein Thailändisch?“

Der war gerade nicht nach Späßen, sie holte ihr Handy heraus und googelte den Begriff: „Das ist ein nach allen Seiten offener Pavillon.“

„Danach sah es mir da drinnen aber nicht aus.“ Die drei beschlossen, wieder ins Büro zu fahren.

5

„So, was will unser dieser Mord jetzt sagen?“, begann Jan im warmen Büro im Zahrtmannsvej.

Seine beiden Kollegen schwiegen. Eigentlich war bereits am Tatort alles gesagt worden. „Mein Vorschlag ist, dass wir die Idee, dass es hier um rassistische Morde geht, intensiv weiterverfolgen. Christian, frage bitte in Kopenhagen nach, auch hier bei der ,Tidende´, ebenso bei irgendwelchen antifaschistischen Gruppierungen in Kopenhagen, die sind manchmal sehr gut informiert, wollen aber mit dem Staat, also uns, nichts zu tun haben. Wir dürfen keine Hemmungen haben, mit möglichst allen Leuten zu sprechen. Gibt es hier auf Bornholm eine Zelle, die selbst vor Mord nicht zurückschreckt?“

„Ich habe davon noch nie gehört“, lautete Christians Antwort, zu der Ditte nickte.

„Gut, bitte volle Kraft voraus. Ditte, deine Idee, dass es auch um Drogendeals gehen könnte oder andere merkwürdige Geschäfte, sollen wir ebenfalls weiterverfolgen, solange wir bei der Rassisten-Spur keine festen Beweise haben. Höre dich bitte in der Szene um, hier und auf dem Festland.“ Ditte nickte.

Christian saß an seinem Schreibtisch und hatte das Gefühl, vor einem riesigen Berg zu sitzen. Wo sollte er anfangen? Dieser Fall begann heftiger als die vorherigen. Er nahm sich sein Telefon und rief seinen Freund Lasse bei der „Tidende“ an, mit dem war er zur Schule gegangen.

„Hallo Christian, sag mal, du hast Zeit zu telefonieren? Wenn ich das richtig mitbekommen habe, habt ihr gerade viel zu tun. Zwei Morde in zwei Tagen, und du willst mit mir klönen?“

„Sehr witzig, natürlich rufe ich dich deswegen an. Die Toten sind ja beide Ausländer, also der Thai war keiner, sondern ein hier geborener Däne, aber wir überlegen natürlich, ob da irgendwelche Rassisten am Werk sind. Das bitte ganz vertraulich. Habt ihr in der Redaktion mal was von einer rechtsradikalen Zelle oder Gruppierung auf Bornholm mitbekommen?“

„Nein, jedenfalls keine, die die Leute abknallt. Du erinnerst dich an diesen Lehrer, den ihr auch im letzten Herbst unter Verdacht hattet. Der mit seiner Frau den Gartenladen in Snogebæk besaß.“

„Westwood.“