Die Abenteuer des Samuel Braun - Helen Liebendörfer - E-Book

Die Abenteuer des Samuel Braun E-Book

Helen Liebendörfer

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Beschreibung

Auf seinen fünf abenteuerlichen Reisen im Auftrag der niederländischen Vereinigten Ostindien-Kompanie wurde der Basler Schiffsarzt Samuel Braun als Wundarzt nicht nur mit unbekannten Krankheiten konfrontiert, er lernte auch Land und Leute kennen, von der afrikanischen Goldküste bis zum Kongo, und zweimal befuhr er das Mittelmeer. Vor der Küste Portugals erlitt er einen Schiffbruch und erlebte mehrere erbitterte Kämpfe mit See räubern. Nach seiner Rückkehr schrieb er anhand seiner Aufzeichnungen seine Erinnerungen nieder – der Reisebericht erschien 1624 im Druck.

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Helen Liebendörfer

Die Abenteuer des Samuel Braun

Als Schiffsarzt nach Afrika

Historischer Roman

Friedrich Reinhardt Verlag

Titelbild: Willem van de Velde der Jüngere, «Dutch Ships in a Calm Sea», 1665

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Claudia Leuppi

Korrektorat: Daniel Lüthi

Satz: Romana Stamm

eISBN 978-3-7245-2673-5

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2654-4

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

www.reinhardt.ch

Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung der Fotos. In einzelnen Fällen konnten die Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Wir bitten um Hinweise an den Verlag, allfällige Honoraransprüche werden gerne abgegolten.

INHALT

VORWORT

1. KAPITEL

1. REISE

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

2. REISE

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

3. REISE

11. KAPITEL

12. KAPITEL

4. REISE

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

5. REISE

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

Biografie von Samuel Braun

BIBLIOGRAFIE

BILDNACHWEIS

AUTORIN

«In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein

über die Dinge,

die du nicht getan hast,

als über die Dinge, die du getan hast.

Also löse die Knoten, laufe aus

aus dem sicheren Hafen.

Erfasse die Passatwinde mit deinen Segeln.

Erforsche. Träume.»

– Mark Twain –

Die Schiffsreisen des Samuel Braun nach Afrika

VORWORT

Auf allen Schiffen nach Übersee – auch schon bei Kolumbus – waren immer Wundärzte mit dabei, auch Bader, Chirurgen oder Feldscherer genannt. In der Medizin herrschte damals eine deutliche Trennung zwischen den akademischen Ärzten und den Wundärzten. Die gelehrten Ärzte stellten die Diagnose und beauftragten die Bader mit der Durchführung der Therapien und chirurgischer Eingriffe. Diese mussten Hand anlegen und sich dadurch mit Blut, Eiter und Exkrementen verunreinigen, um Wunden, Geschwüre und Knochenbrüche zu behandeln, Zähne zu ziehen, zu schröpfen oder einen Aderlass vorzunehmen.

Von vielen Wundärzten, welche auf den Schiffen nach Übersee mitfuhren, kennt man die Namen. Zu ihnen zählt auch der Basler Samuel Braun, manchmal auch schweizerdeutsch Samuel Brun genannt. Von 1611–1621 befuhr er als Schiffsarzt der niederländischen «Vereinigten Ostindien-Kompanie» auf fünf Reisen die Küste von West-Afrika und das Mittelmeer. Braun liess sich seine Reisen sogar bescheinigen, um später nicht als Lügner dazustehen.

Kurz nach seiner Rückkehr schrieb er anhand seiner Aufzeichnungen und auf Anregung des befreundeten Pfarrers Johannes Gross seine Erinnerungen nieder. Diese Reiseberichte erschienen 1624 im Druck. In Basel war man begierig, die Erlebnisse des weitgereisten Mitbürgers zu hören und zu lesen.

Während die meisten Reiseberichte aus jener Zeit fantasievoll ausgeschmückt sind, berichtet Braun erstaunlich objektiv von seinen Erlebnissen. Der Ton seiner Schilderungen ist einfach, schlicht, direkt und ganz frei von prahlerischen Übertreibungen. Er ist wohl der Erste, dem man zuverlässige Nachrichten über Nordguinea und über die Loangoküste verdankt. Er schildert die Bevölkerung, welche er antraf, ohne den Massstab eines Europäers anzulegen, das heisst, er anerkennt, was die Schwarzen mit geringeren Hilfsmitteln leisten. Ebenso beschreibt er die Sitten und Bräuche der Einheimischen, ohne zu werten oder gar überheblich zu wirken. Aber auch Beobachtungen über Parasiten, wie den Guineawurm oder den Sandfloh, flossen in seinen Bericht ein.

Leider wurde im Laufe der Jahrhunderte sein Name fast vergessen. Nur in seiner Zunft, der E. E. Zunft zum Goldenen Stern in Basel, der historischen Vereinigung der Scherer, Bader, Wundärzte und Chirurgen, wird auch heute noch mit Hochachtung von Samuel Braun gesprochen. Auf seinem faszinierenden Reisebericht fusst dieser Roman. Zu Beginn der Kapitel sind jeweils kleine Ausschnitte aus dem Originaltext zu lesen. Ich hielt mich an seine Schilderungen von Stürmen und Piratenüberfällen, und ebenso an seine Berichte über die verschiedenen Bräuche. Auch die kriegerischen und epidemischen Ereignisse habe ich übernommen. Vier Pfauen und zwei kleine weisse Hündchen waren tatsächlich als Geschenke für die Könige mit an Bord. Den Alltag auf dem Schiff hingegen, den er nicht näher beschreibt, entnahm ich anderen Berichten aus jener Zeit. Die Kapitäne, von denen man ausser den Namen nichts weiss, und ebenso die Schiffsmannschaft habe ich nach meinem Gutdünken charakterisiert und erfunden.

Heutzutage fährt man mit sicheren Schiffen und mit jedem nur denkbaren Luxus über die Meere, alles wird im Überfluss angeboten: Speisen, Getränke, Musik und Unterhaltung. Man weiss auch genau, an welchem Tag man im nächsten Hafen einlaufen wird, während Samuel Braun in der endlosen Weite des Ozeans den Winden, Stürmen und ungeniessbaren Speisen trotzen musste. Monatelang wusste niemand, wo er und sein Schiff sich befanden, und seine Familie hätte auch kaum Bescheid erhalten über seinen Tod oder den Untergang des Schiffes.

Mit diesem Roman sollen die Erlebnisse von Samuel Braun wieder in Erinnerung gerufen werden, sein Mut und seine Leistungen, aber auch die unvorstellbaren Zustände und Abenteuer, welche man in jener Zeit auf sich nahm, um fremde Länder kennenzulernen und Handel treiben zu können.

Helen Liebendörfer

Samuel Braun (1590–1668)

Von 1611–1621 befuhr Samuel Braun als Schiffsarzt auf fünf Reisen die westafrikanische Küste und das Mittelmeer.

Reise: 1. Dezember 1611–September 1613 auf dem Schiff

Meermann

unter Kapitän Johann Petersohn von Hoorn zur

Goldküste

und dem

Kongo

Reise: 31. März 1614–Mai 1616 auf dem Schiff

Weisser Hund

ebenfalls unter Kapitän Johann Petersohn an die

Elfenbeinküste

Reise: Juni 1616–24. August 1617 an Bord der

Oranienbaum

unter Kapitän Heinrich Wilhelmson Puis nach

Lissabon

, dann nach einem Schiffbruch weiter mit der

Gulden Falck

nach

Venedig

Reise: September 1617–August 1620 mit der

Gelderland

an die Goldküste zur

Festung Nassau

Reise: Oktober 1620–September 1621 mit Kapitän Thomas Peterson auf der

Edam

ins östliche Mittelmeer nach

Alexandretta

Nach seiner Rückkehr schrieb Samuel Braun seine Erinnerungen nieder. Dieser Reisebericht erschien 1624 in Basel im Druck.

1. KAPITEL

Samuel Braun lief in Gedanken versunken über die Strasse. Er bemerkte nicht einmal, wie man ihn grüsste, denn er strebte, ohne nach rechts oder links zu schauen, seinem Haus zu, das sich direkt gegenüber vom Basler Bürgerspital an der Freie Strasse befand. «Ausgerechnet Jean», murmelte er laut vor sich hin und konnte es immer noch nicht fassen. Wie war so etwas nur möglich? Er fuhr sich aufgeregt durch seine braunen Haare. In den vielen Jahren als Spitalchirurg hatte er schon manches erlebt, Tragisches, Kurioses und Unglaubliches, auch einiges, das an ein Wunder grenzte, aber es waren immer seine Kranken gewesen, denen so etwas widerfahren war. Jedoch ihm selbst noch nie. Gottes Wege sind unergründlich, dachte er ergeben, und wusste nicht, sollte er sich freuen oder nicht. Kurz entschlossen trat er zu seiner Frau in die Küche. Sie hob erstaunt den Kopf.

«Du bist heute sehr zeitig, ist alles in Ordnung?» Braun nickte lächelnd.

«Stell dir vor, Barbara, heute wurde ein ehemaliger Schiffskollege von mir ins Spital eingeliefert. Erinnerst du dich an Jean, der mit mir in Afrika war?»

«Jean? Ich glaube nicht – oder halt, doch, ich meine fast, Jean war der mit den Würmern.»

«Genau der. Und heute liegt er bei mir im Spital! Nach so vielen Jahren. Ich kann es noch gar nicht fassen.»

«Unglaublich. Das müssen bald zwanzig Jahre her sein, seit ihr miteinander auf See wart. Was fehlt ihm denn?» Braun wurde ernst.

«Ich denke, er leidet schon lange an der Franzosenkrankheit1 und jetzt geht es dem Ende zu. Er wurde auf der Durchreise krank, deshalb hat man ihn bei mir eingeliefert. Es werden bei uns ja nur Patienten aufgenommen, die keine Angehörigen haben. Er lebt im Elsass, aber ich weiss nicht, ob er es noch schafft bis dorthin. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, habe ich ihm einst versprochen, dass wir miteinander durchs Stadttor von Strassburg einziehen werden. Er vergisst aber laufend, was gerade gewesen ist. Er hat mich zuerst auch nicht erkannt.»

«Und du bist sicher, dass er es ist?»

«Absolut. Als ich den Namen Jean hörte, sah ich ihn genauer an und erkannte ihn wieder. Er hat zwar fast keine Haare mehr, während er damals einen blonden Haarschopf aufwies. Doch als ich ihn auf die Seereisen ansprach, reagierte er sofort und war plötzlich ganz klar in seinen Erinnerungen. Wir sprachen von der Festung Nassau und vom …»

«Hündchen Luna, habe ich recht?» Samuel Braun lächelte.

«Ganz genau. Luna hat er nicht vergessen.» Barbara schenkte ihm einen Becher Wein ein und er trank ihn in einem Zug aus. Er sah sich plötzlich wieder auf dem wankenden Schiff in der unendlichen Weite des Ozeans. Wie hatte da ein Becher Wein gemundet! Er schnupperte.

«Kochst du etwa gerade ein Erbsmus?», fragte er unsicher.

«Erraten. Ich hoffe, es ist dir recht.» Braun nickte.

«Es ist auf jeden Fall sehr passend. Erbsmus konnten wir damals nicht mehr sehen und riechen, wir bekamen fast nichts anderes vorgesetzt – allerdings waren die Erbsen meist verdorben. Es schmeckte mir gar nicht. Es ist nicht zu vergleichen mit deinem Mus, das kannst du mir glauben.»

«Das will ich schwer hoffen. Es dauert jedoch noch einige Zeit, bis das Essen fertig ist. Die Kinder spielen draussen. Hast du sie nicht gesehen?»

«Ich war in Gedanken und habe nicht darauf geachtet.»

Braun stieg auf der knarrenden Wendeltreppe in den ersten Stock, begab sich in die gute Stube und blickte aus dem Fenster. In der Freie Strasse herrschte viel Betrieb. Handkarren wurden hin- und hergeschoben, Mägde mit Wasserkesseln auf dem Kopf liefen zum Brunnen, der sich ganz in der Nähe befand, ein Hund bellte, aber Braun bemerkte es nicht. Er war in Gedanken in Afrika und auf dem Meer. Leider hatte er schon lange zur Kenntnis nehmen müssen, wie rasch die Erinnerungen verblassten. Deshalb lief er zu seinem Schreibpult und nahm das Büchlein über seine Seereisen zur Hand, das er einst mit grossem Stolz veröffentlicht hatte, und blätterte darin. Er sah sich wieder in Amsterdam am Hafen stehen und die vielen Schiffe bestaunen. Wie jung war er damals gewesen …

1 Syphilis

1. REISE

1. Dezember 1611–September 1613 auf dem Schiff Meermann zur Goldküste und dem Kongo mit Kapitän Johann Petersohn

Als ich Anno 1611 im Früling mit Gottes hilff auff meinem Handwerck zu wanderen den Rheinstrom hinab gezogen und zu Amsterdam angelangt, allda auch einen Meister mit namen Herenles Frantzen gefunden: hab ich mit grosser verwunderung allerley grosse Schiff aller orten der Welt, als Ost-Indien, West-Indien, Guinea, Angola, Levanto, Protugal, Hispania, Italia u. aus- und einfahren gesehen. Welches dann mich lustig gemacht, solche newen und seltsamen Länder und Königreich zu erkundigen.

Ein eigenartiger Geruch lag in der Luft, eine Mischung aus Fisch, Tang, Meerwasser und Fäulnis. Samuel Braun stand etwas verloren am Hafen von Amsterdam und blickte staunend auf das bunte Treiben und die vielen Schiffe, welche leicht schaukelnd vor Anker lagen. Unzählige Maste ragten in den fahlen Himmel, Maste von Fischkuttern, aber auch von mehreren grossen, bauchigen Schiffen, die nach Übersee fuhren. Es schien ein heilloses Durcheinander zu herrschen. Entlang des Ufers türmten sich auf einigen wackligen Holzbänken Berge von frisch gefangenen, glitschigen Fischen und anderem Meeresgetier. Es wimmelte von Lastenträgern und Händlern, welche hin- und herliefen, sich etwas zuriefen und versuchten, sich Gehör zu verschaffen. Schubkarren und Ochsenwagen füllten die Anlegestelle. Aus aller Herren Ländern wurden Waren abgeladen, Früchte und Gemüse, die Braun noch nie gesehen, geschweige denn gegessen hatte, ja er kannte nicht einmal ihre Namen. Er verfolgte bewundernd ein auslaufendes Schiff, dessen Segel sich im Wind blähten und hörte das Schreien der Möwen, welche das Schiff begleiteten.

«Hier mitfahren zu können, das wäre mein grösster Wunsch», seufzte er. Ein Bettler, welcher in der Nähe am Boden kauerte und seine Worte hörte, schaute ihn spöttisch an: «Euer grösster Wunsch? Ihr vergesst dabei die Stürme, Überfälle durch Piraten, die schlechten Speisen, Ratten und das ranzige Wasser.» Samuel lächelte überlegen. In seinen Augen war das alles übertrieben.

«Mit einem grossen Schiff hinaus aufs offene Meer zu segeln, zu erleben, wie die Wellen an die Planken schlagen, den Wind zu spüren und die unendliche Weite des Ozeans zu sehen, nichts als Wasser und Himmel, das muss wunderbar sein!»

«Sicher», entgegnete der zerlumpte Mann und seine leicht blutunterlaufenen Augen blickten düster, «aber schaut, wie es endet. Genauso jung und tatendurstig wie Ihr war ich auch einmal. Es ist mir aber gründlich vergangen. Alles, was ich besass, wurde von Piraten geraubt, ich konnte gerade noch mein Leben retten.»

«Nun ja, ich sage immer: Solange man die Sonne noch sehen kann, ist es nicht vorbei! Ich komme gerade von einem Schlachtfeld in der Kurpfalz und könnte als Kriegschirurg Geschichten erzählen …» Der Bettler kratzte sich am Kopf, wie immer plagten ihn die Läuse.

«Ach so, Ihr seid Bader!»

«Ja. Ich habe auf meiner Gesellenwanderung schon einiges gesehen und erlebt mit meinen einundzwanzig Jahren.» Braun blickte wieder sehnsüchtig zu den Schiffen. «Man hat mir erzählt, dass die Matrosen mit unvorstellbaren Reichtümern heimkehren und danach ausgesorgt haben.»

«Noch mehr kommen abgemagert und mit Fieber, Atembeschwerden oder Durchfall zurück! Es wird viel Märchenhaftes erzählt in den Strassen von Amsterdam, aber niemand spricht über die Hitze, Kälte und Feuchtigkeit, die man aushalten muss, die Ausbreitung der verschiedenen Krankheiten im engen Schiff oder über die gescheiterten Existenzen und dubiosen Gestalten, mit denen man wochenlang zusammenleben muss. Für sie ist nämlich nur wichtig, dass sie auf längere Zeit ein gesichertes Einkommen haben.»

«Genauso ist es auch bei den Soldaten.»

«Auf einem Schiff werdet Ihr mit vielen Entbehrungen rechnen müssen und Ihr könnt nicht aussteigen. Das betrifft nicht nur das Essen. Seid Ihr Euch zum Beispiel klar darüber, dass während Monaten keine Frauen anzutreffen sind?» Samuel Braun musste zugeben, daran hatte er noch nicht gedacht. Er fuhr sich etwas verlegen mit der Hand durch die braunen Haare und entgegnete: «Ich kenne mich aus mit den derben, zotigen Sprüchen der Soldaten, bei den Seeleuten wird es nicht anders sein.»

«Und alle hoffen auf ein Abenteuer und Reichtum, dabei kehren die meisten nie mehr zurück, die Besatzungen werden reduziert durch Darmkrankheiten, Wechselfieber2 und Scharbock3. Glaubt mir, die Hitze in den fernen Ländern ist mörderisch. Dazu kommen laufend Konflikte mit den Spaniern und Portugiesen, auch wenn man versucht, diesen aus dem Weg zu gehen.»

«Hat nicht der Papst eine Linie gezogen, damit die Spanier und die Portugiesen je einen Teil der neu entdeckten Länder zur Verfügung haben?»

«Sicher, doch wir Protestanten anerkennen nicht, was der Papst bestimmt. Sogar die englische Königin höchstpersönlich zog die Rechtmässigkeit in Zweifel, weil Meer und Luft allen gehören. Die Länder sollen allen Kaufleuten offenstehen. Die Spanier und Portugiesen haben kein bisschen mehr Obergewalt und Macht als wir und andere Christenmenschen. Früher war es Venedig, das den Gewürzhandel mit eiserner Hand beherrschte, dann folgten die Spanier und Portugiesen, doch nun sind wir an der Reihe.» Braun blickte auf den Dreimaster, der gerade entladen wurde und meinte sinnend: «Es sind Waren von grossem Wert auf diesen Schiffen, nicht wahr?»

«Bestimmt einige tausend Gulden – falls man hier ankommt und nicht zuvor in einem Sturm untergeht oder alles an die Piraten verliert, wie es uns passiert ist. Wir waren fünf Schiffe, welche zusammen für eine Million Pfund Pfeffer, Gewürznelken, Muskatnüsse sowie Zimt, Ingwer, Kurkuma, Ebenholz und Diamanten geladen hatten.»

«Und alles fiel an die Seeräuber?»

«Auf See herrscht das Recht des Stärkeren. Drei unserer Schiffe konnten entkommen. Meines leider nicht …»

«Dann wähle ich besser ein kleineres Schiff, um aufs Meer zu fahren, es ist dann weniger verlockend für die Piraten.» Der Bettler umklammerte mit der rechten Hand seinen Stock.

«Ums Himmels willen, nehmt ja kein kleines Schiff! Den gewaltigen Stürmen trotzt man nur mit einem grossen Schiff. Mit einem kleinen hat man keine Chance. Was Ihr von hier aussehen könnt, ist noch nicht der weite, offene Ozean. Ihr müsst zuerst zu den vorgelagerten Inseln fahren, nach Texel. Dort wird auf guten Wind gewartet, bevor man startet. Und achtet darauf, mit welchem Kapitän Ihr auf die Reise geht. Wenn ein Segelschiff gut geführt wird, bleibt auch der Klabautermann dem Schiff gewogen.»

«Wer ist der Klabautermann?»

«Der Klabautermann ist der gute Schiffsgeist, der unsichtbar auf jedem Segelschiff mitfährt.»

«Aha, Ihr versteht wirklich viel von der Seefahrt. Ich hingegen sehe das Meer zum ersten Mal», murmelte Braun etwas verlegen. Er hatte sich bis anhin nie mit der Seefahrt beschäftigt.

«Ihr werdet alles kennenlernen, wenn Ihr eine Seereise mitmacht. Ihr müsst aber zuerst bei der Ostindien-Kompanie eine Eignungsprüfung ablegen, und natürlich solltet Ihr den rechten Glauben haben. Ihr seid doch protestantisch, oder? Die protestantische Religion ist hier allgegenwärtig.» Noch während Braun nickte, fuhr der Bettler fort: «Habt Geduld, bis ein grosses Schiff einen Bader sucht, aber vergesst dabei nicht: Die Sterberate auf den Schiffen nach Übersee ist enorm.»

«Das ist auf den Schlachtfeldern nicht anders», entgegnete Braun trocken und wandte sich ab. Er hatte genug von den Warnungen des Mannes, es klang alles wenig ermutigend. So leicht liess er sich nicht abschrecken. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl zurück, er wusste nicht, warum. Was sprach dagegen, zur See zu fahren? Höchstens der Gedanke an die Eltern daheim, welche in Basel auf ihn warteten, vor allem die Mutter, weil sie ihn schon gar nicht gern hatte ziehen lassen. Doch am Oberrhein breite sich die Pest aus, hatte er vor wenigen Tagen vernommen, ein guter Grund, noch nicht nach Hause zurückzukehren.

Es war nie die Rede davon gewesen, auf seiner Gesellenwanderung zur See zu fahren. In Basel hatte niemand an diese Möglichkeit gedacht, er am allerwenigsten. Er hatte nur davon geträumt, einmal das Meer zu sehen. Beim Anblick der vielen Schiffe hier im Hafen von Amsterdam lockte es ihn nun sehr, mitzufahren, und er begann dieses Abenteuer ernsthaft ins Auge zu fassen. Der Alltag eines Baders würde sich auf einem Schiff wohl nicht gross unterscheiden von seinen bisherigen Tätigkeiten. Nach zwei Jahren Lehrzeit und vier Jahren Gesellenwanderung war das sicher zu schaffen. Was konnte es da viel mehr geben als Unfälle, Zahnschmerzen und vielleicht mal eine ernstere Krankheit, der man mit einem Aderlass entgegenwirken konnte. Doch die zu erwartenden Abenteuer in der unbekannten Ferne waren verlockend. Er wusste, Schiffsärzte waren immer gefragt und willkommen, jedes Schiff benötigte einen Bader.

Es war später Nachmittag. Der herbstliche Himmel über Amsterdam zeigte ein durchsichtiges Blau. Wie immer umkreisten einige Möwen die Schiffe im Hafen, während andere auf Holzpfosten sassen und ergeben dem kalten Wind trotzten. Samuel Braun stand ehrerbietig vor den Herren der Ostindien-Kompanie, die ihn zum Eignungsgespräch aufgeboten hatten. Mit seinem schmalen Gesicht und den dunklen Augen wartete er respektvoll, aber unerschrocken auf die Fragen. Vor Aufregung hörte sich seine Stimme heiser an, während er versuchte, die richtigen Antworten zu geben. Er wollte unbedingt auf ein Schiff!

«Als Schiffsarzt habt Ihr verschiedene Aufgaben zu erfüllen, es geht nicht nur um die ärztliche Betreuung der Schiffsmannschaft», wurde ihm eindringlich beschieden, «sondern auch um die gesundheitliche Pflege der Europäer in den überseeischen Niederlassungen. Wir haben entlang des Seewegs nach Indien ein Netz von Handelsstützpunkten errichtet. Es herrscht da oft ein mörderisches Klima und das führt leider zu einer hohen Sterblichkeit.» Samuel Braun nickte.

«Ihr werdet mit Krankheiten in Berührung kommen, die Ihr noch nicht kennt, und die üblichen Heilmittel stehen oft nicht zur Verfügung. Das Oleum scorpionum zum Beispiel, das man bei Nieren- oder Blasensteinen verwendet, oder das Oleum lumbricorum gegen Schmerzen der Bänder und Sehnen ist oft aufgebraucht, Skorpione und Regenwürmer stehen jedoch auf einem Schiff nicht zur Verfügung, um neues Oleum herzustellen. Auch das uralte Heilmittel Theriak hilft nicht immer. Das erfordert Beweglichkeit und Improvisation», mischte sich ein anderer ein. Was für ein Wichtigtuer, dachte Braun, laut sagte er: «Das ist mir vertraut. Auf den Schlachtfeldern wird man ebenfalls oft mit unerwarteten Situationen konfrontiert und hat die benötigten Mittel nicht zur Hand.»

«Eure Behandlungen müsst Ihr bei mangelhafter Beleuchtung durchführen können, vor allem, wenn Euch Stürme oder Piratenüberfälle zwingen, im Unterdeck zu operieren. Wie sieht es mit Euren Instrumenten aus? Habt Ihr alle erforderlichen Geräte?»

«Selbstverständlich», antwortete Braun stolz, «das ist der wichtigste Schatz eines jeden Baders.»

«Die Verantwortung liegt auf einem Schiff ganz bei Euch. Anders als hier an Land wird an Bord kein studierter Arzt anwesend sein, der Euch die Medikamente oder die Dosierung vorgibt.»

«Nun, ein Abführmittel hat schon oft Wunder bewirkt», erwiderte Braun trocken. Die Herren schmunzelten.

«Gott erhalte Euch den Humor! Ich hoffe, es ist Euch bewusst, dass Ihr alle Behandlungen unentgeltlich durchzuführen habt?» Braun nickte. Er war auf dem Schiff mit allem versorgt, hatte einen anständigen Sold, und das Weitere würde sich finden. Er durfte auch selbst Handel treiben, allerdings hatte er keine Ahnung, womit.

«Ihr werdet Leute aus vielen verschiedenen Nationen an Bord vorfinden. Ihr sprecht zwar nicht fliessend holländisch, aber ich sehe, Ihr könnt Euch gut verständigen.» Braun fuhr etwas verlegen mit der Hand über seine Wange.

«Da ich aus Basel komme, ist Deutsch meine Muttersprache und ich spreche ebenfalls Französisch, ich verbrachte mehrere Jahre in Genf.»

«Wenn jemand sehr krank ist, müsst Ihr mit ihm beten können, es sei denn, es wäre ein Laienprediger mit an Bord. Das Seelenheil der Mannschaft ist uns ein Anliegen.» Beten? Unsicher meinte Braun:

«Das Vaterunser ist mir auf Deutsch und Französisch vertraut. Wenn eine andere Sprache gewünscht wird, kann wohl ein Kamerad einspringen.»

«Gut, wir sehen, Ihr wisst Euch zu helfen. Haltet Euch bereit, wir melden uns, sobald wir einen Bader brauchen», wurde ihm abschliessend mitgeteilt, und er war entlassen.

Samuel Braun hüllte sich in seinen braunen Umhang und schlug glücklich und erleichtert den Weg zur Stadt ein. Herbstlaub wirbelte durch die Gassen, genauso wirbelten seine Gedanken durch den Kopf. Er hatte es geschafft! Jetzt, nachdem das Ziel in greifbare Nähe gerückt war, kamen ihm allerdings doch noch einige Zweifel und Bedenken. Während er durch die Gassen von Amsterdam seiner Unterkunft zustrebte, ging er die eben bestandene Musterung durch. Mit dem erwähnten Abführmittel allein werde ich nicht durchkommen, grinste er, aber die Herren waren mir durch diese Antwort wohlgesinnt. Mit etwas Humor kommt man oft weiter. Ob ich den Anforderungen als Schiffsarzt wirklich genügen kann? Habe ich mit meinen einundzwanzig Jahren genug Erfahrungen gesammelt? Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er gerade noch einer Kutsche ausweichen konnte, um vom aufspritzenden Schlamm nicht beschmutzt zu werden. Er bemerkte es kaum. Wohin wird mich die Reise führen? Ost-Indien, West-Indien, Goldküste, Elfenbeinküste, Angola – alles Zauberworte! Ein triumphierendes Lächeln huschte über sein Gesicht; eines dieser Länder werde ich nun zu sehen bekommen. Die Eltern werden staunen, und erst noch meine Kameraden. Er musste unbedingt noch Bescheid geben, damit die Eltern sich nicht ängstigten, wenn jahrelang keine Nachricht von ihm eintraf. Bis jetzt hatte er stets durch irgendeinen wandernden Gesellen etwas von sich hören lassen können. Ein leises Ziehen in der Herzgegend bei den Gedanken an Basel schob er auf die Seite. Auf dem Schiff würden alle Kontakte wegfallen. Umgekehrt auch, dachte er etwas bedrückt, weder von der heranziehenden Pest noch von den Glaubenskriegen, welche immer irgendwo aufflackerten, würde man auf dem Schiff etwas vernehmen. Letzteres bedauerte er weniger. Es musste schön sein, den Streit zwischen Katholiken und Protestanten, den Wiedertäufern, den Ketzern und all den anderen Glaubensrichtungen für einige Zeit vergessen zu können. Mutig trat er in die Badstube ein. Er musste seinem Meister Frantzen schonend beibringen, dass er nicht mehr lange auf ihn zählen konnte.

«Meister, ich werde zur See fahren, die Musterung habe ich bestanden. Es wird wohl bald so weit sein.» Frantzen runzelte die Stirn.

«So, so, du willst auf ein Schiff. Ich erinnere mich, dass du schon mehrmals davon gesprochen hast. Es scheint, du bist von unheilbarer Abenteuerlust erfüllt.»

«Ja, denn wenn ich es jetzt nicht packe, komme ich nie mehr dazu. Ich werde in Basel noch lange genug den Alltag ohne besondere Abenteuer meistern müssen.»

«Zwei bis drei Jahre wirst du wohl unterwegs sein bei Hitze, Kälte, Sturm und vielen weiteren Gefahren.»

«Ich weiss, es bringt viele Risiken mit sich, aber ich werde auch viel Spannendes erleben.»

«Willst du wirklich dein Leben aufs Spiel setzen? Was lustig beginnt, kann leicht als Tragödie enden.»

«Das Leben ist immer gefährlich. Auch an Land bin ich nicht davor gefeit, krank zu werden oder in einem Krieg umzukommen.»

«Das stimmt, doch du kannst an Land den Risiken besser ausweichen.»

«Wo kein Wagnis, da kein Gewinn – ich meine, das hat Luther einmal gesagt …»

«… und damit sicher keine Schiffsreise gemeint», lachte Meister Frantzen und fügte achselzuckend bei: «Tu, was du nicht lassen kannst.»

Auch wenn Samuel Braun seine Entscheidung nach aussen hin verteidigte, war er oft hin- und hergerissen zwischen der ungeduldig erwarteten Abreise und dem inneren Drang, lieber zufrieden an Land zu bleiben. Doch wenn er am Hafen stand und die Schiffe beobachtete, konnte er es vor Aufregung kaum erwarten, endlich seinen Fuss an Bord eines Dreimasters zu setzen.

Amsterdam mit den vorgelagerten Inseln, u. a. die Insel Texel, auf welcher die Schiffe gute Winde abwarteten, um nach Übersee zu starten.

2 Malaria

3 Skorbut

2. KAPITEL

Hat uns den 1. Januarij Anno 1612 solcher Sturmwind uberfallen, dass den 2. Jan. nicht mehr als ein einig Schiff bey uns verblieben, nämlich das Schiff der Blaue Löw genannt. Dann ich aus unerfahrenheit vermeint, die ganze Armada sey zu grund gerichtet.

Der Sturmwind heulte und das Meer tobte. Das Schiff ächzte, wenn eine Welle hereinbrach. Dann hob es sich erneut in die Höhe und fiel gleich darauf wieder in ein tiefes Wellental und der nächste Brecher schlug über dem Deck zusammen. Samuel Brauns Magen revoltierte, aber es blieb keine Zeit, darauf zu achten. Er duckte sich bei jeder hereinbrechenden Welle, sah für einige Zeit gar nichts mehr ausser Gischt und hoffte, dass die nächste Woge nicht noch mächtiger sein würde. Er war vollkommen durchnässt, hatte Salzwasser in den Haaren, den Augen, der Nase und im Mund und klammerte sich verzweifelt an ein Tau, welches am Grossmast angebunden war. Trotz der mehrfach geflickten Fausthandschuhe waren seine Finger nass und steif vor Kälte. Zum Glück besass er eine Kappe mit herunterklappbarem Rand zum Schutz der Ohren, während die meisten anderen nur eine Wollmütze trugen. Ich hätte meine Reise nicht im Winter starten sollen, dachte er schlotternd. Die riesigen Wellen hatten eine enorme Wucht. Nur wenn man sich festhielt, wurde man nicht mitgerissen und über Bord gespült. Von den vielen anderen Schiffen, welche nach der vier Wochen langen Flaute auf Texel alle miteinander losgesegelt waren – über siebzig an der Zahl – war nirgends mehr etwas zu entdecken. Wo waren sie nur alle hingekommen? Waren sie auseinandergetrieben worden oder waren sie gar untergegangen?

Braun hatte vor dem Auslaufen die Mannschaft interessiert gemustert. Es waren kräftige Burschen aus verschiedenen Ländern, die meisten schienen ziemlich zerlumpt und heruntergekommen. Sie trugen alle ein wamsartiges helles Hemd über einer meist mit vielen Flicken versehenen braunen Pumphose. Bei einigen hatte sich bald gezeigt, dass es nicht ihre erste Seereise war. Kapitän Johann Petersohn von Hoorn, ein kräftiger Kerl mit schwarzem Bart und ernsten, schwarzen Augen, wusste sofort alle zu beschäftigen, damit keine Langeweile aufkommen konnte, denn bei den engen Verhältnissen wäre sonst rasch Streit entstanden. Er war sowieso kaum zu vermeiden. Das hatte sich schon in den ersten Tagen gezeigt. Eine böse Prügelei war wegen etwas Belanglosem entstanden, aber Kapitän Petersohn hatte die zwei Raufbolde gleich hart angefasst und Braun danach die Blessuren verarzten lassen. Kapitän Petersohn war eine imponierende Gestalt, hart und unerbittlich, aber gerecht. Er war ein leutseliger Mensch, strahlte stets grosse Ruhe aus, ein alter Fuchs. Das war wichtig, denn wer konnte schon wissen, was sie noch erwartete?