Die Abenteuer des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle - E-Book

Die Abenteuer des Sherlock Holmes E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

221 B Baker Street, London – die wahrscheinlich berühmteste literarische Adresse der Welt. Hier wohnt Sherlock Holmes, der ebenso geniale wie verschrobene Detektiv, Meister der detailgenauen Beobachtung, Inbegriff des analytischen Denkens. Sein Grundsatz: Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch ist. Stets an seiner Seite ist Dr. John Watson, sein treuer Weggefährte. In zwölf spannenden Erzählungen lösen die beiden die kniffligsten Kriminalfälle. Sei es ein geheimnisvoller Brief mit fünf Orangenkernen, ein in einer Weihnachtsgans versteckter Juwel oder ein Ingenieur ohne Daumen – jeder Fall ist ein detektivisches Meisterstück!Mit Sherlock Holmes, dem eigenwilligen Genie mit Pfeife und Tweedmütze, hat Arthur Conan Doyle den wohl berühmtesten Detektiv aller Zeiten geschaffen. Immer neue Verfilmungen beweisen, dass seine Popularität ungebrochen ist. Ein Klassiker der Kriminalliteratur! – Mit einer kompakten Biographie des Autors

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Seitenzahl: 517

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Arthur Conan Doyle

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

Aus dem Englischen übersetzt von Silvia Böcking, Ursula Geiger, Ulrike Jung-Grell, Ingrid Krüger-Dürr, Hans-Christian Oeser, Karin Polz, Evi Spreitzer, Klaus Timmermann und Ulrike WaselNachbemerkung von Alexander Reck

Reclam

1989, 2007, 2020 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Alamy Stock Foto / Sira Anamwong (Sherlock); © shutterstock.com / DUYGU YALCIN (Violine)

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961722-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020595-2

www.reclam.de

Inhalt

Skandal in BöhmenDie Liga der RothaarigenEine Frage der IdentitätDas Geheimnis vom Boscombe-TalDie fünf OrangenkerneDer Mann mit der FratzeDer Blaue KarfunkelDas gefleckte BandDer Daumen des IngenieursDer adlige JunggeselleDas Grüne DiademBlutbuchenAnmerkungenNachwortZeittafel

Skandal in Böhmen

I

Für Sherlock Holmes ist sie stets die Frau. Selten hörte ich, dass er sie unter einem anderen Namen erwähnt hätte. In seinen Augen überragt und überschattet sie ihr ganzes Geschlecht. Nicht, dass er für Irene Adler irgendeine der Liebe vergleichbare Empfindung verspürt hätte. Alle Gefühle, insbesondere aber dieses eine, waren seinem leidenschaftslosen, peniblen, aber bewundernswert ausgeglichenen Gemüt ein Gräuel. Er war, wie ich meine, der perfekteste Denk- und Beobachtungsapparat, den die Welt je erblickt hat; der Rolle des Liebhabers indes wäre er nicht gewachsen gewesen. Niemals sprach er von den zarteren Regungen anders als mit Spott und Hohn. Dem Beobachter waren sie ein hochgeschätzter Gegenstand, eine vortreffliche Gelegenheit, den Schleier, der über den Motiven und Handlungen der Menschen liegt, zu lüften. Doch für den geschulten Denker hieße derartige Einbrüche in sein eigenes heikles, feingestimmtes Temperament zu dulden einen Störfaktor einzuführen, der alle seine Denkresultate in Zweifel ziehen mochte. Staub in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner Vergrößerungsgläser könnte nicht störender wirken als ein heftiges Gefühl in einer Natur wie der seinigen. Und doch gab es nur eine Frau für ihn, und diese Frau war die kürzlich verstorbene Irene Adler zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

Ich hatte in letzter Zeit wenig von Holmes gesehen. Durch meine Heirat hatten wir uns auseinandergelebt. Mein vollkommenes Glück und die häuslichen Aufgaben, welche einem Mann erwachsen, der sich erstmals in der Lage findet, Herr eines eigenen Hausstandes zu sein, beanspruchten meine Aufmerksamkeit zur Genüge, während Holmes, der jede Form von Gesellschaft mit der Vehemenz des Bohemiens verabscheute, in unserer möblierten Wohnung in der Baker Street blieb, sich unter seinen alten Büchern vergrub und von Woche zu Woche zwischen Kokain und Ehrgeiz wechselte, zwischen der Einschläferung durch die Droge und der unbändigen Tatkraft seines lebhaften Charakters. Nach wie vor schlug ihn das Studium des Verbrechens in seinen Bann und verschaffte er seinen gewaltigen Fähigkeiten und seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe Nahrung, indem er den Anhaltspunkten nachging und die Geheimnisse enträtselte, deren Lösung die Polizei als hoffnungslos aufgegeben hatte. Von Zeit zu Zeit drangen unbestimmte Berichte über seine Tätigkeit an mein Ohr: seine Vorladung nach Odessa im Mordfall Trepoff, die Aufklärung der ungewöhnlichen Tragödie um die Gebrüder Atkinson in Trincomalee und endlich der Auftrag für das holländische Herrscherhaus, den er so überaus taktvoll zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hatte. Außer diesen Anzeichen seiner Tätigkeit, die ich lediglich mit allen Lesern der Tagespresse teilte, wusste ich indessen nur wenig von meinem früheren Freund und Gefährten.

Eines Nachts – es war der 20. März 1888 – kehrte ich von einem Patientenbesuch zurück (ich hatte nämlich meinen Zivilberuf inzwischen wiederaufgenommen), als mich mein Weg durch die Baker Street führte. Als ich an der mir wohlbekannten Tür vorüberkam, die sich in meiner Erinnerung stets mit der Zeit, da ich auf Freiersfüßen ging, und mit den mysteriösen Vorfällen um die Studie in Scharlachrot verband, überkam mich das heftige Verlangen, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, wie er seine außerordentlichen Gaben einsetzte. Seine Räume waren hell erleuchtet, und als ich hinaufschaute, sah ich eben die dunkle Silhouette seiner hohen, hageren Gestalt zweimal hinter der Jalousie vorübergehen. Rasch, ungeduldig schritt er im Zimmer auf und ab, den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken verschränkt. Für mich, der ich alle seine Stimmungen und Gewohnheiten kannte, sprachen seine Haltung und sein Gebaren für sich. Er war wieder bei der Arbeit. Er hatte sich aus seinen von der Droge genährten Träumen gerissen und war einem neuen Problem dicht auf der Spur. Ich läutete und wurde zur Kanzlei hinaufgeführt, die ich seinerzeit mit ihm geteilt hatte.

Sein Verhalten war nicht überschwänglich – das war es selten –, aber er war, glaube ich, doch angetan, mich zu sehen. Ohne viel Worte zu verlieren, aber mit einem wohlgefälligen Blick winkte er mich zu einem Lehnsessel, warf sein Zigarrenetui herüber und wies auf eine Kredenz und ein Sodasiphon in der Ecke. Dann blieb er vor dem Kamin stehen und musterte mich auf seine ungewöhnliche, durchdringende Art.

»Die Ehe bekommt Ihnen«, stellte er fest. »Ich glaube, Watson, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie das letzte Mal sah.«

»Sieben«, erwiderte ich.

»Wahrhaftig, ich hätte ein wenig mehr geschätzt, aber nur eine Kleinigkeit mehr, scheint mir, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie hatten mir nicht anvertraut, dass Sie die Absicht hatten, sich wieder einspannen zu lassen.«

»Woher wissen Sie es dann?«

»Ich sehe es, ich schließe es. Woher weiß ich wohl, dass Sie kürzlich erst sehr nass geworden sind und dass Sie ein äußerst ungeschicktes und unachtsames Dienstmädchen haben?«

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das ist zu viel des Guten. Hätten Sie ein paar Jahrhunderte früher gelebt, wären Sie mit Sicherheit verbrannt worden. Es ist wahr: Donnerstag habe ich einen Spaziergang über Land gemacht und bin fürchterlich zugerichtet nach Hause gekommen. Da ich jedoch meine Kleider gewechselt habe, kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie darauf gekommen sind. Was Mary Jane angeht, so ist sie unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt; aber wiederum kann ich einfach nicht sehen, wie Sie das herausbekommen haben.«

Er gluckste vergnügt in sich hinein und rieb die langen nervösen Hände.

»Ein Kinderspiel«, sagte er. »Meine Augen verraten mir, dass das Leder an der Innenseite Ihres linken Schuhs, genau da, wo der Schein des Kaminfeuers auf ihn fällt, sechs fast parallele Schrammen aufweist. Offenkundig sind sie von jemandem verursacht, der sehr unachtsam am Sohlenrand herumgekratzt hat, um verkrusteten Schlamm zu entfernen. Sehen Sie, von daher meine zweifache Schlussfolgerung, dass Sie bei abscheulichem Wetter unterwegs waren und dass Sie ein besonders tückisches, stiefelschlitzendes Exemplar von Londoner Dienstmädchen hatten. Was aber nun Ihre Praxis anbelangt – wenn ein Herr meine Wohnung betritt und nach Jodoform riecht, eine Spur schwarzen Höllensteins an seinem rechten Zeigefinger und eine Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders hat, die anzeigt, wo er sein Stethoskop verborgen hält, müsste ich wahrhaft schwerfällig sein, ihn nicht für ein aktives Mitglied des Ärztestandes zu erklären.«

Angesichts des Behagens, mit dem er seine Beweisführung erläutert hatte, konnte ich mir ein Lachen nicht verbeißen. »Wenn ich Ihre Argumentation höre«, bemerkte ich, »scheint mir die Sache jedes Mal lächerlich einfach zu sein, ganz so, als könne ich sie mit Leichtigkeit selber nachmachen; aber bei jedem neuerlichen Beweis Ihres Scharfsinns bin ich wieder verblüfft, bis Sie mir Ihren Gedankengang erklären. Und doch bin ich überzeugt, dass meine Augen ebenso gut sind wie die Ihren.«

»Ganz recht«, erwiderte er, indem er sich eine Zigarette anzündete und sich in einen Sessel fallen ließ. »Sie sehen zwar, aber Sie nehmen nicht wahr. Der Unterschied liegt doch auf der Hand. Sie haben zum Beispiel regelmäßig die Stufen gesehen, die von der Eingangshalle zu diesem Zimmer heraufführen.«

»Regelmäßig.«

»Wie oft?«

»Nun, einige hundert Male.«

»Wie viele Stufen sind es also?«

»Wie viele? Das weiß ich nicht.«

»Allerdings nicht! Sie haben sie eben nicht wahrgenommen. Und gleichwohl haben Sie sie gesehen. Genau das ist der springende Punkt. Nun denn, ich weiß, dass es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch wahrgenommen habe. Übrigens, da Sie sich nun einmal für diese kleinen Probleme erwärmen und die Güte hatten, ein oder zwei meiner unbedeutenden Erlebnisse aufs Papier zu bringen, sind Sie vielleicht auch hieran interessiert.« Er warf einen Bogen blassrot getönten, steifen Briefpapiers herüber, der offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Er kam mit der letzten Post«, sagte er. »Lesen Sie ihn vor.«

Der Brief war undatiert und trug weder Unterschrift noch Absender.

»Heute Abend um ein Viertel vor acht Uhr«, hieß es, »wird ein Herr Sie aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von allergrößter Tragweite zu konsultieren wünscht. Die Dienste, die Sie kürzlich einem der europäischen Königshäuser erwiesen haben, lassen erkennen, dass man Sie getrost mit Angelegenheiten betrauen darf, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Einschlägige Berichte über Sie haben wir von allen möglichen Seiten erhalten. Seien Sie also zu dieser Stunde in Ihrer Kanzlei und nehmen Sie keinen Anstoß an der Maske, die Ihr Besucher tragen wird.«

»Das klingt allerdings rätselhaft«, äußerte ich. »Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«

»Ich weiß noch keine Einzelheiten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen statt die Theorien den Tatsachen. Aber die Mitteilung selbst. Was entnehmen Sie ihr?«

Ich untersuchte sorgfältig die Handschrift sowie das Papier, auf dem das Schreiben abgefasst war.

»Der Verfasser ist vermutlich wohlhabend«, stellte ich fest, bestrebt, den Gedankengängen meines Freundes nachzueifern. »Solches Papier könnte man nicht für unter einer halben Krone die Packung erstehen. Es ist befremdlich dick und steif.«

»Befremdlich – das ist genau das richtige Wort«, sagte Holmes. »Es ist überhaupt kein englisches Papier. Halten Sie es gegen das Licht.«

Dies tat ich und sah ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein großes G mit einem kleinen t in die Papiermaserung eingeprägt.

»Was sagen Sie dazu?«, fragte Holmes.

»Ohne Zweifel der Name des Herstellers, oder eher sein Monogramm.«

»Keineswegs. Das G mit dem kleinen t steht für ›Gesellschaft‹, das deutsche Wort für ›Company‹. Es ist eine landläufige Abkürzung wie unser ›Co.‹. P steht natürlich für ›Papier‹. Nun aber Eg. Lassen Sie uns einen Blick in unser Geographisches Namensverzeichnis für den Kontinent werfen.« Er nahm einen schweren braunen Folianten vom Bücherbord. »Eglow – Eglonitz. Da haben wir es: Egerland. Es ist in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, unweit Karlsbad. ›Erwähnenswert als Schauplatz von Wallensteins Tod und aufgrund seiner zahlreichen Glashütten und Papiermühlen.‹ Haha, alter Junge, was sagen Sie dazu?« Seine Augen sprühten, und von seiner Zigarette sandte er eine große triumphierende blaue Wolke aus.

»Das Papier wurde in Böhmen hergestellt«, sagte ich.

»Genau. Und der Mann, der den Brief schrieb, ist Deutscher. Beachten Sie den eigentümlichen Satzbau: ›Einschlägige Berichte über Sie haben wir von allen möglichen Seiten erhalten.‹ Ein Franzose oder Russe hätte das nicht so formulieren können. Nur der Deutsche ist derart unhöflich gegen seine Verben. Es bleibt uns also nur noch, das Anliegen dieses Deutschen herauszufinden, der auf böhmischem Papier schreibt und lieber eine Maske trägt als sein Gesicht zeigt. Da kommt er schon, wenn mich nicht alles täuscht, all unsere Zweifel zu zerstreuen.«

Noch während er sprach, war deutlich der Hufschlag von Pferden und das Geräusch von Rädern, die am Rinnstein schabten, zu hören, gefolgt von einem scharfen Zug an der Schelle. Holmes pfiff.

»Ein Gespann dem Klange nach«, sagte er. »Ja«, fuhr er fort, während er aus dem Fenster schaute, »ein hübsches kleines Coupé und zwei Pferde, wahre Prachtexemplare. Hundertundfünfzig Guineen das Stück. In dem Fall steckt Geld, Watson, wenn nichts sonst.«

»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, Holmes.«

»Nicht im Geringsten, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ohne meinen Boswell bin ich verloren. Und es verspricht interessant zu werden. Es wäre doch jammerschade, wenn Sie etwas versäumten.«

»Aber Ihr Klient …?«

»Kümmern Sie sich nicht um den. Vielleicht benötige ich Ihre Hilfe, vielleicht auch er. Hier kommt er schon. Setzen Sie sich in diesen Sessel, Doktor, und schenken Sie uns Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Der langsame und schwere Schritt, den wir schon vom Treppenhaus und vom Gang her vernommen hatten, hielt unmittelbar vor der Tür inne. Dann ertönte ein lautes und gebieterisches Klopfen.

»Herein!«, rief Holmes.

Ein Mann trat ein, der schwerlich weniger als sechs Fuß und sechs Zoll maß und Brustkorb und Gliedmaßen eines Herkules besaß. Seine Kleidung war prächtig, aber von einer an schlechten Geschmack grenzenden Pracht, auf die man in England herabblicken würde. Schwere Astrachanstreifen waren an den Ärmeln und Vorderteilen seines zweireihigen Rocks aufgesetzt, während der dunkelblaue Umhang, den er über die Schultern geworfen hatte, mit feuerroter Seide gefüttert war und am Hals mit einer Brosche zusammengehalten wurde, die aus einem einzigen flammenden Beryll bestand. Stiefel, die seine Waden auf halber Länge bedeckten und oben mit reichem braunem Pelz besetzt waren, rundeten den Eindruck barbarischer Üppigkeit ab, den seine ganze äußere Erscheinung vermittelte. In der Hand hielt er einen breitrandigen Hut, über der oberen Gesichtshälfte aber trug er eine schwarze Maske, die bis auf die Backenknochen reichte und die er allem Anschein nach soeben erst zurechtgerückt hatte; denn seine Hand war noch erhoben, als er eintrat. Von der unteren Gesichtshälfte zu schließen, schien er ein Mann von ausgeprägtem Charakter zu sein, mit wulstiger Hängelippe und einem langgestreckten Kinn, das auf eine an Starrsinn grenzende Entschlusskraft hindeutete.

»Sie haben meinen Brief erhalten?«, fragte er mit tiefer, barscher Stimme und starkem deutschen Akzent. »Ich habe Ihnen mitgeteilt, dass ich vorsprechen würde.« Er blickte von einem zum anderen, als sei er sich nicht sicher, an wen er sich wenden sollte.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Holmes. »Dies ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der gelegentlich die Güte besitzt, mir bei meinen Fällen zu assistieren. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Sie dürfen mich mit Graf von Kramm anreden, ich bin ein böhmischer Edelmann. Ich setze voraus, dass der Herr, Ihr Freund, ein Mann von Ehre und Diskretion ist, dem ich eine Angelegenheit von allergrößter Bedeutung anvertrauen kann. Wenn nicht, zöge ich es vor, mich mit Ihnen unter vier Augen zu besprechen.«

Ich erhob mich, um zu gehen, aber Holmes fasste mich beim Handgelenk und drückte mich in meinen Sessel zurück. »Entweder beide oder keiner«, sagte er. »Sie können sich vor dem Herrn über alles auslassen, was Sie mir sagen möchten.«

Der Graf zuckte die breiten Schultern. »Dann muss ich damit beginnen«, sagte er, »Sie alle beide für zwei Jahre zu unbedingter Verschwiegenheit zu verpflichten; nach Ablauf dieser Zeit wird die Angelegenheit nicht länger von Bedeutung sein. Gegenwärtig aber ist es nicht zu viel gesagt, dass sie von einem solchen Gewicht ist, dass sie Einfluss auf den Gang der europäischen Geschichte nehmen könnte.«

»Ich verspreche es Ihnen«, sagte Holmes.

»Ich auch.«

»Sie werden diese Maske entschuldigen«, fuhr unser sonderbarer Besucher fort. »Die erlauchte Persönlichkeit, die mich beauftragt hat, wünscht, dass ihr Bevollmächtigter Ihnen unbekannt bleibe, und ich darf von vornherein bekennen, dass der Titel, den ich mir soeben zugelegt habe, nicht eigentlich der meinige ist.«

»Dessen war ich gewärtig«, bemerkte Holmes trocken.

»Die Umstände sind äußerst delikat, und man muss alle Vorsicht walten lassen, um im Keime zu ersticken, was sich zu einem ungeheuren Skandal auswachsen und eines der Herrscherhäuser Europas ernstlich kompromittieren könnte. Um es geradeheraus zu sagen, in die Angelegenheit verwickelt ist die große Dynastie derer von Ormstein, Erbkönige von Böhmen.«

»Auch dessen war ich mir bewusst«, murmelte Holmes, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.

Unser Besucher warf einen sichtlich befremdeten Blick auf die unbeteiligt ausgestreckte Gestalt des Mannes, der ihm zweifellos als der scharfsinnigste Kopf und tatkräftigste Detektiv Europas geschildert worden war. Holmes schlug die Augen langsam wieder auf und blickte seinen riesenhaften Klienten ungeduldig an.

»Wenn Eure Majestät geruhen wollten, Ihren Fall darzulegen«, bemerkte er, »wäre ich eher in der Lage, Ihnen Rat zu erteilen.«

Der Mann schnellte aus seinem Sessel hoch und lief in unkontrollierter Erregung im Zimmer auf und ab. Dann, mit einer Gebärde der Verzweiflung, riss er sich die Maske vom Gesicht und schleuderte sie zu Boden. »Sie haben recht«, rief er aus, »ich bin der König. Weshalb sollte ich versuchen, es zu verbergen?«

»Wahrhaftig, weshalb?«, murmelte Holmes vor sich hin. »Eure Majestät hatten noch nicht angesetzt, als mir bereits bewusst war, dass ich es mit Wilhelm Gottesreich Sigismund von Ormstein, Großherzog von Kassel-Falkstein und Erbkönig von Böhmen, zu tun habe.«

»Aber Sie werden verstehen«, sagte unser seltsamer Besucher, indem er sich wieder setzte und mit der Hand über die hohe, helle Stirn fuhr, »Sie werden verstehen, dass ich nicht gewohnt bin, derartige Geschäfte in eigener Person abzuwickeln. Indessen, die Angelegenheit ist so heikel, dass ich mich nicht einem Bevollmächtigten hätte anvertrauen können, ohne mich in dessen Macht zu begeben. Ich bin in der Absicht, Sie zu konsultieren, inkognito von Prag angereist.«

»Dann, bitte, konsultieren Sie mich«, sagte Holmes und schloss abermals die Augen.

»Die Tatsachen sind kurz gesagt diese: Vor etwa fünf Jahren machte ich während eines ausgedehnten Besuchs in Warschau die Bekanntschaft der bekannten Abenteurerin Irene Adler. Der Name ist Ihnen ohne Zweifel geläufig?«

»Bitte, seien Sie so freundlich und schlagen Sie in meiner Kartei nach, Doktor«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Seit vielen Jahren hatte er es sich zum System gemacht, Auszüge von Zeitungsartikeln zu Menschen und Sachen anzufertigen, so dass es schwerfiel, ein Thema oder eine Person zu nennen, über die er nicht augenblicklich Informationen hätte beschaffen können. In diesem Fall fand ich ihre Biographie zwischen der eines jüdischen Rabbi und der eines Stabskommandeurs, der eine Monographie über Tiefseefische verfasst hatte, eingeklemmt.

»Lassen Sie mich sehen«, sagte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahre 1858. Altistin – hm! An der Scala – hm! Primadonna an der Kgl. Oper zu Warschau – ja! Hat sich von der Opernbühne zurückgezogen – ha! Lebt in London – ganz recht! Wie ich sehe, wurden Eure Majestät in eine Liebesaffäre mit dieser jungen Person verstrickt, schrieben ihr einige kompromittierende Briefe und haben nun den Wunsch, jene Briefe wiederzuerlangen.«

»Genau das. Aber wie …?«

»Haben Sie sich heimlich trauen lassen?«

»Nein.«

»Keine amtlichen Dokumente oder Urkunden?«

»Keine.«

»Dann kann ich Eurer Majestät leider nicht folgen. Sollte diese junge Person ihre Briefe an die Öffentlichkeit bringen wollen, um Sie zu erpressen oder für andere Zwecke, wie könnte sie ihre Echtheit beweisen?«

»Da ist die Handschrift.«

»Pah, pah! Fälschung.«

»Mein privates Briefpapier.«

»Gestohlen.«

»Mein ureigenstes Siegel.«

»Nachgeahmt.«

»Mein Bild.«

»Gekauft.«

»Aber wir waren beide auf der Fotografie.«

»Oje! Das ist schlimm! Eure Majestät haben in der Tat eine Indiskretion begangen.«

»Ich war vernarrt – von Sinnen!«

»Sie haben sich ernsthaft kompromittiert.«

»Ich war damals erst Kronprinz. Ich war noch jung. Ich bin jetzt gerade erst dreißig.«

»Sie muss wiedergefunden werden.«

»Wir haben es versucht – ohne Erfolg.«

»Eure Majestät müssen zahlen. Sie muss ihr abgekauft werden.«

»Sie wird sie nicht verkaufen wollen.«

»Dann halt gestohlen werden.«

»Fünf Versuche sind unternommen worden. Zweimal haben Einbrecher in meinem Sold ihr Haus durchwühlt. Einmal haben wir ihr Gepäck umgeleitet, als sie auf Reisen war. Zweimal ist ihr aufgelauert worden. Es hat alles zu keinem Ergebnis geführt.«

»Kein Anzeichen von ihr?«

»Nicht das geringste.«

Holmes lachte. »Das ist ja ein ziemlich vertracktes Problem.«

»Aber für mich ein sehr ernstes«, gab der König vorwurfsvoll zurück.

»Sehr ernst allerdings. Und was bezweckt sie mit der Fotografie?«

»Mich zu ruinieren.«

»Aber wie?«

»Ich stehe kurz vor der Vermählung.«

»Davon habe ich gehört.«

»Mit Klothilde Lothman von Sachsen-Meiningen, jüngerer Tochter des Königs von Skandinavien. Vielleicht kennen Sie die strengen Grundsätze ihrer Familie. Sie selbst ist eine Seele von Zartgefühl. Der Schatten eines Zweifels an meinem Lebenswandel würde unsere Verbindung beenden.«

»Und Irene Adler?«

»Droht ihrer Familie die Fotografie zukommen zu lassen. Und das wird sie auch tun. Ich weiß, dass sie es tun wird. Sie kennen sie ja nicht, aber sie hat ein Herz aus Stein. An Schönheit übertrifft sie alle Frauen und an Willensstärke alle Männer. Um zu verhindern, dass ich eine andere Frau eheliche, würde sie sehr weit gehen – bis zum Äußersten.«

»Sind Sie sicher, dass sie sie noch nicht abgeschickt hat?«

»Ich bin sicher.«

»Und wieso?«

»Weil sie sagte, sie werde sie an dem Tage abschicken, an dem das Verlöbnis öffentlich bekanntgegeben werde. Das wird kommenden Montag sein.«

»Na, dann haben wir ja noch drei Tage Zeit«, sagte Holmes mit einem Gähnen. »Da kann man ja von Glück sagen. Immerhin muss ich zurzeit noch ein, zwei Angelegenheiten von Bedeutung unter die Lupe nehmen. Eure Majestät werden natürlich einstweilen in London bleiben?«

»Gewiss doch. Sie werden mich unter dem Namen Graf von Kramm im ›Langham‹ finden.«

»Dann werde ich Ihnen ein paar Zeilen schreiben und Sie wissen lassen, wie wir vorankommen.«

»Ich bitte darum. Ich werde es kaum erwarten können.«

»Wie halten wir es mit der Bezahlung?«

»Sie haben Carte blanche.«

»Ohne Einschränkung?«

»Ich sage Ihnen, ich gäbe eine der Provinzen meines Königreichs, nur um diese Fotografie zu erhalten.«

»Und anfallende Spesen?«

Der König holte einen schweren gamsledernen Beutel unter seinem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Banknoten«, sagte er.

Holmes kritzelte eilig eine Quittung auf ein Blatt seines Notizbuchs und reichte sie ihm.

»Und Mademoiselles Anschrift?«, fragte er.

»Lautet Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John’s Wood.«

Holmes machte sich eine Notiz. »Eine Frage noch«, sagte er. »Hatte das Foto Kabinettformat?«

»Ja.«

»Dann gute Nacht, Eure Majestät; ich bin zuversichtlich, dass wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. Und gute Nacht, Watson«, setzte er hinzu, als die Räder des königlichen Coupés die Straße entlangrollten. »Wenn Sie so gut wären, morgen Nachmittag um drei Uhr vorbeizuschauen, würde ich liebend gern mit Ihnen über diese kleine Angelegenheit plaudern.«

II

Pünktlich um drei Uhr war ich in der Baker Street, aber Holmes war noch nicht zurückgekehrt. Die Wirtin teilte mir mit, er habe das Haus kurz nach acht Uhr morgens verlassen. Ich ließ mich indessen vor dem Kamin nieder in der Absicht, auf ihn zu warten, wie lange es auch dauern mochte. Ich war bereits wieder sehr an seinen Nachforschungen interessiert, denn obgleich sie nichts von den grausigen und merkwürdigen Umständen an sich hatten, die man mit den beiden Verbrechen assoziiert, welche ich an anderer Stelle aufgezeichnet habe, verlieh ihnen doch die Beschaffenheit des Falles und die hohe Stellung des Klienten einen ganz eigenen Charakter. In der Tat, abgesehen von der Natur der Ermittlungen, die mein Freund anstellte, lag in seinem meisterlichen Erfassen einer Situation und seinem scharfen Verstand etwas, das es mir zum Vergnügen machte, seine Arbeitsweise zu studieren und die ebenso fein- wie scharfsinnigen Methoden zu verfolgen, mit deren Hilfe er selbst die unlösbarsten Knoten entwirrte. So sehr war ich seinen unausweichlichen Erfolg gewohnt, dass mir auch nur die Möglichkeit eines Scheiterns gar nicht mehr in den Sinn kam.

Es war schon fast vier Uhr, bevor sich die Tür öffnete und ein betrunken wirkender Stallbursche mit ungekämmtem Haar, Backenbart, gerötetem Gesicht und verwahrloster Kleidung den Raum betrat. Wie vertraut ich auch mit dem erstaunlichen Geschick meines Freundes im Umgang mit Verkleidungen war, so musste ich doch dreimal hinschauen, ehe ich sicher wusste, dass er es wirklich war. Mit einem Nicken verschwand er ins Schlafzimmer, von wo er innerhalb von fünf Minuten wieder auftauchte, im Tweedanzug und respektabel wie eh und je. Die Hände in den Hosentaschen, streckte er die Beine vor dem Kamin aus und lachte etliche Minuten lang herzhaft.

»Nein, wirklich«, rief er aus, den Tränen nahe, und lachte von neuem los, bis er, ermattet und hilflos, genötigt war, sich in den Sessel zurückzulehnen.

»Was ist mit Ihnen?«

»Es ist einfach zu komisch. Ich bin sicher, Sie werden niemals raten, wie ich den Morgen zugebracht habe und wo ich am Ende gelandet bin.«

»Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich nehme an, Sie werden die Gewohnheiten und vielleicht das Haus von Miss Irene Adler beobachtet haben.«

»Gewiss, doch das Nachspiel war ziemlich ungewöhnlich. Aber ich will es Ihnen erzählen. Ich trat kurz nach acht Uhr heute früh aus dem Haus in Gestalt eines stellungslosen Stallknechts. Unter Pferdeknechten herrscht ein wunderbares Einvernehmen und Verständnis. Man braucht bloß einer der ihren zu sein, und schon weiß man alles, was es zu wissen gibt. Ich machte Briony Lodge bald ausfindig. Es handelt sich um eine kleine elegante Villa, rückwärtiger Garten, Vorderfront an die Straße grenzend, zweigeschossig, Chubb-Schloss an der Tür. Zur Rechten ein geräumiges Wohnzimmer, gut eingerichtet, mit hohen Fenstern bis fast auf den Boden und diesen albernen englischen Fensterriegeln, die jedes Kind aufmachen kann. Hinter dem Haus gab es nichts Bemerkenswertes, außer dass man das Flurfenster vom Dach der Remise aus erreichen kann. Ich ging um das Haus herum und prüfte es sorgsam von jedem Standort aus, ohne indessen sonst etwas von Interesse wahrzunehmen.

Daraufhin bummelte ich die Straße hinunter und stieß, wie ich erwartet hatte, auf Stallgebäude in der Gasse, die entlang der einen Gartenmauer verläuft. Ich war den Stallknechten beim Abreiben ihrer Pferde behilflich und erhielt dafür eine Geldmünze, ein Glas Bier, zwei Pfeifenfüllungen Shagtabak und so viele Informationen über Miss Adler, wie ich mir nur wünschen konnte, ganz zu schweigen von einem weiteren halben Dutzend Leuten in der Nachbarschaft, an denen mir nicht im mindesten gelegen war, deren Biographien mir anzuhören ich aber genötigt wurde.«

»Und was ist mit Irene Adler?«, fragte ich.

»Oh, sie hat allen Männern der Umgegend den Kopf verdreht. Sie ist das hübscheste Ding auf Erden, das Frauenkleider trägt. So erzählen es die Leute von Serpentine Mews, bis auf den letzten Mann. Sie lebt zurückgezogen, singt in Konzerten, fährt jeden Tag um fünf aus und kehrt pünktlich um sieben zum Dinner zurück. Selten geht sie zu anderen Zeiten aus, außer wenn sie singt. Hat nur einen männlichen Besucher, von dem aber eine ganze Menge. Er ist dunkelhaarig, stattlich und lebhaft; kommt mindestens einmal, oft zweimal am Tag vorbei. Es ist ein gewisser Mr. Godfrey Norton vom Inner Temple. Sehen Sie: Das sind die Vorteile, wenn man das Vertrauen von Droschkenkutschern genießt. Sie hatten ihn ein dutzendmal von Serpentine Mews heimgefahren und wussten genauestens Bescheid über ihn. Als ich allem, was sie mir mitzuteilen wussten, gelauscht hatte, begann ich noch einmal vor Briony Lodge auf und ab zu schlendern und mir meinen Schlachtplan durch den Kopf gehen zu lassen.

Dieser Godfrey Norton war offensichtlich ein wichtiger Faktor in der Angelegenheit. Er war Rechtsanwalt. Das klang bedeutsam. Was für ein Verhältnis bestand zwischen ihnen, und was war der Anlass seiner wiederholten Besuche? War sie seine Klientin, seine Freundin oder seine Geliebte? Falls ersteres, hatte sie wahrscheinlich ihm die Fotografie in Verwahrung gegeben. Falls letzteres, war das weniger anzunehmen. Von der Beantwortung dieser Frage hing es ab, ob ich meine Arbeit weiter auf Briony Lodge konzentrieren oder meine Aufmerksamkeit der Kanzlei des Herrn im Temple zuwenden sollte. Das war ein heikler Punkt, und er erweiterte mein Untersuchungsfeld. Ich fürchte, ich langweile Sie mit diesen Einzelheiten, aber ich muss Ihnen Einblick in meine geringfügigen Schwierigkeiten geben, wenn Sie die Situation verstehen wollen.«

»Ich folge Ihnen ganz genau«, entgegnete ich.

»Ich war noch dabei, die Sache im Geiste abzuwägen, als eine Droschke auf Briony Lodge zugefahren kam und ein Herr heraussprang. Es handelte sich um einen bemerkenswert stattlichen Mann, dunkelhaarig, mit Adlernase und Schnurrbart – offenkundig um den Mann, von dem ich gehört hatte. Er schien in großer Eile, rief dem Kutscher zu, er solle warten, und stürzte an dem Dienstmädchen vorbei, das die Tür öffnete, mit der Miene eines Mannes, der hier ganz zu Hause war.

Er blieb etwa eine halbe Stunde im Haus, und durchs Fenster konnte ich einige Blicke auf ihn erhaschen, wie er im Wohnzimmer auf und ab schritt, aufgeregt sprach und mit den Armen fuchtelte. Von ihr konnte ich nichts sehen. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf, in noch größerer Erregung als zuvor. Als er auf die Droschke zutrat, zog er eine goldene Uhr aus der Tasche und warf einen flehentlichen Blick darauf. ›Fahr wie der Teufel‹, rief er, ›erst zu Gross & Hankey in der Regent Street und dann zur St.-Monica-Kirche in der Edgware Road. Eine halbe Guinee, wenn du es in zwanzig Minuten schaffst!‹

Und schon fuhren sie ab, und ich war gerade im Zweifel, ob ich nicht gut daran täte, ihnen zu folgen, als ein adretter kleiner Landauer die Gasse heraufkam, der Kutscher mit nur halb zugeknöpftem Mantel und fliegender Krawatte, während die Enden seines Zaumzeugs aus den Schlaufen heraushingen. Er hatte kaum haltgemacht, als sie auch schon aus der Eingangstür herausgeschossen kam und hineinsprang. Ich bekam sie in dem Augenblick nur flüchtig zu sehen, aber sie war eine liebreizende Frau mit einem Gesicht, für das ein Mann wohl sein Leben gäbe.

›Zur St.-Monica-Kirche, John‹, rief sie, ›und einen halben Sovereign, wenn du in zwanzig Minuten dort bist.‹

Die Chance war viel zu gut, um sie auszulassen, Watson. Ich war gerade am Überlegen, ob ich losrennen oder auf ihrem Landauer hinten aufsitzen sollte, als eine Droschke die Straße heraufkam. Der Kutscher sah sich den schäbigen Fahrgast zweimal an, aber ich sprang auf, ehe er etwas einwenden konnte. ›Zur St.-Monica-Kirche‹, sagte ich, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie sie in zwanzig Minuten erreichen.‹ Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf, und natürlich war klar, woher der Wind wehte.

Mein Kutscher fuhr geschwind. Ich glaube nicht, dass ich je rascher gefahren bin, doch die anderen waren schon vor uns da. Die Droschke und der Landauer standen mit dampfenden Pferden vor dem Portal, als ich eintraf. Ich zahlte den Mann aus und eilte in die Kirche. Außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Geistlichen im Chorhemd, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien, war keine Menschenseele zu erblicken. Alle drei standen in einer Gruppe beisammen vor dem Altar. Ich schlenderte das Seitenschiff entlang wie ein Müßiggänger, den es in eine Kirche verschlagen hat. Plötzlich wandten sich die Drei am Altar zu meiner Überraschung nach mir um, und Godfrey Norton kam, so schnell ihn seine Beine trugen, auf mich zugerannt.

›Gott sei Dank!‹, rief er. ›Du wirst ausreichen. Komm, komm!‹

›Was ist denn?‹, fragte ich.

›Komm, Mensch, komm! Nur noch drei Minuten Zeit, oder es wird nicht rechtens sein.‹

Ich wurde halb zum Altar gezerrt, und bevor ich wusste, wie mir geschah, fand ich mich schon Antworten murmeln, die mir ins Ohr geflüstert wurden, mich für Dinge verbürgen, von denen ich gar nichts wusste, und überhaupt bei der unauflöslichen ehelichen Verbindung von Irene Adler, Jungfrau, und Godfrey Norton, Junggeselle, assistieren. Alles war im Nu abgetan, auf der einen Seite stand der Herr und dankte mir, auf der anderen die Dame, während vor mir der Geistliche übers ganze Gesicht strahlte. Es war die lächerlichste Lage, in die ich in meinem Leben je geraten bin, und der Gedanke daran machte mich jetzt eben auch lachen. Anscheinend hatte es irgendeine Unregelmäßigkeit wegen ihrer Heiratspapiere gegeben, der Geistliche hatte sich schlichtweg geweigert, sie ohne so etwas wie einen Trauzeugen zu trauen, und der Glücksfall meines Erscheinens hatte den Bräutigam davor bewahrt, sich auf die Straße begeben und nach einem Brautführer suchen zu müssen. Die Braut schenkte mir einen Sovereign, und ich spiele mit dem Gedanken, ihn zur Erinnerung an dieses Ereignis an meiner Uhrkette zu tragen.«

»Das ist ja eine äußerst unverhoffte Wendung der Dinge«, sagte ich, »und was folgte darauf?«

»Nun, ich fand meine Pläne ernsthaft gefährdet. Es sah ganz so aus, als könne das Paar unverzüglich aufbrechen und dadurch äußerst rasche und energische Maßnahmen meinerseits erforderlich machen. An der Kirchentür jedoch trennten sie sich: Er fuhr zurück zum Temple und sie zu ihrem Haus. ›Ich werde um fünf Uhr in den Park ausfahren wie gewöhnlich‹, sagte sie, als sie ihn verließ. Das war alles, was ich hörte. Sie fuhren in verschiedene Richtungen davon, und ich ging los, meine eigenen Maßnahmen zu treffen.«

»Und die wären?«

»Etwas kalter Rinderbraten und ein Glas Bier«, erwiderte er und betätigte den Klingelzug. »Ich bin zu sehr beschäftigt gewesen, um ans Essen zu denken, und wahrscheinlich werde ich heute Abend noch beschäftigter sein. Übrigens, Doktor, werde ich Ihre Mitarbeit benötigen.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Haben Sie Skrupel, das Gesetz zu übertreten?«

»Nicht im mindesten.«

»Auch nicht, wenn Sie Gefahr laufen, festgenommen zu werden?«

»Nicht für eine gute Sache.«

»Oh, die Sache ist vortrefflich.«

»Dann bin ich Ihr Mann.«

»Dachte ich mir’s doch, dass ich mich auf Sie verlassen könnte.«

»Aber was haben Sie vor?«

»Wenn Mrs. Turner das Tablett gebracht hat, werde ich es Ihnen erläutern. Nun«, sagte er, während er sich ausgehungert dem schlichten Mahl zuwandte, das unsere Wirtin aufgetischt hatte, »ich muss während des Essens darüber sprechen, da ich nicht viel Zeit habe. Es ist jetzt fast fünf. In zwei Stunden müssen wir am Schauplatz des Geschehens sein. Miss, oder eher Madame, Irene kommt um sieben von ihrer Ausfahrt zurück. Wir müssen sie vor Briony Lodge abfangen.«

»Und was dann?«

»Das müssen Sie schon mir überlassen. Ich habe bereits in die Wege geleitet, was sich abspielen soll. Es gibt lediglich einen Punkt, auf dem ich bestehen muss. Sie dürfen sich nicht einmischen, komme, was da wolle. Verstehen Sie?«

»Soll ich mich heraushalten?«

»Sie sollen überhaupt nichts tun. Wahrscheinlich wird es eine kleine Unannehmlichkeit geben. Greifen Sie nicht ein. Sie wird damit enden, dass ich ins Haus geführt werde. Vier oder fünf Minuten später wird das Wohnzimmerfenster aufgehen. Sie sollen sich dicht vor dem geöffneten Fenster postieren.«

»Jawohl.«

»Sie sollen mich im Auge behalten, denn ich werde mich in Ihrem Blickfeld befinden.«

»Jawohl.«

»Und wenn ich meine Hand erhebe – so –, dann werden Sie etwas in den Raum hineinschleudern, das ich Ihnen gleich geben werde, und zugleich Feueralarm schlagen. Können Sie mir in etwa folgen?«

»Vollkommen.«

»Es ist nichts Furchterregendes«, sagte er, indem er eine längliche Röhre von der Form einer Zigarre aus der Tasche holte. »Es ist eine gewöhnliche Spenglerrauchbombe mit Selbstzündung – an beiden Enden ist sie mit einer Zündkapsel versehen. Ihre Aufgabe beschränkt sich hierauf. Wenn Sie Feueralarm schlagen, wird eine ganze Reihe von Leuten den Ruf aufnehmen. Sie können dann ans Ende der Straße laufen, und ich werde mich in zehn Minuten wieder zu Ihnen gesellen. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt?«

»Ich soll unparteiisch bleiben, mich in die Nähe des Fensters begeben, um Sie zu beobachten, und auf ein Zeichen hin diesen Gegenstand hineinschleudern, dann Feueralarm auslösen und an der Straßenecke auf Sie warten.«

»Genau.«

»Dann können Sie sich völlig auf mich verlassen.«

»Das ist vorzüglich. Ich glaube fast, es ist an der Zeit, dass ich mich für die neue Rolle präpariere, die ich zu spielen habe.«

Er verschwand im Schlafzimmer und kehrte nach wenigen Minuten in Gestalt eines liebenswerten und arglosen nonkonformistischen Geistlichen wieder. Sein breitkrempiger schwarzer Hut, seine sackartige Hose, sein weißes Beffchen, sein teilnahmsvolles Lächeln und der ganze Anblick spähender, wohlmeinender Neugier waren dergestalt, dass Mr. John Hare allein es ihm gleichgetan hätte. Nicht nur, dass Holmes seine Kleider vertauscht hatte. Sein Ausdruck, sein Gebaren, sein ganzes Wesen schienen mit jeder neuen Rolle, die er übernahm, wie ausgewechselt. Ebenso wie die Wissenschaft einen scharfsinnigen Denker, so verlor die Bühne an ihm einen prächtigen Schauspieler, als er zum Fachmann des Verbrechens wurde.

Es war Viertel nach sechs, als wir von der Baker Street abfuhren, und es fehlten immer noch zehn Minuten zur vollen Stunde, als wir in der Serpentine Avenue eintrafen. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und es wurden gerade die Laternen angezündet, während wir vor Briony Lodge auf und ab gingen und der Ankunft seiner Bewohnerin harrten. Das Haus sah ganz so aus, wie ich es mir nach Sherlock Holmes’ bündiger Beschreibung ausgemalt hatte, doch die Örtlichkeit wirkte weniger privat, als ich vermutet hatte. Im Gegenteil, für eine schmale Straße in ruhiger Umgebung war sie auffallend belebt. In einer Ecke stand rauchend und lachend eine Gruppe schäbig gekleideter Männer, sodann waren da ein Scherenschleifer mit seinem Schleifstein, zwei Wachmänner, die mit einem Kindermädchen poussierten, und etliche gutgekleidete junge Männer, die mit Zigarren im Mund auf und ab flanierten.

»Sehen Sie«, bemerkte Holmes, als wir vor dem Haus hin und her gingen, »diese Heirat vereinfacht die Sache ziemlich. Die Fotografie wird jetzt zur zweischneidigen Waffe. Es bestehen gute Aussichten, dass sie ebenso viel dagegen hat, dass Mr. Godfrey Norton sie sieht, wie unser Klient dagegen, dass sie seiner Prinzessin unter die Augen kommt. Nun erhebt sich die Frage: Wo können wir die Fotografie auftreiben?«

»In der Tat, wo?«

»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie sie mit sich herumträgt. Sie hat Kabinettformat. Zu groß, um sie leicht in einem Damenkleid zu verbergen. Sie weiß, dass der König imstande ist, ihr auflauern und sie visitieren zu lassen. Zwei Versuche dieser Art sind bereits unternommen worden. Wir dürfen also annehmen, dass sie sie nicht mit sich herumträgt.«

»Wo dann?«

»Bei ihrem Bankier oder ihrem Anwalt. Es besteht diese doppelte Möglichkeit. Aber ich neige der Auffassung zu, bei keinem von beiden. Frauen sind von Natur aus verschwiegen, und sie bevorzugen ihre eigenen Verstecke. Weshalb sollte sie sie einem Dritten aushändigen? Ihrer eigenen Obhut kann sie vertrauen, nicht aber feststellen, welchem indirekten oder gar politischen Einfluss ein Geschäftsmann unterworfen wäre. Außerdem, denken Sie daran, dass sie entschlossen war, sich ihrer in wenigen Tagen zu bedienen. Sie muss dort sein, wo sie ihre Hand daraufhalten kann. Sie muss in ihrem eigenen Haus sein.«

»Aber da ist zweimal eingebrochen worden.«

»Pah! Die wussten nicht, wo sie nachschauen sollten.«

»Aber wie wollen Sie nachschauen?«

»Ich werde gar nicht nachschauen.«

»Wie das?«

»Ich werde sie dazu bringen, sie mir zu zeigen.«

»Aber sie wird sich weigern.«

»Sie wird dazu nicht in der Lage sein. Aber ich höre das Rumpeln von Rädern. Es ist ihr Wagen. Nun führen Sie meine Anordnungen auf den Buchstaben genau aus.«

Während er noch sprach, kam ein Wagen mit schimmernden Begrenzungslichtern um die Kurve der Allee gebogen. Es war ein schmucker kleiner Landauer, der ratternd an der Tür von Briony Lodge vorfuhr. Als er anhielt, stürzte einer der Männer, die an der Ecke herumgelungert hatten, in der Hoffnung, sich ein Kupferstück zu verdienen, nach vorn, den Schlag zu öffnen, doch wurde er von einem anderen Herumtreiber, der in derselben Absicht nach vorn gestürmt war, mit dem Ellbogen beiseite gestoßen. Ein wütender Streit brach aus, den die beiden Wachmänner, welche die Partei des einen Müßiggängers ergriffen hatten, und der Scherenschleifer, der ebenso leidenschaftlich auf der Seite des anderen stand, noch verschärften. Ein Hieb wurde ausgeteilt, und im Nu war die Dame, die ihrem Wagen entstiegen war, Mittelpunkt eines kleinen Knäuels von erhitzt kämpfenden Männern, die mit Fäusten und Stöcken wild aufeinander einschlugen. Holmes flog in die Menge, um die Dame zu schützen; aber als er sie eben erreichte, stieß er einen Schrei aus und fiel zu Boden, das Gesicht blutüberströmt. Bei seinem Sturz rannten die Wachmänner in die eine Richtung, die Herumtreiber in die andere, während eine Reihe besser gekleideter Leute, die das Handgemenge beobachtet hatten, ohne sich darin verwickeln zu lassen, herandrängten, um der Dame beizustehen und sich mit dem verletzten Mann zu befassen. Irene Adler, wie ich sie weiterhin nennen werde, war die Stufen hinaufgeeilt; aber auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen – ihre großartige Figur hob sich deutlich gegen die Lichter der Eingangshalle ab – und blickte auf die Straße zurück.

»Hat der bedauernswerte Herr sich arg weh getan?«, erkundigte sie sich.

»Er ist tot«, riefen mehrere Stimmen.

»Nein, nein, es ist noch Leben in ihm«, schrie jemand anderes. »Aber es wird aus sein mit ihm, bevor man ihn ins Hospital schaffen kann.«

»Er ist ein tapferer Kerl«, sagte eine Frau. »Sie hätten die Uhr und die Börse der Dame ergattert, wenn er nicht gewesen wäre. Es war eine Gaunerbande, und eine rohe obendrein. Ah, er atmet wieder.«

»Er darf nicht auf der Straße liegen bleiben. Dürfen wir ihn hineinbringen, Madam?«

»Gewiss doch. Bringen Sie ihn in den Salon. Dort steht eine bequeme Chaiselongue. Hier entlang, bitte.«

Langsam und feierlich wurde er ins Haus getragen und im großen Zimmer hingebettet, während ich weiterhin die Vorgänge von meinem Posten vor dem Fenster beobachtete. Die Lichter waren angegangen, aber die Jalousien waren noch nicht heruntergelassen, so dass ich Holmes ausgestreckt auf der Couch liegen sah. Ich weiß nicht, ob er in diesem Augenblick der Rolle wegen, die er spielte, von Gewissensbissen geplagt wurde, aber ich weiß, dass ich niemals zuvor in meinem Leben mich meiner selbst aufrichtiger geschämt hatte als jetzt, da ich das wunderschöne Geschöpf sah, gegen das ich mich verschworen hatte, und die Anmut und Freundlichkeit, mit der sie sich um den verletzten Mann kümmerte. Und doch wäre es schwärzester Verrat an Holmes gewesen, sich des Parts zu entledigen, den er mir anvertraut hatte. Ich verhärtete mein Herz und holte die Rauchbombe unter meinem Ulster hervor. Schließlich, dachte ich, tun wir ihr ja nichts zuleide. Wir halten sie lediglich davon ab, einen Dritten zu kränken.

Holmes hatte sich auf der Couch aufgerichtet, und ich sah ihn eine Handbewegung machen wie jemanden, dem die Luft ausgeht. Ein Stubenmädchen stürzte durch den Raum und riss das Fenster auf. Im nämlichen Augenblick sah ich, wie er die Hand hob, und auf dieses Signal hin schleuderte ich meine Bombe in das Zimmer und schlug Alarm. Kaum war das Wort über meine Lippen gekommen, als die gesamte Zuschauermenge, ob gut oder schlecht gekleidet, ob feine Herren, Pferdeknechte oder Dienstmädchen, in den allgemeinen gellenden Aufschrei »Feuer!« einfielen. Dichte Rauchwolken zogen quer durch den Raum und zum offenen Fenster hinaus. Ich sah flüchtig Gestalten umherhasten, und einen Moment später ertönte von drinnen Holmes’ Stimme, der versicherte, es handele sich um blinden Alarm. Durch die kreischende Menge mir einen Weg bahnend, entschlüpfte ich zur Straßenecke und war hocherfreut, als ich zehn Minuten danach meines Freundes Arm in dem meinen fand und wir vom Schauplatz des Aufruhrs fortgelangten. Er schritt einige Minuten lang rasch und schweigend aus, bis wir in eine der ruhigen Straßen gebogen waren, die zur Edgware Road führen.

»Sie haben gute Arbeit geleistet, Doktor«, bemerkte er. »Es hätte nicht besser kommen können. Es ist gelungen.«

»Sie haben die Fotografie?«

»Ich weiß, wo sie steckt.«

»Und wie haben Sie es herausgefunden?«

»Sie zeigte sie mir, wie ich es Ihnen vorhergesagt hatte.«

»Ich tappe immer noch im Dunkeln.«

»Ich will kein Geheimnis daraus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ganz simpel. Sie haben natürlich bemerkt, dass jedermann auf der Straße ein Komplize war. Sie waren alle für den Abend engagiert.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Dann, als der Streit entbrannte, hatte ich etwas feuchte rote Farbe auf meiner Handfläche. Ich stürzte nach vorne, schlug hin, klatschte mir mit der Hand ins Gesicht und wurde zu einem bemitleidenswerten Anblick. Das ist ein alter Kniff.«

»Auch das habe ich ergründen können.«

»Daraufhin trug man mich hinein. Sie musste mich einfach hineinlassen. Was hätte sie anderes tun können? Und in ihren Salon, welches genau der Raum war, den ich unter Verdacht hatte. Das Bild war entweder darin oder in ihrem Schlafgemach, und ich war entschlossen herauszufinden, in welchem der Räume. Man legte mich auf eine Couch, ich fächelte mir Luft zu, man war genötigt, das Fenster zu öffnen, und Sie hatten Ihre Chance.«

»Und wie half Ihnen das?«

»Es war von entscheidender Bedeutung. Wenn eine Frau glaubt, dass ihr Haus in Flammen steht, befiehlt ihr der Instinkt, auf der Stelle zu dem Gegenstand zu stürzen, den sie am höchsten schätzt. Es ist ein restlos überwältigender Impuls, und mehr als einmal habe ich meinen Nutzen daraus gezogen. Im Falle des Darlingtoner Unterschiebungsskandals kam er mir zupass und ebenso in der Angelegenheit von Arnsworth Castle. Eine verheiratete Frau reißt ihren Säugling an sich – eine unverheiratete langt nach ihrem Schmuckkästchen. Nun war mir klar, dass unsere Dame heute nichts im Haus hatte, was ihr wertvoller war als das, wonach wir auf der Suche sind. Sie würde hinstürzen, um es in Sicherheit zu bringen. Ihr Feueralarm war wunderbar. Der Rauch und das Geschrei reichten hin, an Nerven von Stahl zu rütteln. Sie ging wunderschön darauf ein. Die Fotografie befindet sich in einer Nische hinter einer verschiebbaren Tafel genau oberhalb des rechten Klingelzugs. Sie war im Nu dort, und ich bekam sie flüchtig zu sehen, als sie sie halb herauszog. Als ich ausrief, es handele sich um blinden Alarm, legte sie sie wieder zurück, blickte auf die Rauchbombe, stürzte aus dem Zimmer, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich erhob mich und entwischte unter Entschuldigungen aus dem Haus. Ich hatte gezögert, ob ich versuchen sollte, das Foto auf der Stelle in meinen Gewahrsam zu bringen, aber der Kutscher war hereingekommen, und da er mich nicht aus den Augen ließ, schien es sicherer, abzuwarten. Auch nur die geringste Überstürzung kann alles verderben.«

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Unser Auftrag ist praktisch erledigt. Ich werde ihr morgen zusammen mit dem König einen Besuch abstatten – und mit Ihnen, wenn Ihnen daran gelegen ist, mitzukommen. Wir werden in den Salon geführt werden, um auf die Dame zu warten, aber vermutlich wird sie, wenn sie erscheint, weder uns noch die Fotografie antreffen. Es mag Seiner Majestät Befriedigung verschaffen, sie mit eigener Hand wiederzuerlangen.«

»Und wann werden Sie sie besuchen?«

»Morgens um acht. Sie wird noch nicht auf sein, so dass wir freies Feld haben werden. Außerdem müssen wir uns beeilen, denn diese Heirat könnte eine völlige Veränderung in ihrem Leben und in ihren Gewohnheiten bedeuten. Ich muss dem König unverzüglich telegrafieren.«

Wir hatten die Baker Street erreicht und vor der Haustür angehalten. Er fischte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, als ein Passant sagte:

»Eine gute Nacht, Mr. Sherlock Holmes!«

Zu der Zeit befanden sich mehrere Leute auf dem Gehsteig, doch der Gruß schien von einem schlanken jungen Mann im Ulster zu stammen, der vorübereilte.

»Die Stimme habe ich doch schon einmal gehört«, sagte Holmes und starrte die schwach erleuchtete Straße hinunter. »Ich möchte doch zu gerne wissen, wer zum Teufel das gewesen sein könnte.«

III

Ich übernachtete diesmal in der Baker Street, und wir waren gerade mit Toast und Kaffee beschäftigt, als der König von Böhmen ins Zimmer hereinstürmte.

»Haben Sie sie wirklich?«, rief er aus, indem er Sherlock Holmes an beiden Schultern packte und ihm gespannt ins Gesicht schaute.

»Noch nicht.«

»Aber Sie machen sich Hoffnungen?«

»Ich mache mir Hoffnungen.«

»Dann kommen Sie. Ich brenne darauf, loszufahren.«

»Wir brauchen eine Droschke.«

»Nicht doch, mein Coupé wartet.«

»Das wird die Sache vereinfachen.«

Wir stiegen die Treppe hinab und fuhren ein weiteres Mal nach Briony Lodge.

»Irene Adler ist verheiratet«, bemerkte Holmes.

»Verheiratet? Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Aber mit wem?«

»Mit einem englischen Anwalt namens Norton.«

»Aber sie kann ihn doch wohl nicht lieben?«

»Ich hoffe darauf, dass sie es tut.«

»Sie hoffen darauf?«

»Weil es Eurer Majestät jede Furcht vor künftigem Verdruss nähme. Wenn die Dame ihren Ehemann liebt, liebt sie nicht Eure Majestät. Wenn sie aber Eure Majestät nicht liebt, so gibt es keinen Grund, weshalb sie den Plan Eurer Majestät zunichtemachen sollte.«

»Das ist wahr. Und dennoch …! Nun! Ich wünschte, sie wäre standesgemäß gewesen. Was für eine Königin wäre sie geworden.« Er verfiel in ein düsteres Schweigen, das nicht gestört wurde, bis wir in der Serpentine Avenue vorfuhren.

Die Tür von Briony Lodge war offen, und eine ältere Frau stand auf der Treppe. Sie beobachtete uns mit höhnischen Blicken, als wir aus dem Coupé stiegen.

»Mr. Sherlock Holmes, nehme ich an?«, sagte sie.

»Ich bin Mr. Holmes«, antwortete mein Gefährte und sah sie mit einem zweifelnden und ziemlich verdutzten Blick an.

»Sagte ich’s doch! Meine Herrin sagte mir, Sie würden aller Wahrscheinlichkeit nach vorbeikommen. Sie ist heute Morgen zusammen mit ihrem Gemahl nach dem Kontinent aufgebrochen, mit dem 5.15-Zug von Charing Cross.«

»Was?« Sherlock Holmes verlor das Gleichgewicht, weiß vor Ärger und Überraschung. »Heißt das, dass sie England verlassen hat?«

»Um niemals wiederzukehren.«

»Und die Dokumente?«, heischte der König mit heiserer Stimme. »Alles ist verloren.«

»Wir werden sehen.« Holmes drängte sich an der Hausangestellten vorbei und stürzte in den Salon, gefolgt vom König und mir. Möbelstücke lagen in alle Richtungen verstreut, Regale waren auseinandergenommen und Schubfächer aufgezogen, als habe die Dame sie vor ihrer Flucht in aller Eile durchwühlt. Holmes stürmte zum Glockenzug, riss eine schmale Lade zurück, tauchte mit der Hand hinein und zog ein Bild und einen Brief heraus. Das Foto zeigte Irene Adler selbst im Abendkleid, der Brief war überschrieben: »An Sherlock Holmes, Esq. Liegenlassen bis zur Abholung.« Mein Freund riss ihn auf, und alle drei zusammen lasen wir ihn. Er war datiert auf Mitternacht der vorhergehenden Nacht und hatte folgenden Wortlaut:

»Mein lieber Mr. Sherlock Holmes,

Sie haben es wirklich gut gemacht. Sie haben mich vollständig getäuscht. Bis nach dem Feueralarm hatte ich keinen Verdacht geschöpft. Dann aber, als ich herausfand, wie ich mich verraten hatte, begann ich nachzudenken. Ich war schon vor Monaten vor Ihnen gewarnt worden. Man hatte mir mitgeteilt, wenn der König einen Agenten beauftragen werde, dann mit Sicherheit Sie. Man hatte mir Ihre Adresse gegeben. Nach alledem brachten Sie mich dennoch dazu, Ihnen preiszugeben, was Sie wissen wollten. Sogar noch nachdem ich argwöhnisch geworden war, fiel es mir schwer, von solch einem liebenswerten, freundlichen alten Geistlichen irgendetwas Schlechtes zu denken. Aber Sie wissen, dass auch ich als Schauspielerin ausgebildet wurde. Hosenrollen sind mir nicht fremd. Ich mache mir oft die Freiheit zunutze, die sie verschaffen. Ich sandte John, den Kutscher, aus, Sie im Auge zu behalten, rannte nach oben, schlüpfte in meine Ausgehkleider, wie ich sie nenne, und kam herunter, als Sie sich eben entfernten.

Nun, ich folgte Ihnen bis vor Ihre Tür und vergewisserte mich auf diese Weise, dass ich wirklich das Interesse des gefeierten Sherlock Holmes erregte. Dann wünschte ich Ihnen, ziemlich unüberlegt, eine gute Nacht und machte mich zum Temple auf, um meinen Mann zu treffen.

Wir dachten beide, der beste Ausweg, wenn man von einem so gewaltigen Gegner verfolgt werde, sei die Flucht. Daher werden Sie die Vögel ausgeflogen finden, wenn Sie morgen auftauchen. Was das Foto angeht, mag Ihr Klient beruhigt sein. Ich liebe einen Mann, der besser ist als er, und meine Liebe wird erwidert. Der König mag tun und lassen, was er will, ohne Behinderung durch jemanden, den er grausam hintergangen hat. Ich behalte es lediglich, um mich selbst zu schützen und mir eine Waffe zu erhalten, die mich für immer von irgendwelchen Schritten, die er in Zukunft unternehmen mag, verschonen wird. Ich hinterlege ein Foto, an dessen Besitz ihm gelegen sein mag, und verbleibe, lieber Mr. Sherlock Holmes, aufrichtig die Ihre,

Irene Norton, geb. Adler.«

»Was für eine Frau – oh, was für eine Frau!«, rief der König von Böhmen, als wir alle drei das Schreiben durchgelesen hatten. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, wie rasch und resolut sie handelt? Hätte sie nicht eine wunderbare Königin abgegeben? Ist es nicht ein Jammer, dass sie nicht von gleichem Rang ist?«

»Nach dem, was ich von der Dame gesehen habe, scheint sie in der Tat von ganz anderem Rang als Eure Majestät zu sein«, sagte Holmes kalt. »Es tut mir leid, dass ich nicht in der Lage war, den Auftrag Eurer Majestät zu einem erfolgreicheren Abschluss zu bringen.«

»Im Gegenteil, mein lieber Herr«, rief der König aus. »Nichts hätte erfolgreicher sein können. Ich weiß, dass ihr Wort unverbrüchlich ist. Die Fotografie ist jetzt ebenso ungefährlich, wie wenn sie in Asche läge.«

»Ich höre mit Vergnügen, dass Eure Majestät es sagen.«

»Ich stehe unermesslich tief in Ihrer Schuld. Bitte, sagen Sie mir, auf welche Weise ich es Ihnen entgelten kann. Dieser Ring …« Er zog einen schlangenförmigen Smaragdring vom Finger und reichte ihn auf der Handfläche dar.

»Eure Majestät besitzen etwas, das ich ungleich höher schätzen würde«, sagte Holmes.

»Sie brauchen es nur zu nennen.«

»Dieses Foto.«

Der König starrte ihn voller Verblüffung an.

»Irenes Foto?«, rief er aus. »Sicher, wenn Sie es wünschen.«

»Ich danke Eurer Majestät. Dann gibt es in dieser Angelegenheit nichts weiter zu tun. Ich habe die Ehre, Ihnen einen recht guten Morgen zu wünschen.« Er verneigte sich, und indem er sich umwandte, ohne die Hand zu beachten, die der König ihm entgegenstreckte, brach er in meiner Begleitung zu seiner Kanzlei auf.

 

Und so geschah es, dass ein ungeheurer Skandal das Königreich Böhmen in Mitleidenschaft zu ziehen drohte und die ausgekochtesten Pläne von Mr. Sherlock Holmes vom Witz einer Frau vereitelt wurden. Er pflegte sich über die Raffinesse der Frauen lustig zu machen, aber in letzter Zeit habe ich dergleichen nicht mehr von ihm vernommen. Und wenn er von Irene Adler spricht oder sich auf ihre Fotografie bezieht, so geschieht es stets unter dem Ehrentitel: die Frau.

Übersetzung von Hans-Christian Oeser

Die Liga der Rothaarigen

An einem Herbsttag des vergangenen Jahres stattete ich meinem Freund, Mr. Sherlock Holmes, einen Besuch ab und fand ihn in lebhafter Unterhaltung mit einem sehr beleibten älteren Herrn mit frischer Gesichtsfarbe und feuerrotem Haar. Ich war im Begriff, mich mit einer Entschuldigung für mein Eindringen zurückzuziehen, als Holmes mich hastig in das Zimmer zog und die Tür hinter mir schloss.

»Zu einem besseren Zeitpunkt hätten Sie gar nicht kommen können, mein lieber Watson«, sagte er herzlich.

»Ich befürchtete, Sie seien beschäftigt.«

»Das bin ich auch. Sehr sogar.«

»Dann kann ich nebenan warten.«

»Aber nicht doch. Dieser Herr, Mr. Wilson, war in vielen meiner erfolgreichsten Fälle mein Partner und Helfer, und zweifellos wird er mir auch in dem Ihren von größtem Nutzen sein.«

Der beleibte Herr erhob sich halb von seinem Stuhl und deutete eine Verbeugung an, mit einem raschen, fragenden kurzen Blick aus seinen kleinen fettumrandeten Augen.

»Versuchen Sie es mit dem Sofa«, sagte Holmes, ließ sich in seinen Lehnsessel zurückfallen und legte die Fingerspitzen aneinander, wie es in kritischer Stimmung seine Gewohnheit war. »Ich weiß, mein lieber Watson, dass Sie meine Liebe teilen für alles, was bizarr ist und außerhalb der Konventionen und der faden Alltagsroutine liegt. Die Begeisterung, die Sie veranlasste, so viele meiner eigenen kleinen Abenteuer aufzuzeichnen und, wenn Sie mir diese Worte gestatten, ein wenig auszuschmücken, hat das bewiesen.«

»Ihre Fälle haben mich in der Tat außerordentlich interessiert«, bemerkte ich.

»Sie werden sich an meine Äußerung von neulich erinnern, kurz bevor wir uns des sehr geringfügigen Problems annahmen, das Miss Mary Sutherland uns vorlegte, dass wir nämlich, wenn wir seltsame Effekte und ungewöhnliche Kombinationen suchen, uns an das Leben selbst wenden müssen, das immer viel verwegener ist als jedes Erzeugnis der Phantasie.«

»Eine Behauptung, die anzuzweifeln ich mir gestattete.«

»Das haben Sie getan, Doktor, aber nichtsdestoweniger werden Sie sich von mir überzeugen lassen müssen, denn sonst werde ich Sie so lange mit einer Tatsache nach der anderen überhäufen, bis Ihr Verstand unter ihnen zusammenbricht und zugibt, dass ich recht habe. Nun, Mr. Jabez Wilson hat mich freundlicherweise heute Vormittag aufgesucht und eine Geschichte zu erzählen begonnen, die eine der eigentümlichsten zu werden verspricht, die ich seit geraumer Zeit vernommen habe. Sie haben mich bemerken hören, dass die seltsamsten und außergewöhnlichsten Dinge sehr oft nicht mit den größeren, sondern den kleineren Verbrechen verbunden sind und gelegentlich sogar mit Fällen, wo man Zweifel hegen kann, ob überhaupt ein echtes Verbrechen begangen worden ist. Soweit ich bis jetzt gehört habe, kann ich unmöglich sagen, ob es sich bei dem gegenwärtigen Fall um ein Verbrechen handelt oder nicht, aber der Ablauf der Ereignisse gehört gewiss zu dem Eigentümlichsten, was ich je gehört habe. Vielleicht hätten Sie die große Güte, Mr. Wilson, noch einmal mit Ihrer Geschichte zu beginnen. Ich bitte Sie darum nicht nur, weil mein Freund, Dr. Watson, den ersten Teil nicht gehört hat, sondern auch, weil mir wegen der sonderbaren Beschaffenheit der Geschichte viel daran liegt, jede nur denkbare Einzelheit aus Ihrem Mund zu erfahren. In der Regel kann ich mich, wenn ich nur einige leichte Andeutungen zum Ablauf der Ereignisse gehört habe, von den Tausenden von anderen, ähnlichen Fällen leiten lassen, an die ich mich erinnere. Im vorliegenden Fall muss ich zugeben, dass die Tatsachen nach meinem besten Wissen und Gewissen einmalig sind.«

Der behäbige Klient blähte sich mit den Anzeichen eines gewissen Stolzes auf und zog eine schmutzige und zerknitterte Zeitung aus der Innentasche seines Mantels. Während er die Anzeigenspalte überflog, mit vorgebeugtem Kopf, das Blatt auf seinem Knie ausgebreitet, sah ich mir den Mann genau an und bemühte mich, nach der Art meines Gefährten die Hinweise zu deuten, die seine Kleidung oder sein Äußeres geben mochten.

Meine Prüfung brachte mir jedoch keinen sehr großen Gewinn. Unser Besucher zeigte alle Merkmale eines durchschnittlichen, gewöhnlichen britischen kleinen Geschäftsmanns, korpulent, aufgeblasen und schwerfällig. Er trug ziemlich ausgebeulte, verwaschene, schwarzweiß karierte Hosen, einen nicht übermäßig sauberen schwarzen Gehrock, dessen Knöpfe vorne nicht geschlossen waren, und eine Weste von unbestimmter Farbe mit einer schweren Prinz-Albert-Uhrkette aus Messing, von der als Ornament ein viereckiges, durchbohrtes Metallstück herunterhing. Ein abgetragener Zylinder und ein verschossener brauner Mantel mit zerknittertem Samtkragen lagen neben ihm auf einem Stuhl. So eingehend ich ihn auch musterte – insgesamt war nichts Bemerkenswertes an dem Mann, ausgenommen sein auffallender roter Schopf und der Ausdruck äußersten Verdrusses und Missvergnügens in seinen Zügen.

Sherlock Holmes’ scharfem Auge war meine Beschäftigung nicht entgangen, und er schüttelte lächelnd den Kopf, als er meine fragenden Blicke bemerkte. »Außer den eindeutigen Fakten, dass er irgendwann einmal mit den Händen gearbeitet hat, Schnupftabak nimmt, Freimaurer ist, in China war und in der letzten Zeit bemerkenswert viel geschrieben hat, kann ich nichts folgern.«

Mr. Jabez Wilson schreckte auf seinem Stuhl hoch, den Zeigefinger noch auf der Zeitung, die Augen aber auf meinen Gefährten gerichtet.

»Wie um alles in der Welt konnten Sie das alles wissen, Mr. Holmes?«, fragte er. »Woher wussten Sie zum Beispiel, dass ich mit den Händen gearbeitet habe? Es ist die absolute Wahrheit, denn ich habe als Schiffszimmermann angefangen.«

»Ihre Hände, lieber Herr. Ihre rechte Hand ist mindestens eine Nummer größer als die linke. Sie haben mit ihr gearbeitet, und die Muskeln sind stärker entwickelt.«

»Gut. Aber der Schnupftabak und die Freimaurerei?«

»Ich möchte Ihren Scharfsinn nicht beleidigen, indem ich Ihnen verrate, wie ich das feststellte, besonders da Sie, durchaus im Gegensatz zu den strengen Vorschriften Ihrer Bruderschaft, eine Krawattennadel mit Winkelmaß und Zirkel tragen.«

»Ach, natürlich, das hatte ich vergessen. Aber das Schreiben?«

»Was sonst kann es bedeuten, wenn Ihre rechte Manschette fünf Zoll breit derartig glänzt und an der linken die glattgescheuerte Stelle ist, wo Sie den Ellbogen auf den Tisch stützen.«

»Gut, aber China?«

»Der Fisch, den Sie direkt über dem rechten Handgelenk eintätowiert haben, konnte nur in China ausgeführt worden sein. Ich habe mich ein bisschen mit Tätowierungszeichen beschäftigt und sogar zu der Literatur über dieses Thema beigetragen. Der Trick, die Schuppen des Fisches zartrosa zu färben, ist ganz typisch für China. Wenn ich außerdem eine chinesische Münze an Ihrer Uhrkette hängen sehe, wird die Sache noch einfacher.«

Mr. Jabez Wilson lachte schwerfällig. »Nein, so was!«, sagte er. »Ich dachte zuerst, Sie wären sehr schlau gewesen, aber ich sehe, dass eigentlich gar nichts dahintersteckte.«

»Allmählich glaube ich, Watson«, sagte Holmes, »dass es ein Fehler ist, wenn ich Erklärungen gebe. Omne ignotum pro magnifico, wissen Sie, und mein unbedeutender guter Ruf, soweit überhaupt vorhanden, wird Schiffbruch erleiden, wenn ich so offen bin. Können Sie die Anzeige nicht finden, Mr. Wilson?«

»Doch, jetzt habe ich sie«, erwiderte er, indem er seinen dicken roten Finger auf die Mitte der Spalte drückte.

»Hier ist sie. So fing alles an. Lesen Sie nur selbst, Sir.«

Ich ließ mir die Zeitung reichen und las Folgendes:

»AN DIE LIGA DER ROTHAARIGEN. – Aufgrund des Vermächtnisses des verstorbenen Ezekiah Hopkins, Lebanon, Pennsylvania, USA, gibt es jetzt wieder eine offene Stelle, die ein Mitglied der Liga für rein nominelle Dienste zu einem Wochenlohn von vier Pfund berechtigt. Alle rothaarigen Männer über einundzwanzig, die körperlich und geistig gesund sind, kommen in Betracht. Persönliche Vorstellung am Montag um elf Uhr bei Duncan Ross im Büro der Liga, Pope’s Court 7, Fleet Street.«

»Was in aller Welt soll das bedeuten?«, rief ich aus, nachdem ich die merkwürdige Annonce zweimal durchgelesen hatte.

Holmes lachte in sich hinein und zappelte in seinem Sessel hin und her, wie er es zu tun pflegte, wenn er in guter Stimmung war. »Etwas ungewöhnlich, nicht wahr?«, sagte er. »Und jetzt, Mr. Wilson, fangen Sie noch einmal ganz von vorn an und erzählen uns alles über sich selbst, Ihren Haushalt und die Wirkung, die diese Anzeige auf Ihre Lebensumstände hatte. Sie, Doktor, notieren sich zuerst Namen und Datum der Zeitung.«

»Es ist der Morning Chronicle vom 27. April 1890. Genau vor zwei Monaten.«

»Sehr gut. Nun, Mr. Wilson?«

»Also, es ist genauso, wie ich Ihnen erzählt habe, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Jabez Wilson und wischte sich die Stirn. »Ich habe ein kleines Pfandhaus am Coburg Square, in der Nähe der City. Es ist keine sehr große Sache, und während der letzten