Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Kriminalhauptkommissar Lukas Marsollek mitten in der Nacht von seinem Polizeigatten Aki aus dem Schlaf geklingelt wird, ist sofort klar, was los ist. Einsatzleiter Dietmar würde noch heute eine Sonderkommission gründen. Wieder war die Tote eine zierliche Brünette. Auch wies ihr Körper erneut diese ungewöhnlichen Schnitte auf. Wie auf eine Projektorfolie gedruckt, legen sich geometrische Muster immer mysteriöser über den Stadtplan, während sich die Signatur des Täters stetig komplexer gestaltet. Nicht nur die Mordserie bringt Lukas um den Schlaf. Seine Frau verhält sich merkwürdig und auch sein bester Freund wirkt plötzlich gereizt. Währenddessen wird seine zukünftige Chefin, die Leiterin der Operativen Fallanalyse des LKA, dazu beordert. Die Dortmunder Ermittler und der angehende Fallanalytiker Lukas müssen an ihre Grenzen gehen, um die brutalen Taten aufzuklären.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
K. J. Ellinger
DIE ACHTE LINIE
Nicht nur in die Seele des Täters wird man als Leser blicken, sondern auch in die der Ermittler. Mit jedem Band entwickeln sich die Protagonisten beruflich und charakterlich weiter, während sie gemeinsam ihre Fälle lösen.
„Ich liebe meinen Beruf, aber meine Familie liebe ich mehr als alles andere. Denn wenn du einen Job hast, bei dem dir jeden Tag solch grausame Dinge begegnen, brauchst du Anker in deinem Leben. Für mich sind das meine Frau, meine Familie und mein Dezernats-Ehemann und Bruder Aki. Und uns alle gibt es nicht ohne Dietmar und nicht ohne M.A.D.I.L.“
(Lukas im Gespräch mit seiner zukünftigen Chefin).
K. J. Ellinger, 1979 in Frankfurt am Main geboren, zog es 2003 beruflich nach Dortmund. Mittlerweile lebt sie mit Partner und zwei Katzen im östlichen Ruhrgebiet, wo sie derzeit am vierten Band der Reihe Marsolleks Morde arbeitet.
K. J. ELLINGER
DIE ACHTE LINIE
Marsolleks Morde – Band 1
Kriminalroman
1. Auflage
Texte: © 2022 Copyright by K. J. EllingerCoverfoto: © 2015 Copyright by K. J. Ellinger
Covergestaltung: © 2023 Copyright by M. Hoffmann
Verantwortlich
für den Inhalt: K. J. Ellinger
c/o Fakriro GbR / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheimwww.kjellinger.de
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Alle Figuren und Charaktere sind frei von mir erfunden. Es ist durchweg fiktional. Dieses Buch ist in sich geschlossen und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.
Sämtliche Inhalte und Texte sind urheberrechtlich geschützt. Das Urheberrecht liegt, soweit nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet bei mir - K. J. Ellinger.
Wenn der, der etwas notwendig braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin.
(Hermann Hesse)
Immer wenn er sich in letzter Zeit selbst befriedigte, dachte er an die drei Frauen. Es musste anders werden als bei den ersten. Es war noch nicht perfekt.
Als er heute unter der Dusche einen neuerlichen Versuch startete, gefiel es ihm besser. Eventuell bedeutete mehr Flüssigkeit mehr Befriedigung. Außerdem wäre es vielleicht interessanter, wenn sich die offenen Stellen näher am Geschehen befanden. Beides miteinander zu verbinden, konnte der Schlüssel sein. Als er sich vorstellte, wie er diese berührte, während er Sex mit ihr hatte, hielt er es kaum noch aus. Möglicherweise konnte er es nun endlich sehen und vor allem fühlen.
Aufs Neue schlichen sich die Bilder in seine Gedanken. Es musste eine Möglichkeit geben, dies genauso intensiv zu erleben, wie es sich immer wieder in seinem Kopf abspielte.
Zu verkrampft hatte er darüber nachgedacht und nun ging gar nichts mehr. Unbefriedigt stieg er aus der Dusche und trocknete sich ab. Er setzte sich an den PC und schaute auf einschlägigen Seiten ein paar Gore-Videos an. Eine ganze Weile hatte er nach einem gesucht, welches ihn in seinen Überlegungen weiterbringen würde.
Nichts.
Bereits seit drei Wochen hatte er sie beobachtet. Stets lief sie dieselbe Runde, aber nie zur gleichen Zeit. Er hatte keine Lust mehr, nur durch seine Fantasien kommen zu können. Er wollte es wieder erleben. Auch wenn es noch nicht ideal war, würde es besser sein als seine Hand. Erneut bemühte er die Plattform mit den Snuff-Videos. Anscheinend hatte niemand ähnliche Fantasien oder es gab einfach noch nichts dazu. Genervt schloss er den Browser und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Vom Schreibtisch aus sah er in den trostlosen Innenhof. Währenddessen stellte er sich wieder die hübsche Brünette vor.
Nächste Woche würde er nachts arbeiten müssen. Dieses Wochenende wäre also für längere Zeit die letzte Gelegenheit. Natürlich konnte er auf dem Straßenstrich erneut eine Frau bekommen, aber das wollte er nicht. Genau dieses Mädchen sollte es sein. Wahrscheinlich dufteten ihre langen Haare und ihr sportlicher Körper versprach gute Ergebnisse.
Ein weit entfernter Gedankenfetzen meldete sich. Er vermochte es nicht, die Situation komplett vor seinem inneren Auge abzuspielen. Zumindest nicht visuell. Allerdings wusste er sehr genau, wie gut er sich dabei gefühlt hatte. Seitdem hatte es ihm nie mehr so viel Freude und Befriedigung bereitet. Endlich wurde er wieder geil. Beim Aufstehen warf er die Bierflasche um und fluchte. Nachdem er die Sauerei aufgewischt hatte, legte er sich auf die Couch und befeuchtete seine Hände. Während er an die Decke starrte, verschmolzen seine alten und seine neuen Fantasien. Zusammen waren sie es. Sie waren perfekt. Nicht der Sex allein war die Lösung. Dieses warme Gefühl musste vorhanden sein. Er brauchte mehr Zeit mit den Frauen. Die Vorstellung wurde immer detailreicher und eskalierte plötzlich. Alles explodierte in seinem Kopf. Endlich kam er.
Nach einem zweiten Bier gönnte er sich kein weiteres, denn er wollte heute Abend wieder los. Jetzt, nachdem er ein solch klares Bild vor Augen hatte, war der Tag gekommen. Er spürte es. Er war nervös, aber wollte es dieses Mal perfekt machen. Im Rucksack verstaute er alle notwendigen Utensilien und zog frische Kleidung an. Nachdem er den Backpack in seine große Sporttasche deponiert hatte, warf er sich diese über die Schulter, schnappte den Autoschlüssel und verließ die Wohnung. Während die Sonne unterging, fuhr er Richtung Norden. Der Verkehrskameras wegen mied er sämtliche Hauptstraßen. Direkt am Haus der jungen Frau bog er links ab. Es war noch nicht dunkel genug.
Er wusste bereits genau, wo er es tun wollte. Parken würde er abermals in der kleinen Sackgasse vor dem Tennisclub, denn auch die Klinik verfügte über Kameras im Außenbereich. Allein hier in der Nähe ihres Wohnortes durch die Gegend zu fahren, erregte ihn. Kurz dachte er darüber nach, auf dem Parkplatz der Kleingartenanlage zu halten, um dort ein wenig Druck abzubauen. Falls es heute geschehen würde, wollte er nicht zu schnell fertig sein. Zeit. Er brauchte mehr Zeit.
Zu viele Pkw parkten noch dort und so entschied er sich dagegen. Als die Nacht endlich hereingebrochen war, bezog er seine Stellung. Geduldig wartete er auf einer Bank des südlichen Hauptweges. Immer wenn sich jemand näherte, tat er so, als würde er eine Nachricht auf dem Handy schreiben. Gegen halb zwei am Morgen knirschte der sandige Pfad ein paar Meter weiter im typischen Jogger-Rhythmus. Sie war es. Endlich.
Als sie ihn sah, lächelte sie ihm zu und lief an ihm vorbei. Blitzartig stand er auf, packte sie und hielt ihr das Tuch unter die Nase. Dabei drückte er ihr die Kehle zu, damit sie nicht schrie. Viel zu perplex, um sich zu wehren, sackte sie kurze Zeit später in seinen Armen zusammen, während er sie in das Gebüsch zog.
Tatsächlich rochen ihre Haare atemberaubend. So tief wie möglich sog er diesen Duft ein. Wunderschön lag sie da, bewegte sich nicht und atmete ganz ruhig. Langsam begann er damit, sie zu entkleiden. Jede Sekunde wollte er heute auskosten. Als sie nackt war, betrachtete er ihren Körper und holte das Messer aus dem Rucksack. Noch bevor es sich selbst ausgezogen hatte, begann er bereits das erste Mal zu schneiden. Unter keinen Umständen wollte er dabei zu nah an die Leistengegend kommen. Zu viele Gefäße. Nachdem er die Haut ein paar Zentimeter geöffnet hatte, fuhr er mit der Klinge weiter durch ihren Körper. Es durfte nicht zu tief sein.
Nicht weit entfernt nahm er das Lachen und Grölen einiger Jugendlicher wahr. Sie kamen näher und setzten sich auf die Bank, auf welcher er noch kurz zuvor gewartet hatte.
Panisch griff er in den Rucksack und nahm das Tuch daraus hervor. Er legte es über Nase und Mund der jungen Frau. Wenn sie jetzt aufwachte, war es vorbei.
Nachdem sie ein paar tiefe Atemzüge getan hatte, wartete er vor ihr kniend darauf, dass diese Idioten sich verzogen. Der Geruch von Marihuana drang in seine Nase. Hoffentlich rauchten sie nur diese eine Tüte. Die Jugendlichen taten ihm den Gefallen und setzten lachend ihren Weg fort.
Es war viel zu gefährlich, jetzt hier weiterzumachen. Er zog sich an und beförderte die junge Frau in die große Sporttasche. Vorsichtig bog er Oberkörper, Arme und Beine an ihren Unterkörper heran. Er warf die Tasche über die Schulter und verließ den Park. An seinem Wagen angekommen legte er sie auf die Rückbank und hoffte, dass sie nicht aufwachen würde. Nun musste es schnell gehen. Sein Weg führte ihn durch kleine Seitenstraßen zurück zur Kleingartenanlage. Um diese Zeit war dort niemand. An einem Verbindungsweg hielt er, nahm die Tasche und trug sie in das Gebüsch zwischen dem Vereinsgelände und der Autobahn. Selbst wenn sich noch jemand in der Anlage befände, würde genau jetzt dort niemand vorbeikommen. Nachdem er sie in Position gelegt hatte, brauchte er einen Augenblick. Die Störung hatte ihn aus dem Konzept gebracht.
Zärtlich fuhr er mit den Fingern der rechten Hand an den offenen Stellen entlang. Sie waren noch nicht groß genug. Dort, wo er vorhin aufhören musste, setzte er erneut an und ritzte nun von unten nach oben. Es war nicht tief genug, als dass er es hätte aufklappen können.
Auch wenn er noch nicht fertig war, konnte er nicht widerstehen und musste zumindest einmal hinein fassen.
Dieses Gefühl hatte ihn sofort auf Touren gebracht und er zog sich aus.
Er musste sie haben. Jetzt.
Es war immer noch nicht ausreichend. Wieder ritzte er an der Wunde entlang. Sie musste tiefer sein. Er wollte mehr spüren.
Vor ihr sitzend, klappte er das Stück Haut nach oben und fixierte es. Sie blutete stark. Er verging sich an ihr.
Es war nicht wie erhofft, aber er konnte auch fast nicht mehr an sich halten. Außerdem würde es bald hell werden. Er musste es jetzt tun.
Er legte beide Hände um ihren Hals und drückte so fest, er konnte zu. Als er spürte, dass sie nicht mehr atmete, befriedigte er sich an ihrem leblosen Körper. Je feuchter alles durch das Blut wurde, umso weniger konnte er sich beherrschen. Nach einer viel zu kurzen Zeit kam er zum Orgasmus.
Auf dem großen Loungesessel der Terrasse sitzend, sah Lukas in die Baumwipfel der Kastanien des nahe gelegenen Biergartens. Mit den Wolken glitt sein Blick zu den Pappeln hinter der rechten Zaunseite. Im letzten Sommer, bevor Tochter Pia in die Schule kam, hatte Familie Marsollek viele Pläne gemacht, um die gemeinsame Zeit ausgiebig nutzen und allen voran genießen zu können. Mit einer Tasse Kaffee kam seine Frau aus dem Haus. Er nahm ihr das Gefäß aus der Hand, stellte es auf den kleinen Tisch und zog sie zu sich heran. Die beiden lehnten sich zurück und starrten schweigend in die Weidengewächse, deren Blätter im Sonnenlicht flirrten wie tausende Insekten. Sie genossen diesen kleinen Moment an einem seiner spärlich gesäten freien Tage.
Der Hitze wegen dachte Lukas darüber nach, für die morgige Party ein Planschbecken für die Kinder aufzustellen. Nebenan hörten sie Vesna, die Frau seines besten Freundes Aki, mit Geschirr im Garten herumklappern. Die zwei Paare kannten sich seit ewigen Zeiten und waren gemeinsam durch viele Höhen und Tiefen gegangen. Vor einigen Jahren hatten Marsolleks und Andrajasevics sogar nebeneinander gebaut. Lukas atmete hörbar aus.
„Alles gut?“
„Ja. Ich schwelge ein wenig in Erinnerungen.“
„Wirst du jetzt sentimental, weil morgen dein Geburtstag ansteht, oder wie?“
„Nein“, lachte er. „Aber mir fiel gerade auf, wie lange wir alle schon befreundet sind. Kann ich dir für morgen noch helfen, Lizzy?“
„Nein. Ich liege super in der Zeit, frage mich aber ständig, ob ich nicht etwas vergessen habe.“
„Ich könnte gleich noch mal losfahren, um für die Kids einen
kleinen Pool zu organisieren.“
„Ja. Coole Idee.“
„Rasen mähen muss ich später auch noch“, sinnierte er.
„Benimmst du dich jetzt altersgemäß? Spießer.“
„Fiese Frau.“
Melissa streckte ihm die Zunge heraus.
„Vielleicht sollte ich dein Geschenk gegen einen Rollator umtauschen.“
Diese Frechheit konnte er spontan nicht wechseln und beschloss, sich bei passender Gelegenheit dafür zu rächen. Bedauerlicherweise zehn Minuten zu spät, als er bereits im Auto saß, fiel ihm ein, wie er sie hätte zurück ärgern können. Melissa hatte in diesem Jahr schließlich auch noch Geburtstag. Da er die direkte Retourkutsche verpasst hatte, entschied er sich für kalt servierte Vendetta. Er drehte um und fuhr zum nächstgelegenen Drogeriemarkt. Dort erstand er ein kleines, aber feines Kontingent an Anti-Falten-Cremes, Haftcreme für Zahnersatz, Erwachsenenwindeln und einen Hackenporsche, um seiner Frau im Oktober ein wunderschönes, großes Paket überreichen zu können. Mit Schleife.
Anschließend fuhr er in den Baumarkt, um wie versprochen den Pool für die Zwerge zu kaufen. Wenn er sich schon Ärger einhandelte, dann richtig, beschloss er und schweifte von den zwanzig Euro Planschbecken ab, in Richtung der Quick-Up-Pools am Ende des Ganges. Ein Verkäufer eilte herbei und wollte wissen, ob er helfen konnte.
„Das Teil soll auf der Wiese stehen und groß sein. Die Frau soll sich ärgern. So groß.“
Der Mann in Baumarkt-Overall grinste breit und führte ihn zu einem Modell mit knapp sechs Metern Länge, drei Metern Breite und einer Höhe von etwas über einem Meter.
„Perfekt. Kostet?“
„Fünfhundert neunundzwanzig Euro und wir haben gerade eine Sonderaktion laufen. An der Kasse bekommen sie noch drei Säcke Grillkohle und ein Grill-Set dazu.“
Lukas nickte bedächtig.
Zufrieden lächelnd hievte er das Teil mit dem Mitarbeiter auf den Einkaufswagen. Nachdem er das Planschbecken im Auto verstaut hatte, was nur mit umgeklappten Rücksitzen möglich war, machte er sich auf den Heimweg. An einer roten Ampel im Hafenviertel dachte er darüber nach, ob sein Testament noch aktuell war. Wenn Melissa ihn heute nicht umbrachte, dann sicherlich an ihrem Geburtstag im Herbst. Zu Hause verfrachtete er den Karton mit den Nettigkeiten für seine Herzdame ganz hinten in der Garage, in der Hoffnung, sie würde in den nächsten Monaten keine intensiven Suchaktionen nach irgendetwas starten. Anschließend klappte er den Kofferraum auf. Er holte das neu erworbene Objekt daraus hervor und deponierte es vor der Haustüre. Stumpf zog er das riesige Teil an der dafür vorgesehenen Lasche über die Fliesen durch Flur und Wohnzimmer bis zur Terrassentüre.
„Was zum … “, setzte Melissa an.
„Ein Pool“, entgegnete er trocken.
„Für eine Herde Nilpferde oder was?“
„Damit meine Gehhilfe auch reinpasst, während ich die Kinder beaufsichtige, Schatz.“
Gewonnen, dachte er, öffnete die Türe und lehnte das Monstrum auf der Terrasse an die Hauswand. Melissa stand am Küchentresen und hatte sichtlich Mühe, einen Lachanfall zu unterdrücken.
„Okay, da drunter brauchst du schon mal nicht mehr mähen und dieses Ding baust du auf.“
„Ja und wenn heute Abend Wasser drin ist, fliegst du direkt rein. Ich glaube, du brauchst dringend eine kleine Abkühlung. Du hast doch nicht etwa schon Hitzewallungen?“
Sie ging in den Garten, um sich das Planschbecken genauer
anzusehen. Eigentlich fand sie es genial, würde das aber selbstverständlich Lukas gegenüber niemals zugeben.
„Tu sei pazzo“, sagte sie auf Italienisch und verschwand wieder in der Küche.
Als der Pool ein paar Zentimeter mit Wasser befüllt war, krempelte er seine Hosenbeine hoch und fing an, darin herum zu waten.
„Was tust Du da, Liebster?“
„Der Baumarkt Mann sagte, man soll das so machen, damit keine Falten am Boden entstehen.“
„Es sieht aus, als würdest Du Wein stampfen wollen“, lachte seine Frau.
Nach Dienstschluss stieß Lukas bester Freund dazu. Er hatte ein paar Getränke für den kommenden Tag im Kofferraum. Einen Kasten Bier ließen sie zum Reinfeiern im kleinen Kreis gleich oben. Aki hatte eine zwölf Stunden Schicht hinter sich und war erledigt, wollte aber wenigstens bis null Uhr durchhalten, um mit seinem besten Freund auf dessen einundvierzigstes Lebensjahr anzustoßen. Mittlerweile hatte er von ihrem benachbarten Grundstück den Gartenschlauch zu Hilfe bemüht, damit sie es schafften, den Pool bis morgen komplett zu füllen. Eine Weile meditierten die vier in der nachmittäglichen Hitze, bevor Aki die Stille unterbrach. Kopfschüttelnd sah er den Pool an.
„Alter, musst du eigentlich was kompensieren, oder so?“
„Melissa wollte mir einen Rollator zum Geburtstag schenken, weil ich angeblich ein Spießer bin.“
Sie lachten und stießen mit einem ersten Bier an. Gemütlich beisammen sitzend, quasselten sie entspannt über dieses und jenes, bis Lukas und Aki sich in Fachsimpeleien über zwei aktuelle Mordfälle verloren.
Die Frauen warfen sich einen genervten Blick zu, welcher in beidseitigem, resignierten Achselzucken endete. Schon während der Schulzeit hatten die Männer den Entschluss gefasst, zur Polizei zu gehen. Nach der Grundausbildung lernte Aki seine Frau kennen, ein halbes Jahr später heirateten sie und pünktlich neun Monate später kam ihr ältester Sohn Asmir zur Welt. Lukas und Melissa kannten sich bereits seit der Jugend, ließen sich mit allem jedoch ein
wenig mehr Zeit.
Lukas wollte zuerst das Studium für die höhere Beamtenlaufbahn abschließen.
Bereits damals waren ihre Frauen leidgeprüft, was das Thema gemeinsame Zeit anging, aber auch stolz.
Melissa kannte Lukas besser als er sich selbst manchmal und wusste, dass an dieser Stelle für ihn noch nicht Endstation sein würde. Nach einigen Jahren im Morddezernat belegte er berufsbegleitend den Studiengang Kriminalpsychologie. Durchwachte Nächte inklusive zahnendem Baby, sein eigentlicher Job als Kriminalhauptkommissar und Einsätze in diversen Sokos ließen ihn damals konstant wie den Hauptdarsteller eines Zombiefilms aussehen. Nachdem die Kids beide im Kindergarten waren, bewarb er sich für die Ausbildung zum Fallanalytiker beim LKA in Düsseldorf. Diese hatte er vor kurzem abgeschlossen und würde ab September dort ein neues Kapitel seiner beruflichen Laufbahn beginnen. Nach fünfzehn Jahren in seinem Dezernat und diversen Einsätzen in Mordkommissionen stand ihm die Wehmut heute ins Gesicht geschrieben.
„Melissa? Wo warst du gerade?“, fragte Vesna.
„Ach, irgendwie hatte ich auch einen kleinen Flashback.“
„Wieso auch und wieso Flashback?“
„Lukas war heute Morgen in Erinnerungen vertieft und ich habe ihn aufgezogen. Aber eigentlich hat er recht. Heftig, wie lange wir vier uns mittlerweile kennen und was wir schon alles erlebt haben, oder?“
Die beiden Frauen prosteten sich zu, nahmen einen Schluck Bier und sprachen über Vesnas Job. Wenn Nico in zwei Jahren in die Schule kam, wollte Melissa ebenfalls wieder in ihren Beruf als Streetworkerin einsteigen.
„Also ist eure Familienplanung endgültig abgeschlossen?“
„Ich weiß nicht. Ehrlicherweise haben wir nie über einen dritten Mini Marsollek gesprochen.“
„Vielleicht solltet ihr mal darüber reden.“
„Ja, vielleicht. Ein dritter Zwerg wäre schön, aber danach ist Schluss. Sonst muss Lukas den backen.“
Die Freunde waren noch eine ganze Weile in ihre Gespräche vertieft, während sie nebenan im Biergarten einige Leute grölen hörten. Sofort wussten sie, welche Truppe das war. Jeder kannte hier jeden. Obwohl Huckarde ein innenstadtnaher Ortsteil Dortmunds war, nannten ihn alle Bewohner nur das Dorf.
Um Punkt null Uhr stießen sie auf Lukas Geburtstag an.
Traditionell bekam er von Andrajasevics sowie seiner Frau schon ein Geschenk vor der eigentlichen Party. Wahrscheinlich würde er morgen also noch zwei weitere Kartons erhalten, welche dann ein Gesamtbild mit den heutigen ergeben würden. Sie hatten sich abgesprochen.
„Wolltest du mich nicht noch in den Pool schubsen?“, fragte Melissa, als sie ihr letztes Bier ausgetrunken hatten.
„Morgen“, grinste Lukas.
Über Brigitte Leindecker vom Krug nebenan hatten sie einen Bierwagen bestellt, welcher am heutigen Samstagmorgen durch das kleine Törchen der Auffahrt in den Garten bugsiert wurde. Sie hatten knapp hundert Leute aus dem Familien- und Freundeskreis sowie den Arbeitskollegen und dem Verein geladen. Ihren Hochzeitstag im Mai hatten sie nicht feiern können, da Lukas zu diesem Zeitpunkt in einer Ermittlung steckte. Außerdem würde sein gesamtes Dezernat anwesend sein, da sie gleichzeitig seine Verabschiedung aus der Abteilung begießen konnten. Bedingt durch den
Corona-Virus gab es im letzten Jahr keine Party zu seinem
runden Geburtstag. Das würden sie mit diesem nachholen und somit waren dies drei große Anlässe, zu denen
Marsolleks ordentlich aufgefahren hatten. Das hatte sich nach knapp zwei Jahren Pandemie-Lockdown und diversen privaten Entbehrungen jeder verdient.
Eigentlich wollte Lukas noch ein Spanferkel im Garten positionieren. Melissa ging jedoch auf die Barrikaden und vermittelte ihm auch als Fleisch Esserin glaubhaft, dass sie spätestens ab dem dritten Bier in Trauerornat vor dem Drehspieß stehen und den ganzen Abend Abschiedsreden für den toten Paarhufer schwingen würde. Das Argument zog und sie orderten bei Brigitte einen Schwenkgrill samt geliehener Arbeitskraft. Ein Mitternachtsbuffet bestehend aus Käseplatte, Frikadellen und kalten Schnitzeln würden sie ebenfalls aus der Küche der Gastronomin in Anspruch nehmen.
Gegen sechzehn Uhr erschien der DJ und baute sein Equipment auf. Überpünktlich trudelten ab halb sechs die Gäste ein und Stehtische zogen erste Grüppchen an. Sein langjähriger Freund und Kollege Daniel May überreichte Lukas nun einen Schuhkarton. In diesem befanden sich gesammelte Zeugnisse und Zeitungsausschnitte aller Couleur ihrer gemeinsamen Karriere bis in das KK 11 des Präsidiums. Alle Mitarbeiter des Morddezernats und natürlich auch sein bester Freund hatten ihren Teil dazu beigetragen. Lukas konnte nichts sagen und ging sich die nächste Schachtel bei Andreas Studtner, in der Clique Speedy genannt, abholen. Er förderte ein Hardcover Buch im DINA-4-Format zutage, in welchem sie Bilder aus den letzten fünfundzwanzig Jahren digitalisiert hatten. Die letzte Seite hatten sie frei gelassen. Darauf stand: Hier könnte ihr Party-Foto kleben. Lukas nahm gerührt seine Freunde in die Arme.
„Dann lasst uns mal ein Foto machen, bevor wir alle Rotze voll in den Ecken liegen.“
Als er nach ein paar Minuten mit einer der Aufnahmen zufrieden war, widmeten sich alle endgültig dem Feiern. Brigitte zog es um kurz nach elf rüber, um nachzusehen, ob ihre Mitarbeiter die kalten Platten rechtzeitig fertig bekommen hatten. Nicht ein einziges Mal schaffte sie es, mit ihrem Mann Dietmar einfach nur Gast zu sein. Marsolleks schmunzelten und ließen sie ziehen. Einige Minuten später kehrte sie samt zwei Mitarbeitern im Schlepptau und dem Buffet zurück. Gegen halb zwei stand eine Streife mit Kollegen des örtlichen Reviers vor dem Haus, welche jedoch der lauten Musik wegen zunächst keiner bemerkte. Erst als sie das Blaulicht ihres Dienstwagens einschalteten, das zwischen den Häuserwänden deutlich hervorleuchtete, sagte der Gastgeber:
„Ups ich geh' mal aufmachen.“
„Ich mach das“, entgegnete Aki und lief grinsend los.
Arm in Arm kehrte er mit einem Mann in Dienstkleidung in den Garten zurück. Der zweite Uniformierte folgte ihnen.
„Lieber DJ. Der Kollege bittet dich, die Musik ein bisschen runter zu drehen“, rief er laut und sichtlich angeheitert.
„So, jetzt aber mal ein wenig Abstand hier“, bat der Beamte der Huckarder Nachtschicht belustigt.
„Tschuldigung, Herr Wolf.“
Lukas ging auf die Polizisten zu und bat für die Ruhestörung und seinen besten Freund um Verzeihung. Dabei musste er selbst grinsen.
„Es wäre schön, wenn wir sie nicht noch mal behelligen müssten, Herr Marsollek. Was wird denn gefeiert?“
„Wir sind selber Bullen, Herr Wolf“, fiel ihnen Aki ins Wort.
„Alter, das interessiert hier jetzt aber nicht. Ruhestörung ist es trotzdem.“
„Bist echt 'n Spießer, Lukas. Siebzehnter Hochzeitstag, einundvierzigster Geburtstag und Abschied aus dem KK 11. Der Marsollek ist ab September bei der OFA im LKA. Ich werde übrigens eine Dienstaufsichtsbeschwerde über die Störung einer Party im Prösidium einreichen. Gleich am Montag!“
Sich entschuldigend geleitete Lukas die Polizisten zur Türe. Die Männer im Dienst lachten und fragten, ob es stimmte, dass sie Kollegen seien. Lukas bejahte und versicherte, dass sein Freund keine Beschwerde einreichen würde. Worüber auch? Sie verabschiedeten sich und Lukas ging zu seinen Gästen zurück. Bierselig kam Aki ihm entgegen und nahm ihn in die Arme.
„Prösidium?“, fragte Lukas mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ja man, du weißt doch, was ich meine.“
Die ersten Gäste verabschiedeten sich gen Heimat. Gegen drei Uhr morgens waren sie noch zwanzig Leute. Der befreundete DJ ließ in gediegener Lautstärke Konserven laufen. Eine halbe Stunde später fiel der Satz, auf den Melissa und Vesna bei jeder Party mit Schrecken warteten.
„Ich hab eine Idee. Komm mal.“
„Nein“, brachte Melissa gequält hervor.
Sich konspirativ zuflüsternd verschwanden die Freunde im Haus. Keine zwei Minuten später hörten sie die Männer aus dem Schlafzimmerfenster rufen, dass alle herkommen sollten. Lukas und Aki standen händchenhaltender Weise und bedenklich schwankend auf dem Fensterbrett über dem Pool.
„Euer Ernst? Das Ding ist gerade mal einen Meter tief. Ey, ich hab kein Bock auf Gipsbein in den Sommerferien. Lukas, mach keinen Scheiß“, rief Melissa besorgt.
„Arschbombe?“
„Arschbombe!“
Eine Sekunde später schwappte eine Welle über die verbliebenen Gäste. Sogar Dietmar Leindecker, ihr Dezernatsleiter, hatte die Aktion festgehalten. Prustend standen die beiden im Becken auf. Lukas schnappte seine Frau so schnell, dass sich diese erstaunt, wie sie war, nicht wehren konnte und ebenfalls im Wasser landete.
„Wer ist hier ein Spießer, mein Schatz?“, fragte er.
„Das war geil, Alter“, lachte Aki und stieg aus dem nur noch zur Hälfte gefüllten Becken.
Kopfschüttelnd verteilte sie Handtücher und Decken. Natürlich waren die Kinder von dem Lärm wach geworden und kamen in den Garten getapert. Melissa brachte die verwirrten und quengelnden Kids wieder ins Bett. Langsam wurde auch sie müde und hoffte, dass der Rest der Bande bald nach Hause gehen würde. Diesen Gefallen taten ihr die übrigen Gäste erst gegen fünf Uhr am Morgen. Nachdem sie die letzten ihrer Freunde an der Türe verabschiedet hatten, nahm Lukas seine Frau in den Arm und küsste sie.
„Schöne Party. Danke für alles, Liebste.“
Sie lächelte ihn an und erwiderte seinen Kuss. Bis ins Schlafzimmer schafften sie es nicht mehr. Angetrunken und glücklich nickten sie auf dem Sofa ein. Ohne jegliche Gnade
wurden die verkaterten Eltern um acht Uhr von Pia und Nico
geweckt. Noch nicht ganz in der Welt blinzelten sie in die
grelle Morgensonne.
Während des Frühstücks brabbelten die Sprösslinge aufgeregt über die gestrige Feier.
„Können wir jedes Wochenende eine Party machen?“, fragte Pia kauend.
„Erst essen und dann sprechen, du kleine Partymaus“, antwortete Lukas.
Während sie Wasser in das Becken nachlaufen ließen, planschten die Zwerge bereits. Nebenan klapperte es auf der Terrasse, was bedeutete, dass Aki und Vesna bald auftauchen würden. Sie hatten sich zum Chaos Beseitigungsdienst gemeldet. Die Männer zapften zwischendurch das ein oder andere Konterbier, da der Getränkewagen erst morgen abgeholt wurde. Am frühen Abend sahen Wohnzimmer, Küche, Terrasse und Garten wieder einigermaßen manierlich aus. Nach einem ereignisreichen Wochenende verabschiedeten sie sich ruhebedürftig voneinander.
Familie Marsollek beschloss an diesem Abend, dass der Nachwuchs morgen nicht in die Kita musste. Es war Lukas letzter freier Tag vor dem Urlaub im August. Die Kids wünschten sich einen Zoobesuch, welchen er und Melissa mit einem Spaziergang durch den Rombergpark verbinden wollten.
*
Der Sommer wurde heiß und schwül. Gewitter zogen beinahe jede Nacht über die Stadt und man hatte das Gefühl, die ganze Welt klebte. Die Nächte wurden unerträglich.
In einer der vielen Tropennächte wälzte sich Lukas unruhig im Bett hin und her, bevor er gegen drei Uhr endlich einschlief. So hörte er etwas später nicht, wie sein Handy auf dem Nachttisch vibrierte. Es dämmerte bereits, als seine Frau ihn anstupste. Melissa schlummerte wieder weg. Erst als sein Diensthandy klingelte, konnte er es nicht mehr ignorieren und tastete danach. Ohne auf das Display gesehen zu haben, ging er dran.
„Aki hier. Tatort. Ich steh' unten.“
Melissa blinzelte ihn verschlafen an, ahnte was los war, gab ihrem Mann einen Kuss und drehte sich wieder um.
Lukas zog die graue Jogginghose und ein T-Shirt an, ging die Treppe hinunter und öffnete seinem besten Freund die Türe. Schweigend bediente er die Kaffeemaschine und machte den beiden Männern zwei Becher für unterwegs fertig. Er streifte seine Trainingsjacke über und steckte den Dienstausweis ein, bevor sie in Akis Auto stiegen.
Wortlos fuhren sie durch ihren Ortsteil in Richtung City.
An der ewig roten Ampel, der Linksabbiegerspur auf die Franziusstraße, hielt Aki sein altehrwürdiges Cabrio, um die erste U-Bahn in die City passieren zu lassen. Er zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster der Fahrerseite. Im üppigen Grün der mit Bäumen eingefassten Straßenzüge zwitscherten Vögel im Morgengrauen. Die Luft war von Feuchtigkeit gesättigt, obwohl der Tag noch nicht richtig begonnen hatte. Hinter den Gewitterwolken in Fahrtrichtung ging die Sonne langsam auf und warf ein seltsam schwefeliges Licht auf Baumkronen und Häuserfronten. Wiesen, Bäume und Felder huschten in Sepiafarben zu ihrer Linken an ihnen vorbei, während sie über Schleichwege im Hafengebiet Richtung Norden fuhren. Auf der Lindenhorster Brücke wurde Lukas langsam wach und fragte, ob er schon Informationen hatte.
„Guten Morgen, Brudi“, entgegnete Aki gedehnt und rollte dabei künstlich den Buchstaben R in jedem Wort. „Hat ja ganz schön gedauert.“
„Ich hab nur zwei Stunden geschlafen und bin noch total verpennt. Also, was haben wir?“
„Als du noch in deiner letzten Ermittlung gesteckt hast, haben wir zwei Morde an Prostituierten rein bekommen. Wegen der Verletzungen, die beide hatten, gingen Dietmar und ich direkt von einer Serie aus. Hab ich dir vor der Party erzählt. Da bis dato nichts mehr kam, gab es bisher auch keine Ermittlungsgruppe. Das hat sich mit heute erledigt. Opfer Nummer drei wurde soeben von einem Hundebesitzer gefunden.“
„Hmm“, brummelte Lukas, gähnte und sah aus dem Fenster der Beifahrerseite. „Wieso seid ihr sicher, dass sie dazu gehört?“
„Der Leichnam weist wohl auch diese seltsamen Schnitte auf.“
„Hat Dietmar die Teams schon eingeteilt?“
„Nein. Offizieller Soko Start ist heute Mittag.“
Vorbei an den Emscher-Auen des nördlichen Stadtgebietes fuhren sie in den Ortsteil Brechten. Auf dem Grundstück des ortsansässigen Kleingartenvereins brachte Aki den Wagen zum Stehen. Ein Kollege vom Kriminaldauerdienst, KDD genannt, nahm sie in Empfang und geleitete sie zum Fundort, an welchem sie vor dem Flatterband stehen blieben.
„Morgen ihr zwei“, sagte Dietmar leise, als die beiden Männer das Wäldchen zwischen dem Ende des Vereinsgeländes und der Autobahn zwei in Richtung Oberhausen betraten.
Vom ersten gelben Aufsteller aus hatten die KTU-Kollegen bereits begonnen, sich in Richtung Westen vorzuarbeiten. Vor einer etwas größeren Menge Blut stand das Schild mit der Nummer sieben. Die Spur zog sich bis zu einem kleinen Feldweg, welcher den Dortmunder Stadtteil mit der angrenzenden Gemeinde Lünen verband. Lukas betrachtete die Örtlichkeit und fragte sich, wo das Blut herkam, wenn der Täter seine Opfer bisher immer durch Gewalt gegen den Hals tötete, wie Aki berichtet hatte. Auch durch die oberflächlichen Schnitte konnte keine Blutlache entstanden sein. Auf dem Rückweg zum Ablageort konnte er in der Schleifspur ebenfalls kein Blut feststellen. Der Täter hatte sie in einer Plane oder ähnlichem transportiert.
Der diensthabende Pathologe war noch zu Gange, als der Bestatter bereits eingetroffen war, um die Leiche der jungen Frau in die städtische Gerichtsmedizin zu überführen. Lukas musterte den leblosen Körper. Ihr gesamter Schambereich war mit Blut bedeckt, welches durch die Witterung bereits zu verkrusten begann. Ihre Augenlider waren geschlossen. Keine Hämatome oder Wunden, aber die obligatorischen Würgemale am Hals. Im Haar der jungen Frau bemerkte er farblose Verklebungen. Entweder Speichel des Opfers oder mit Glück Sperma des Täters. Alles Weitere würden sie im Laufe der nächsten Stunden vom Gerichtsmediziner erfahren.
„Was grübelst du, Brudi?“
„Die Blutlache passte bis eben nicht in mein Bild, aber da sich einer der Schnitte im Schambereich befindet, welcher stark durchblutet ist, ergibt es Sinn. Wurde Kleidung des Opfers sichergestellt?“
Dietmar verneinte. Nachdem sie fertig waren, fuhren die Kollegen ins Präsidium, um mit der Einrichtung der Ermittlungsgruppe zu beginnen. Die kurze Nacht hing Lukas nach und er hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Auf der Fahrt stellte sein bester Freund viele Fragen. Ihm war nach Schweigen zumute. Aki setzte zu einer neuerlichen an. Dieses Mal unterbrach er.
„Sei mir nicht böse, aber wir brauchen einfach mehr, bevor ich dir Genaues zu allem sagen kann. Außerdem bin ich nach wie vor Teil des Dezernats. Ich habe noch keine praktische Erfahrung in der OFA. Selbst wenn, wäre das auch keine Wunderwaffe, durch die man sofort Ergebnisse bekäme. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir müssen Akten sichten, Ablageorte der vorherigen Opfer, brauchen Tatortfotos und die pathologischen Gutachten. Auch wäre es von Vorteil, wenn wir die Identität des letzten Opfers schnell hätten. Ich würde gerne mit zur Hinterbliebenen Befragung, wenn auch nur als stiller Beobachter. Zäume das Pferd jetzt nicht von hinten auf. Was ist denn los? Warum auf einmal diese Hektik?“
„Einer von den Laubenpiepern hat in einer Facebook-Gruppe etwas gepostet, weil er Einsatzfahrzeuge auf dem Parkplatz gesehen hat. So schnell Presse zu haben, ist scheiße. Kannst dir sicher sein, dass die sich jetzt schon irgendeinen Hannibal zusammen fantasieren, während wir noch nicht mal den Namen der Toten haben. Ich hoffe, diese Gartenzwerge haben nicht gehört, dass die Frau nicht das erste Opfer war, sonst sind uns die Schlagzeilen sicher.“
Lukas verschluckte sich an seinem Getränk und lachte.
„Was ist so lustig? Hast du was im Kaffee, oder was?“
„Gartenzwerge“, grinste er breit.
Aki brabbelte in seiner Muttersprache und griente ebenfalls.
„Alter, du bringst mir seit der Grundschule Bosnisch bei und kannst mich auch einfach auf Deutsch einen Klugscheißer nennen.“
Auf der weiteren Fahrt schwiegen die Ermittler und hingen ihren Gedanken nach. Obwohl Lukas gerne den ruhigen Sommer mit seiner Familie verbracht hätte, den sie sich gewünscht hatten, war ihm eine letzte intensive Zusammenarbeit mit seinen langjährigen Kollegen aus dem Dezernat durchaus willkommen. Da er den längsten Teil seiner beruflichen Laufbahn hier gewirkt hatte, würden sie ihm wirklich fehlen, allen voran Aki und Dietmar. Leider besaß die Polizeibehörde Dortmund keine eigene Abteilung für Operative Fallanalyse und ob das jemals der Fall sein würde, stand in den Sternen.
Am Präsidium angekommen, parkten sie in der Tiefgarage und nahmen die Treppe in den fünften Stock. Kurze Zeit später erreichten sie eine der großen Glastüren mit der
Aufschrift Kriminalinspektion 1. Alle Türen in ihrem
Stockwerk trugen diese und führten in verschiedene
Dezernate. Zu ihrem Kommissariat, dem KK 11, bogen sie linker Hand ab.
Dortmund kam durchschnittlich auf fünfzehn Morde, ein bis fünfmal Totschlag und einige Mordversuche pro Monat. Das war nicht so viel wie in Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Hannover, allerdings konnte ihre Abteilung in den letzten zehn Jahren eine Aufklärungsrate von neunundneunzig Prozent vorweisen. Damit belegten sie bundesweit Platz eins. Zu Recht waren die Frauen und Männer des Dezernats stolz auf diese Quote.
Lukas wurde melancholisch zumute. Er war in Dortmund geboren und aufgewachsen und kannte einige Leute aus der Abteilung bereits seit seiner Kindheit. Dietmar, der Leiter des Morddezernats, war ihm stets ein väterlicher Freund gewesen. Über all die Jahre wurde er genauso Teil seiner Familie, wie Aki es bereits seit Kindertagen war.
Im großen Besprechungsraum angekommen, begrüßte sich die Kollegenschaft. Um Punkt elf am Vormittag trat ihr Chef nach vorne und bat um Ruhe. Sein Magen knurrte laut hörbar durch das Großraumbüro und die Kollegen stichelten belustigt. In seiner ureigenen Art begann er zu sprechen. Stottern konnte man dies nicht direkt nennen. Sein Tick bestand darin, in seltenen Fällen die ersten Worte eines Satzes einige Male zu wiederholen. War dies geschehen, sprach er vollkommen flüssig. Bei einem Knobel-Abend im Krug, an dem zu später Stunde nur er und Lukas übrig geblieben waren, mutmaßte Dietmar, dass ihm das passierte, damit er seine Gedanken schon während des Sprechens ordnen konnte. Keiner wusste, wo dieser Tick herkam, er störte aber auch niemanden.
„Da sich hier nun … Da sich hier nun … Jetzt, da sich hier alle bisherigen Teammitglieder eingefunden haben, möchte ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten.
Wie ihr euch sicherlich denken könnt, sind wir noch nicht vollzählig, was sich ab heute Nachmittag ändert. Wir werden zunächst das Übliche abkaspern und uns um die Arbeitsaufteilung kümmern. Das allerdings möchte ich gerne auf nachher verschieben, wenn wirklich alle anwesend sind. Insofern besteht meine erste Amtshandlung darin, euch in die letzte Mittagspause vor EG-Start zu schicken. Ihr wisst, was kommt. Ruft die Familien an, sagt Bescheid, was los ist, geht was essen, genießt die Mittagssonne und wir sehen uns alle um dreizehn Uhr wieder.“
Wissend, was nun vor Ihnen lag, nickten die Kriminalisten und gingen ihrer Wege. Dietmar wollte zur Currywurst Bude seines Vertrauens und einige Kollegen zog es in die kleine Pizzeria an der Ecke. Lukas und Aki beschlossen nach Hause zu fahren. Sein bester Freund ließ ihn vor der Haustüre aussteigen und parkte wenige Meter entfernt vor der eigenen. Als Lukas aufschloss, duftete es nach selbst gemachter Pesto. Auf dem Herd vernahm er das Blubbern des Nudelwassers.
„Hey Bande“, rief er in Richtung Küche.
Die Kinder begrüßten ihn aufgeregt. Mit Pia an der Hand und Nico auf dem Arm, ging er in die Küche und küsste Melissa zur Begrüßung.
„Gut abgepasst, Schatz. In zehn Minuten gibt es Essen.
Würdet ihr schon mal den Tisch decken?“, fragte sie müde.
„Ja. Was ist denn los?“
„Wenig Schlaf und die Kids sind heute aufgekratzt.“
Das war das gemeinsame Synonym für anstrengend und es war Melissa deutlich anzusehen, dass sie müde und dezent genervt war. Pia flitzte tagsüber in einer Tour durchs Haus und man musste höllisch aufpassen, dass sie nicht ständig irgendeinen Blödsinn anstellte. Nico hingegen hatte die Welt des nervtötenden Fragenstellens entdeckt und 'warumte' sich so durch den Tag.
Während sie aßen, erzählte Lukas, dass heute eine Ermittlungsgruppe gegründet wurde. Melissa wusste, was das bedeutete und war alles andere als begeistert. Ausgerechnet in diesem Sommer, in welchen sie so viel unternehmen wollten, bevor Pia in die Schule kam. Ändern konnte sie es nicht. Das war nun mal der Job.
Allerdings kannte sie solche Sokos und wusste, dass es auf eine Urlaubssperre für alle hinaus laufen würde. Im Anschluss daran würde er nicht so schnell neuen Urlaub bekommen, da er seine neue Dienststelle in Düsseldorf antrat.
Lustlos stocherte sie in ihrer Pasta herum. Der Appetit war ihr vergangen. Lukas wollte ihr mehr berichten, wenn er wieder nach Hause kam. Bereits jetzt war Frau Marsollek klar, dass das so nicht stattfinden würde. Die nächsten Tage und Nächte würde sie ihren Mann so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommen. Als Antwort entgegnete sie ihm lediglich ein Seufzen und ein gequältes Lächeln. Er lächelte zurück. Lukas erahnte ihre Gedanken und wusste, dass sie damit leider recht behalten würde.
Bei seinem heutigen Streifzug entlang des Kanals fand er schnell einen geeigneten Ort, um dort den Tag verbringen zu können. Dieser war weit genug von den überfüllten Plätzen beim Fredenbaumpark weg, aber noch nicht in Lindenhorst mit den wagemutigen Brückenspringern, welche hier im Sommer ein Mädchen nach dem anderen abschleppten. Diesem Machogehabe zuzusehen, ging ihm jedes Mal fürchterlich auf die Nerven. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, sich genau dazwischen niederzulassen. Von der Innenstadt aus fuhr er über die Brücke an der Weidenstraße und breitete sich gegenüber des Ruderclubs aus. Hinter dem Fahrradweg setzte er sich mit einem Buch ins Gras und machte es sich im Schatten gemütlich. Bereits jetzt, gegen elf am Vormittag war es verdammt heiß. Gut, dass er so früh dran war und sich einen sonnengeschützten Platz hatte sichern können. Aufgrund seiner vorangegangenen Nachtschicht musste er eingedöst sein, denn er blinzelte direkt in die mittäglichen Sonnenstrahlen, als ein paar Mädchen ihr Lager neben ihm aufschlugen. Verwirrt blickte er in ihre Richtung. Sie grüßten freundlich und breiteten ihre Decken aus. Er grüßte zurück und nahm einen kräftigen Schluck Wasser aus seiner Flasche.
Als seine Augen sich wieder an das grelle Licht gewöhnt hatten, griff er nach dem Buch und begann zu lesen. Eine Arbeitskollegin hatte es ihm empfohlen. Sie versprach, dass es amüsant sein würde. Das konnte er gerade gut gebrauchen. Auf den ersten zwanzig Seiten hatte er kein einziges Mal geschmunzelt, geschweige denn gelacht. Vielleicht kam das noch oder er teilte eine völlig andere Auffassung von Humor als seine Kollegin. Gedankenverloren starrte er auf die gegenüberliegende Uferseite. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine der jungen Frauen auf ihn zukam. Er schätzte, dass sie in seinem Alter war. Wahrscheinlich etwas jünger.
„Hallo. Was liest Du da?“
„Das ist … Ich weiß nicht. Ein Buch, das lustig sein soll, es aber bisher nicht ist.“
„Dann komm doch mit uns schwimmen, das ist bestimmt spaßiger.“
„Ich habe keine Badesachen dabei.“
„Warum nicht?“
„Weil ich direkt nach meiner Nachtschicht hergefahren bin.“
„Ach so, schade. Vielleicht beim nächsten Mal. Ich heiße Sophie und Du?“
„Niklas.“
„Kommst Du morgen wieder her?“, wollte sie wissen.
Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht würde er das. Er war froh, dass genau sie ihn angeflirtet hatte, denn er fand sie attraktiv. Niklas hätte die Mädchen niemals selbstständig angesprochen, was durchaus nicht daran lag, dass er schüchtern war.
Er mochte es nicht, wenn Typen sich ungefragt an Frauen heranmachten und sich ihnen plump aufdrängten. Irgendwann am Nachmittag hörte er auf zu lesen und beschloss, künftig keine weiteren Lektürevorschläge seiner Arbeitskollegin mehr in Anspruch zu nehmen. Nachdem die Frauen ihre Sachen zusammengepackt hatten, verabschiedeten sie sich und fuhren mit Ihren Rädern Richtung Innenstadt davon.
Die nun tiefer stehende Sonne glitzerte auf dem träge fließenden Gewässer des Dortmund-Ems-Kanals und Niklas meditierte vor sich hin. Die gleichmäßigen Ruderschläge des trainierenden Vereins taten ihr Übriges und ließen ihn beinahe wieder einschlafen. Auch für ihn war es an der Zeit, den Heimweg anzutreten. Geschlafen hatte er hier zwar ein wenig, aber fit fühlte er sich nicht. Zu Hause musste er dringend duschen, sich umziehen und zur Arbeit. Morgen würde er daheimbleiben.
Als Lukas in den Wagen stieg, verfluchte er sich, diesen vorhin nicht in die Garage gestellt zu haben. Es war brüllend heiß in seinem Kombi und er drehte die Klimaanlage bis zum Anschlag auf. Erst auf halber Strecke wurde die Temperatur erträglich und er hoffte auf einen schattigen Parkplatz am Präsidium. Selbstverständlich bekam er keinen.
Normalerweise nahm er die Treppen ins Dezernat im fünften Stock. Aki und er trainierten einmal pro Woche mit den Kollegen und zusätzlich wöchentlich in ihrem Fußballverein. Wenn es ihre Zeit zuließ, malträtierten sie gerne gemeinsam ihre Mountainbikes auf verschiedenen Strecken in und um die Stadt herum. Heute war es ihm schlicht zu heiß und er entschied sich für den Lift. In der Abteilung kam ihm freudestrahlend Dietmars Sekretärin Steffi entgegen und streckte ihm einen frisch glänzenden Verlobungsring unter die Nase.
„Deniz hat mich gefragt!“
„Glückwunsch euch beiden.“
„Danke! Wie geht es Liz und den Kids?“
„Alle drei wohlauf, aber Melissa leider gerade nicht so ganz happy wife, wie ich es mir wünschen würde.“
Lukas sah auf die Uhr, entschuldigte sich, das Gespräch unterbrechen zu müssen und ging in den Besprechungsraum. Die Kollegenschaft war fast komplett, nur Walter Vollmer, der Pressesprecher des Präsidiums, fehlte noch.
Im Gegensatz zu Lukas Anfängen war hier inzwischen ordentlich an Equipment aufgefahren worden. Flipcharts, Projektoren und ihre alte Glastafel waren modernster
Computertechnologie gewichen.
Kurz nachdem alle Ermittler Platz genommen hatten, kam
auch Walter herein. Er entschuldigte sich für die Verspätung und tat es den Kollegen gleich. Dietmar stand auf, begrüßte sie und begann mit dem Organisatorischen sowie der Aufteilung des Teams in kleinere Gruppen. Seinen stellvertretenden Dezernatsleiter Martin Wedekind ernannte er zum Hauptsachbearbeiter. Diesem teilte er zwei weitere Mitarbeiter und einen direkten Assistenten für das Team Zentrale Sachbearbeitung und Aktenführung zu. Die Arbeitsgruppe Hinweisaufnahme und Auswertungen besetzte er mit dem frisch Verlobten Deniz Özay und seinem Kollegen Sascha Stahlschmidt. Die Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Presse würde selbstverständlich Walter übernehmen. Ein weiteres Team, vorerst aus vier Mitarbeitern bestehend, stellte er für Fahndung und Observierung ab.
„Lukas und Daniel, ihr bildet Team Tatort. Leider kann ich dir deinen Polizeigatten nicht zur Verfügung stellen, da ich ihn im Team Ermittlungen brauche. Dort werde auch ich mit den Kollegen Baumann und Szygulla mein Unwesen treiben. Wir machen jetzt eine kurze Pause und treffen uns in zehn Minuten wieder hier“, sagte Dietmar und entschwand.
Lukas und Aki zog es auf die Dachterrasse, um eine zu rauchen. Obwohl es bereits siebzehn Uhr war, brüllte die Hitze der eng bebauten Großstadt sie noch immer förmlich an. Die schrillen Rufe der Mauersegler, welche im Kreuzviertel eine stattliche Kolonie bildeten, waren bereits vereinzelt zu hören. Über die Häuserdächer starrend, dachte Lukas über die Schnitte an den Leichen nach.
„Wollen wir nachher eine Runde mit den Bikes auf dem Deusenberg drehen?“, fragte Aki.
„Eigentlich gerne, aber ich glaube nicht, dass es dieses Nachher geben wird. Dietmar ist gut in Fahrt und ich rechne
erst nachts mit dem Ende des Meetings.“
Zurück im Besprechungsraum ging es für die siebzehn
Teammitglieder in den folgenden zwei Stunden um Organisatorisches. Informationsfluss, Rahmenbedingungen, Hierarchien, Richtlinien und Dienstwege. Einen Namen wollten sie der Ermittlungsgruppe erst geben, wenn sie mehr Fakten zusammengetragen hatten. Gegen neunzehn Uhr pausierten sie, um bei der kleinen Stehpizzeria gegenüber ihr Abendessen zu bestellen. Sie wussten, dass heute keiner zu einer Zeit nach Hause kommen würde, zu welcher man noch essen wollte. Die Frauen und Männer ließen den Flyer mit der aufgedruckten Speisenkarte und einen Zettel herumgehen, auf dem jeder das gewünschte Gericht notierte. Anschließend holte Steffi das Papier ab, gab die Bestellung auf und nahm diese in Empfang. So lief es oft in intensiven Ermittlungsphasen und bald sahen die Mitarbeiter den Pizzaboten öfter als ihre Familien. Bis ihre Speisen eintrafen, referierte Dietmar erneut über einige Dinge, welche ihm speziell in der chaotischen Anfangsphase einer solch großen Ermittlung wichtig waren. Aufgrund des Wusts an Hinweisen, Spuren und Informationen, die vor ihnen lagen, waren die ersten Tage meist ein Krampf. Er versuchte dies zu entschärfen, indem er an jedem Abend eine Besprechung mit allen Kollegen des Teams forderte. Egal wie müde sie waren und ohne Rücksicht auf das Privatleben der Ermittler. Nach dem Abendessen könne sich jeder noch mal die Beine vertreten. Dietmar kannte kein Erbarmen und stimmte damit alle auf die kommenden Wochen ein.
Lukas und Daniel machten für den morgigen Tag einen Zeitpunkt aus, um sich die bisherigen Örtlichkeiten anzusehen, an denen die Leichen der jungen Frauen aufgefunden wurden. Anschließend telefonierte er kurz mit seiner Frau und wünschte sich, Melissa würde sich nicht so abgekämpft anhören. Bis weit nach null Uhr saßen sie zusammen und verarbeiteten erste Informationen.
Über Gewitter nasse Straßen fuhren die Freunde Richtung Heimat. Geräuschlos schloss Lukas die Haustüre auf und
schaute ins Wohnzimmer, in welchem er noch Licht erspähte.
Wie er es sich gedacht hatte, lag Melissa in eine Kuscheldecke eingeigelt auf der Couch. Sie wollte auf ihn warten, aber die Müdigkeit hatte gesiegt.
„Hey Liz“, sagte er leise und setzte sich neben sie.
„Wie spät ist es?“
„Gleich halb zwei. Komm ins Bett, Liebste.“
„Ich bleib' hier“, brummelte sie.
„Komm schon. Sonst hast du morgen Rückenschmerzen.“
Lukas zog sie sanft vom Sofa hoch. Nachdem er den Kindern einen Gutenachtkuss gegeben hatte, legte er sich neben seine Frau, nahm sie in die Arme und schlief sofort ein. Am nächsten Morgen hatte er nichts um sich herum mitbekommen.
„Schatz?“, fragte er laut in das leere Haus, während er den Behälter der Kaffeemaschine mit Wasser füllte.
„Hier“, hörte er durch das offene Küchenfenster aus dem Vorgarten.
Mit der Tasse in der Hand ging er nach draußen und gab ihr einen Kuss. Sie hatte beschlossen, die Kids heute und morgen in die Kita zu bringen, damit sie bis zum Wochenende und dem Kindergeburtstag alles fertig bekommen würde. Lukas wünschte sich, dass er die kommenden Tage dazu überreden könnte, das Doppelte an vorhandenen Stunden für ihn aufzubringen. Sie sprachen ein paar Minuten und begrüßten einige vorbeikommende Bekannte aus dem Dorf.
Er musste sich loseisen, füllte seine Tasse mit frischem Kaffee und ging nach oben ins Büro. Dort klappte er den Laptop auf, öffnete verschiedene Dateien und holte eine Zigarettenschachtel aus der Schublade. Der Kinder wegen war das Haus rauchfreie Zone. Die einzige Ausnahme bildete sein Arbeitszimmer.
Wie jeden Morgen wäre er gerne erst laufen gegangen, bevor er sich an sein Tagwerk machte, aber den Schlaf nachzuholen, hatte er als wichtiger empfunden. Er zündete sich eine an und trug alle wichtigen Informationen zu den bisherigen Ablageorten zusammen. Der Täter hatte sein erstes Opfer im Hoeschpark nahe der großen Metro Filiale in der nördlichen Innenstadt abgelegt. Sie wussten, dass die Frau vom Straßenstrich aus in das Auto ihres Mörders eingestiegen sein musste. Dieser befand sich etwas mehr als einen Kilometer vom Fundort entfernt. Die Sexarbeiterin wurde dienstagmorgens gegen fünf Uhr aufgefunden und hatte keine Abwehrverletzungen. Der toxikologische Befund war negativ auf Betäubungsmittel, welche das Opfer hätten bewegungsunfähig machen können.
Lukas rief Kartenmaterial auf. Unmittelbar an dem Gelände, an dem sich die jungen Frauen ihren Freiern anboten, war zu jeder Tages- und Nachtzeit zu viel los, als dass man dort jemanden seines Lebens hätte berauben können.
Baumärkte, Möbelhäuser, Discos, Fitness-Tempel, Tankstellen sowie nachts belieferte Einkaufszentren und eine der größten Verbindungsstraßen in die Innenstadt machten dies schier unmöglich. Auch rund um den Park, in dem er sie abgelegt hatte, tobte das Leben. In der Anlage selbst lagen Sportplätze und ein Schwimmbad, bewacht durch Platzwarte und Sicherheitsfirmen. Direkt dahinter befanden sich die Stahlwerke der Westfalenhütte und ein Logistikzentrum, U-Bahn-Stationen, eine weitere, viel befahrene Straße sowie die nachts belieferte Metro Filiale.
Der Täter hatte den Leichnam im nördlichen Teil der Anlage namens Brügmanns Hölzchen platziert. Auf den Fotos sah der Ort für Lukas nicht durchdacht aus. Außerdem wurde die Leiche mit unnatürlich verbogenen Extremitäten aufgefunden. Er verstand nicht, wieso. Hatte er den leblosen Körper über einen der Zäune geworfen? Wo war der Tatort?
Seine Zigarette hatte sich mittlerweile im Aschenbecher selbst geraucht und der angekokelte Filter begann erbärmlich zu stinken. Angewidert drückte er die Kippe aus und fragte sich, warum man so einen ungesunden Mist freiwillig konsumierte. Sofort steckte er sich eine neue an. Schließlich hatte er ja nicht ein einziges Mal an der letzten gezogen.
Lukas starrte auf den Stadtplan.
Nicht allzu fern von Einstiegs- und Auffinde-Position des Opfers gelegen, entdeckte er einen Flecken Grün auf der Karte und zoomte hinein. Der Ostfriedhof. Hier war nachts sicher niemand unterwegs und das Gelände war, wie alle städtischen Friedhöfe niemals verschlossen.
Seine zukünftige Chefin hatte ihn darum gebeten, bei seinem letzten Fall im Dortmunder KK 11 gleichzeitig seine ersten Analysen zu erstellen. Sie war in Dietmars Alter jedoch ein komplett anderer Schlag Mensch. So würde sie sich noch besser mit seiner Vorgehensweise vertraut machen, um ihn in Düsseldorf direkt unter ihre Fittiche nehmen und weiter in die Arbeit der Fallanalytiker einführen zu können. Susanne Braig, die OFA-Leiterin, war ihm sympathisch und er sah der Zusammenarbeit mit ihr und seinen neuen Kollegen mit Spannung entgegen. Gleichzeitig fragte er sich allerdings, wie er in den Ermittlungen, die nun bevorstanden, noch eine vergleichende sowie eine geografische Fallanalyse bewerkstelligen sollte. Diese beinhalteten allerlei Profile und Berechnungen. Es galt die Verhaltensweisen des Täters schlüssig zu ergründen und Hypothesen zu erstellen. Er ließ sich nicht beirren. Aus Studienzeiten war er Kummer gewohnt und wusste, wie es war, während Ermittlungsphasen wenig Schlaf zu bekommen.
Opfer Nummer zwei wurde leblos in ihrer eigens für ihre Dienste angemieteten Wohnung in der Arnoldstraße im Hafenviertel aufgefunden. Ihr Körper lag gerade mit geschlossenen Augen auf dem Wohnzimmerteppich. Keine Abwehrverletzungen und Tox-Screen, wie bei Opfer Nummer eins, negativ. Auf den Fotos fielen ihm wieder diese ungewöhnlichen Schnitte ins Auge. Sie hatte einen im Bereich der Rippen und einen am Steißbein. Lukas trommelte mit dem rechten Daumen auf seinem Schreibtisch herum, schnappte sich das Handy und rief seinen Pathologen des Vertrauens an. Dr. Khaled El Ghareeb war ihm in den letzten Jahren ein guter Freund geworden.
„Lukas, wie geht es dir?“
„Hi Khaled. Danke gut und selbst?“
„Ja, mein Lieber, alles im grünen Bereich. Ich denke mal, du rufst nicht wegen Small Talk an. Was kann ich für dich tun?“
„Da hast du leider recht. Ich sitze an einem neuen Fall und wir haben etwas Ungewöhnliches. Auf den Bildern des Ablageortes sowie denen der Obduktion ist ein länglicher Schnitt im Rippenbereich der linken Körperseite des Opfers sichtbar. Bei der zweiten Leiche auch einer am Steißbein. Natürlich schrieben die diensthabenden Pathologen sowie der anwesende Mordermittler das in die Berichte. Keiner nannte jedoch einen Grund dafür. Es sieht aus, als wäre ein kleines, rechteckiges Stück geöffnet worden. Kannst du dir das erklären?“
„So pauschal kann ich das nicht beantworten. Kannst du vorbeikommen? Ich rufe mir schon mal alles dazu auf.“
„Ja sicher. Bist du zu Hause?“
„Nein, ich bin in der Klinik, aber dein Ausweis öffnet dir ja auch diese meiner Türen. Ich habe bis zweiundzwanzig Uhr
Dienst“, grinste er förmlich durch die Leitung
„Gut, dann würde ich meinen Besuch bei dir gerne mit einer
kleinen Exkursion verbinden. Ich hoffe, das funktioniert auch so. Wir haben vorher Teambesprechung. Sollte ich es nicht schaffen, melde ich mich.“
Das abendliche Treffen in der Rechtsmedizin stand.
Lukas öffnete eine leere Datei auf dem Laptop und dachte über die dritte Auffinde-Situation nach. Auch hier lag das Opfer gerade am Boden, die Augen geschlossen und es gab einen länglichen Schnitt. Dieses Mal im Schambereich. Bei allen drei fehlte die Kleidung. Also nahm der Täter diese entweder als Trophäe mit, oder um Spuren verschwinden zu lassen. Wahrscheinlich beides. Sein Becher war leer und die zweite Kippe hatte sich erneut selbst den Garaus gemacht. Als er gerade beschlossen hatte, sich einen neuen Kaffee zu organisieren, klingelte sein Handy.
„Habt Ihr was Neues?“
„Identität von Opfer Nummer drei steht fest. Dietmar und ich fahren gleich zu den Eltern. Willst du mit?“
„Gib mir die Adresse. Ich treffe mich später mit Daniel und fahre mit meinem Wagen.“
Er zog sich an, schnappte seine Sachen und rief Melissa kurz entgegen, dass es wieder spät würde. Im Auto gab er die Anschrift ins Navi ein und fuhr los. Über die Freisprechanlage rief er seine Frau an.
„Hast du was vergessen?“
„Ja. Es tut mir leid. Ich küsse dich.“
„Ich liebe dich. Bis heute Nacht.“
Dreißig Minuten später stand er vor einem Reihenhaus in der Elsa-Brandström-Straße in Lünen. Eine eher konservative Gegend in der Nähe des örtlichen Krankenhauses. Von Aki und Dietmar war noch nichts zu sehen. Lukas schaute sich um und dachte darüber nach, wie der Täter nach zwei Prostituierten auf ein Mädchen aus gutbürgerlichen Verhältnissen kam. Vielleicht hatte er die junge Frau schon länger beobachtet, oder sie war eine Zufallsbegegnung, aber daran glaubte er nicht. Nach einigen Minuten erschienen seine Freunde. Die drei gingen zum Haus der Eltern. Kollegen und Notfallseelsorger des örtlichen Reviers hatten die Hinterbliebenen bereits einige Stunden zuvor über den Tod ihrer Tochter informiert und den Besuch der Kriminalpolizei angekündigt. Die drei Männer standen vor der Türe und wussten genau um den Umgang mit Angehörigen. Dabei konnte man sich nicht immer strikt nach Protokoll verhalten, aber versuchte es die meiste Zeit über zumindest. Dennoch waren sich alle einig, dass das Mitgefühl nie auf der Strecke bleiben durfte. Dietmar klingelte und einen Augenblick später wurde geöffnet.
„Sie sind die Herrschaften von der Kripo?“
„Ja. Guten Tag, Herr Leitner. Mein Name ist Dietmar Leindecker.“
Er deutete auf Lukas und Aki und fuhr fort. „Das sind meine Kollegen, die Kriminalhauptkommissare Marsollek und Andrajasevic. Dürfen wir reinkommen?“
„Natürlich.“
„Ist ihre Frau auch anwesend?“, fragte Dietmar.
Kaum merklich nickte Herr Leitner und verschwand in den Garten. Mit seiner Frau im Arm kehrte er zurück. Sie bedeuteten den Männern auf der langen Seite des Sofas Platz zu nehmen, während sich das Ehepaar auf die zweisitzige Couch unter dem Fenster setzte.
Die Ermittler sprachen der Familie ihr Beileid aus. Behutsam begannen sie damit, einige Fragen zu stellen. Erste Befragungen ergaben meist wenig hilfreiche Informationen. Die Angehörigen standen unter Schock und hatten nicht mal im Ansatz damit begonnen, das Geschehene zu verarbeiten. Aber auch die wenigen Dinge, welche sie an Tagen wie diesen in Erfahrung brachten, halfen dabei, ihr großes Ganzes zu vervollständigen. Lange wollten sie die Eheleute nicht behelligen. Zum Ende hin bat Lukas darum, sich in den Räumlichkeiten der Verstorbenen umsehen zu dürfen, die bis vorgestern noch hier in ihrem Elternhaus lebte. Sie gestatten es. Er nickte dankend, stand auf und ging die Treppe hinauf in das Zimmer der gerade achtzehn gewordenen Schülerin.
Er fand den Raum entsprechend seinen Vorstellungen vor. An der Wand über dem Bett hingen Fotos von Clique und Freunden. Sie zeigten die jungen Leute bei Partys, in Clubs und im Urlaub. Eines davon fiel Lukas direkt ins Auge. Es war ein Fotostreifen aus einem Automaten, wie sie typischerweise an Bahnhöfen oder Flughäfen zu finden waren. Auf diesem schnitt die junge Frau Grimassen mit einem etwa gleichaltrigen Mann. Dieser war auf keinem der anderen Bilder zu sehen. Er nahm das Foto von der Wand, um die Eltern nach dem Namen des Jungen zu fragen.
Das Bett der Verstorbenen war ordentlich hergerichtet und bereitgelegte Kleidung lag darauf. Ein Bikini unter anderem, eine Jeans Shorts und ein unauffälliges T-Shirt. Vielleicht war sie an diesem Ferientag mit ihren Freunden zum Schwimmen verabredet. Welche Kleidung trug sie, als sie ihren Mörder traf?
Die Eltern hatten noch nachts gesehen, wie ihre Tochter Janine sich ein Glas Wasser aus der Küche holte. Also war sie kaum klammheimlich abgehauen. Lukas begab sich wieder nach unten. Um nicht zu unterbrechen, wartete er eine günstige Gelegenheit ab und fragte das Ehepaar, ob sie den Kleiderschrank ihrer Tochter durchsehen würden, um festzustellen, welche Stücke daraus fehlten. Dies konnte Aufschluss darüber geben, wo sie zuletzt hingegangen war und eventuell sogar warum. Ferner erfragte er den Namen des Jungen auf dem Foto. Frau Leitner nickte verheult.
„Ja, ich werde ihre Kleidung durch schauen. Nach dem Jungen brauchen sie zu nicht suchen. Er war ein Ferienflirt, den sie im Urlaub kennengelernt hatte. Sie haben die Fotos zum Abschied gemacht, kurz bevor wir nach Hause geflogen sind.“
Bevor die drei Kriminalisten das Haus verließen, baten sie das Ehepaar darum, sich bei einem Psychologen zu melden. Sie überreichten die obligatorischen Visitenkarten, falls ihnen noch etwas einfiel. Aki und Dietmar wollten etwas essen und dabei einige Dinge besprechen. Lukas wäre gerne mitgekommen, jedoch war er auf halbem Weg zum ersten Leichenfundort.
Am Parkplatz zum Haupteingang traf er Daniel. Per Handschlag begrüßten sich die beiden.