Ifrit - K. J. Ellinger - E-Book

Ifrit E-Book

K. J. Ellinger

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Beschreibung

Mitten in der Nacht wird Lukas durch Akis Automatismen geweckt. Nur Stunden später bittet der Leiter des Morddezernates Lukas samt OFA-Team um Hilfe. In diesem Winter ist das Leben der Dortmunder Obdachlosen noch gefährdeter als ohnehin. Während sich einige Wohnungslose eine waschechte Urban legend ausdenken, erhalten die Ermittler Hinweise zu einem mysteriösen Mann namens Ifrit. Nicht nur über die Stadt ziehen dunkle Wolken hinweg. Offenbar ist Lukas nicht jedem in der neuen Abteilung willkommen. Zugunsten des Falles sieht er sich dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, welche er bitter bereuen wird. Es scheint, als habe sich die ganze Welt gegen ihn verschworen, dabei müssen sie einen unbarmherzigen Mörder aufhalten ... Eine der Leserstimmen: »Es ist spannend,, sprachlich super, toll recherchiert und einfach hammergut. Ich warte sehnlichst auf den dritten Teil.«

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2023

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K. J. Ellinger

IFRIT

Das Buch

Mitten in der Nacht wird Lukas durch Akis Automatismen geweckt. Nur Stunden später bittet der Leiter des Morddezernates Lukas samt OFA-Team um Hilfe.

In diesem Winter ist das Leben der Dortmunder Obdachlosen noch gefährdeter als ohnehin. Während sich einige Wohnungslose eine waschechte urbane Legende ausdenken, erhalten die Ermittler Hinweise zu einem mysteriösen Mann namens Ifrit.

Nicht nur über die Stadt ziehen dunkle Wolken hinweg. Offenbar ist Lukas nicht jedem in der neuen Abteilung willkommen.

Zugunsten des Falles sieht er sich dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, welche er bitter bereuen wird. Es scheint, als habe sich die ganze Welt gegen ihn verschworen, dabei müssen sie einen unbarmherzigen Mörder aufhalten ...

Die Autorin

K. J. Ellinger, 1979 in Frankfurt am Main geboren, zog es 2003 beruflich nach Dortmund. Mittlerweile lebt sie mit Partner und zwei Katzen im östlichen Ruhrgebiet, wo sie derzeit am vierten Band der Reihe Marsolleks Morde arbeitet.

K. J. ELLINGER

IFRIT

Marsolleks Morde – Band 2

Kriminalroman

Impressum

1. Auflage

Texte: © 2022 Copyright by K. J. EllingerCoverfoto: © 2022 Copyright by A. Hoffmann

Covergestaltung: © 2023 Copyright by M. Hoffmann mit freundlicher Genehmigung des Dortmunder U

Verantwortlich

für den Inhalt: K. J. Ellinger

c/o Fakriro GbR / Impressumsservice

Bodenfeldstr. 9

91438 Bad Windsheimwww.kjellinger.de

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Alle Figuren und Charaktere sind frei von mir erfunden. Es ist durchweg fiktional. Dieses Buch ist in sich geschlossen und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.

Sämtliche Inhalte und Texte sind urheberrechtlich geschützt. Das Urheberrecht liegt, soweit nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet bei mir - K. J. Ellinger.

If there is one thing that everyone needs,

is a god damn space

(Aceyalone)

1

Wie konnte es auf knapp dreißig Kilometern nur durchgehend pissen?

Als er über die Abfahrt Hafen die City erreichte, leuchteten ihm die Projektionen des Dortmunder U entgegen. Dafür hätte er gestern nicht noch extra in die Waschanlage fahren müssen. Seit langer Zeit hatte er bereits um seine Versetzung gebeten. Nach etlichen gestellten Anträgen und viel Nörgelei schickten sie ihn endlich in die Stadt. Dank diverser Fortbildungen, die er über sich hatte ergehen lassen, auch direkt in die gewünschte Abteilung. Das Morddezernat am Dortmunder Präsidium. Er hatte nur Gutes über das Dezernat gehört. In den letzten zehn Jahren hatte dieses eine unfassbare Aufklärungsrate von neunundneunzig Prozent vorzuweisen und lag damit bundesweit auf dem ersten Platz. Pro Monat durchschnittlich fünfzehn Morde und ein bis fünfmal Totschlag plus einige versuchte Tötungen. In Frankfurt oder Berlin wären es mehr Delikte gewesen, aber die Aufklärungsrate in Dortmund hatte ihn überzeugt. In dieser Abteilung zu arbeiten, würde ihm seinen weiteren Weg ebnen. Dessen war sich Benni sicher. Immerhin waren es somit zwei bis zwanzig Fälle im Monat und nicht pro Jahr, wie auf seiner ehemaligen Dienststelle. Das Einzige, was ihn nervte, war, dass er sich dazu verpflichtet hatte, an weiteren Fortbildungen teilzunehmen. Seinem routinemäßigen Freizeitverhalten würde das erst mal ordentlich in die Quere kommen. Morddezernat Dortmund hörte sich aber auch einfach viel geiler an als Kripo Iserlohn.

Während Benni über seine persönliche Grinder Erfolgsquote und die Beschönigung dieser durch den neuen Job nachdachte, hatte ihn das Navi an sein Ziel manövriert. Jetzt ging es also los. Der erste Kriminalhauptkommissar Dietmar Leindecker sollte ihn gleich unten im Wartebereich abholen. Nun war er doch aufgeregt. Er kramte seine Unterlagen zusammen und stieg aus dem Auto. Die paar Meter zum Eingang trabte er mit dem Hardcover Ordner über dem Kopf zum Gebäude, da es immer noch sintflutartig regnete. Er stellte sich am Empfang vor, sagte zu wem er wollte und legte seinen Dienstausweis auf den Tresen. Ein Uniformierter hinter einer Panzerglasscheibe nahm diesen entgegen und entgegnete, dass er oben anrufen würde.

Iserlohn war definitiv anders. Solider Siebzigerjahre-Charme, DIN-A4-Fahndungen an den Wänden und kein Panzerglas.

Hell und modern mutete es dagegen hier an, regelrecht repräsentativ. Obwohl es ein riesiges Gebäude in einer Großstadt war, empfand er es als ruhig. Gut, was sollte man auch an einem Montagvormittag erwarten? Im Empfangsbereich hingen die allseits bekannten Poster mit Werbung für den Polizeiberuf und ein paar Fahndungen. Das war wohl überall gleich.

„Herr Roggenkamp? Herr Leindecker ist in einer Besprechung und es wird noch etwas dauern. Ich kann sie in die Cafeteria bringen, wenn sie möchten. Er holt sie dort ab.“

Benni nickte. Was anderes blieb ihm ohnehin nicht übrig. Der Kollege trat von der Scheibe zurück, tauchte ein paar Türen weiter in dem langen Gang wieder auf und kam auf ihn zu.

„Scheiß Wetter heute. Und? Schon aufgeregt?“, fragte der Panzerglas-Mann.

„Ja, und ja ziemlich.“

„Ach, die beißen nicht. Kommen sie. Hier entlang.“

Bereits eine ganze Weile hatte er im Speisesaal gesessen und es tat sich rein gar nichts. Langsam füllten sich die Tische um ihn herum und er bemerkte, dass auch Angestellte der umliegenden Firmen die Kantine der Behörde für ihre Mittagspause nutzten.

Benni besorgte sich einen Kaffee. Erneut schaute er in die Notizen seines Handys, um sich zu vergewissern, ob er

den Termin korrekt eingetragen hatte. Hatte er.

Dennoch erschien kein Leindecker und auch sonst niemand, der sich für ihn zu interessieren schien. Er konnte ja mal eben seine diversen Chatnachrichten checken, aber genau dann tauchte mit Sicherheit jemand auf.

Draußen heulte die Sirene eines Einsatzfahrzeuges auf und entfernte sich schnell wieder. Beim Blick aus der großen Fensterfront, welche er bisher ignoriert hatte, stellte er fest, dass sich der Fuhrpark direkt an der Kantine befand.

Als Aki im Präsidium ankam, fing ihn sofort der Mann am Empfang ab und sagte, dass er doch bitte gleich seinen neuen Kollegen aus der Cafeteria mitnehmen solle.

„Alles klar.“

Bevor er mit dem Bericht anfing, wollte er schnell in sein Büro, um sich trockene Kleidung anzuziehen. Im Speisesaal angekommen, hielt er Ausschau nach einem, der alleine dort saß, Unterlagen dabei hatte und hin und her schaute. Es dauerte keine Minute, bis er ihn ausgemacht hatte. Er ging auf den Mann zu.

„Bist du Roggenkamp?“

„Ja. Hallo.“

„Hi, freut mich. Ich bin Aki. Komm, ich bringe dich zu uns ins Dezernat.“

Die beiden gaben sich die Hand und er folgte seinem neuen Kollegen. Aki schien locker im Umgang. Er würde ihm jetzt gerne Löcher in den Bauch fragen, aber beherrschte sich dahingehend. Auf ihm gestellte Fragen antwortete Benni jeweils nur kurz angebunden. Fröhlich vor sich hin quatschend lotste der Kollege ihn durch den Gebäudekomplex. Einige Türen ließen sich nur mit einer ID-Karte öffnen. Benni fragte sich, wo er seine herbekommen würde. Dieser Aki laberte und laberte. Mittlerweile nervte es

ihn ein wenig. Viel lieber wollte er sich gedanklich auf das

Kennenlernen mit dem Dezernatsleiter vorbereiten.

Das unentwegte Gerede seines Kollegen brachte ihn aus dem Konzept.

„Jetzt mach dich mal locker und lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen. Bist aus Iserlohn, oder?“

„Ja.“

„Da haste hier auf jeden Fall mehr Action. Fußball Fan?“

„BVB ist hier die richtige Antwort, nehme ich an? Sonst eher Eishockey.“

„Alter, Iserlohn ist doch nicht Kanada. Na ja, wenigstens kein verwirrter Schalker.“

Kriminalinspektion eins stand auf den großen Glastüren. Die linke der beiden führte in sein neues Dezernat, das Kriminalkommissariat elf, kurz KK 11. Aki hielt seine Karte an den Sensor und da waren sie nun. Benni fand, dass der helle Empfangsbereich aussah wie der Vorraum einer großen Versicherung. Im Vergleich dazu kam ihm sein alter Arbeitsplatz fast verstaubt und muffig vor.

„Umschauen kannst du dich später. Ich zeig' dir dann alles und stell' dir die Kollegen vor. Komm bitte erst mal kurz mit in mein Büro. Ich will mir trockene Klamotten anziehen. Beschissene Sintflut heute.“

Brav dackelte er ihm hinterher und wunderte sich über das Namensschild an der Bürotüre. Kriminalhauptkommissar Ivica Andrajasevic stand darauf zu lesen.

„Bist du das?“

„Ja, oder meinst du, ich ziehe mich in fremden Büros um?“

„Wieso dann Aki?“

„Kommt von meinem ehemaligen Fußballtrainer. Er fand meinen Vornamen weibisch und einen Ivo hatten wir schon im Verein. Meinen Nachnamen konnte er nicht aussprechen, also Aki. Seitdem nennen mich alle so. Sogar meine Familie.“

Er wies ihm einen der Stühle an dem großen Schreibtisch. Der unentwegt vor sich hin quatschende und Kraftausdrücke benutzende Kollege ging auf einen Schrank zu und förderte trockene Kleidung daraus hervor. Während er seinen PC startete, tauschte er sein T-Shirt und zog einen trockenen Sweater darüber. Er gab sein Passwort ein und wechselte nun auch seine Hose. Aufgrund seines merkwürdigen Empfangs war Oberkommissar Roggenkamp etwas verstört und fragte sich, ob hier alle so drauf waren. Als sein neuer Vorgesetzter komplett umgezogen war, stopfte sich dieser ein Brötchen in den Mund und kramte in seiner Schreibtischschublade herum.

„Wäre ein Regenschirm nicht einfacher gewesen?“, fragte der Neue.

„Hab gerade ne Ftunde mit der KTU draufen geftanden, bevor wir in die TO-Wohnung konnten“, antwortete Aki mit dem Brötchen im Mund und fuhr fort. „Da bringt dir 'n Regenfirm auch nix. Vielleicht 'n Taucheranfug.“

Als er zu Ende gekaut hatte, teilte er ihm mit, dass er heute nicht die meiste Zeit habe. Er entschuldigte sich für den holprigen Empfang. In ihrem Beruf wäre nun mal nichts planbar. Er kenne das ja. Wie versprochen, machte er ihn mit allen Kollegen bekannt, welche gerade im Dezernat anwesend waren und zeigte ihm die Abteilung. Sie gingen von Büro zu Büro, schauten sich den großen Konferenzraum an und landeten in der Mitarbeiterküche. Oben gab es wohl eine begrünte Terrasse, die sie ab dem Frühjahr gerne für gemeinsame Pausen nutzten. So recht vorstellen konnte er sich das an einem grauen und verregneten Oktobertag wie dem heutigen jedoch nicht. Zwischendurch klingelte das Handy seines neuen Kollegen öfter, welcher die Anrufe nicht entgegennahm. Mittlerweile war er seit zwei Stunden hier und der Dezernatsleiter befand sich immer noch in seinem Meeting. Jedenfalls bisher keine Spur von ihm. Aki erwähnte ihn ebenso mit keiner Silbe.

„So, Benedikt.“

„Benni bitte.“

„Okay, dann Benni. Jetzt kannst du es dir bei mir im Büro gemütlich machen. Ich drucke gleich dein Namensschild aus.

Wir sind neue Partner. Überraschung“, grinste er.

Der dienstältere Kollege schlug ihm vor, dass er sich hier erst mal in Ruhe häuslich einrichten und ankommen solle. Er hatte ihm einen Lageplan mit sämtlichen Abteilungen, Dezernaten und wichtigen Anlaufstellen des Präsidiums parat gelegt. Auch könne er schon mal in der Personalabteilung ein Passfoto machen lassen, um morgen seine ID Karte und die neuen Passwörter in Empfang zu nehmen. Aki griff den Telefonhörer und drückte einen Kurzwahlknopf.

„Kurzwahlliste findest du in deinem Schreibtisch“, sagte er, während er wartete. „Hallo. Andrajasevic hier, KK 11. Unser neuer Kollege Roggenkamp kommt gleich zu ihnen runter und braucht bis morgen eine temporäre Karte. Fotograf im Haus? Falls ja, antanzen lassen, bitte. Danke.“

Nachdem Aki ihm den Weg zur Personalabteilung erklärt hatte, sagte er, dass er noch mal kurz wegmüsse. Er schnappte sich seine Jacke und verschwand.

Super Empfang, dachte Benni. Was hatte er auch erwartet? Roter Teppich und Staatsempfang für ein Landei? Nicht mal ein paar alte Akten zur Durchsicht hatte er ihm gegeben. Heute Nachmittag musste er dafür sorgen, dass er hier gleich mitmischen durfte.

Aus purer Langeweile schnappte er sich den ausgefüllten Personalbogen und machte sich auf den Weg, um seine ID Karte abzuholen. In der Verwaltung angekommen, entschuldigte sich die diensthabende Kollegin und erzählte, dass es zu personellen Engpässen gekommen war. Sie hatte versucht, alles fertig zu bekommen, aber er war ja schneller, haha.

Ja. Haha, sehr lustig, dachte er genervt.

2

Da Melissa aufgrund ihrer Schwangerschaft im Moment oft müde war, entschieden sich Marsolleks dazu, ihren Geburtstag nicht so groß zu feiern, wie es erst geplant war. Außerdem fiel das Datum in diesem Jahr auf einen Montag. Dietmar kam auf die Idee, dass sie an Brigittes und Caros Geburtstag nachfeiern konnte, und so luden sie ihre Gäste für diesen Freitagabend in den Krug ein. Auch Wirtin Brigitte rundete in diesem Jahr und stellte im großen Saal ein Buffet auf. Bereits am Montag hatte Lukas seiner Frau den Karton mit Nettigkeiten überreicht, welchen er im Sommer für sie zusammengestellt hatte. Melissa lachte herzhaft über Antifaltencremes, Erwachsenenwindeln und Haftcreme für Zahnersatz im nigelnagelneuen Hackenporsche. Sofort wusste sie, dass es eine Racheaktion für ihren Spruch mit dem Rollator an seinem Geburtstag war. Bei der Party überreichte er seiner Frau die eigentlichen Geschenke. Sie öffnete das Erste und förderte daraus eine Flasche Kräuterlimonade, Kräuterbonbons, eine Schokolade in Pyramidenform, eine Uhr und ein Glarner Tüechli in ihrer Lieblingsfarbe zutage.

„Hä?“, fragte sie grinsend.

„Mach das andere auf.“

Nun kamen eine Flasche Balsamico-Essig, Parmesan, Schinken, Gianduja-Aufstrich und eine Packung Balanzoni Nudeln zum Vorschein. Auf dem Boden befand sich ein Umschlag. Lächelnd öffnete sie diesen und ahnte, was kommen würde. Lukas hatte ihnen für die Osterferien im nächsten Jahr einen Urlaub in der Heimat ihrer Familie, der Emilia Romagna, organisiert. Auf dem Hinweg würden sie Freunde in der Schweiz besuchen, und im Anschluss würde die italienische Verwandtschaft ihren neuesten Familienzuwachs kennenlernen. Gerührt bedankte sie sich und grinste den ganzen Abend. Jetzt verstand sie auch, warum der DJ bis zum Essen nur italienische Musik gespielt hatte.

Wie immer bei ihren Feiern wurde es feuchtfröhlich. Einzig Melissa war um Mitternacht noch nüchtern. Das störte sie nicht. Sie genoss den Abend mit Freunden und Familie. Circa eine Stunde später kam das Unvermeidliche und dieses Mal war es Aki, der Lukas zum Blödsinnmachen anstiftete. Der beste Freund ihres Mannes hatte von zu Hause seinen Baseballschläger geholt. Er band Lukas das Glarner Tüechli über die Augen und er musste als erstes Norsk Fylla spielen.

Dabei drehte man sich zehnmal mit der Stirn auf dem Schläger aufliegend um die eigene Achse und sollte es dann schaffen, gerade aus dem Saal zum Tresen zu laufen. Wer es nicht fertig brachte, musste einen Schnaps trinken. Einige Freunde spielten mit. Die ersten zwei Runden gestalteten sich harmlos.

Bei der dritten knallte Lukas mit dem Kopf an die Türe des großen Raums und Aki landete im DJ-Pult. Nach der vierten Runde fielen beide hin und lagen bewegungsunfähig wie Schildkröten auf ihren Panzern auf der Erde. Akis Frau Vesna beendete das Trinkspiel nach Runde fünf, da sie nicht vorhatte, das Inventar der Gaststätte zu bezahlen oder ihren Mann morgen im Krankenhaus zu besuchen. Melissa hatte derart gute Laune, dass ihr die Aktion der beiden heute nichts ausmachte. Auch Lukas neue Chefin, mit der sich die Familie super verstand, und ein neuer Kollege waren anwesend. Sie lachten sich über den berühmt-berüchtigten Blödsinn der beiden Freunde schlapp. Susanne und Matthias fanden es super, einmal live dabei zu sein. Sein ehemaliger Dezernatsleiter Dietmar und die Freunde Daniel und Speedy hatten das Spektakel per Handyvideo für die Nachwelt festgehalten. Gegen vier Uhr verließen sie rappelvoll den Krug und machten sich auf den kurzen Heimweg. Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung, bevor Vesna und Aki durch ihre Haustüre verschwanden.

Sehr leise deckte Melissa morgens den Tisch, um die

verkaterten Übernachtungsgäste sowie Mann und Kinder nicht zu wecken. Nach und nach kamen die Party-Tiere herunter geschlurft. Lukas sah mit Abstand am schlimmsten aus und hielt sich den Kopf. So gut es ging, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen.

„Lach nicht, du fiese Frau“, sagte er und gab ihr einen Kuss.

„Kopfschmerz Tablette?“

„Ja“, antwortete er grinsend.

Beim Frühstück unterhielten sie sich über Privates und ließen der Marsollek-Sprösslinge wegen die Arbeit komplett aus ihren Gesprächen heraus. Pia und Nico zog es allerdings ohnehin in ihre Spielecke im Wohnzimmer. Nachdem ihre Gäste gen Heimat verschwunden waren, fläzten sich Lukas und Melissa auf die Couch. Die Kids kamen zum Kuscheln und sie schauten gemeinsam einen Film. Abends rief Aki an, um sich das Herz über seinen neuen Partner auszuschütten.

„Er taut bestimmt noch auf.“

„Hoffe ich. Der ist so langweilig, man. Er versteht meine Witze nicht und ist voll der überkorrekte Korinthenkacker.“

„Also bin ich wohl doch nicht so ein Spießer.“

„Nee, biste nicht. Ich nehme alles zurück. Lukas, der nervt mich jetzt schon, obwohl er nicht mal zwei Wochen da ist.“

„Gib ihm eine Chance. Für mich ist es auch alles andere als leicht, nach fünfzehn Jahren im Dezernat. Ihr fehlt mir. Nur noch so wenig draußen zu sein, ist auch schräg für mich.“

„Willst du echt beim LKA bleiben?“

„Bin doch nächstes Jahr schon wieder in Dortmund, um die neue Abteilung mit aufzubauen.“

„Ja, aber zusammen raus fahren ist trotzdem nicht mehr.“

„Ich weiß, aber wir sehen uns doch jeden Tag. Wie heißt der Neue überhaupt?“

„Benni. Schmierlappen.“

„Komischer Nachname.“

„Blödmann“, schnaubte Aki.

3

Jan war froh, dass seit November das große Zelt am Dortmunder U seine Türen wieder geöffnet hatte. Das ätzende Regenwetter machte es im Moment nicht leicht, schnorren zu gehen. Oft versuchte er es bei den Pendlern vor dem Bahnhofsgebäude, nachdem er oben an Gleis 1 seinen Kaffee getrunken hatte.

Der Platz auf der innerstädtischen Seite war beliebt und hart umkämpft. An die Nordseite brauchte er sich der ewigen Baustelle wegen gar nicht erst hinzusetzen. Da er heute früh dran war, hegte er die Hoffnung, dass die Punker noch nicht am Platz vor der großen Treppe an der Bibliothek abhängen würden. Also versuchte er sein Glück und setzte sich auf eines der kleinen Mäuerchen. Er legte eine Plastiktüte unter seinen Sitzplatz, damit seine Hose nicht nass werden würde.

Die Leute mochten es nicht, wenn man die Baseballkappe ins Gesicht zog. Das gab weniger Geld, als wenn man sie direkt ansah. Da er keinen Regenschirm hatte und nicht nach fünf Minuten komplett durchnässt sein wollte, blieb ihm nichts anderes übrig. Also stellte er eines seiner kleinen Schildchen auf, zog die Mütze tief ins Gesicht und hoffte auf den ein oder anderen Menschen, der ihn auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle nicht ignorieren würde. Die letzte Woche hatte es permanent Bindfäden geregnet und genau solch eine Laune brachten ihm die Passanten seitdem entgegen. Als mittags die Punks eintrafen und ihn pöbelnd vertrieben, hatte er gerade mal achtzig Cent in seinem Becher.

Jan hatte schon viele von ihnen kennengelernt und fand die meisten supernett. Außerdem war er selbst links und mochte ihre Mucke. Eigentlich hörte er zwar lieber Hip-Hop, aber deren Musik war ihm nicht fremd.

Ihr selbst ernannter Anführer, der sich wie der Schutzpatron der Straßenkids aufspielte, nervte ihn allerdings. Systematisch fing er Neuankömmlinge ab wie ein Sektenguru und band sie mit kruden Versprechen an sich und seine Leute. Was er jedoch für sie tat, war nichts, außer ihnen zu zeigen, wie man es erst recht nicht mehr hier heraus schaffte.

Kurz überlegte er, ob es sich lohnen würde, heute noch auf dem Westenhellweg Stellung zu beziehen. Wahrscheinlich eher nicht, denn die Bettelmafia hatte dort um diese Uhrzeit schon alle guten Spots besetzt. Mit seinen bisherigen Einnahmen würde er nicht mal irgendwo ein warmes Getränk bekommen. Heute war der vorletzte Samstag im Monat, also standen die Chancen nicht schlecht, dass er Melissa im Bodo antreffen würde. Er mochte sie. Langsam machte er sich auf den Weg zum Schwanenwall.

Jo fehlte ihm immer noch. Ende August dieses Jahres war er auf offener Straße erschlagen worden und vor zwei Wochen hatte es Matthis erwischt.

Seitdem waren die Einrichtungen nachts noch überfüllter als sonst. Jan wusste noch genau, was für ein Tag es war. Exakt neun Wochen waren seitdem vergangen. An jenem Samstag hatten sie sich nach einem richtig guten Umsatz spät abends in der Innenstadt verabschiedet. Die letzten Festivals in den Parks und in der City liefen, der BVB gewann das Heimspiel gegen Werder und sie hatten jede Menge Pfand zusammen gesammelt. Sogar so viel, dass sie sich nach langer Zeit mal wieder ein paar Bierchen gegönnt hatten. Viele der anderen waren ständig nur am Saufen. Sein Kumpel Johannes war anders. Sonntags hatte er um vierzehn Uhr an der Reinoldikirche auf Jo gewartet, wie sie es verabredet hatten, aber er kam nicht. Zuerst dachte er sich nichts dabei, weil sein älterer Kumpel ab und zu etwas verzettelt sein konnte. Er war keinesfalls senil oder nahm irgendwelche Substanzen zu sich. Allerdings bemerkte Jan in den letzten zwei Jahren, dass sich sein Wesen verändert hatte. Er glaubte, dass sein Straßen-Mentor langsam nicht mehr konnte. Er war fast siebzig, nicht mehr gut zu Fuß und wirkte generell meist nur noch abgeschlagen und müde. Johannes war einer der ältesten von ihnen und machte schon seit vierzig Jahren Platte. Vielleicht wollte er sowieso gehen. Er dachte oft darüber nach.

Als er bei Bodo e. V. ankam, roch es nach Kaffee und Keksen. Er war froh darüber, sich aufwärmen und gleich ein wenig unterhalten zu können. In den wenigen Stunden war ihm die beschissen nasskalte Witterung bereits in die Glieder gekrochen. Minuten hätten dazu schon gereicht.

„Hi Jan“, strahlte Melissa, als sie ihm einen Teller und eine Tasse vor die Nase stellte.

„Hey Liz. Schön, dich zu sehen.“

Die beiden umarmten sich. Sofort drehte sie sich von ihm weg und er fragte sich, was er falsch gemacht hatte.

„Sorry“, sagte sie gepresst und ging vor die Türe.

Als sie zurückkam, entschuldigte sie sich erneut und erzählte ihm, dass sie schwanger sei. Gerüche aller Couleur waren ihr aktuell unangenehm. Ehrlich, wie sie war, sagte sie, dass sein ungepflegter Zustand dem gerade nicht zuträglich war.

„Tut mir leid. In letzter Zeit habe ich mich etwas gehen lassen. Das erklärt das Bäuchlein. Glückwunsch“, grinste er verlegen.

„Danke. Was gibt es Neues bei dir? Wieso nutzt du im Moment die Möglichkeiten zur Pflege nicht?“

Schweigend tunkte er einen der Kekse in seinen Kaffee und blickte in die Tasse. Sie wusste, warum es ihm nicht gut ging.

„Es gibt Gerüchte in der Stadt“, sagte Jan, als sich die Streetworkerin wieder zu ihm an den Tisch gesetzt hatte.

„Was für Gerüchte?“

„Sie sagen, dass vor zehn Jahren schon mal einer von uns so sterben musste.“

Melissa wusste genau, wen er meinte und auch, dass Tatsachen und Realität hier miteinander verschwammen. Es

war zwanzig Jahre her, dass Martin auf die gleiche Art und

Weise ermordet wurde.

„Melissa, weißt du etwas darüber?“

„Jein. Ich fing damals gerade an. Martin und Jo haben mir zu

dieser Zeit den Einstieg in meinen Beruf sehr leicht gemacht. Ich verdanke ihnen viel. Mir tut das auch weh, aber ich weiß nicht mehr als du“, log sie.

Als er seine Siebensachen für den Abend packen wollte, fragte sie ihn, wo er heute Nacht schlafen würde. Er erzählte, dass er sich ein Abrisshaus der Deutschen Bahn zwischen der City und Huckarde mit vier anderen teilte.

„Jan? Morgen soll ein schöner Herbstsonntag werden. Meine Bitte an dich: Geh duschen und rasier' dich. Familien werden unterwegs sein und gut gelaunt die Spendierhosen anhaben. Hauptbahnhof kannste knicken, aber Stadtgarten wäre eine Option. Willst du frische Klamotten mitnehmen?“

„Ja. Kann ich dir meine zum Waschen hier lassen?“

Konnte er natürlich und sie würde diese für ihn hinterlegen. Nachdem Jan nun doch noch seine herzliche Umarmung von der Streetworkerin erhalten hatte, machte er sich auf den Weg.

Da er an diesem Tag bereits zwei Mahlzeiten zu sich genommen hatte, war noch ein wenig Geld übrig. Er hatte Kevin versprochen, Hundefutter mitzubringen. Beim Supermarkt im Hauptbahnhof verscheuchte ihn ein Security-Mann und so ging er weiter zum Laden auf der Rheinischen. Dort hatte er diesen Monat noch keinen Platzverweis kassiert und kaufte eine Dose Billigfutter für Mischlingshund Willi. Er war ihnen zugelaufen und fungierte mittlerweile als ihre Alarmanlage.

Als Jan sich vom Supermarktparkplatz aus in Richtung seines Domizils begab, wurde er in einer Seitenstraße von betrunkenen Jugendlichen dumm angemacht.

„Geht lieber feiern. Ich will meinem Kumpel und seinem Hund nur was zu essen bringen.“

Sie lachten und einer schlug ihn zu Boden.

Blutend setzte er seinen Weg fort. Während die Jugendlichen grölend davon liefen, schrie ihm einer hinterher:

„Fick dich, du Opfer!“

Mitten in der Nacht weckte Willi die vier schlafenden Männer. Aufgeregt und bellend lief er in dem großen Raum des ehemaligen Bahngebäudes umher, in welchem sie ihr Lager errichtet hatten. Voller Panik schüttelte Kevin die anderen, damit sie alle Habseligkeiten zusammen klauben konnten, für die es noch nicht zu spät war.

Durch Rauch und brennende Kleidung bahnten sich die vier samt Willi den Weg nach draußen. Feuerwehrleute und Polizisten kamen ihnen entgegen, als sie das Gelände verließen. Sie waren freundlich, aber bestimmt. Die Beamten wussten, dass die Männer den Brand nicht selbst gelegt hatten. Bei den Behörden war das Gebäude als Übernachtungsmöglichkeit für Obdachlose bekannt; Deutsche Bahn und Polizei duldeten die Wohnungslosen hier. Die Einsatzkräfte wollten von ihnen wissen, ob sich noch jemand im Inneren befand. Jan antwortete, dass niemand mehr drin war, er aber beim Hinauslaufen einen Molly unter dem Fenster hatte erkennen können.

Tags darauf liefen die Männer der ehemaligen Zweckgemeinschaft in Richtung Innenstadt und überlegten, wo sie ab jetzt nächtigen konnten. Die beiden Rumänen Ciprian und Neru entschieden sich dazu, hinter den Gleisen bei der Großmarktschänke zu schlafen. Vormittags klapperten Jan und Kevin die Sleep-Ins der Stadt ab. Um achtzehn Uhr hatten sie immer noch keinen Schlafplatz. Kevin entschied sich dazu, den beiden Rumänen auf das Areal des stillgelegten Stellwerks zu folgen.

„Das Gelände ist so offen, Kevin. Außerdem wird man da oft von der BuPo verjagt.“

„Ja, aber wo willst du sonst hin?“

„Wir könnten unter die Brücke an der Mallinckrodtstraße,

bis wir einen besseren Platz haben.“

„Da ist es voll laut. Willi dreht dann die ganze Nacht am Zeiger. Ich geh' zu Ciprian und Neru. Komm mit. Alleine ist scheiße.“

„Nee, ich checke die Brücke. Können uns morgen an der

Kirche treffen. Ich bin um neun bei der Bahnhofsmission und dann hocke ich mich an die Treppe vor der Reinoldi.“

„Okay. Bin so um zehn da.“

Beim türkischen Supermarkt in Hafennähe kaufte Jan etwas zu Essen und zwei Flaschen Wasser. Da noch Geld übrig war und er morgen Neues verdienen würde, gönnte er sich beim Kiosk eine Packung Tabak, Blättchen und drei Pullen Bier. Er startete einen letzten Versuch beim Sleep-In in der Martinstraße, aber auch die waren gnadenlos überbelegt. Mittlerweile war es stockdunkel und begann wieder zu regnen. An der nahe gelegenen Brücke angekommen, hoffte er, dass die anderen drei ebenfalls einen überdachten Platz beim Südbahnhof gefunden hatten. Ein Herbststurm zog auf und wehte Äste und Gegenstände durch die Gegend. Er öffnete eine erste Flasche und nahm das Buch aus dem Rucksack, welches er heute bei Bodo e. V. mitgenommen hatte.

Endlich hatte er wieder einen Fantasy-Roman ergattert. Er fand es faszinierend, dass sich Menschen magische Wesen, eigene Sprachen, Landkarten und sogar ganze Welten ausdenken konnten und tauchte gerne in diese ab. Ständig wehte der blöde Wind seine Kerze aus und er wurde dauernd beim Lesen unterbrochen. Normalerweise machte Jan das nicht gerne, weil er Batterien sparen wollte, aber das Buch war so spannend, dass er sich dazu entschied, die Taschenlampe zu Hilfe zu bemühen.

Um einundzwanzig Uhr stiefelte er noch einmal los, um sich beim Kiosk von seinem restlichen Geld mehr Bier zu kaufen. Er war bereits bei Kapitel elf und konnte einfach nicht mehr aufhören. Als er die Hälfte durch hatte, legte er seine Lektüre kurz beiseite, um sich eine Zigarette zu drehen. Seine Uhr verriet ihm, dass es fast Mitternacht war. Er nahm einen Schluck aus seiner fünften Flasche.

Seine Gedanken drifteten ab, während er rauchte. Er verfiel in Selbstmitleid. Jo hatte immer gesagt, dass Alkohol alles nur noch schlimmer machte. Ein oder zweimal im Monat gönnte sich sein verstorbener Freund ein paar Fläschchen, aber nur dann, wenn er gute Laune hatte.

Jan vermisste ihn.

Um nicht weiter in seinen verdrießlichen Gedanken zu versinken, drehte er sich noch eine Zigarette, machte ein sechstes Bier auf und nahm das Buch erneut zur Hand. Er zog seinen Schlafsack bis über die Brust und legte sich einen Schal an, da der Wind mittlerweile unter der Brücke hindurch peitschte. Nachdem er sich kurz im Gebüsch hinter der Brücke erleichtert hatte, zog es ihn sofort in seine Fantasiewelt zurück.

Die Heldin war ihm sympathisch. Stets auf der Seite der guten Mächte, aber vor allem mutig und unbeirrt. Nach dem siebten Bier merkte Jan, wie seine Augen immer wieder zufallen wollten. Er hatte doch nur noch fünfzig Seiten. Wenigstens würde er mit dem Rest seiner Lektüre morgen einen guten Start in den Tag haben. Bestimmt hatte die tapfere Heldin es mithilfe der Walhanis geschafft, ihr Volk von den Dämonen zu befreien.

Durch einen rasenden Kopfschmerz wachte Jan auf. Eine dunkel gekleidete Gestalt stand über ihm. Panisch hob er in Windeseile die Arme vor sein Gesicht und kniff die Augen zusammen. Der nächste Schlag kam nicht. Nach einer Weile öffnete er die Augen. Der Mann stand immer noch da und sah ihn an. Den Schläger hielt er jetzt wie einen Spazierstock auf dem Boden stehend.

„Was wollen sie? Lassen sie mich in Ruhe. Bitte.“

„Du bist hässlicher Abschaum.“

„Nein!“

Blitzschnell stieß ihm sein Gegenüber das härtere, kleine Ende der Holzwaffe in den Magen. Ihm blieb die Luft weg, er hustete und krümmte sich nach vorne. In diesem Moment holte sein Peiniger aus und zog ihm mit der breiten Seite des Schlagstocks eins über den Schädel. Jan kippte zur Seite und blieb vor Schmerz gelähmt dort liegen. Er hatte gehört, wie seine Kieferknochen gebrochen waren. Mehrere Zähne gleichzeitig waren ihm herausgebrochen und er spürte sie mit Blut vermischt in seinem Mund. Er öffnete diesen. Er wollte

nicht an seinen eigenen Zähnen ersticken. Jan konnte sie

nicht ausspucken.

In Verbindung mit einer Blutlache drückte er sie mit der Zunge hervor und ließ es einfach laufen. Er wusste, dass er durch die Hand desselben Mannes sterben würde, der auch Jo getötet hatte.

Heute Nacht.

Er wollte den Mann fragen, warum er das tat, aber konnte nicht mehr sprechen. Am Kragen seines Hoodies wurde er hochgezogen und verblieb an einem Brückenpfeiler angelehnt sitzen. Er konnte das frische Leder der Handschuhe, die sein Mörder trug, riechen.

Jan dachte an die wenigen Menschen, die es in seinem Leben gut mit ihm gemeint hatten und bedankte sich im Stillen bei ihnen. Ein weiterer Schlag traf seinen Kopf. Nicht mal einen gnädigen Tod wollte ihm dieses Scheiß-Leben gönnen.

Jan hatte sich eingenässt. Sein Kreislauf sackte ab und es wurde dunkel. Er hatte Angst. Während er seine Augen schloss, hörte er, wie ein kleiner metallener Gegenstand neben ihm zu Boden fiel.

4

Um vier Uhr morgens klingelte Lukas Diensthandy. Er wollte schnell dran gehen, damit Melissa nicht davon aufwachte. Stattdessen warf er im Dunkeln die Wasserflasche auf dem Nachttisch um und seine Brille auf den Boden.

„Aki, alles okay?“, fragte er alarmiert.

„Jo. Tatort, bin unten.“

Verwundert ging Lukas runter und öffnete.

„Du bist sicher, dass du mich anrufen wolltest?“

In diesem Moment schien sein bester Freund wach zu werden und realisierte, was gerade passiert war. Lukas sah es ihm an und die beiden gaben sich lachend ein Highfive.

„Willst du einen Kaffee mitnehmen?“

„Ja gerne. Total seltsam gerade. Tut mir leid, Bruder. Das ist so ein Automatismus. Ich hoffe, du kannst noch mal pennen.“

"Alles gut. Ich bleib' wach und geh laufen. Was für einen Tatort habt ihr?“

„Wieder ein Obdachloser und wahrscheinlich haben wir damit unsere Serie. Die Sonderkommission lag auf Eis, weil wir nicht genug Beweise hatten, um den Cold Case von vor zwanzig Jahren dazuzurechnen.“

„Ich hoffe, Dietmar fordert uns an. Melissa ist seit dem Urlaub schon auf Zündung deswegen. Solltest du nicht auch langsam mal deinen neuen Partner anrufen?“

„Gleich“, sagte Aki und verdrehte dabei die Augen.

„Sei nicht so fies zu dem Kleinen.“

„Bei dir klingt er wie ein süßer Welpe. Du kennst den doch gar nicht. Er ist nervig.“

„Aki?“

„Hm?“

„Das liegt daran, dass er nicht ich ist. Gib ihm eine Chance.“

Schief lächelnd nahm Aki den Becher entgegen, umarmte seinen besten Freund zum Abschied und ging zu seinem

Wagen.

Lukas legte Melissa einen Zettel an die Kaffeemaschine, falls sie schon aufwachte, zog seinen grauen Lieblingsjogginganzug an und verließ das Haus. Am kleinen Zaun ihres Vorgartens dehnte er kurz seine Oberschenkel und lief auf den Hauptweg der offenen Kleingartenanlage hinter ihrem Haus. Am Rahmer Wald angekommen, mussten sich seine Augen zunächst wieder an die Dunkelheit gewöhnen.

Er genoss die kühle Herbstluft in den Lungenflügeln und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Lukas entschloss sich für die kleinere, fünf Kilometer lange Runde am Feld und unter der S-Bahn Trasse entlang. Am Waldcafé bog er auf den Hauptweg in Richtung des Stadtteils Rahm ein. Vorbei an der Grundschule seiner Tochter, einem Fußballplatz und durch eine weitere offene Kleingartenanlage kam er auf einem Supermarktparkplatz an. Hier verschnaufte er kurz und lief dann weiter über die S-Bahn Brücke in den Gustav-Heinemann-Park. Erste Gassi-Gänger und Pendler kreuzten seinen Weg. Lukas bog in den Verbindungsweg zwischen Park und Gartenanlage ein und war fast wieder an ihrem Haus angekommen. Wie jeden Morgen hatte der Kiosk bereits geöffnet und er betrat den kleinen Verkaufsraum.

„Na, warste laufen?“

„Jo. Morgen Orhan. Alles schick?“

„Morgen. Jo, und selbst?“

„Auch. Hast du Körnerbrötchen?“

„Wie, viele willst du?“

„Sechs Körner und vier normale.“

„Zwei vierzig. Grüß die Bande.“

„Mach' ich. Grüß deine auch.“

Die letzten Meter bis zum Haus ging Lukas in gemächlichem Tempo. Dort angekommen, schliefen alle noch. Während er das Frühstück zubereitete, kam Melissa müde und verwirrt die Treppe hinunter.

„Morgen Liebster. Wieso bist du schon wach?“

„Akis Automatismen.“

Sie sah in fragend an und schlurfte sich ihren Guten Morgen

Kuss abholen. Seit Lukas beim LKA war, hatten sie wieder bedeutend mehr Zeit füreinander, was beiden wirklich guttat.

Aki nannte es einen Sesselpupser-Job. Nach dem Frühstück verzogen sich die Knirpse, während Lukas Zeitung las und Melissa mit Vesna telefonierte. Nachdem sie aufgelegt hatte, zog er seine Frau neben sich auf das Sofa.

„Liz?“

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an und wartete darauf, dass er fortfuhr.

„Aki hat mich heute Morgen aus Versehen geweckt.“

„Ja und?“

„Sie haben bisher keine Soko abgesegnet bekommen, weil nicht eindeutig zu beweisen ist, dass euer Martin damals dazu gehörte.“

„Weiter?“

„Gestern Nacht gab es einen dritten beziehungsweise vielleicht vierten Mord. Aki konnte mir noch nicht mehr sagen. Ich wollte, dass du es weißt, bevor du es morgen in der Zeitung liest.“

„Wann hast du einen Namen für mich?“

„Sie sind am Tatort. Ich will warten, bis er sich meldet.“

„Wird es eine Ermittlungsgruppe geben?“

„Ja. Ich weiß aber nicht, ob wir dabei sein werden.“

Beide lauerten darauf, dass Aki nach Hause kam. Gegen elf am Vormittag stand sein Wagen immer noch nicht wieder vor dem Haus und so nahmen sie an, dass er direkt ins Dezernat gefahren war. Melissa drängelte, dass Lukas ihn anrufen solle und nervte Vesna bereits mit Nachrichten. Gegen Mittag gab sich Herr Marsollek geschlagen und tat seiner Frau den Gefallen. Aki hatte sofort die Identität für ihn, da neunzig Prozent der Obdachlosen per Daktyloskopie in ihrem System zu finden waren.

„Jan Birkholz, achtunddreißig Jahre alt. Wahrscheinlich überflüssig, danach zu fragen, ob du ihn kanntest, oder?“

Melissa nickte, rieb sich mit der rechten Hand über das

Gesicht und atmete hörbar aus.

Fahrig sah sie aus dem Fenster in den Garten und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge.

„Willst du reden?“

„Ich hab ihm gesagt, dass er müffelt. Bei meinem letzten Samstag im Bodo hab ich noch seine Klamotten gewaschen und ihn duschen geschickt.“

„Jeder, der dich kennt, weiß, dass du so etwas nie böse meinen würdest.“

„Ich hätte so etwas normalerweise nie gesagt. Ich konnte ihn an dem Tag nur nicht umarmen, weil mir schlecht geworden ist. Ich hab ihm einfach gesagt, dass er stinkt, Lukas.“

Sie fing an zu weinen. Er nahm sie in die Arme.

Um sechzehn Uhr klingelte sein Diensthandy. Susanne war dran, um ihm mitzuteilen, dass Dietmar gegen Mittag ein OFA-Team angefordert hatte und heute eine Ermittlungsgruppe ins Leben gerufen wurde. Das erklärte, warum Aki immer noch nicht zu Hause war.

„Also morgen früh?“

„Ja. Acht Uhr im KK 11.“

Lukas bestätigte den Termin, legte auf und erzählte es seiner Frau. Auf der einen Seite gingen Melissa intensive Ermittlungen auf den Zwirn, andererseits hatte sie dieses Mal persönliches Interesse an der Aufklärung. Sie beschloss, sich nicht aufzuregen, egal was kommen würde. Durch ihr südländisches Temperament hatte sie Lukas schon so manches Mal eine Szene gemacht oder ein Drama serviert, wo eigentlich kein Grund dafür bestand. Mit stoischer Ruhe ertrug er ihre Anwandlungen. Er verstand durchaus auch ihre Seite und sie hatten einen guten Mittelweg gefunden, mit allem umzugehen.

Meistens.

Nachdem sie Pia und Nico ins Bett gebracht hatten, kochte er ihr einen frischen Tee und setzte sich zu ihr aufs Sofa.

„Melissa?“

„Hm?“

„Hatten die Opfer Gemeinsamkeiten?“

„Inwiefern?“

„Aussehen, Verhalten, persönliche Hintergründe, gemeinsame Bekannte?“

Melissa kratzte sich am Kopf und starrte aus dem Fenster. Er wollte ihre Gedanken nicht unterbrechen und ließ sie in Ruhe.

„Ja“, antwortete sie nach einer Weile.

„Die wären?“

„Alle vier waren eher sensibel.“

„Inwiefern?“

„Martin, Johannes, Matthis und Jan waren nie die typischen Obdachlosen. Jederzeit hätte man ihnen wieder ein gesellschaftskonformes Leben zugetraut. Sie haben sich nie in Drogen- oder Alkoholeskapaden von anderen mit hineinziehen lassen. Sie haben abends gelesen, statt sich zu besaufen. Ferner pflegten alle engen Kontakt zu allen Streetworkern und Einrichtungen der Stadt. Oft haben wir unter Zuhilfenahme der Behörden versucht, sie dauerhaft unterzubringen. Bei Martin und Jo hat es jeweils einmal funktioniert, aber sie rutschten wieder ab. Damals beantragte ich einen Betreuer für beide. Ich wollte ihnen eine Chance geben. Diese wollten beide auch nutzen. Allerdings kam es nie dazu, weil … “

Sie sprach nicht weiter. Lukas öffnete die Terrassentüre, um frische Luft hereinzulassen und wartete schweigend, bis sie fortfuhr.

„Bis zu diesem Punkt haben sie mir vertraut. Martin und Jo waren beide gebildete Männer und hätten es besser wissen sollen. Eines Abends unterhielten sie sich in ihrer neuen Einrichtung und auf einmal war ich auch Feind. Wie genau es dazu kam, weiß ich nicht. Ich denke, die Männer in der Unterkunft haben ihnen das eingeredet. Die beiden haben versucht, sich der Tretmühle und diesem Irrsinn so gut es ging zu entziehen. Straße hinterlässt aber auch beim intelligentesten, liebsten und stärksten Menschen Spuren und brennt sich in dich hinein. Mit jedem Misserfolg und jedem zwischen die Beine geworfenen Stock nagt noch mehr Ungewissheit und Zweifel an dir. Stell dir vor, dass dir aus irgendeinem Grund etwas Schreckliches passiert.

Es zieht dir den Boden unter den Füßen weg. Wenn so etwas geschieht, macht allein das schon viel mit dir. Du bist entwurzelt und desillusioniert und findest dich dann mit den richtig Kaputten in einer Zweckgemeinschaft wieder, die gar nicht deiner gewohnten Umgebung entspricht.

Straße verändert dich, ob du willst oder nicht.“

5

Lukas hielt seinen Wagen an der ewig roten Ampel vor der Linkskurve auf die Franziusstraße. Die an dieser Stelle oberirdische U-Bahn Richtung Innenstadt ratterte lautstark an ihm vorbei. Er nutzte die Zeit, um Musik von einem USB-Stick zu starten. Als er am Westpark, einem der Schauplätze ihres letzten Falls vorbeikam, schlichen sich die Erinnerungen an diesen in sein Gedächtnis zurück. Allen voran sein finales Gespräch mit dem Täter in der forensischen Klinik. Obwohl dies noch keine vier Wochen her war, würden sie sich wahrscheinlich bereits ab morgen in ihrer nächsten Ermittlung befinden. Es war das erste Mal, dass Lukas offiziell als Fallanalytiker des LKA in sein altes Dezernat zurückkehren würde. Seine drei Kollegen vom Landeskriminalamt und er würden die Machbarkeit des Auftrages prüfen und wenn diese bestand, ab heute Abend Teil der Sonderermittlungseinheit sein, welche gestern gegründet wurde.

Am Präsidium angekommen, hielt er seinen Wagen oben auf dem Parkplatz, weil er keine Lust auf den Gestank der Tiefgarage hatte. Am Empfang grüßte er den Mitarbeiter hinter der Panzerglasscheibe und fragte, ob er ihm eine temporäre ID-Karte für das Gebäude besorgen könne. Konnte er nicht und kündigte ihn telefonisch im fünften Stock an. Im Dezernat angekommen öffnete Steffi, die Sekretärin des Dezernatsleiters, die Türe.

„Na, wie war der Urlaub?“

„Schön und zu kurz. Sind die anderen schon drin?“

„Nee, deine Kollegen sind schon bei Dietmar im Büro und warten auf dich. Meeting ist erst abends.“

„Dass du deine Kollegen sagst, hört sich noch völlig seltsam für mich an. Danke dir. Bis später.“

Lukas enterte das Arbeitszimmer des Dezernatsleiters und guten Freundes Dietmar Leindecker. Dort begrüßte er seine neue Vorgesetzte Susanne und seinen ehemaligen Chef mit einer herzlichen Umarmung. Dietmar war gerade dabei, ihnen die Kopien der bisher zusammengetragenen Fallakten zur Durchsicht zu übergeben. Der Dezernatsleiter hatte dem Viererteam von der Operativen Fallanalyse ein Büro leer räumen lassen, in welches sie sich nun zurückziehen konnten, um die Durchführbarkeit des Falles für ihre Abteilung zu verifizieren. Die Mittagspause verbrachte Lukas mit Susanne, Matthias und Nicole in einem nahe gelegenen indischen Restaurant. Wie fast immer in der Öffentlichkeit sprachen die Ermittler ausschließlich über private Angelegenheiten.

„Wie geht es Melissa? Hat sie immer noch Probleme mit der Übelkeit?“, fragte Susanne.

„Seit dem Urlaub geht es ihr bedeutend besser. Liz ist im Moment oft müde und abgeschlagen, aber die Übelkeitsphase hat sie, glaube ich, weitestgehend hinter sich. Sie ist jetzt im vierten Monat und wir haben es am Wochenende unseren Eltern und den Kindern gesagt.“

„Ich freue mich so für euch. Wisst ihr schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“

„Nico bekommt Verstärkung“, grinste er.

Nach dem Essen unterhielten sich die vier Kriminalisten noch eine Weile, bevor es Zeit war, ins Präsidium zurückzukehren und sich der Sichtung der Akten zu widmen. Dietmar hatte bereits gestern den Cold Case, welchen sie der Serie zurechneten, in die aktuelle Akte einpflegen lassen. Diesem wollten sie sich nun zuwenden und entschwanden in ihrem Büro. Gegen halb vier an diesem verregneten Nachmittag waren sie sich darüber einig, dass sie der Sonderkommission bei der Ermittlung beratend zur Seite stehen konnten und teilten das dem Dezernatsleiter mit, der gerade an ihre Bürotüre geklopft hatte. Dietmar lud sie zum abendlichen Meeting in den großen Besprechungsraum der Abteilung dazu und entschuldigte sich, dass er nicht bleiben konnte. Er wollte kurz mit einem neuen Kollegen sprechen.

„Bestimmt Akis neuer Partner“, grinste Lukas.

„Glaube auch“, antwortete Susanne und fuhr fort. „Lukas, auf ein Wort bitte. Ich kam noch nicht dazu, mit dir über die Evaluierung unseres letzten Falles zu sprechen. Gehen wir kurz in die Cafeteria?“

Sie machten sich auf den Weg ins Erdgeschoss des Präsidiums, in welchem sich die große Kantine befand. Dort angekommen, ließ er seinen mitgebrachten Kaffeebecher auffüllen und sie nahmen an einem Zweiertisch am Ende des Raumes Platz.

„Spann mich doch nicht immer so auf die Folter, Susanne.“

„Vorige Woche habe ich mit meinem Team der Soko Schnitte unseren letzten Fall abschließend evaluiert. Wie du weißt, warst du mit deinem unabhängigen Profil verdammt nah an allem dran. Auch für unsere Tatrekonstruktionen können wir uns auf die Schulter klopfen.“

„Aber?“

„Kein aber. Es ist so, dass sogar meine Vorgesetzten sehr angetan von deiner Arbeit waren. Im Hinblick auf deine im nächsten Jahr kommende Aufgabe hier in Dortmund möchte ich dich umfassend vorbereitet wissen. Das bedeutet, du bekommst deine Gelegenheiten weiterzuforschen, was die Psyche verschiedener Täter angeht. Allerdings möchte ich auch, dass du in unserer aktuellen Strafsache andere Aspekte unserer Arbeit kennenlernst. Wie würdest du Stand jetzt, den Fall beurteilen und vorgehen?“

„Die Machbarkeit des Auftrages ging gerade so eben durch. Aufgrund der dürftigen Spurenlage würde ich zunächst das heutige Meeting abwarten. Kommen keine entscheidenden Hinweise oder Erkenntnisse mehr dazu, würde ich vorschlagen, mit Tathergangsanalysen zu beginnen. Anschließend Verbrechensanalysen. Sollten wir dabei aufgrund der Spurenlage nicht weiter kommen, würde ich mit einer Schwachstellenanalyse des Täters weiter machen.“

Susanne lächelte zufrieden.

„Sehr gut. Nichts anderes habe ich erwartet. Noch eine

Kleinigkeit. Da das hier deine alte und neue Heimat ist, bitte ich dich darum, die Vorstellungsrunde für Team OFA heute Abend im Meeting zu übernehmen.“

Lukas grinste etwas verlegen, aber bestätigte ihre Bitte per Kopfnicken. Sie gingen zurück in ihr eigens für sie frei geräumtes Büro im KK 11, wo Matthias und Nicole bereits warteten.

„Wollt ihr einen Kaffee oder ein Wasser? Ich kann euch gerne auch schon mal im Dezernat herumführen und alles zeigen, bis das Meeting beginnt.“

„Ja gerne, Lukas. Bin schon auf den seriösen Aki gespannt. Ich kenne ihn ja nur von Melissas Geburtstag“, antwortete Matthias.

Nicole brütete über den Unterlagen der Schulung, an der sie kürzlich teilgenommen hatte und wollte erst später im Meeting alle kennenlernen. Die zwei Männer und Susanne machten sich auf den Weg durch die Abteilung und organisierten sich zwischendurch Kaffee und Wasser. Anschließend enterten sie Akis Büro. Er empfing sie freudestrahlend und umarmte alle drei herzlich. Bei dieser Gelegenheit stellte er seinen neuen Kollegen Benni vor.

„Ja, und das ist mein Polizeigatte, Lukas. Unser ehemaliger Dezernats-Nerd und mein bester Freund. Wir haben sogar vor fünf Jahren nebeneinander gebaut.“

„Freut mich. Hab schon sehr viel von dir gehört“, sagte Benni und reichte ihm die Hand.

„Freut mich auch, Benni. Dann mal Willkommen im Club. Hast du dich hier schon ein wenig eingelebt?“

„Es ist anders als meine ehemalige Dienststelle, muss ich zugeben. Bisher sind alle nett zu mir und die Arbeit facettenreicher als in Iserlohn. Euer letzter Fall war ja krass. Aki hat mir davon erzählt.“

„Ja, wir waren alle permanent Kaffee überdosiert.“

„Dietmar will unseren Welpen gleich in der

Ermittlungsgruppe dabei haben“, grinste Aki.

„Er nennt dich nicht wirklich Welpe, oder? Aki, du sollst

lieb sein, sagte ich. Wenn Dietmar das so will, dann wird das seine Gründe haben. Wahrscheinlich möchte er sich mit seiner Arbeitsweise vertraut machen und traut es ihm offensichtlich zu. Ist doch super.“

Sein Freund grinste nur und Lukas wusste, dass Benni es noch eine Weile schwer mit ihm haben würde.

Kurze Zeit später begaben sich die fünf Ermittler in den Briefingraum der Abteilung, welcher als Einsatzzentrale für die Sonderermittlungseinheit diente. Pünktlich um achtzehn Uhr stellte sich Dietmar vor die versammelte Mannschaft und begann in seiner typischen Art und Weise zu sprechen.

„Guten Abend zusammen. Gestern haben wir ja … Gestern haben wir ja … Erste Spuren, Hinweise und Zeugenaussagen wurden ja bereits gestern von uns verifiziert. Auffällig ist, dass sich an allen Tatorten eine unbenutzte Nähnadel in den Blutlachen befand. Ferner konnten wir die Hierarchien, Rahmenbedingungen, Richtlinien und das Organisatorische komplett abhaken. Was uns noch fehlt, ist die Einteilung der verschiedenen Teams innerhalb der Sonderkommission. Martin, euer stellvertretender Chef vom Dienst, wird mit drei weiteren Kollegen für die zentrale Sachbearbeitung zuständig sein und als Hauptsachbearbeiter des Falls agieren.“

Dietmar teilte ihm einen direkten Assistenten und zwei weitere Mitarbeiter zu. Vier Teammitglieder stellte er für das Team Hinweisaufnahme ab.

„Daniel? Da du dich beim letzten Mal im Team Tatort so gut geschlagen hast, würde ich dich dieses Mal gerne wieder dort wissen. Fabian, du bist der Zweite im Bunde für die Tatorte.“

Des Weiteren wurde Walter Vollmer, der Pressesprecher des Präsidiums, mit der Aufgabe betraut, sich um die Medien zu kümmern und mit der Staatsanwaltschaft zu interagieren.

Lukas kam es vor, als sei sein ehemaliger Chef extrem müde und angespannt. Wahrscheinlich hatte er nicht mit zwei solch großen Ermittlungen so kurz hintereinander gerechnet. Er wirkte lustlos und schlecht gelaunt. Lukas wollte ihn in der

Pause darauf ansprechen, ob bei ihm privat alles in Ordnung

war. Dietmar fuhr mit der Einteilung fort.

„Hajo, Andrzej und Stefan werden mit mir zusammen das Team Ermittlungen bilden. Deniz, Sascha, Aki und unser Neuzugang Benni bilden Team Fahndung und Observation. Für den Anfang sollte das reichen. Wenn ihr merkt, dass ihr zusätzliches Personal braucht, lasst es mich bitte rechtzeitig wissen. Nun möchte ich die Kollegen von Team OFA nach vorne bitten. Wir starten die übliche Vorstellungsrunde und gehen danach erst mal in die Pause, bevor es ans Eingemachte geht. Daher machen wir gleich danach unsere Bestellung, damit wir pünktlich um zwanzig Uhr wieder alle hier sind. Flyer und Zettel machen also wie immer um neunzehn Uhr die Runde. In der Pause könnt ihr schon mal zu Hause Bescheid sagen, dass es spät wird.“

Dietmar sah Susanne auffordernd an, die diesen Blick an Lukas weiter gab. Etwas peinlich berührt stand er auf und gesellte sich neben Dietmar. Er lehnte sich an den großen Tisch und begann zu sprechen.

„So schnell sieht man sich wieder“, grinste er und fuhr fort.

„'Nabend Leute. Ehrlich gesagt freue ich mich, so schnell wieder bei euch zu sein und übernehme die Vorstellung für Team OFA. Bis auf Benni kennt ihr alle Susanne Braig, die Leiterin unserer Abteilung. Neben ihr sitzen die Kollegen Nicole Peters und Matthias Katz. Wir duzen uns alle und mich kennt ihr ja ohnehin. Wie ihr euch denken könnt, ist der Auftrag für uns machbar und wir können euch beratend zur Seite stehen. Aufgrund der derzeitigen Spurenlage werden wir als OFA-Team dieses Mal wohl anders an die Sache herangehen müssen. Das wird sich allerdings erst im Laufe des heutigen Meetings zeigen. Sollte das der Fall sein, müsste ich euch vor Ende unserer Besprechung noch mal kurz nerven. So, das war's zum Organisatorischen von mir. Es ist es gerade komisch für mich, hier zu stehen und nicht mit euch zu ermitteln oder raus zu fahren. Auch fand ich es seltsam, ausgerechnet hier die Vorstellung für Team OFA zu übernehmen. Danke für die letzten fünfzehn Jahre mit euch. Ich vermisse euch alle wirklich, aber fühle mich in Düsseldorf auch echt sehr wohl. Gute Nachricht für uns alle: Matthias und ich werden ab Ende 2024 hier eine Dortmunder OFA Abteilung aufbauen. Aki und Dietmar wussten es schon und heute durfte ich euch einweihen. Ich freue mich riesig auf nächstes Jahr.“

Die Kollegen waren erstaunt, aber alle durch die Bank positiv gestimmt. Sie klopften auf die Tische, gratulierten und sprachen durcheinander.

Die anderen Teams stellten sich und ihre Arbeit vor. Pünktlich ging der Flyer mit der aufgedruckten Speisenkarte der kleinen Stehpizzeria von gegenüber im Großraumbüro herum. Alle notierten auf einem Zettel, was sie essen wollten und Steffi, Dietmars Sekretärin, übernahm die Bestellung. Nach dem Essen trafen sich viele von ihnen auf der Terrasse, um eine Zigarette rauchen. Der Einsatzleiter wollte etwas mit Aki besprechen und so ging Lukas alleine nach oben.

„Kann ich dich was fragen?“, wollte Benni wissen, der bereits dort stand.

„Klar, immer raus damit.“

„Ich weiß, dass die Fußstapfen, in die ich trete, ziemlich groß sind. Gerade für Aki. Er weiß noch nicht, wie ich arbeite, und ich kann seine Skepsis verstehen. Für ihn ist es aber viel privater als für die anderen. Ich kann und will dich nicht ersetzen. Allerdings würde ich mir wünschen, dass er sich mir gegenüber ein wenig offener verhält. Hast du einen Tipp, wie ich das hinbekomme?“

„Er ist ein Sturkopf und verzeiht es mir nicht, dass ich zum LKA gegangen bin. Eigentlich ist er sauer auf mich. Mit der Zeit wird es besser werden, denke ich.“

„Wir sind jetzt Partner. Das sollte schnell gehen.“

„Er hält dich für einen spießigen Korinthenkacker und findet, dass du einen Stock im Arsch hast. Bisher war ich eben der einzige Nerd in seinem Leben. Vielleicht kann er es auch nicht verpacken, dass wir zwei uns ein wenig ähnlich sind.“

„Ich und spießig? Wenn der wüsste … Ein bisschen nerdig bin ich allerdings wirklich“, grinste Benni.

„Erzähl ihm mehr von dir. Weihe ihn in etwas Privates ein und rede nicht nur über die Arbeit. Das wird helfen.“

„Danke Lukas.“

Die beiden Männer gingen zurück zu den anderen und nahmen wieder in dem großen Büro Platz. In den kommenden Stunden besprachen sie alle bisherigen Erkenntnisse zur Mordserie im Umfeld der Obdachlosen-Szene. In einer kurzen Pause schnappte Lukas sich seinen ehemaligen Chef und wollte wissen, was vorhin mit ihm los war. Dietmar war verwundert und hatte nicht bemerkt, dass er einen solch lustlosen Eindruck gemacht hatte. Er war etwas müde, weil er gestern außerplanmäßig und spontan bei einem Knobel-Abend dabei war, aber versicherte Lukas, dass mit ihm alles in Ordnung sei. Das beruhigte ihn und er fragte, ob Dietmar ihm kurz vor Ende der Besprechung erneut das Wort übergeben würde. Der Dezernatsleiter nickte. Bis Mitternacht hatten sie über die aktuellen Mordfälle an Wohnungslosen gesprochen und wollten sich nun noch dem Cold Case widmen. Dies dauerte bis kurz vor eins.

Dietmar gab Lukas ein Zeichen und er stellte sich erneut neben den Einsatzleiter.

„Da die Machbarkeit des Falles aufgrund der dürftigen Spurenlage für uns gerade so eben durchführbar erschien, hier eine Bitte. Wir werden, anders als beim letzten Mal nicht direkt Täterprofile und Analysen erstellen können. Das wird erst im Laufe des Ermittlungsprozesses möglich sein. Unsere Arbeit beginnen wir mit einer Tathergangsanalyse. Dazu ist es zwingend erforderlich, dass ihr mit uns zu Beginn keinerlei Wissen über Verdächtige teilt. Zeugenaussagen gehören ebenso dazu. Diese Informationen könnten die objektive Sichtweise, die wir auf den Fall richten sollen, verfälschen und zu fehlerhaften Schlussfolgerungen bezüglich des Täter-Verhaltens führen. Also bitte keine Informationen über Verdächtige an Team OFA.“

„Da denken wir doch nicht bei jedem Meeting dran, Lukas. Mit Sicherheit wird uns das ein oder andere zu Tatverdächtigen herausrutschen“, gab Deniz zu bedenken.