Die Alchemie der Gefühle - Daniel J. Siegel - E-Book

Die Alchemie der Gefühle E-Book

Daniel J. Siegel

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Der Weg zu emotionaler Souveränität

Im Inneren eines jeden von uns verbirgt sich ein Ozean voller Gefühle, Erinnerungen und Träume – aber auch voller Ängste, Groll und Enttäuschungen. Diese können, wenn sie unbewusst bleiben, unser Denken und Handeln auf zerstörerische Weise beeinflussen.

Daniel Siegel, ein Pionier auf dem Feld der Neurowissenschaften, hat in 25-jähriger Forschungsarbeit eine therapeutisch einsetzbare Methode entwickelt, mit deren Hilfe wir eine klarere Sicht auf unsere eigene Innenwelt und die unserer Mitmenschen erlangen. Er nennt sie Mindsight. Einfühlsam und anhand vieler Fallgeschichten führt er uns auf eine faszinierende Reise durch die Welt unserer Emotionen und zeigt, wie wir mithilfe von Mindsight Traumata aus der Vergangenheit heilen und die Gegenwart glücklicher gestalten können. Es ist tatsächlich möglich, unser Hirn völlig neu zu »verdrahten«, so dass negative Erfahrungen unser Handeln nicht länger sabotieren.

»Die Alchemie der Gefühle« bietet einzigartiges psychologisches Handwerkszeug, um unsere emotionale und soziale Intelligenz nachhaltig zu steigern. Ein Buch, das die Art und Weise, wie wir über uns denken, verändern wird.

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Seitenzahl: 555

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Vorwort
Einleitung
1. TEIL – Der Weg zum Wohlbefinden: Grundlagen von Mindsight
Kapitel 1 – Verletztes Gehirn, verlorene Seele
Ein verletztes Gehirn
»Du-Landkarten« und »Ich-Landkarten«
Das Dreieck des Wohlbefindens: Geist, Gehirn und Beziehungen
Klar sehen, loslassen, hereinlassen
Blick ins Gehirn
Das Handmodell des Gehirns
Der Hirnstamm (auch Stammhirn genannt)
Das limbische System
Der Kortex
Der präfrontale Kortex
Kapitel 2 – Das Pfannkuchendrama
Wenn wir den Kopf verlieren
Der Kurzschluss-Mechanismus
Den Sinn im Kurzschluss erkennen
Das Dreibeinstativ der Reflexion: Offenheit, Selbstbeobachtung und Objektivität
Reflektieren und wieder Kontakt aufnehmen
Aufbruch zur Wiedergutmachung
Blick ins Gehirn
»What fires together, wires together«
Das Gehirn im Körper
Kapitel 3 – Raus aus der Ätherglocke
Keine Zeit für Tränen
Der Geist ist real – weshalb ihn nicht definieren?
Ein Energie- und Informationsfluss
Ein Prozess der Steuerung
An Verkörperung und Beziehungen gebunden
Interpersonale Neurobiologie
Die Weiterentwicklung der Mindsight
Blick ins Gehirn
Den Geist spiegelnde Neuronen
Mich kennen – dich kennen
Kapitel 4 – Ein Singspiel
Der Chor singt
Auf der Suche nach Integration
Ein gesunder Geist: Komplexität und Selbstorganisation
Der Integrationsstrom: Starrheit und Chaos oder Harmonie und Flexibilität
Die acht Integrationsbereiche
TEIL II – Die Kraft zur Veränderung: Mindsight in Aktion
Kapitel 5 – Ein Geist auf der Achterbahn
Ein unzuverlässiger Geist
Achtsamkeit als Ansatz zur Veränderung des Geistes
Die Aufmerksamkeit ausrichten, das Gehirn verändern
Ein achtsames Gehirn
Das Gehirn des Jugendlichen und der Präfrontalkortex
Achtsamkeitsübung: Konzentration auf den Atem
Bewusstseinstraining und Stabilisieren des Geistes
Ein stabiler Geist
Kapitel 6 – Ein halbes Gehirn versteckt sich
Von der Vergangenheit zur Gegenwart
Rechts und links
Die Stimulierung neuronaler Aktivierung und neuronalen Wachstums
Die rechte Hemisphäre entfalten
Körperempfindungen
Nonverbaler Kontakt
Bildersprache
Die Verbindung zwischen links und rechts
Das »Wir« der Mindsight aufbauen
Die synaptische Integration fördern
Kapitel 7 – Vom Hals an abgetrennt
Den Körper vom Geist fernhalten
Dem Schmerz entrinnen
Stammhirnsignale: Achtung! Kämpfen, fliehen oder erstarren?
Limbische Sprache: »primär« oder »kategorisch«
Wie sich Sinn anfühlt
Der Zaun der Abwehr
Den Körper beachten
Innere Ressourcen schaffen
Das Toleranzfenster erweitern
»Dabeibleiben« – die Heilkraft der Präsenz
Die Weisheit des Körpers
Heilende Bilder
Kapitel 8 – In der Vergangenheit gefangen
Wie Erinnerungen gebildet werden und wieder auftauchen
Implizite Erinnerungen: die Grundbausteine geistiger Erfahrung
Unbewusst enkodieren
Explizite Erinnerung: die Puzzlestücke des Geistes zusammensetzen
Der Hippocampus: Meister im Zusammensetzen von Puzzlestücken
Wenn der Hippocampus offline geht
Trauma, Erinnerung und Gehirn
Der Einsatz des Hippocampus zum Heilen von Traumen
Auf die Nase gefallen
Kapitel 9 – Einen Sinn im Leben finden
Bindungsmuster
Eine kohärente Lebensgeschichte entwickeln
Das Bindungsinterview für Erwachsene
Ein neues Fenster öffnet sich zum Geist
Ein sicherer Geist
Ein abweisender Geist
Ein sorgenvoller Geist
Ein ungeklärter und desorganisierter Geist
Licht ins Leben bringen
Kapitel 10 – Unsere vielen Ichs
Verloren an vertrautem Ort
Ein unlösbarer Konflikt
Schäm dich, Gehirn
Mehrere Ichs
Zustände des Geistes
Von oben nach unten und von unten nach oben
Zustandsintegration: inter, intra und wir
Den Knoten der Scham entwirren
Einen Kern finden
Wir-Zustände der Verbundenheit
Kapitel 11 – »Wir«-Neurobiologie
Aus dem Gleichgewicht geratene Leben
Beieinander sicher sein: Rezeptivität und Reaktivität
Öffnen des Mindsight-Auges
Der Vergangenheit einen Sinn geben, um in der Gegenwart frei zu werden
Die Entscheidung, sich zu ändern
Verzerrte Spiegel
Und jetzt kommt der Körper
Differenzierung und Verbindung
Ein »Wir-Rad des Bewusstseins«
Kapitel 12 – Die Zeit und die Gezeiten
Vergänglichkeit, Ungewissheit und Sterblichkeit
Tod eines Prinzen
Unsicher am Meer
Suche nach Sicherheit
Was ist wirklich wichtig?
Der Checker tritt auf den Plan
Eine Phase großer Unsicherheit
Den Geist fokussieren, um das Gehirn zu verändern
Danke, Sam
Die Schaltkreise des Zweifelns
Unsicherheit akzeptieren
Der Trost unserer Verbindungen
Epilog
Danksagung
Anhang
Anmerkungen
Bibliografie
Register
Copyright
Den beiden wunderbaren Menschen gewidmet,die mich Dad nennen,und meinen früheren und jetzigen Patienten,die mich so viel über Mut und Transformationgelehrt haben.
Vorwort
Immer waren es schöpferische Einsichten, die große Fortschritte in der Psychologie ermöglicht, menschliche Erfahrungen plötzlich aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet und verborgene Zusammenhänge eröffnet haben. Freuds Theorie vom Unbewussten und Darwins Evolutionsmodell tragen weiterhin zum Verständnis der heutigen Forschungsergebnisse über das menschliche Verhalten und viele Geheimnisse des Alltags bei. Daniel Siegels Mindsight-Theorie – die Fähigkeit des Gehirns sowohl zur Einsicht wie zur Empathie – löst ein ähnliches »Aha-Erlebnis« aus. Er macht uns den Wirrwarr der uns manchmal in den Wahnsinn treibenden, chaotischen Gefühle begreiflich.
Sowohl den eigenen Geist kennenzulernen wie die Innenwelt anderer erspüren zu können ist wahrscheinlich eine einmalige menschliche Gabe. Sie ist auch der Schlüssel zur Pflege eines gesunden Geistes und Herzens, ein Gebiet, das ich in meiner Arbeit über emotionale und soziale Intelligenz erforscht habe. Selbstwahrnehmung und Empathie sind (zusammen mit Selbstbeherrschung und sozialer Kompetenz) wesentliche menschliche Fähigkeiten für ein erfolgreiches Leben. Diese in uns zu fördern erlaubt es uns, in Beziehungen, im Familienleben und in der Ehe genauso aufzublühen wie im Arbeitsbereich und in Führungspositionen.
Unter den vier genannten Fähigkeiten bildet die Selbstwahrnehmung die Grundlage für die übrigen. Können wir beispielsweise unsere Gefühle nicht beobachten, so sind wir nur schlecht dazu gerüstet, mit ihnen umzugehen oder aus ihnen zu lernen. Wenn wir nicht auf unsere eigene Erfahrungswelt eingestimmt sind, fällt es uns umso schwerer, uns bei anderen darauf einzustimmen. Ein guter Umgang mit Menschen hängt von der reibungslosen Integration der Selbstwahrnehmung, Selbstbeherrschung und Empathie ab – das ist meine Ansicht. Daniel Siegel wirft ein neues Licht auf die Diskussion darüber, indem er diese Dynamik im Hinblick auf Mindsight (die innere Sicht) beleuchtet und überzeugende Nachweise für deren zentrale Rolle im Leben anführt.
Siegel, ein begabter und empfindsamer Kliniker sowie meisterhafter Vernetzer von Forschungsergebnissen auf dem Gebiet der Neurowissenschaften sowie der kindlichen Entwicklung, liefert uns ein zukunftsweisendes Bild. Über Jahre hinweg sind seine Arbeiten über das Gehirn, die Psychotherapie und die Kindererziehung immer wieder wegweisend gewesen. Seine Vortragsreihen und Seminare stoßen bei Fachleuten weltweit auf außerordentlich großes Interesse.
Er erinnert uns daran, dass das Gehirn ein soziales Organ ist. Mindsight ist der Kernbegriff der »zwischenmenschlichen Neurobiologie«, ein Gebiet, auf dem Siegel Pionierarbeit leistet. Seine »Zwei-Personen-Sicht« dessen, was im Gehirn abläuft, macht verständlich, inwieweit unsere alltäglichen Interaktionen neurologisch eine Rolle spielen und die Nervenbahnen formen. Jede Mutter und jeder Vater tragen dazu bei, das wachsende Gehirn eines Kindes zu gestalten. Zu den Faktoren eines gesunden Geistes gehören feinfühlige, auf ihr Kind eingestimmte Eltern: Eltern mit Mindsight. Eine entsprechende Erziehung fördert diese wesentliche Fähigkeit auch beim Kind.
Mindsight spielt eine integrierende Rolle im Dreieck, das Beziehungen, Geist und Gehirn miteinander verknüpft. Der Energie- und Informationsfluss zwischen diesen Elementen menschlichen Erlebens erzeugt Muster, von dem alle drei geprägt werden (wobei hier zum Gehirn auch dessen Ausläufer über das Nervensystem im ganzen Körper gehören). Diese Sehweise ist im wahren Sinn des Wortes ganzheitlich; sie schließt unser ganzes Wesen ein. Dank Mindsight können wir diesen wesentlichen Strom des Seins besser erkennen und mit ihm umgehen.
Die Biografie Daniel Siegels ist beeindruckend. Nach seinem Medizinstudium an der Harvard-Universität wurde er klinischer Professor der Psychiatrie an der UCLA (University of California, Los Angeles) und einer der Leiter des dortigen Mindful Awareness Research Center. Zudem hat er das Mindsight Institute gegründet, welches er noch heute leitet. Noch eindrücklicher aber als die Biografie ist der achtsame, auf Mitmenschen eingestimmte Mensch Siegel, der alle mit seiner warmherzigen Präsenz bereichert. Er verkörpert, was er lehrt.
Fachleuten, die sich mit dieser neuen Wissenschaft befassen möchten, empfehle ich Siegels erstes Buch über interpersonale Neurobiologie: Wie wir werden, die wir sind. Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens und die Entwicklung des Menschen in Beziehungen. Für Eltern hat sich ein weiteres Buch, das er in Zusammenarbeit mit Mary Hartzell geschrieben hat, als ungeheuer wertvoll erwiesen: Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen: Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Kinder einfühlsam ins Leben begleiten können. Doch alle, die ein erfüllteres Leben anstreben, werden in dem jetzt vorliegenden Buch überzeugende praktische Antworten finden.
Daniel Goleman
Einleitung
Eintauchen in das innere Meer
Im Inneren jedes Menschen befindet sich eine geistige Welt, die ich gerne als »inneres Meer« bezeichne. Es ist ein wunderbar reichhaltiger Ort voller Gedanken und Gefühle, Erinnerungen und Träume, Hoffnungen und Wünsche. Es kann natürlich auch ein turbulenter Ort sein, an dem wir die dunklen Seiten aller schönen Gefühle und Gedanken erleben – Ängste, Leid, Sorgen, Reue und Albträume. Wenn dieses innere Meer über uns hereinzubrechen und uns in dunkle Tiefen mitzureißen droht, haben wir manchmal das Gefühl, wir würden ertrinken. Wen haben die Empfindungen aus dem eigenen Inneren nicht schon das eine oder andere Mal überwältigt? Manchmal gehen solche Gefühle schnell wieder vorbei – ein schlechter Tag in der Arbeit, ein Streit mit einem geliebten Menschen, plötzliche Nervosität wegen einer Prüfung, die wir ablegen, oder eines Referats, das wir halten müssen, oder wir blasen aus einem unerklärlichen Grund einen oder zwei Tage lang Trübsal. Doch manchmal handelt es sich offenbar um etwas sehr viel Hartnäckigeres, um etwas, das so sehr zu unserem Wesenskern gehört, dass es uns nicht einmal in den Sinn kommt, wir könnten es ändern. Hier kommt die Gabe, die ich »Mindsight« nenne, zum Zug, denn meistert man Mindsight erst einmal, wird es zu einem echten Werkzeug der Transformation. Mindsight birgt das Potenzial, uns von geistigen Mustern zu befreien, die uns daran hindern, voll und ganz zu leben.

Was ist Mindsight?

Mindsight ist eine konzentrierte Aufmerksamkeit, die uns die inneren Abläufe des eigenen Geistes offenbart. Sie macht uns die inneren Prozesse bewusst, ohne dass wir uns von ihnen mitreißen lassen, ermöglicht es uns, vom Autopiloten mit all seinen tief verwurzelten Verhaltensweisen und gewohnheitsmäßigen Reaktionen wegzukommen, und löst uns aus den emotionalen Gefühlsschlaufen, in denen wir alle gelegentlich feststecken. Mindsight lässt uns die erlebten Gefühle benennen und zähmen, statt dass wir von ihnen überschwemmt werden. Denken Sie nur an den Unterschied, wenn Sie sagen: »Ich bin traurig« oder »Ich empfinde Trauer«. So ähnlich die beiden Sätze auch klingen, so besteht doch ein sehr großer Unterschied zwischen ihnen. »Ich bin traurig« ist eine Art Selbstdefinition, und zwar eine sehr einschränkende. In der Wendung: »Ich empfinde Trauer« liegt die Fähigkeit, ein Gefühl zu erkennen und zuzulassen, ohne davon verzehrt zu werden. Die konzentrierte Aufmerksamkeit, die zu Mindsight gehört, ermöglicht es, die Abläufe im eigenen Inneren wahrzunehmen, sie anzunehmen, durch dieses Annehmen loszulassen und schließlich zu transformieren.
Sie können sich Mindsight auch als spezielle Brille vorstellen, dank welcher wir den Geist deutlicher denn je wahrnehmen. Diese Brille kann praktisch jeder entwickeln, und wenn wir sie erst einmal besitzen, können wir tief in das geistige Meer im Inneren eintauchen und unser eigenes sowie das Innenleben anderer erforschen. Als Fähigkeit, die nur dem Menschen eigen ist, erlaubt uns Mindsight, die Prozesse, die unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten steuern, genau und in allen Einzelheiten zu untersuchen und ihnen auf den Grund zu gehen. Sie erlaubt zudem, innere Erfahrungen anders zu gestalten und umzulenken, damit wir mehr Entscheidungsfreiheit bei alltäglichen Betätigungen und mehr Kraft haben, die Zukunft zu planen und Autoren unserer eigenen Lebensgeschichte zu werden. Anders ausgedrückt: Mindsight ist die Grundfähigkeit, die allem zugrunde liegt, was wir meinen, wenn wir von sozialer und emotionaler Intelligenz sprechen.1
Interessanterweise wissen wir heute aus den Entdeckungen der Neurowissenschaften, dass die geistigen und emotionalen Veränderungen, die wir bewirken können, wenn wir Mindsight als Fähigkeit kultivieren, auch die rein physische Beschaffenheit des Gehirns verändern. Durch Entwickeln der Gabe, unsere Aufmerksamkeit auf die Innenwelt zu richten, nehmen wir gleichsam ein »Skalpell« zur Hand, mit dem wir unsere Nervenbahnen neu formen und das Wachstum der Hirnbereiche stimulieren, die für die geistige Gesundheit wesentlich sind. Ich werde in den folgenden Kapiteln noch einiges darüber sagen, denn Grundkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns zu besitzen hilft zu erkennen, wie groß sein Veränderungspotenzial ist.
Veränderungen kommen jedoch nicht einfach so zustande. Man muss daran arbeiten. Auch wenn die Fähigkeit, auf dem inneren Meer des eigenen Geistes zu navigieren – Mindsight zu nutzen -, unser Geburtsrecht ist und manche Menschen aus Gründen, die später noch deutlich werden, sehr viel mehr davon besitzen als andere, so stellt sie sich ebenso wenig automatisch ein, wie die Tatsache, dass wir mit Muskeln zur Welt kommen, Leichtathleten aus uns macht. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass wir bestimmte Erfahrungen brauchen, um diese grundlegende menschliche Fähigkeit zu entwickeln. Ich sage oft, dass Eltern und Erzieher uns die ersten Schwimmstunden auf diesem inneren Meer geben, und wenn wir schon früh im Leben mit fürsorglicher Förderung gesegnet waren, konnten wir Grundlagen von Mindsight entwickeln, auf denen wir aufbauen können. Doch auch wenn diese erste Unterstützung gefehlt hat, gibt es bestimmte Tätigkeiten und Erfahrungen, die im weiteren Verlauf des Lebens Mindsight fördern.2 Wie Sie sehen werden, ist Mindsight eine Art mentaler Kompetenz, die sich ungeachtet frühkindlicher Erfahrungen bei jedem Menschen verfeinern lässt.
Als ich erstmals beruflich die Natur des Geistes zu erforschen begann, kannte unsere Alltagssprache keinen Begriff, der beschreibt, wie wir Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Erinnerungen, Überzeugungen, Haltungen, Hoffnungen, Träume und Fantasien wahrnehmen. Natürlich füllen diese inneren Aktivitäten unseren Alltag aus – wir brauchen keine Fertigkeit zu erlernen, um sie zu erfahren. Wie aber lernen wir, einen Gedanken wahrzunehmen – nicht bloß ihn zu denken? Wie erkennen wir, dass der Gedanke eine Tätigkeit unseres Geistes ist – nicht etwas, das Besitz von uns ergreift? Wie können wir für den Reichtum des Geistes empfänglich sein und nicht nur auf seine Reflexe reagieren? Wie können wir Gedanken und Gefühle lenken, statt von ihnen angetrieben zu werden? Und wie können wir den Geist anderer kennenlernen, damit wir wirklich verstehen, »wie sie ticken«, und dann besser und mitfühlender reagieren?
Als ich noch ein junger Psychiater war, gab es keine leicht zugänglichen wissenschaftlichen oder klinischen Begriffe, um die Gesamtheit dieser Fähigkeit zu beschreiben. Als Hilfe für meine Patienten prägte ich damals den Begriff Mindsight, um diese wichtige Gabe mit ihnen besprechen zu können, die uns die inneren Abläufe des eigenen Geistes wahrnehmen und sie gestalten lässt.3
Dank der ersten fünf Sinne nehmen wir die Außenwelt wahr – hören den Gesang eines Vogels oder das warnende Rasseln einer Klapperschlange -, dank ihnen können wir eine belebte Straße entlanggehen oder im Frühjahr den Duft der sich erwärmenden Erde riechen. Was man den sechsten Sinn nennt, gibt Aufschluss über innere körperliche Befindlichkeiten – den schnellen Herzschlag, der Angst oder Aufregung signalisiert, Schmetterlinge im Bauch, den Schmerz, um den man sich kümmern sollte.4 Mindsight – die Fähigkeit, nach innen zu schauen, den Geist wahrzunehmen, über die eigene Erfahrung nachzudenken -, ist genauso wichtig für unser Wohlbefinden. Mindsight ist unser siebter Sinn.
Wie ich in diesem Buch aufzuzeigen hoffe, kann uns diese wesentliche Fertigkeit helfen, soziale und emotionale Intelligenz zu entwickeln, aus Unordnung im Leben zu Wohlbefinden zu gelangen und befriedigende, verbundene, einfühlsame mitmenschliche Beziehungen aufzubauen. Führende Vertreter aus Wirtschaft und Politik haben mir berichtet, wie sehr ein tiefes Verständnis der geistigen Prozesse in Gruppen ihnen geholfen hat, effizienter zu sein und ihre Organisationen produktiver zu machen. Kliniker sowohl im medizinischen Bereich wie in der Psychiatrie sagen, Mindsight habe ihre Haltung Patienten gegenüber verändert, und den Geist in den Mittelpunkt ihrer Heilarbeit zu stellen habe ihnen geholfen, neue und nützliche Hilfsmaßnahmen auszuarbeiten. Lehrer, die sich mit Mindsight befassten, haben gelernt, »mit dem Gehirn im Sinn zu unterrichten«. Sie erreichen ihre Schüler und Studenten besser, und was sie ihnen beibringen, hat mehr Bestand.
Im eigenen Leben bietet Mindsight Gelegenheit, die subjektive Essenz unseres Seins zu ergründen sowie ein sinnvolleres Leben mit einer reicheren und verständlicheren Innenwelt zu schaffen. Mit Mindsight gelingt uns der Ausgleich der Gefühle besser, und mit ihrer Hilfe können wir eine innere Stabilität erlangen, die es uns erlaubt, mit kleinem und großem Stress im Leben fertigzuwerden. Dank konzentrierter Aufmerksamkeit trägt Mindsight auch zur Homöostase (Selbstregulierung) in Körper und Gehirn bei, zum Erlangen des inneren Gleichgewichts, der Koordinierung und Anpassungsfähigkeit, welche die Basis der Gesundheit bilden. Und schließlich kann Mindsight die Beziehungen zu Freunden, Kollegen, Ehepartnern und Kindern verbessern – und auch die Beziehung zu uns selbst!

Ein neuer Weg zum Wohlbefinden

Alles Folgende fußt auf drei Grundprinzipien. Das erste lautet, dass Mindsight sich in ganz praktischen Schritten entwickeln lässt. Dies bedeutet, dass das Erlangen des Wohlbefindens – geistig, in nahen Beziehungen und sogar körperlich – eine erlernbare Fertigkeit ist. In jedem Kapitel dieses Buches wird diese Fähigkeit zum Navigieren auf dem inneren Meer erforscht, von der einfachen bis zur fortgeschrittenen Form.
Zweitens verändern wir durch die Entfaltung von Mindsight die physische Hirnstruktur an sich. Die Brille zu entwickeln, die uns den Geist deutlicher wahrnehmen lässt, stimuliert das Gehirn zum Erzeugen wichtiger neuer Verbindungen. Diese Erkenntnis basiert auf einer der erfreulichsten wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten zwanzig Jahre: Die Art, die Aufmerksamkeit auszurichten, formt die Hirnstruktur.5 Die Neurowissenschaften vertreten die Ansicht, dass die Förderung von Reflexionsfähigkeit und Mindsight eben die Schaltkreise aktiviere, die zu Elastizität (Resilienz) und Wohlbefinden führen und die zudem der Empathie und dem Mitgefühl zugrunde liegen. Ebenso haben die Neurowissenschaften eindeutig nachgewiesen, dass wir nicht nur in der Kindheit solche neuen Verbindungen schaffen können, sondern das ganze Leben lang. Die kurzen, im ersten Teil eingestreuten Abschnitte »Blick ins Gehirn« sind Wegweiser auf diesem neuen Gebiet.
Das dritte Prinzip bildet den Kern meiner Arbeit als Psychotherapeut, Erzieher und Wissenschaftler. Wohlbefinden entsteht, wenn wir Verbindungen im Leben knüpfen: wenn wir lernen, Mindsight zur Unterstützung des Gehirns zu nutzen, um Integration zu erreichen und aufrechtzuerhalten, ein Prozess, bei dem sich verschiedene Elemente zu einem funktionierenden Ganzen verbinden.6 Ich weiß, dass es zuerst fremd und abstrakt klingen mag, aber ich hoffe, Ihnen bald verständlich machen zu können, dass dies eine natürliche und nützliche Betrachtungsweise des Lebens ist. Integration ist beispielsweise der Haupt- und Angelpunkt gesunder Kontakte unter Menschen, bei denen wir die Verschiedenheit anderer achten, während unsere Kommunikationslinien weit offen sind. Getrennte Einheiten miteinander zu verbinden – Integration – ist außerdem auch die Vorbedingung für die Freisetzung von Kreativität, die zu sprudeln beginnt, wenn die linke und rechte Gehirnhälfte zusammenspielen.
Integration ermöglicht, flexibel und frei zu sein. Fehlen gut integrierte Verbindungen, wird das Leben entweder starr oder chaotisch, verläuft in langweiligen, festgefahrenen Bahnen, oder man braust wie aus heiterem Himmel immer wieder auf. Mit gut integrierten Verbindungen entstehen Freiheit, ein Gefühl von Vitalität und die Leichtigkeit des Wohlbefindens. Ohne Integration geraten wir leicht in einen Trott, in Angstzustände und Depressionen, rutschen ab in Gier, Besessenheit und Suchtverhalten.
Eignet man sich Mindsight-Fähigkeiten an, kann man die Funktionsweise des Geistes verändern, das Leben in Richtung Integration lenken und sich von den Extremen Chaos oder Starrheit lösen. Mit Mindsight können wir den Geist so konzentrieren, dass das Gehirn buchstäblich integriert wird, und das heißt, dass es stabiler, spannkräftiger und gesünder wird.

Falsch verstandene Mindsight

Es ist höchst erfreulich, E-Mails von Zuhörern meiner Vorträge oder Patienten zu bekommen, in denen zum Beispiel steht: »Meine ganze Weltsicht hat sich verändert.« Doch nicht alle, für die Mindsight neu ist, verstehen sie gleich richtig. Manche sorgen sich, es handle sich dabei nur um eine neue Art der Selbstbetrachtung, um eine Nabelschau, die sich mit »Reflektieren« beschäftigt, statt dass man voll und ganz lebt. Vielleicht haben Sie auch über jüngst durchgeführte Forschungen (oder die alten Lehren) gelesen, die besagen, Glück hänge davon ab, »über sich selbst hinauszugehen«. Lenkt Mindsight uns von diesem übergeordneten Wohl ab? Zwar stimmt es, dass übertriebene Selbstbezogenheit das Glück mindert. Mindsight aber führt dazu, dass Sie sich weniger mit sich selbst beschäftigen, nicht mehr. Wenn wir nicht von Gedanken und Gefühlen übermannt werden, wird uns die eigene Innenwelt klarer, und wir werden zugleich aufnahmefähiger für die Innenwelt anderer. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen diese Idee und haben ergeben, dass Menschen mit mehr Mindsight mehr Interesse und Empathie für andere aufbringen. 7 Die Forschung hat auch deutlich aufgezeigt, dass Mindsight nicht nur das innere und zwischenmenschliche Wohlbefinden fördert, sondern auch mehr Effizienz und bessere Leistungen in der Schule und im Arbeitsbereich ermöglicht.8
Eine weitere, kritische Frage in Bezug auf Mindsight kam eines Tages in einem Gespräch mit einigen Lehrern zur Sprache. »Wie können wir denn von den Kindern verlangen, sie sollten über ihren eigenen Geist nachdenken?«, wollte ein Lehrer wissen. »Öffnen wir damit nicht die Büchse der Pandora?« Sie erinnern sich: Als die Büchse der Pandora geöffnet wurde, flog alles Schlechte heraus und brach über die Welt herein. Stellen wir uns unser Innenleben oder das Innenleben unserer Kinder so vor? Nach meiner eigenen Erfahrung kommt ein großer Wandel in Gang, wenn wir unseren Geist neugierig und achtungsvoll betrachten, statt dies voller Angst zu vermeiden. Die eigenen Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein einzulassen erlaubt uns, aus ihnen zu lernen, statt von ihnen getrieben zu werden. Wir können sie bändigen, ohne sie zu verdrängen. Wir können die Weisheit, die sie enthalten, hören, ohne vor ihren kreischenden Stimmen zu erschrecken. Und wie Sie bei der Lektüre dieses Buches noch sehen werden, können sogar erstaunlich kleine Kinder die Fähigkeit entwickeln, innezuhalten und sich zu entscheiden, was sie tun wollen, wenn ihnen ihre Impulse besser bewusst werden.

Wie entwickeln wir Mindsight?

Mindsight ist keine Alles-oder-nichts-Fähigkeit, also nicht etwas, das wir entweder haben oder nicht haben. Mindsight ist ein Geschick, das man sich aneignen kann, wenn man die nötige Mühe und Zeit für seine Einübung aufbringt.
Die meisten Menschen kommen mit dem Gehirnpotenzial zur Entfaltung von Mindsight zur Welt, doch benötigen die ihr zugrunde liegenden Neuralschaltkreise Erfahrungen, damit sie sich richtig entwickeln. Bei manchen, zum Beispiel bei Menschen, die an Autismus oder an Nervenkrankheiten leiden, entwickeln sich die Neuralschaltkreise möglicherweise trotz der besten Fürsorge nicht gut.9 Bei den meisten Kindern jedoch entsteht die Fähigkeit, das Innere wahrzunehmen, im täglichen Umgang mit anderen, besonders aber dank aufmerksamer Kommunikation seitens der Eltern und Betreuer. Spiegeln Erwachsene in harmonischen Beziehungen dem Kind ein exaktes Bild seiner Innenwelt wider, so beginnt es, sein Inneres klar zu erspüren. Dies ist die Grundlage für die innere Sicht, für Mindsight. Neurowissenschaftler arbeiten zurzeit an der Bestimmung derjenigen Schaltkreise im Gehirn, die an dieser intimen Interaktion Anteil haben, und erforschen dabei, wie die Einstimmung einer Betreuungsperson auf die Innenwelt des Kindes die Entfaltung von dessen Neuralschaltkreisen stimuliert.10
Gehen Eltern hingegen nicht auf das Kind ein, sind sie distanziert oder reagieren verwirrend, so bedeutet die fehlende Einstimmung, dass sie dem Kind kein genaues Bild seines Innenlebens widerspiegeln.11 In diesem Fall kann es den Forschungsergebnissen zufolge vorkommen, dass sich die Mindsight-Brille des Kindes trübt oder verzerrt. Dann sieht das Kind möglicherweise nur einen Teil seines inneren Meeres oder nimmt auch diesen nur verschwommen wahr. Oder aber das Kind sieht zwar durch eine gute, jedoch fragile Mindsight-Brille, die durch Stress und intensive Gefühle leicht zu Bruch gehen kann.
Das Gute an der Sache aber ist, dass es ungeachtet der frühkindlichen Erlebnisse nie zu spät ist, das Wachstum jener Nervenbahnen zu stimulieren, dank welchen Mindsight florieren kann.12
Sie werden gleich einen 92-jährigen Mann kennenlernen, der eine schmerzhafte, desolate Kindheit überwinden konnte und zum Mindsight-Experten wurde. Dies ist ein lebendiger Beweis für eine weitere vielversprechende Entdeckung der modernen Neurowissenschaften, nämlich die, dass das Wachstum des Gehirns dank dessen Reaktionen auf Erfahrungen nie aufhört.13 Dies trifft auch auf Menschen mit glücklicher Kindheit zu. Sogar wenn wir schon früh positive Beziehungen zu Betreuern und Eltern entwickelt haben können wir zeitlebens den entscheidenden siebten Sinn immer weiter entfalten und die Verbundenheit und Integration fördern, die den Kern des Wohlbefindens bilden.
Im ersten Teil des Buches wollen wir Situationen unter die Lupe nehmen, in denen die lebenswichtige Mindsight-Fähigkeit fehlt. Diese Berichte zeigen auf, wie entscheidend die klare Wahrnehmung des Inneren und die Fähigkeit, die Funktionsweise des Geistes zu verändern, für das Erlangen des Wohlbefindens sind. Der erste Teil ist der eher theoretische Teil, in dem ich Grundbegriffe erkläre, den Lesern eine Einführung in die Hirnforschung gebe und Arbeitsdefinitionen des Geistes und der geistigen Gesundheit liefere. Da ich weiß, dass meine Leser sehr unterschiedliche Vorgeschichten und Interessen haben, ist mir klar, dass manche vielleicht über vieles davon hinweglesen oder es sogar überspringen und sich direkt mit dem zweiten Teil befassen möchten. In diesem sehen wir uns Berichte aus meiner Praxis genauer an, die aufzeigen, welche Schritte zur Entfaltung von Mindsight nötig sind. Dort erläutere ich ebenjene praktischen Fertigkeiten, die Ihnen helfen sollen, selbst zur Gesundheit Ihres eigenen Geistes beizutragen. Ganz am Ende des Buches befindet sich ein Anhang, in denen die Grundbegriffe umrissen sind, und in einer Reihe von Anmerkungen sind die wissenschaftlichen Quellen und Hintergrundinformationen angegeben, die diese Ansichten untermauern.
Unsere Erforschung von Mindsight beginnt mit der Geschichte einer Familie, die mein Leben und meine gesamte Betrachtungsweise der Psychotherapie verändert hat. Die Suche nach Möglichkeiten, um ihnen zu helfen, hat mich bewogen, neue Antworten auf einige schmerzliche Fragen zu suchen, zum Beispiel auf die Frage, was geschieht, wenn jemand Mindsight, seine innere Sicht, verliert. Die Suche hat mich auch dazu bewogen, Methoden ausfindig zu machen, mit deren Hilfe wir Mindsight in uns selbst, in unseren Kindern und unseren Gemeinschaften wiedererwecken und neu aufbauen können. Ich hoffe, Sie werden mich bei diesem Eintauchen in das innere Meer begleiten. In dessen Tiefen erwartet uns eine riesige Welt voll ungeahnter Möglichkeiten.
1. TEIL
Der Weg zum Wohlbefinden: Grundlagen von Mindsight
1
Verletztes Gehirn, verlorene Seele
Das Dreieck des Wohlbefindens
Barbaras Angehörige wären womöglich nie zur Therapie gekommen, wenn die siebenjährige Leanne in der Schule nicht aufgehört hätte zu reden. Leanne war Barbaras mittleres Kind, nach der vierzehnjährigen Amy und vor dem dreijährigen Tommy. Es hatte sie alle schwer getroffen, als ihre Mutter einen beinahe tödlichen Autounfall hatte. Doch erst als Barbara aus dem Krankenhaus und der Reha-Klinik kam, wurde Leanne »selektiv stumm«. Sie weigerte sich, mit Außenstehenden zu sprechen, mich eingeschlossen.
In unseren ersten allwöchentlichen Therapiestunden verbrachten wir die Zeit schweigend, machten Spiele, führten Pantomimen mit Marionetten auf, zeichneten oder saßen einfach still beieinander. Leannes dunkles Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre traurigen braunen Augen wandten sich sofort ab, wenn ich sie direkt ansah. Unsere Sitzungen fühlten sich an wie Sackgassen, ihre Traurigkeit blieb unverändert, und unsere Spiele wiederholten sich. Doch eines Tages beim Fangen rollte der Ball neben die Couch, und Leanne entdeckte mein Videogerät und einen Bildschirm. Sie sagte zwar nichts, aber ihr plötzlich wacher Gesichtsausdruck verriet mir, dass ihr Geist auf etwas reagiert hatte.
In der folgenden Woche brachte Leanne ein Video mit, ging zum Videorecorder und steckte es hinein. Ich stellte das Gerät an, und ihr Lächeln erhellte den Raum, als wir zusahen, wie ihre Mutter eine kleinere Leanne sanft in die Luft hob, immer wieder, und sie dann ganz fest in die Arme schloss, wobei beide sich vor Lachen kringelten. Ben, Leannes Vater, hatte einen spielerischen Austausch zwischen Mutter und Kind auf Film gebannt, der das Markenzeichen der Liebe ist: Wir bauen durch ein Aussenden und Aufnehmen von Signalen einen Kontakt miteinander auf, der uns von innen her miteinander verbindet. Das ist die freudige Art und Weise, wie wir anderen unser Inneres mitteilen.
Danach wirbelten die beiden auf dem Rasen umher, sodass die gelben und rostfarbenen Herbstblätter nur so herumflatterten. Das Mutter-Tochter-Duett näherte sich der Kamera, beide mit zu Küssen in Richtung Kamera gespitzten Lippen, und dann brachen sie in Gelächter aus. Die fünfjährige Leanne schrie aus vollem Halse: »Happy birthday, Daddy!«, und man sah, wie die Kamera wackelte, weil Daddy mit den Ladies seines Lebens mitlachte. Weiter hinten schlief Tommy, Leannes kleiner Bruder, in eine Wolldecke gekuschelt und von Plüschtieren umgeben in seinem Kinderwagen, und Leannes ältere Schwester Amy war in der Nähe in ein Buch vertieft.
»So war meine Mami, als wir in Boston wohnten«, sagte Leanne plötzlich, und das Lächeln auf ihrem Gesicht war wie weggewischt. Es war das erste Mal, dass sie mich direkt angesprochen hatte, aber es fühlte sich eher an, als hörte ich ihr bei einem Selbstgespräch zu. Weshalb hatte Leanne aufgehört zu reden?
Seit jener Geburtstagsfeier waren zwei Jahre vergangen. Vor eineinhalb Jahren war die Familie nach Los Angeles gezogen, und ein Jahr war es her, seit Barbara bei ihrem Unfall – einem Frontalzusammenstoß – eine schwere Gehirnverletzung erlitten hatte. Barbara hatte an jenem Abend den Sicherheitsgurt nicht angelegt, als sie mit ihrem alten Mustang zum örtlichen Laden fuhr, um Milch für die Kinder zu besorgen. Als ein betrunkener Fahrer mit seinem Fahrzeug auf das ihre prallte, wurde ihr Kopf ins Lenkrad gedrückt. Nach dem Unfall lag sie wochenlang im Koma.
Als sie aus dem Koma erwachte, hatte sich Barbara vollkommen verändert. Auf dem Video sah ich den warmherzigen, kontaktfreudigen und fürsorglichen Menschen, der Barbara einst gewesen war. Doch jetzt war sie nach Aussage Bens »einfach nicht mehr dieselbe Barbara«. Ihr Körper war zwar nach Hause gekommen, die Barbara aber, die sie gekannt hatten, war verschwunden.
Bei Leannes nächstem Besuch bat ich darum, eine Zeit lang allein mit den Eltern sprechen zu können. Es war klar, dass die einst enge Beziehung zwischen Barbara und Ben inzwischen gestört und distanziert war. Ben ging geduldig und freundlich mit Barbara um und war ihr offensichtlich sehr zugetan, aber ich spürte auch seine Verzweiflung. Barbara starrte während des Gesprächs einfach in die Luft, zeigte überhaupt kein Interesse daran und nahm wenig Augenkontakt mit uns beiden auf. Die Schönheitschirurgie hatte die Stirnverletzung behoben, und obwohl sie sich etwas langsam und unbeholfen bewegte, sah sie äußerlich eigentlich ziemlich gleich aus wie auf den Bildern des Videos. Nur hatte sich in ihrem Innern etwas gewaltig verändert.
Ich fragte mich, wie sie ihre neue Art zu sein empfand, und erkundigte mich bei Barbara, worin ihrer Ansicht nach der Unterschied lag. Ich werde ihre Antwort nie vergessen: »Nun, ich nehme an, wenn ich es in Worte fassen müsste, so würde ich sagen, ich habe meine Seele verloren.«
Ben und ich saßen wie vom Donner gerührt da. Nach einer Weile fand ich meine Fassung wieder und fragte Barbara, wie es sich anfühlte, seine Seele verloren zu haben.
»Ich weiß nicht, ob ich mehr dazu sagen kann«, sagte sie rundheraus. »Es fühlt sich gut an, glaube ich. Nicht anders. Ich meine, einfach so, wie die Dinge sind. Nur leer. Es ist alles in Ordnung.«
Danach befassten wir uns noch mit praktischen Fragen zur Betreuung der Kinder, und damit endete die Sitzung.

Ein verletztes Gehirn

Es stand noch nicht fest, wie gut Barbara sich je erholen würde oder konnte. Da erst ein Jahr seit dem Unfall vergangen war, bestand immerhin die Möglichkeit, dass sich neurologisch einiges wiederherstellen ließ. Nach einer Verletzung kann das Gehirn seine Funktionen bis zu einem gewissen Grad wiedererlangen, sogar neue Neuronen (Nervenzellen) produzieren und neue Neuralverbindungen schaffen.14 Bei größeren Schäden hingegen ist es manchmal schwierig, die komplexen Fähigkeiten und Charakterzüge wiederzugewinnen, die von inzwischen zerstörten neuronalen Strukturen abhängig waren.
Der Begriff, der zum Beschreiben der Fähigkeit verwendet wird, als Reaktion auf Erfahrungen neue Neuralverbindungen herzustellen und neue Neuronen zu produzieren, lautet Neuroplastizität.15 Über Neuroplastiztität verfügen wir nicht nur in der Jugend; wir wissen inzwischen, dass sie zeitlebens bestehen bleibt. Bei der Arbeit an Barbaras Wiederherstellung würde man sich auf die Kräfte der Neuroplastizität verlassen müssen, um neue Verbindungen zu schaffen, welche die früheren geistigen Funktionen wiederaufnehmen würden. Doch mussten wir noch eine Weile die Heilwirkung der Zeit und die weitere Genesung abwarten und zusehen, wie die Aussichten auf ihre neurologische Erholung standen.
Meine unmittelbare Aufgabe bestand darin, Leanne und ihren Angehörigen verständlich zu machen, wie jemand gleich aussehen und sich dennoch hinsichtlich der Funktionsweise seines Geistes so radikal verändern kann. Ben hatte mir bereits gesagt, er wisse nicht, wie er den Kindern helfen könne, mit den riesigen Veränderungen bei Barbara umzugehen. Er sagte, er könne es selbst kaum verstehen. Er war nun doppelt eingespannt: Er arbeitete, überwachte den Tagesablauf der Kinder und sprang überall ein, wo Barbara etwas nicht mehr machen konnte. Sie war eine Mutter gewesen, der es die größte Freude bereitet hatte, Halloweenkostüme zu schneidern und Valentinstörtchen zu backen. Jetzt verbrachte sie die meiste Zeit mit Fernsehen oder Spaziergängen in der Umgebung. Sie konnte zu Fuß zum Lebensmittelladen gehen, aber auch wenn sie eine Liste dabeihatte, kam sie häufig mit leeren Händen nach Hause. Amy und Leanne machte es nicht viel aus, dass sie immer wieder dieselben einfachen Mahlzeiten kochte. Aber es verletzte sie, wenn sie ihre Bitten um Dinge vergaß, die sie besonders mochten oder für die Schule brauchten. Es war, als registrierte sie nichts, was sie ihr sagten.
Im weiteren Verlauf unserer Therapiesitzungen saß Barbara gewöhnlich schweigend da, auch wenn sie alleine bei mir war, obwohl ihr Sprachvermögen intakt war. In den Gemeinschaftssitzungen regte sie sich gelegentlich wegen einer belanglosen Bemerkung Bens auf oder schrie Tommy an, wenn er unruhig wurde, oder Leanne, wenn sie sich den Pferdeschwanz um den Finger wickelte. Manchmal platzte sie auch plötzlich in einem stillen Moment mit etwas heraus, als werde sie von einem inneren Drang getrieben. Die meiste Zeit jedoch war ihr Gesichtsausdruck wie eingefroren, eher leer als deprimiert, eher nichtssagend als traurig. Sie wirkte unnahbar und unbeteiligt, und mir fiel auf, dass sie weder ihren Mann noch ihre Kinder je spontan berührte. Als der dreijährige Tommy ihr einmal auf den Schoß kletterte, legte sie die Hand kurz auf seine Beine, als wiederhole sie ein früheres Verhaltensmuster, doch die Wärme war aus der Geste gewichen.
Als ich die Familie ohne die Mutter sah, erzählten mir die Kinder, was in ihnen vorging: »Sie kümmert sich einfach nicht mehr um uns wie früher«, sagte Leanne. »Und sie fragt uns nie nach etwas über uns«, fügte Amy traurig und gereizt hinzu. »Sie ist ganz einfach egoistisch. Sie will mit niemandem mehr reden.« Tommy schwieg. Er saß eng an seinen Vater gedrückt da und sah ganz verhärmt aus.
Der Verlust eines geliebten Menschen lässt sich kaum in Worte fassen. Wenn man mit einem Verlust kämpft und mit einer nicht mehr bestehenden Verbindung und Verzweiflung zu ringen hat, ist man von Kummer und tiefem Schmerz erfüllt. Die Teile im Gehirn, die körperliche Schmerzen verarbeiten, überlappen sich mit denjenigen Nervenzentren, in denen zerbrochene Beziehungen und Zurückweisung aufgezeichnet werden. Verlust zerreißt einen.
Bei Trauer ist es erst dann möglich, etwas Verlorenes loszulassen, wenn man mit der Zeit akzeptiert, was man an dessen Stelle jetzt besitzt. Solange sich der Geist an das Vertraute, an bestehende Erwartungen klammert, verfängt man sich in Gefühlen, in Enttäuschung, Verwirrung und Wut, die eine eigene innere Leidenswelt erzeugen. Was aber sollten Ben und die Kinder denn loslassen? Konnte Barbara ihre Kontaktfreude wiederfinden? Wie konnte die Familie lernen, mit einem Menschen zu leben, dessen Körper zwar noch funktionierte, der jedoch seine Persönlichkeit und »Seele« – zumindest so, wie sie ihnen vertraut waren – verloren hatte?

»Du-Landkarten« und »Ich-Landkarten«

Nichts in meiner beruflichen Ausbildung – weder während des Medizinstudiums noch dem der Pädiatrie oder Psychiatrie – hatte mich auf Situationen vorbereitet, wie ich sie jetzt in meiner Praxis erlebte. Ich hatte Vorlesungen über die Anatomie des Gehirns und über Gehirn und Verhalten besucht, doch als Barbara Anfang der 1990er-Jahre mit ihrer Familie zu mir kam, war noch verhältnismäßig wenig darüber bekannt, wie man das Wissen in diesen Fächern auf die klinische Praxis der Psychotherapie überträgt. Auf der Suche nach einer Erklärung von Barbaras Zustand für ihre Angehörigen ging ich in die medizinische Bibliothek und las in der klinischen und wissenschaftlichen Literatur alles nach, was sich mit den Hirnbereichen befasste, die bei Barbaras Unfall geschädigt worden waren.
Scans von Barbaras Gehirn hatten ein starkes Trauma im Bereich direkt hinter der Stirn ergeben. Die Verletzungen verliefen in dem Bereich, in dem sie auf den oberen Rand des Lenkrades aufgeprallt war. Ich stellte fest, dass dieser Bereich sehr wichtigen Persönlichkeitsfunktionen entspricht. Zudem verbindet er weit auseinanderliegende Hirnregionen miteinander.16 Es handelt sich somit um einen Hirnbereich mit außerordentlich wichtigen integrierenden Funktionen.
Das Areal hinter der Stirn gehört zum Stirnlappen des Kortex, der äußersten Schicht des Gehirns. Dem Stirnlappen wird der Hauptanteil am komplexen Denken und Planen zugeordnet. Eine Aktivität in diesem Teil des Gehirns führt dazu, dass die »Neuronen feuern« (das heißt, dass sie elektrische Ladungen abgeben), und zwar in Mustern, welche neuronale »Repräsentationen« (oder Vorstellungen) ermöglichen. So entstehen »Landkarten« verschiedener Aspekte unserer Welt. Die aus solchen Clustern neuronaler Aktivität entstandenen Landkarten erzeugen innere Bilder. Wenn wir zum Beispiel Lichtwellen empfangen, die von einem Vogel auf einem Ast ausgehen, so senden die Augen Signale ins Gehirn, wo die Neuronen in bestimmten Mustern feuern, die uns ein visuelles Bild des Vogels vermitteln.
Auf noch unerklärliche Weise trägt die physische Eigenart feuernder Neuronen dazu bei, die subjektive Erfahrung zu bilden: die Gedanken, Gefühle und Assoziationen, die beispielsweise beim Sehen des Vogels hervorgerufen werden. Der Anblick des Vogels kann bestimmte Empfindungen auslösen, man hört sein Lied oder erinnert sich daran, und dieses Lied kann sogar mit Vorstellungen wie Natur, Hoffnung, Freiheit und Frieden assoziiert werden. Je abstrakter und symbolischer die Repräsentation, desto höher im Nervensystem und desto weiter vorne im Kortex wird sie erzeugt.
Der Präfrontalkortex – in Barbaras Gehirn der am stärksten beschädigte Teil des Stirnlappens – bildet komplexe Repräsentationen, die es erlauben, sich an frühere Erfahrungen zu erinnern, die Zukunft zu planen und sich ein Bild davon zu machen. Der präfrontale Kortex ist zudem für diejenigen neuronalen Repräsentationen verantwortlich, dank denen man sich ein Bild vom Geist selbst machen kann. Ich nenne diese Repräsentationen unserer inneren Welt »Mindsight-Landkarten« und habe mehrere Arten von Mindsight-Landkarten ermittelt, die unser Gehirn erzeugt.
Das Gehirn produziert beispielsweise etwas, das ich »Ich-Landkarte« nenne. Diese gewährt Einsichten über uns selbst, wie »Du-Landkarten« Einsichten über andere erlauben. Darüber hinaus scheinen wir auch »Wir-Landkarten« mit Repräsentationen unserer Beziehungen herzustellen. Ohne diese Landkarten sind wir unfähig, unser eigenes oder das Innere anderer wahrzunehmen. Ohne Ich-Landkarte zum Beispiel können wir uns in Gedanken verlieren oder werden von Gefühlen überschwemmt. Ohne Du-Landkarten sehen wir nur das Verhalten anderer, nur die körperliche Seite der Realität, ohne jedes Gespür für den subjektiven Kern anderer, für ihr inneres Meer. Die Du-Landkarte ist es, die Empathie zulässt. Grundsätzlich hatte Barbaras Hirnschaden bei ihr zu einer Welt ohne Mindsight geführt. Sie hatte zwar Gefühle und Gedanken, konnte sich diese jedoch nicht als Aktivitäten ihres Geistes vorstellen. Auch als sie sagte, sie habe »ihre Seele verloren«, klang die Aussage nüchtern und sachlich, eher wie eine wissenschaftliche Beobachtung als eine tief empfundene Äußerung über ihre eigene Identität. (Diese Unverbundenheit zwischen Beobachtung und Emotion machte mich stutzig, bis ich aus späteren Studien erfuhr, dass diejenigen Hirnbereiche, die Landkarten des Geistes herstellen, sich von denen unterscheiden, welche die Beobachtung und Beschreibung eigener Eigenschaften erlauben wie zum Beispiel Schüchternheit oder Angstzustände – oder in Barbaras Fall das Fehlen einer Eigenschaft, die sie »Seele« nannte.)17
Es ist Jahre her, seit ich mit Barbaras Hirnscans in die Bibliothek ging, und seither hat man sehr viel mehr über die miteinander verflochtenen Funktionen des Präfrontalkortex herausgefunden. 18 So ist beispielsweise eine Seite dieser Region entscheidend dafür, wie wir achtgeben. Sie führt dazu, dass wir uns etwas »vor Augen« halten und uns dessen bewusst bleiben. Der mittlere Teil des präfrontalen Bereichs, der bei Barbara geschädigte Teil, koordiniert eine erstaunliche Anzahl wesentlicher Fähigkeiten, wozu auch Körperregulierung, eingestimmte Kommunikation, emotionale Ausgeglichenheit, Reaktionsflexibilität, Angstmodulation, Empathie, Einsicht, moralisches Bewusstsein und Intuition gehören. Alle diese Fähigkeiten brachte Barbara im Umgang mit ihrer Familie nicht mehr auf.
Ich werde immer wieder auf diese neun Funktionen des mittleren Präfrontalkortex bei unserer Besprechung von Mindsight zurückkommen und noch mehr im Detail auf sie eingehen. Doch schon auf den ersten Blick wird klar, dass diese Funktionen wesentliche Elemente des Wohlbefindens sind, die von Körperprozessen wie der Regulierung des Herzrhythmus bis hin zu sozialen Fähigkeiten wie Empathie und moralischem Denken reichen.
Nachdem Barbara aus dem Koma erwacht war, sah es aus, als wären ihre Schädigungen Bestandteile einer neuen Persönlichkeit geworden. Einige Gewohnheiten waren noch da, beispielsweise was sie gerne aß oder wie sie sich die Zähne putzte. Es hatte sich nichts signifikant daran verändert, wie ihr Gehirn diese grundlegenden Verhaltensweisen vorgab. Komplett geändert hatte sich hingegen, wie sie dachte, fühlte, sich verhielt und mit anderen umging. Dies betraf jede Einzelheit im Alltag – bis hin zu Leannes unordentlich gebundenem Pferdeschwanz. Barbara verfügte verhaltensmäßig noch immer über die nötige Fertigkeit, Leannes Haar zu frisieren, nur lag ihr nicht mehr genügend daran, es richtig zu machen.
Vor allem aber hatte Barbara offenbar ausgerechnet die Fähigkeit des Landkartenerzeugens verloren, die es ihr erlaubt hätte, die Realität und Bedeutung ihrer eigenen subjektiven Innenwelt sowie derjenigen anderer anzuerkennen. Da ihre Schaltkreise im mittleren präfrontalen Bereich durcheinandergeraten waren, konnten sich ihre Mindsight-Karten in diesem Bereich, von dem ihre Entstehung abhing, nicht mehr bilden. Das Trauma in der mittleren präfrontalen Region hatte außerdem die Kommunikation zwischen Barbara und ihren Angehörigen unterbrochen – sie konnte die nötigen verbindenden Signale nicht mehr senden noch empfangen, die es ihr ermöglicht hätten, innerlich Verbindung zu den ihr vorher am nächsten stehenden Menschen aufzunehmen.
Ben fasste die Veränderung so zusammen: »Sie ist weg. Der Mensch, mit dem wir leben, ist einfach nicht mehr Barbara.«

Das Dreieck des Wohlbefindens: Geist, Gehirn und Beziehungen

Auf dem Video von Bens Geburtstag war ein lebenssprühender, tanzender Kommunikationsaustausch zwischen Barbara und Leanne zu sehen gewesen. Doch jetzt gab es keinen Tanz mehr, keine Musik, die den Rhythmus zweier Geister zum Fließen gebracht hätte, um ein »Wir«-Gefühl zu bilden. Eine solche Verbindung stellt sich ein, wenn wir uns auf die Wechsel im Inneren eines Mitmenschen einstimmen, dieser sich ebenso in uns einfühlt und unsere beiden Welten zu einer einzigen verschmelzen. Mittels Gesichtsausdruck, Tonfall, Gesten und Haltungen – wobei manche so flüchtig sind, dass man sie nur durch Aufnahmen im Zeitlupentempo festhalten kann – »schwingen« wir mit dem Gegenüber »mit«. Das daraus entstehende Ganze ist in der Tat größer als die einzelnen Persönlichkeiten. Dieses Mitschwingen ist als Gefühl der Verbundenheit und des Lebendigseins erfahrbar. Genau dies geschieht, wenn ein Geist einem anderen begegnet.
Einer meiner Patienten hat diese lebensnotwendige Verbindung »sich von jemandem erfühlt fühlen« genannt. Wir spüren, dass jemand an unserer Innenwelt Anteil nimmt, dass unser Gegenüber unseren Geist in sich aufgenommen hat. Leanne aber »fühlte sich« nicht mehr von ihrer Mutter »erfühlt«.
Das Verhalten Barbaras ihrer Familie gegenüber erinnerte mich an ein klassisches Forschungshilfsmittel zur Untersuchung der Eltern-Kind-Kommunikation und -Bindung. Man nennt es »Still-Face«-Experiment (Experiment mit bewegungslosem Gesicht),19 und daran teilzunehmen tut ebenso weh, wie es zu beobachten.
Man bittet eine Mutter, sich vor ihr vier Monate altes Kind zu setzen und auf ein Signal hin nicht mehr auf ihr Kind einzugehen. Diese »stille« (unbewegliche) Phase, in der das Kind keinerlei verbale oder nonverbale Signale mehr bekommt, ist zutiefst erschütternd. Bis zu drei Minuten lang versucht das Kind, Verbindung zur nicht mehr reagierenden Mutter aufzunehmen. Zuerst sendet das Kind gewöhnlich vermehrt Signale, lächelt öfter, macht lallende Geräusche und sucht Augenkontakt. Doch wenn es damit eine Zeit lang keine Reaktionen auslöst, wird es unruhig und verzweifelt, und seine geordneten Kontaktversuche gleiten in Angstreaktionen und Wutausbrüche ab. Es versucht manchmal, sich selbst zu beruhigen, indem es die Hand in den Mund steckt oder an seinem Strampelanzug zerrt. Manchmal stoppen Forscher oder Eltern das Experiment an dem Punkt, doch manchmal wird es weitergeführt, bis das Kind sich in sich selbst zurückzieht und wie bei einer melancholischen Depression mutlos in sich zusammensinkt. Diese Stadien des Protestierens, der Selbstbeschwichtigung und Verzweiflung zeigen, wie sehr das Kleinkind für eine ausgeglichene Innenwelt von den Reaktionen einer auf es eingestimmten Mutter abhängig ist.
Wir kommen so verdrahtet zur Welt, dass wir Kontakt zueinander suchen. Die anschließende neuronale Ausformung des Gehirns, die zur eigentlichen Grundlage unseres Ichgefühls wird, baut auf einem solchen innigen Austausch zwischen dem Säugling und seinen Betreuungspersonen auf. In den ersten Jahren ist dieser zwischenmenschliche Kontakt für das Überleben entscheidend. Doch auch im weiteren Verlauf des Lebens brauchen wir immer wieder solche Verbindungen, um ein Gefühl von Vitalität und Wohlbefinden zu erleben.
Leannes Mutter war früher auf sie eingestimmt gewesen, und Barbaras damalige Präsenz in Leannes Leben war buchstäblich in die Struktur ihres Mindsight-Landkarten entwerfenden Gehirns eingebettet. Jetzt aber fehlten Barbara die Landkarten für Leannes Geist, sie hatte kein inneres Gespür mehr für ihre Kinder, und diese »fühlten« sich nicht mehr von ihr »erfühlt«. Ihre Interesselosigkeit, ihre anscheinende Gleichgültigkeit den Gefühlen und Bedürfnissen ihrer Kinder gegenüber, ihr Zurücknehmen dessen, was diese einst als Liebe erlebt hatten, waren die äußeren Zeichen dieser inneren Tragödie.
Die Behandlung von Barbaras Familie führte mir klar vor Augen, dass Geist, Gehirn und Beziehungen keine separaten Elemente im Leben sind. Sie sind unreduzierbare Aspekte eines miteinander vernetzten Dreiecks des Wohlbefindens. Mit ihren sieben Jahren hatte Leanne auf den Rückzug ihrer Mutter mit Stummwerden reagiert. Das Dreieck war zerbrochen.
Dreieck des Wohlbefindens

Klar sehen, loslassen, hereinlassen

Ich habe Leanne, Amy, Tommy und Ben viele Male gesehen, um ihnen Gelegenheit zu geben, offen mit mir und miteinander darüber zu reden, wie sich ihr Leben seit Barbaras Unfall verändert hatte. Dann brachte ich eines Tages Barbaras Hirnscans mit und zeigte ihnen, welche Bereiche geschädigt waren. Ich zeichnete vereinfachte Skizzen an eine Tafel, damit sie sich die verschiedenen Verbindungen im Präfrontalkortex vorstellen konnten, und sagte ihnen, die Verletzung dieses wichtigen Bereiches erkläre praktisch alle Veränderungen bei Barbara. Das schien mir besonders wichtig zu sein, weil Kinder sehr oft Schuldgefühle haben, wenn etwas in der Familie schiefläuft. Hier hatten wir den handfesten Beweis dafür, dass Reizbarkeit und fehlende Wärme der Mutter ihnen gegenüber nicht von irgendetwas verursacht wurde, das sie getan hatten, und sich auch nicht durch ein »besseres« Betragen ihrerseits beheben ließen. Ich hoffte, sie würden dadurch die Veränderungen in ihrem Leben besser begreifen und ihren Verlustschmerz zulassen, statt durch Selbstanschuldigungen oder Verwirrung gelähmt zu sein.
Die Kinder hörten ebenso aufmerksam zu wie Ben, und sogar Tommy schien zu begreifen, dass seine Mutter ein »kaputtes Gehirn« hatte. Leanne war im Verlauf unserer Sitzungen bereits viel gesprächiger geworden, und jetzt stellte sie viele Fragen darüber, weshalb die Liebe ihrer Mutter ein Gehirn brauche, um »lebendig« zu werden. »Ich dachte, Liebe kommt aus dem Herzen«, meinte sie. Sie hatte recht: Die Vernetzungen von Nervenzellen um das Herz herum sowie die Nerven im ganzen Körper kommunizieren direkt mit den sozialen Funktionsbereichen des Gehirns und schicken »vom Herzen Gefühltes« direkt in den mittleren präfrontalen Bereich. Ich antwortete Leanne: Da das Gehirn ihrer Mutter nicht richtig funktioniere, könne es die Signale nicht mehr aufnehmen, die sich bestimmt noch in ihrem Herzen befanden. Diese Vorstellung schien Leanne zu beruhigen, und sie kam immer wieder darauf zurück. Sie wurde geduldiger und hielt die Distanziertheit und Reizbarkeit ihrer Mutter jetzt besser aus. Ihre ruhigen, liebevollen Gesten Barbara gegenüber rührten mich. Leanne fing an, in der Schule wieder zu sprechen, nahm wieder Kontakt zu ihren Freundinnen auf und fand Trost bei ihrer Lehrerin, die sich besonders um sie kümmerte, als sie hörte, was zu Hause los war.
Ich sah Ben auch allein und redete ihm gut zu, seine Gefühle offener auszudrücken. Dies fiel ihm nicht leicht, und zudem hatte er hart daran gearbeitet, das Familienleben möglichst »normal« weiterzuführen. Nur war es natürlich nicht normal, und die Kinder mussten merken, dass sie mit ihrem Kummer nicht alleine dastanden und dass es in Ordnung war, über ihre Ängste, Sorgen und Unsicherheit zu sprechen. Ben und ich machten uns auch Gedanken über Tommys spezielle Bedürfnisse. Er hatte quasi seine Mutter mit zwei Jahren verloren, bevor sein eigener Präfrontalbereich angefangen hatte, sich zu entfalten. Da seine Schaltkreise noch nicht so weit entwickelt waren, dass er seine Gefühle hätte voll ausdrücken können, würde besonders Tommy laufend Hilfe brauchen, um sich einen Reim auf seine Lebensgeschichte machen zu können. Jetzt, mit drei Jahren, waren seine Traurigkeit, Ängste und Verwirrung kaum in Worte zu fassen.
Amy hatte weiterhin mit ihrem Zorn gegen die Mutter zu kämpfen. Sie war wütend, weil Barbara an jenem Tag den Sitzgurt nicht getragen hatte, und frustriert, weil die Mutter, zu der sie einst aufgeblickt hatte, jetzt nicht mehr da war. Zudem wurde genau zu dem Zeitpunkt, als Amy sich von ihrer Familie zu lösen und ihre eigene Identität im Freundeskreis zu finden begann, von ihr erwartet, dass sie sich um Leanne und Tommy kümmerte. Ich nahm ihre Frustration wahr und half Ben, ihr Bedürfnis nach Zeit für sich zu verstehen, auch wenn weiterhin von ihr verlangt wurde, zu Hause einzuspringen. Allmählich konnte sie ihrer Mutter freundlicher begegnen, auch wenn Barbara dies nicht erwidern und Amy ebenso behandeln konnte. So sah die Realität nun für sie alle aus.
Mit der Zeit verbesserte sich Barbaras motorische Koordination ein wenig, doch der Schaden im Präfrontalkortex war zu groß, und es waren keine Anzeichen zu erkennen, dass sie ihre Kontaktfreude wiedererlangen würde. Trotzdem vertieften Leanne und die ganze Familie ihre Verbindung zueinander weiterhin. Mindsight ließ sie einen Sinn in ihrer Erfahrung erkennen, und der Trauerprozess konnte auf heilsame Weise verlaufen. Barbara hatte Mindsight verloren, ihre innere Sicht – und Mindsight brauchte die Familie für ihre Trauer um die alte Barbara und dafür, die neue Barbara in ihr Leben aufzunehmen.
Dabei lernte ich, dass das Wissen um die verschiedenen Hirnfunktionen den Betroffenen hilft, sich genügend von einer geschädigten oder schmerzhaften Beziehung zu distanzieren, um mehr Mitgefühl und Verständnis aufzubringen, sowohl für den Beziehungspartner wie für sich selbst. Wie Sie im Verlauf dieses Buches noch sehen werden, hat diese Einsicht meine Arbeit als Therapeut seither gelenkt.

Blick ins Gehirn

Das Gehirn in Ihrer Hand
Mindsight, die innere Sicht, hängt davon ab, dass eine Vielzahl neuronaler Informationen miteinander verknüpft werden – aus dem ganzen Körper, aus verschiedenen Hirnbereichen, ja sogar aus den von Mitmenschen aufgenommenen Signalen. Es hilft, sich das Gehirn als System miteinander verbundener Teile vorzustellen, wenn man verstehen will, wie diese Verknüpfung stattfindet.
Seit ich Barbaras präfrontale Bereiche erstmals für Leanne und ihre Angehörigen skizzierte, habe ich mit einer ganzen Reihe von dreidimensionalen Hirnmodellen experimentiert. Nachfolgend finden Sie eines, das ich zu jedem Vortrag mitgenommen habe. Sie können es beim Lesen dieses Buches verwenden, ohne von ihrem Stuhl aufzustehen. Es ist so einfach, dass sich manche Neurologen mehr Einzelheiten darin wünschten, aber es hat vielen meiner Patienten geholfen, die nötige Mindsight zu entwickeln, um einen Sinn in ihren Erfahrungen zu sehen.

Das Handmodell des Gehirns20

Wenn Sie den Daumen mitten in Ihre Handfläche legen und die anderen Finger darüber krümmen, haben Sie ein recht »handliches« Hirnmodell. (Meine Kinder finden dieses Wortspiel uncool.) Das Gesicht des Betreffenden befindet sich vorne vor den Fingerknöcheln, der Hinterkopf entspräche dem Handrücken. Das Handgelenk stellt das Rückenmark dar, das aus der Wirbelsäule aufsteigt und auf dem das Gehirn sitzt. Wenn Sie die Finger heben und den Daumen strecken, sehen Sie den inneren Hirnstamm in der Handfläche. Legen Sie den Daumen wieder in die Handfläche, erkennen Sie ungefähr, wo das limbische System sitzt (idealerweise müssten wir zwei Daumen an der Hand haben, einen links und einen rechts, um ein symmetrisches Modell daraus zu machen). Legen Sie nun die Finger wieder darüber, und schon ist der Kortex an seinem Platz.
Diese drei Bereiche – Hirnstamm, limbisches System und Kortex – umfassen das, was man das »dreieinige« Gehirn nennt, das sich im Verlauf der Evolution schichtweise herausgebildet hat. Die Integration des Gehirns erfordert, dass zumindest die Aktivitäten der drei genannten Hirnregionen miteinander verknüpft werden. Da sie von unten nach oben verteilt sind – vom inneren, unteren Hirnstammbereich über das limbische System zum äußeren und höheren Kortex -, könnte man dies »vertikale« Integration nennen. Das Gehirn ist zudem in zwei Hälften, die linke und die rechte Hirnhälfte, aufgeteilt, und somit gehört auch die Verbindung der Funktionen der beiden Hirnhälften zur neuronalen Integration. Dies könnte man die »horizontale« oder »bilaterale Integration« nennen.21 (Im 6. Kapitel werden wir uns eingehender mit der Bilateralität des Gehirns befassen.) Das Wissen um die Funktionen der wichtigsten Hirnbereiche hilft Ihnen, Ihre Aufmerksamkeit so auszurichten, dass die erwünschte Verbindung zwischen diesen Bereichen zustande kommt. Ich gebe Ihnen jetzt einen kurzen Überblick über die Schichten des »dreieinigen« Gehirns.
Legen Sie den Daumen wie auf dieser Abbildung in die Handfläche.
Krümmen Sie Ihre Finger über den Daumen. Genauso ist der Kortex über die limbischen Hirnbereiche gefaltet.

Der Hirnstamm (auch Stammhirn genannt)

Das vor Jahrmillionen ausgebildete Stammhirn wird manchmal auch »Reptilhirn« genannt. Es nimmt Informationen aus dem Körper auf und sendet diesem welche zurück, um Grundfunktionen wie Herzschlag und Atmung zu regulieren. Der Hirnstamm kontrolliert nicht nur das Energieniveau des Körpers via Herzfrequenz und Atmung, er ist auch für das Energieniveau der darüberliegenden Hirnbereiche verantwortlich, nämlich der limbischen und kortikalen Regionen. Das Stammhirn bestimmt ganz unmittelbar unsere Erregungszustände, ob wir beispielsweise Hunger haben oder satt sind, ob wir sexuell erregt oder nach der sexuellen Befriedigung entspannt sind, ob wir wach sind oder schlafen.
Diagramm des menschlichen Gehirns von der Mitte aus nach rechts gesehen. Darauf sind einige der Hauptareale des Gehirns dargestellt, u. a. der Hirnstamm, das limbische System (mit Amygdala und Hippocampus) sowie die Großhirnrinde (mit den mittleren Präfrontalregionen). Den ventrolateralen Präfrontalkortex sieht man nicht.
Neuronencluster im Hirnstamm spielen im Besonderen eine Rolle, wenn bestimmte Umstände eine rasche Energiemobilisierung im Gesamtkörper und Gehirn erfordern. Diese sogenannten Fight-Flight-Freeze-Reaktionen (kämpfen, fliehen, erstarren) sind für das Überleben in Gefahr verantwortlich. Zusammen mit den abwägenden Prozessen sowohl des limbischen wie des höheren kortikalen Bereichs entscheidet der Hirnstamm darüber, ob wir entweder mit Mobilisieren der Energie zum Kampf oder zur Flucht auf Bedrohung reagieren oder ob wir hilflos erstarren und angesichts einer überwältigenden Situation einfach zusammenbrechen. Welche Reaktion auch immer man wählt, im Überlebensmodus wird es sehr schwierig, wenn nicht geradezu unmöglich, anderen gegenüber offen und aufgeschlossen zu bleiben.22 Zur Entwicklung von Mindsight gehört somit auch, das Ausmaß automatischer Reaktionen zu verringern, wo diese nicht unbedingt nötig sind. Ich werde später noch ein Beispiel dafür geben.
Der Hirnstamm ist zudem ein Grundbestandteil dessen, was man »Motivationssysteme« nennt.23 Diese tragen dazu bei, die menschlichen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft, Fortpflanzung und Sicherheit zu befriedigen. Wenn Sie einen starken inneren »Drang« verspüren, auf eine bestimmte Art zu handeln, arbeitet Ihr Stammhirn sehr wahrscheinlich eng mit der nächsthöheren Region, dem limbischen System, zusammen und treibt Sie zum Handeln an.

Das limbische System

Der limbische Bereich liegt tief im Gehirn eingebettet ungefähr an der Stelle, wo sich Ihr Daumen im Handmodell befindet. Er hat sich entwickelt, als erstmals vor ungefähr 200 Millionen Jahren kleine Säugetiere auftauchten. Dieses »alte Säugetierhirn« arbeitet eng mit dem Hirnstamm und dem Körper zusammen und erzeugt nicht nur die Grundtriebe, sondern auch die Gefühle. Diese Gefühlszustände sind von Sinnhaftigkeit erfüllt, weil das limbische System die momentane Situation einschätzt. »Ist das gut oder schlecht?«, ist die Grundfrage des limbischen Systems. Wir gehen auf das Gute zu und ziehen uns vom Schlechten zurück. So trägt das limbische System zur Entstehung der Emotionen (von lat. emovere, »herausbewegen«) bei, welche die »Bewegung hervorrufen« und uns motivieren, dem Sinn entsprechend zu handeln, den wir dem jeweiligen Geschehen zuordnen.
Das limbische System ist außerdem dafür entscheidend, wie wir Beziehungen knüpfen und uns gefühlsmäßig miteinander verbinden. Wenn Sie je einen Fisch, Frösche oder Eidechsen aufgezogen haben, wissen Sie, dass diese Geschöpfe, die ja keine Säugetiere sind, weder Ihnen gegenüber noch untereinander Anhänglichkeit beweisen. Ratten, Katzen und Hunde hingegen sind mit dem limbischen System der Säugetiere ausgestattet. Bei ihnen – genau wie bei uns – gibt es Anhänglichkeit. Wir sind durch unser Säugetiererbe fest dazu verdrahtet, Bindungen miteinander einzugehen.
Das limbische System spielt dank des Hypothalamus, eines zentralen Steuerzentrums der endokrinen Drüsen, eine wichtige regulierende Rolle. Über die Zirbeldrüse sendet der Hypothalamus Hormone in den ganzen Körper und nimmt welche von diesem auf. Er hat einen besonderen Einfluss auf die Geschlechtsorgane sowie die Schilddrüse und Nebennieren. Wenn wir beispielsweise gestresst sind, setzen wir ein Hormon frei, das die Nebennieren zur Ausschüttung von Kortisol anregt. Dieses wiederum mobilisiert Energie, indem der gesamte Stoffwechsel auf die höchste Alarmstufe angehoben wird, um mit dem Problem fertigzuwerden. Dies ist angesichts von kurzzeitigem Stress eine ausgezeichnete Reaktion, kann jedoch langfristig gesehen zum Problem werden. Sind wir mit einer aufwühlenden Situation konfrontiert, mit der wir nicht adäquat umgehen können, so kann der Kortisolpegel chronisch zu hoch bleiben. Besonders traumatische Erfahrungen können die limbische Reaktivität sensibilisieren, sodass sogar harmloser Stress den Kortisolpegel hochschießen lässt und damit den Alltag für den Traumatisierten immer problematischer gestaltet. Zu viel Kortisol kann sich für das wachsende Gehirn zudem als toxisch erweisen, indem es das gesunde Wachstum und Funktionieren des Nervengewebes behindert. Zum Ausgleich der Gefühle, und um schädliche Wirkungen des chronischen Stresses zu verringern, ist es eminent wichtig, eine Möglichkeit zu finden, zu starke limbische Reaktivität einzudämmen. Wie wir noch sehen werden, kann Mindsight uns helfen, die höheren Hirnregionen zur »kortikalen Kontrolle« der limbischen Reaktivität heranzuziehen.
Das limbische System trägt auch zur Bildung verschiedener Erinnerungsformen bei: der Erinnerung an Fakten, an konkrete Erlebnisse sowie an Gefühle, die diese färben und ihnen ihre Textur geben. Zwei beidseits des zentralen Hypothalamus und der Zirbeldrüse liegende spezielle Neuronencluster sind in dieser Hinsicht eingehend erforscht worden, nämlich die Amygdala und der Hippocampus. Die mandelförmige Amygdala hat sich bei Angstreaktionen als besonders wichtig erwiesen. (Zwar schreiben manche Autoren alle Emotionen der Amygdala zu, neuere Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass Gefühle generell aus breiter gestreuten Bereichen des limbischen Areals, des Hirnstamms und des Körpers stammen und auch eng in die kortikalen Funktionen eingewoben sind.)
Die Amygdala kann eine plötzliche Überlebensreaktion auslösen. Als mein Sohn und ich in der High Sierra wanderten, blieb ich wegen eines plötzlichen Angstschocks stehen und rief: »Halt!« Erst nach meinem Schrei wurde mir klar, weshalb: Meine Amygdala, die ständig auf der Hut ist, hatte etwas wahrgenommen, das unter der Bewusstseinsschwelle blieb, nämlich etwas auf dem Weg Zusammengerolltes. Zum Glück blieb mein Sohn sofort stehen (damals war er noch kein widerborstiger Teenager) und konnte darauf um die angriffsbereite Klapperschlange herumgehen, die den Pfad mit uns teilte. Hieraus wird klar, dass ein Gefühl unbewusst ausgelöst werden kann und wir ebenso unbewusst darauf reagieren. Dies kann uns das Leben retten oder aber dazu führen, dass wir etwas tun, das wir später sehr bereuen. Wollen wir unsere Gefühle bewusst wahrnehmen, gezielt auf sie eingehen und sie verstehen, müssen wir die subkortikal erzeugten Gefühlszustände mit dem Kortex verbinden.
Schließlich wäre da noch der Hippocampus, ein seepferdchenförmiger Neuronencluster, der als »Haupt-Puzzlezusammensetzer« fungiert und weit auseinanderliegende Hirnbereiche miteinander verbindet, von den Wahrnehmungsbereichen über das Speichern von Fakten bis hin zu den Sprachzentren. Die Integration neuronaler »Feuerungsmuster« (Muster der Signalübermittlung) verwandelt die jeden Moment gemachten Erfahrungen in Erinnerungen. Ich kann Ihnen die Schlangengeschichte erzählen, weil mein Hippocampus die verschiedenen Aspekte jenes Erlebnisses zu einer Reihe von »in der Zeit erlebten« Erinnerungen verknüpft hat: meine Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken, Fakten und Überlegungen.
Der Hippocampus entwickelt sich allmählich im Lauf der ersten Jahre und produziert zeitlebens weitere neue Verbindungen und Neuronen. Mit zunehmender Reife verbindet der Hippocampus die Grundformen des Emotionen und Wahrnehmungen speichernden Gedächtnisses zu faktischen und autobiografischen Erinnerungen und legt so den Grundstein dafür, dass ich Ihnen die weit zurückliegende Geschichte mit der Schlange in der Sierra erzählen kann. Diese einmalig menschliche Gabe des Geschichtenerzählens hängt jedoch auch von der Entwicklung des im Gehirn am höchsten liegenden Teils, des Kortex, ab.

Der Kortex

Der Kortex ist die äußere Schicht des Gehirns, die »Hirnrinde«. Manchmal nennt man ihn auch »neues Säugetiergehirn« oder Neokortex, weil er sich mit Auftreten der Primaten stark ausgeweitet hat, ganz besonders seit der Mensch auf den Plan getreten ist. Der Kortex erzeugt kompliziertere Feuerungsmuster, welche die dreidimensionale Welt jenseits der Körperfunktionen und Überlebensreaktionen repräsentieren, die von den unteren, subkortikalen Bereichen übermittelt werden. Der hochentwickelte Stirnanteil des Kortex erlaubt es dem Menschen, Ideen und Vorstellungen zu haben und Mindsight-Landkarten auszuarbeiten, die Einsichten in die Innenwelt gestatten. Dieser vordere Teil des Kortex, der »Frontallappen« oder »Stirnlappen«, produziert neuronale Feuerungsmuster, die dessen eigene Repräsentationen darstellen. Anders ausgedrückt, er ermöglicht es, über das Denken selbst nachzudenken. Das Gute daran ist, dass dies dem Menschen neue Denkfähigkeiten verleiht – sich etwas vorzustellen, Tatsachen und Erfahrungen neu zu kombinieren, etwas zu schaffen. Der Nachteil ist, dass diese neuen Fähigkeiten manchmal dazu führen, dass man zu viel denkt. Soviel wir wissen, repräsentiert keine andere Gattung ihre eigenen neuronalen Repräsentationen (stellt sich keine andere Gattung ihre eigenen neuronalen Vorstellungen vor), was wahrscheinlich ein Grund dafür ist, weswegen wir uns gelegentlich als »neurotisch« bezeichnen.