Die allerletzte Kaiserin - Irene Diwiak - E-Book

Die allerletzte Kaiserin E-Book

Irene Diwiak

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Beschreibung

Kaiserin ist, wer sich selbst für eine hält

Claudia Hendl ist nicht unbedingt glücklich und noch weniger fantasiebegabt – bis eines Tages eine alte, egozentrische Dame in ihr Wirtshaus kommt. Ihr Name ist Johanna Fialla, und nachdem sie Vertrauen zu Claudia gefasst hat, eröffnet sie Unglaubliches: Sie, Johanna, sei in Wahrheit die Enkeltochter von Kronprinz Rudolf. Der habe sich nämlich gar nicht erschossen, sondern sei nur untergetaucht und habe unter falschem Namen eine neue Familie gegründet, dessen Sprössling Johannas Vater gewesen sei. Nach und nach erzählt Johanna ihre Lebensgeschichte, und Claudia, die niemals schriftstellerische Ambitionen gehabt hat, beginnt sie aufzuschreiben. Dabei erfährt sie vielleicht nicht unbedingt historische Fakten – aber sie erkennt, dass ein bisschen Fantasie das Leben erst lebenswert macht.

Irene Diwiaks Roman sprüht vor Witz, Biss und Originalität. Mit liebevoller Ironie und immerwährendem Augenzwinkern schenkt sie ihrer Protagonistin einen letzten großen Auftritt, der es in sich hat.

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Seitenzahl: 377

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Irene Diwiak, geboren 1991 in Graz, ist eines der großen Erzähltalente ihrer Generation. Für ihre literarischen Texte sowie ihre Theaterstücke wurde sie vielfach ausgezeichnet. Ihr Debütroman »Liebwies« stand bereits auf der Shortlist für den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises. Es folgten ihre Romane »Malvita« sowie »Sag Alex, er soll nicht auf mich warten«.

»Es ist ihr gelungen, die längst ikonischen Scholls und ihr Umfeld nicht unerreichbar fern wirken zu lassen, sondern lebensnah mit ihren Ängsten und auch Macken zu schildern.« Süddeutsche Zeitung, Antje Weber über »Sag Alex, er soll nicht auf mich warten«

»Irene Diwiak hat eine gute Mischung aus historisch Verbürgtem und kleinen fiktionalen Freiheiten, solider Recherche und emotional bewegenden Passagen gefunden.« Literaturhaus Wien, Sebastian Fasthuber über »Sag Alex, er soll nicht auf mich warten«

»Irene Diwiak [gelingt es], einen neuen berührenden Blick auf die berühmte Widerstandsgruppe zu werfen.« Kronenzeitung, Franziska Trost, über »Sag Alex, er soll nicht auf mich warten«

www.cbertelsmann.de

IRENE DIWIAK

DIE ALLER LETZTE KAISERIN

Roman

Im Glossar ab S. 297 finden sich Erklärungen zu den verwendeten österreichischen Begriffen.

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Copyright © 2024 C.Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagabbildungen: © Mondadori Portfolio/Bridgeman Images; © G. Dagli Orti/© NPL – DeA Picture Library/Bridgeman Images; © Anelina, gillmar, Reinhold Leitner/shutterstock

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28677-4V001

www.cbertelsmann.de

»Alles ist besser als die Wahrheit.«

KAISERFRANZJOSEPH(NACHDERTRAGÖDIEVONMAYERLING, 1889)

VORWORT DER AUTORIN CLAUDIA HENDL

Ich hatte niemals vor, ein Buch zu schreiben.

Vor Kurzem noch wäre mir allein beim Gedanken daran schlecht geworden. Ehrlich gesagt, mir ist jetzt gerade auch ein wenig schlecht.

Schon in der Schule habe ich Aufsätze verabscheut. Jeden Herbst wieder »Mein schönstes Ferienerlebnis«, und alle haben von ihren tollen Urlauben berichtet, bloß ich, die Dorfwirtstochter, habe den ganzen Sommer über nur im Wirtshaus ausgeholfen. Nicht, dass es davon nichts zu berichten gegeben hätte. Aber nachdem ich einmal in meinem Aufsatz einen Betrunkenen erwähnt habe, den ich mithilfe eines Besenstiels hinauskomplimentierte, hat Frau Krumbacher, die Deutschlehrerin, meine Mutter in die Schule beordert und mit ihr ein langes, ernstes Gespräch geführt. Seitdem bestand meine Mutter darauf, meine Schulaufsätze zu kontrollieren, bevor ich sie abgab. Ich sollte doch lieber darüber schreiben, wie ich mit meiner Freundin Dani an den Stausee geradelt bin, schlug meine Mutter vor, und dass ich dort einen Fisch gesehen hätte, der riesengroß gewesen wäre, und so weiter und so fort. Nur hat das alles gar nicht gestimmt, weil meine Freundin Dani die Sommerferien immer in so einem Camp für hochmusikalische Kinder verbrachte und Geige spielte. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass es Frau Krumbacher sicherlich auffallen würde, wenn sie nacheinander unsere beiden Aufsätze korrigierte und in dem einen von Mozart, in dem anderen hingegen von Riesenfischen die Rede wäre. Daraufhin meinte meine Mutter, ich sollte eben schreiben, dass ich allein am Stausee gewesen wäre. So einfach war das für sie. Aber auch das wollte ich nicht, weil es doch immerhin genauso eine Lüge gewesen wäre. Meine Mutter seufzte nur und zwang mich von diesem Tag an, mindestens ein Mal jeden Sommer allein an den Stausee zu radeln, damit ich über irgendetwas schreiben konnte. Nur Fische habe ich dort nie gesehen, und schon gar keine riesengroßen.

Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass dieser jährliche Sommererlebnis-Aufsatz der Hauptgrund dafür gewesen ist, dass ich so früh die Schule verlassen und hauptberuflich in der Gastwirtschaft meiner Eltern zu arbeiten angefangen habe. Wäre ich länger zur Schule gegangen, hätte ich wahrscheinlich auch irgendwann in der Gastwirtschaft meiner Eltern zu arbeiten angefangen, man darf Frau Krumbacher also keine allzu harschen Vorwürfe machen.

Im Übrigen ist das alles vollkommen irrelevant. Ich erzähle es nur, um Ihnen begreiflich zu machen, dass es kaum schlechtere Voraussetzungen für eine Schriftstellerin gibt, als ich sie mitbringe. Dass ich nun doch irgendwie zu einer geworden bin, liegt ausschließlich daran, dass ich eine Geschichte geschenkt bekommen habe. Im ersten Moment ist mir auch gar nicht bewusst gewesen, dass es so eine richtige Geschichte ist. Ich habe meinen Eltern davon erzählt und später auch meiner besten Freundin Dani am Telefon, und sie alle haben gesagt: »Claudia, das ist eine Geschichte, darüber müsstest du ein Buch schreiben!«

Und nun ist es ja meistens so, dass, wenn Leute sagen, über irgendetwas müsste ein Buch geschrieben werden, in Wahrheit überhaupt kein Buch darüber geschrieben werden sollte. Mein Vater zum Beispiel sagt sehr oft: »Jetzt bin ich schon so lange Gastwirt, ich könnte ein Buch darüber schreiben.« Und dann erzählt er so etwas wie: »Letztens zum Beispiel, da wollte der Witzecker-Karl doch tatsächlich die Zeche prellen und durchs Klofenster hinaus. Nur hat er in seinem Suff halt vergessen, dass sich direkt unter unserem Klofenster der Komposthaufen befindet. Da sitzt der Witzecker-Karl doch tatsächlich nudeldicht im Komposthaufen, haha. Ich müsste wirklich ein Buch darüber schreiben.« Doch was wäre das denn bitte für ein Buch: Der Witzecker-Karl sitzt nudeldicht im Komposthaufen und Schluss? Vielleicht reicht das für eine Kurzgeschichte oder so, aber doch niemals für ein ganzes Buch. Und deswegen ist aus meinem Vater auch nie ein Schriftsteller geworden.

Bei mir ist es anders, weil ich eben eine Geschichte geschenkt bekommen habe, die tatsächlich Stoff für ein ganzes Buch bietet. Und geschenkt hat sie mir eine Frau namens Johanna Fialla. Deswegen sollte ich vielleicht am besten mit Frau Fialla beginnen.

Es war im Oktober oder November 2016. Ganz genau weiß ich es nicht mehr, nur dass die Sommersaison längst vorbei gewesen ist und die Skisaison noch nicht angebrochen. Im Sommer haben wir nämlich manchmal Tagesausflügler im Lokal wegen unseres Stausees und im Winter wegen unserer zwei Schlepplifte. Es sind aber nie besonders viele und in der Regel keine, über die sich ein Buch zu schreiben lohnte. Und im Herbst kommt normalerweise überhaupt niemand von außerhalb. Noch dazu war es Nachmittag, was heißt, dass die, die immer bei uns zu Mittag essen, schon gegangen waren und die, die ihr Feierabendbier bei uns trinken, erst kommen würden. Ich hockte also allein hinter der Bar, löste Sudokus und wartete darauf, dass die ersten Männer von der Arbeit kämen. Es war alles ruhig, wie immer im Herbst und am Nachmittag. Dann ging die Tür auf.

Herein trat eine alte Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Und das allein ist schon bemerkenswert, denn wenn man als Wirtshauskind in einem kleinen Ort wie dem unseren aufwächst, hat man eigentlich jeden schon einmal gesehen. Unser Dorf liegt so zwischen den Bergen eingepfercht, dass es recht schlecht zu erreichen ist, und dann sind die Berge zu wenig eindrucksvoll und das Dorf selbst zu wenig pittoresk, als dass sich die Mühe wirklich lohnt. Die meisten kommen in unser Gasthaus, weil sie in der Gegend wohnen, und sind Stammgäste. Aber sogar bei den wackeren Tagesausflüglern, die nur ein einziges Mal hier auftauchen, hat man immer das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Irgendwie sind ja alle Menschen gleich. Doch diese Frau war anders. Als Erstes stach mir ihre altertümliche Kleidung ins Auge. Sie trug einen großen grünen Hut mit einer riesigen weißen Feder obendrauf, sodass ihr Gesicht darunter winzig wirkte und überhaupt wie eine gepuderte Rosine aussah, klein und zerknautscht. Außerdem hatte sie einen bodenlangen grauen Staubmantel an, in dem sie geradewegs zu verschwinden drohte, weil sie selbst so kurz und schmal war. Und Handschuhe trug sie, obwohl es gar nicht kalt war. Da stand die Alte in ihrem Aufzug also in meiner Gaststube und schaute sich so hilflos um, dass ich sofort dachte: »Oje, die ist wohl aus einem Seniorenheim ausgebrochen, die weiß nicht mehr, wo sie ist.« Sofort ließ ich das Rätselheft sinken und kam hinter der Bar hervorgeeilt.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte ich laut und deutlich und so ein bisschen zu ihr hinuntergebeugt, damit sie mich auch ja hören konnte.

Die Alte schaute mich naserümpfend an.

»Freilich, junges Fräulein«, antwortete sie, »und zwar wären Sie mir erstens behilflich, indem Sie mich nicht anschreien.«

Nun fielen mir ihre stechend blauen Augen und die sehr spitze Nase auf, ein alles in allem sehr einschneidendes Gesicht. Und wie sie mich da so unter ihrer Hutkrempe hervor anfunkelte, musste ich an diesen Monty-Python-Sketch denken, in dem eine Clique alter Damen die Straßen unsicher macht und Passanten überfällt. So eine Dame war das.

»Na alsdann«, sagte die Alte befriedigt, nachdem ich sie eine Zeit lang verblüfft genug angestarrt hatte, »und jetzt nehme man mir Hut und Mantel ab.« Schon an den wenigen Worten, die sie bisher gesprochen hatte, war deutlich zu erkennen gewesen, dass sie aus Wien kam. Wir haben nicht oft Wiener hier, und vor allem nicht im Herbst, wo unsere Gegend noch reizloser ist als ohnehin, und schon gar nicht solche Wiener, die »alsdann« sagen, was wie »ois-donn« klingt. Ich wartete noch einen Augenblick lang auf das »bitte«, aber da die Alte mich gar so böse anschaute, zog ich ihr schließlich gehorsam den Mantel von den Schultern und nahm ihr den grünen Hut vom Kopf. Ein Haufen krauser, schneeweißer Locken kam zum Vorschein. Die Dame reichte mir ihre Handschuhe, die sich seidig und gleichzeitig ein wenig nach Plastik anfühlten, und ich verstaute sie in einer Tasche des Staubmantels. Während ich Hut und Mantel an der Garderobe anbrachte, beobachtete mich die Alte mit Adleraugen.

»Obacht, die Feder!«, tadelte sie einmal. Und als sie Hut und Mantel endlich sicher verwahrt wusste, sagte sie: »Man geleite mich nun zu einem Tisch!«

Also geleitete ich sie. Ich war immer noch einigermaßen verwundert, mittlerweile jedoch auch schon ziemlich amüsiert und vor allem dankbar, weil sich solche einsamen Sudoku-Herbst-Nachmittage sonst oft ziehen wie Schmelzkäse. Die Alte hakte sich bei mir unter. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als wäre der Fußboden aus Glas. Sie hatte Klotzschuhe an, die überhaupt nicht zu ihrer sonstigen Erscheinung passten, wahrscheinlich orthopädisch verschrieben. Vermutlich hätte sie auch einen Rollator gebraucht oder zumindest einen Stock, aber sie trug keinerlei Gehhilfe bei sich. Sie schien sich darauf zu verlassen, dass immer und überall irgendjemand sein würde, der sie »geleitete«.

Um der alten Dame einen unnötig weiten Weg zu ersparen, wollte ich sie am ersten Tisch nach der Garderobe platzieren. Bei uns sehen nämlich alle Tische gleich aus, Massivholz und groß genug für acht Personen, so richtige Wirtshaustische eben mit rot-weiß karierten Tischdecken, hellen Papierservietten und dunkelblauen Pappuntersetzern mit Bierwerbung drauf.

Während ich mit der alten Dame diesen ersten Tisch ansteuerte, blickte sie sich immer wieder nervös um, als suchte sie irgendetwas. Und gerade, als wir an dem auserwählten Tisch stehen geblieben waren und ich ihr einen Stuhl herauszog, damit sie Platz nehmen konnte, schien sie das Gesuchte gefunden zu haben. Missgünstig rümpfte sie die Nase.

»Geht es nicht … ein wenig feiner?«

»Na ja«, antwortete ich, »bei uns sind alle Tische gleich fein.«

»Aha«, sagte die Dame, »und was ist mit dem dort drüben?«

Dabei zeigte sie mit ihrem knochigen Finger auf einen Tisch weiter hinten, der haargenau so aussah wie alle anderen auch.

»Natürlich«, sagte ich, »der ist auch frei.«

»Na alsdann«, sagte sie.

Bei unserem Tempo dauerte es ewig, bis wir den gewünschten Tisch erreichten, die Dame tappte dennoch unverzagt vorwärts. Als wir endlich angekommen waren, setzte sie sich an die kurze Seite des langen Tisches und sah mich an, als wollte sie ein Festbankett geben.

»Die Speisekarte, junges Fräulein!«

Da ich schon weit über dreißig Jahre alt war, nahm ich das »junge Fräulein« als Kompliment. Ich brachte der Alten die Speisekarte und sagte übertrieben höflich: »Bitte sehr!« Sie nahm keinerlei Notiz von meiner gespielten Galanterie, sondern begann wortlos, mit ausgestreckten Armen und zusammengekniffenen Augen, die Karte zu studieren. Meinen Versuch, ihr etwas daraus vorzulesen, unterband sie sofort: »Junges Fräulein, ich mag alt sein, aber nicht senil.« Dann bestellte sie den panierten Zander und ein Glas Himbeerwasser. Ich ging in die Küche und gab meinem Vater, der bei uns Küchenchef war, die Bestellung weiter. Außerdem umschrieb ich ihm in wenigen Worten unseren illustren Gast. »Leut’ gibt’s« sagte mein Vater.

Als ich aus der Küche zurückkam und der alten Dame das Himbeerwasser hinstellte, starrte sie geistesabwesend an die gegenüberliegende Wand, einfach so vor sich hin und ins Narrenkastel, wie man bei uns so schön sagt. Da ich sie nicht stören wollte, setzte ich mich wieder auf meinen üblichen Platz hinter der Bar und löste mein Sudoku, bis mein Vater in der Küche auf die Glocke haute. Die Dame zuckte kurz zusammen und begann ungeduldig mit den Fingern auf die Tischdecke zu trommeln, als wäre ihr eben erst wieder eingefallen, dass sie eigentlich sehr hungrig war. Ich brachte ihr den Teller, auf dem appetitlich das Stück Zander in seiner goldenen Panier neben einem Häufchen Petersilerdäpfel lag. Die Alte inspizierte den Teller ausgiebig mit ihrem schneidend scharfen Blick, dann nickte sie und gab mir damit das Zeichen zum Rückzug. Ich tat, als würde ich mich wieder mit voller Konzentration meinem Sudoku widmen, beobachtete allerdings über den Rand des Rätselheftes hinweg immer wieder die alte Dame, wie sie das Fischfilet umständlich, doch mit einiger Eleganz so zerlegte, als handle es sich um einen ganzen Fisch mit Gräten. Erst als das Filet in winzige Stücke geschnitten war, begann sie zu essen. Zwischendurch schwenkte sie das Himbeerwasser, wie man sonst Rotwein oder Brandy schwenkt, und nahm davon winzige, vogelhafte Schlucke. Mittlerweile war es schon fast vier Uhr und wie erwartet kamen die ersten Arbeiter hereingeschneit. Mein Vater eilte aus der Küche und stürzte zum Zapfhahn. Damit war die ruhige Zeit vorbei, alles redete und lachte durcheinander, ich musste mir viele Geschichten über allerlei Probleme auf Baustellen anhören (»Ich könnt’ ein Buch darüber schreiben!«) und zwischendurch schlechte Witze über Blondinen. Die Arbeiter schienen die fremde Dame am hinteren Tisch gar nicht zu bemerken oder schenkten ihr zumindest keinerlei Beachtung, ich hingegen schielte immer wieder zu ihr hinüber. Die Dame hatte begonnen, hastiger zu essen und zu trinken, verschluckte sich sogar und hustete ein paar Mal, schließlich schallte ihre Stimme schrill und ungeduldig zu mir herüber: »Junges Fräulein, zahlen!« Als ich zu ihr kam, hatte sie bereits einen klein zusammengefalteten Zwanziger auf den Tisch gelegt und ließ sich das Restgeld bis auf den letzten Cent auszahlen.

»Hat es denn geschmeckt?«, fragte ich beim Abservieren, sie reagierte nur mit einem von mir nicht zu deutenden »Hm«.

Die Antwort konnte ich mir am nächsten Tag schließlich selbst geben, als die Dame wieder um die gleiche Uhrzeit hereintrat, mit demselben Hut auf dem Kopf und in denselben Staubmantel gehüllt, denselben Tisch verlangte und, nachdem sie eingehend die Speisekarte studiert hatte, erneut das Himbeerwasser und den panierten Zander bestellte. Danach starrte sie auch dieses Mal so lange ins Leere, bis ich ihr das Essen gebracht hatte. Gegen vier Uhr, als nach und nach die anderen Gäste eintrudelten, wurde sie wieder hektisch und verlangte kurz darauf die Rechnung.

Am Tag darauf geschah genau das Gleiche. Den Tag darauf auch. Und ebenso den Tag darauf. Nur am Sonntag war es ein bisschen anders, da kamen nämlich keine Arbeiter, und die Dame bestellte nach dem Hauptgang noch ein Stück Gugelhupf und eine »Schale Gold«, wie sie unseren Filterkaffee nannte.

Nachdem das etwa eineinhalb Wochen so gegangen war, wagte ich es, ihr vorzuschlagen, doch einmal etwas anderes zu bestellen als immer nur den panierten Zander. Die Dame blickte mich hochmütig an.

»Fisch ist gesund«, sagte sie, »wer täglich Fisch isst, wird hundertzwanzig Jahre alt.« Ich wollte ihr erklären, dass dies wohl nicht für diesen Fisch gelte, der erst in Mehl und Ei gewälzt und dann in massenhaft Öl herausgebrutzelt worden war, doch für solcherlei Fakten war sie nicht zugänglich. »Hundertzwanzig Jahre!«, wiederholte sie stur.

Nach drei Wochen fragte ich sie schließlich nach ihrem Namen.

»Johanna«, antwortete sie sofort, schien dann aber ein wenig nachdenken zu müssen.

»… Fialla«, fügte sie schließlich hinzu, allerdings mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck, als hätte sie von zwei Kuchenstücken das kleinere bekommen.

»Frau Fialla«, sagte ich, »ein sehr schöner Name. Ist das italienisch?«

Doch sie winkte nur ärgerlich ab und verlangte nach der Speisekarte, um dann wie immer den panierten Zander und das Himbeerwasser zu bestellen.

Einmal, es war schon Winter, hatte sich gegen Mittag eine kleine Gruppe Skifahrer in unser Wirtshaus verirrt. Sie nahmen ausgerechnet an jenem Tisch Platz, an dem Frau Fialla sonst zu sitzen pflegte, bestellten massenhaft Jagertee und saßen auch noch da, als Frau Fialla hereinkam, pünktlich zur selben Zeit wie immer. Im Übrigen trug sie auch bei Schneefall nur den Staubmantel, der keinesfalls warm genug sein konnte, dazu die seidigen Handschuhe und den Federhut. Als sie die Wintersportler nun auf ihrem Stammplatz hocken sah, presste sie die Lippen aufeinander und ihre kleinen Augen wurden noch kleiner. Einer der Skifahrer muss wohl die alte Dame bemerkt haben, die von der Garderobe aus zu ihnen hinüberstarrte, als wollte sie sie mit dem bösen Blick belegen – jedenfalls verlangte er unverzüglich nach der Rechnung. Die Skifahrer gingen und Frau Fialla bezog zufrieden lächelnd ihren Tisch. Jetzt konnte ich mir ein wenig Spott nicht mehr verkneifen.

»Na, Frau Fialla«, sagte ich, »das muss ja ein ganz besonderer Tisch sein, was?«

Sie schien den witzelnden Unterton gar nicht zu bemerken, sondern nickte todernst. Dann blickte sie sich um, als fürchtete sie in unserem Wirtshaus feindliche Spione, aber die Wintersportler waren ja längst geflohen und sonst war keiner da außer mir. Nachdem Frau Fialla sich dessen vergewissert hatte, zögerte sie zwar immer noch, schien dann jedoch zu beschließen, mich für vertrauenswürdig zu halten. Sie bedeutete mir mit ihrem lockenden Zeigefinger, dass ich näher kommen sollte. Ich trat also ganz dicht an sie heran und beugte mich ein wenig zu ihr hinunter, sodass sie mir ins Ohr flüstern konnte.

»Wissen Sie«, raunte sie, »er ist nämlich mein Urgroßvater!«

Und jetzt habe ich vergessen, etwas Wichtiges zu erwähnen. Unser Wirtshaus ist schon seit Ewigkeiten ein Wirtshaus und ebenso seit Ewigkeiten im Besitz meiner Familie, und wenn ich sage »seit Ewigkeiten«, meine ich seit fast zweihundert Jahren. Und irgendwann ist der Kaiser hier auf Besuch gewesen. Also, zumindest in unserem Dorf. Von den Schleppliften hat er zwar noch nichts gehabt und wohl auch vom Stausee nicht, aber als Herrscher eines so riesigen Staates bleibt einem eben nichts erspart und man muss auch die unattraktiveren Ecken seines Reiches von Zeit zu Zeit einmal aufsuchen. Der Kaiser dürfte sich seinen Aufenthalt bei uns dennoch ganz erträglich gestaltet haben, schließlich hatte er viel Freude am Jagen. Wälder gibt es in der Umgebung ja mehr als genug, und ich kann auch ganz gut nachvollziehen, dass einen hier die Lust packt, auf irgendetwas zu schießen.

Auf jeden Fall hängt in unserem Wirtshaus eine große Fotografie von Kaiser Franz Joseph, wie er stolz ein lächerlich langes Gewehr in Händen hält und mit seinem rechten Fuß einen abgeschossenen Hirsch auf den staubigen Boden unseres Dorfplatzes hinunterdrückt. Dieses Bild hing schon an dieser Wand, als meine Eltern das Wirtshaus von meinen Großeltern übernommen haben, es hing vermutlich auch schon dort, als meine Großeltern es von meinen Urgroßeltern übernommen haben, und weil es eben schon immer dort hängt, ist es mir nie richtig aufgefallen. Jetzt aber bemerkte ich, dass sich dieses Foto genau gegenüber von Frau Fiallas Stammplatz befand. Immer, wenn ich geglaubt hatte, Frau Fialla würde nur geistlos in die Leere starren, hatte sie in Wahrheit dieses Bild betrachtet. Und als sie nun sagte: »Er ist nämlich mein Urgroßvater«, deutete sie verschwörerisch mit dem Kinn in die Richtung des Kaisers.

Im ersten Moment dachte ich: »Da haben wir’s. Sie ist eben doch senil.«

Gleich darauf wurde mir jedoch bewusst, dass da durchaus etwas dran sein könnte. In meinem Hirn begann es zu rattern. Ich bin im Geschichtsunterricht fast genauso schlecht gewesen wie im Aufsätze-Schreiben. Daher versuchte ich gar nicht erst, mich an den Schulstoff zu erinnern, sondern dachte an diesen mehrteiligen Sisi-Spielfilm, den ich vor Jahren einmal um die Weihnachtszeit herum im Fernsehen gesehen hatte. Nicht den mit Romy Schneider, irgendeinen der unzähligen anderen. Kaiser Franz Joseph hatte dort mit seiner Sisi einige Kinder, namentlich erinnern konnte ich mich jedoch nur noch an einen Sohn, den Rudolf. Zwar jagte der sich im Laufe des dritten Teils eine Kugel in den Kopf, möglicherweise hatte er jedoch davor noch Kinder gezeugt, und seine in der Verfilmung im Hintergrund bleibenden Geschwister haben sich wohl auch irgendwann fortgepflanzt. Und eines dieser zahlreichen kaiserlichen Enkelkinder könnte nun also Frau Fiallas Mutter oder Vater gewesen sein.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Frau Fialla schien sehr zufrieden zu sein mit meinem perplexen Gesichtsausdruck.

»Jaja«, murmelte sie lächelnd, während sie sich den Mund mit einer unserer karierten Papierservietten abtupfte, »wäre es mit rechten Dingen zugegangen, wäre ich jetzt Ihre Kaiserin.«

Und dann schlug sie mir vor, dass sie mir gern alles von Anfang an erzählen könnte, wenn mich das interessierte. Es interessierte mich immerhin mehr als meine Sudokus oder das Fernsehprogramm, und etwas anderes wusste ich nach der Arbeit ohnehin nicht mit mir anzufangen, also sagte ich zu. Wir verabredeten uns für den nächsten Montag, denn montags haben wir Ruhetag und die Wirtschaft ist geschlossen. Ich hätte Frau Fialla gerne in die Wohnung hinauf eingeladen, aber sie meinte, dass sie sich hier in der Gaststube wohler fühlte, unter den Augen ihres Urgroßvaters. Da wagte ich natürlich nicht, zu widersprechen.

Als ich später am Abend meinen Eltern von meiner Unterredung mit Frau Fialla erzählte, deutete mein Vater mit der Hand einen Scheibenwischer vor den Augen an und sagte wieder: »Leut’ gibt’s!« Meine Mutter hingegen dachte weitaus wirtschaftlicher. Wenn an der Geschichte etwas dran wäre, meinte sie, wäre das ja großartig fürs Geschäft. Dann müsste man unbedingt die Lokalpresse informieren und vielleicht sogar die Kronen Zeitung und ein Foto von Frau Fialla schießen lassen, wie sie unter den Augen ihres gekrönten Urgroßvaters unseren panierten Zander verspeist. Wenn öffentlich bekannt würde, dass eine echte Adelige bei uns verkehrte, eine Prinzessin gar, würden wir uns bald nicht mehr retten können vor Kundschaft. Mein Vater verdrehte die Augen und ging schlafen. Meine Mutter war indessen ausgesprochen munter und redete begeistert weiter auf mich ein: Unbedingt sollte ich das Gespräch mit Frau Fialla aufzeichnen, denn bei einer so alten Frau, Gott behüte natürlich, aber man wüsste ja nie … Na, und im Fall des Falles hätten wir dann zumindest noch einen Audiobeweis!

Ich fand die ganze Aufregung ein wenig übertrieben, stimmte letztendlich jedoch zu, das Gespräch aufzuzeichnen, sofern Frau Fialla mir ihr Einverständnis dazu geben würde. Meine Mutter ging an diesem Abend äußerst vergnügt zu Bett, und es würde mich nicht wundern, wenn sie in dieser Nacht schon von »Kaisertellern« und »Erzherzoginnenmenüs« in unserer Speisekarte geträumt hätte.

Zufällig telefonierte ich am nächsten Tag mit Dani, meiner ehemaligen Schulfreundin, die mit der Geige. Sie lebt jetzt in Wien und arbeitet für einen kleinen Verlag, der vor allem Autobiografien von wichtigen Menschen herausbringt. Deshalb trifft Dani auch ständig Berühmtheiten und erlebt pausenlos aufregende Dinge, von denen sie mir dann in regelmäßigen Abständen am Telefon berichtet. So war es auch diesmal, und wie immer sagte sie irgendwann: »Aber genug von mir, was gibt’s bei dir Neues, Claudia?«, obwohl sie natürlich wusste, dass es bei mir nie etwas Neues gab. Irgendetwas musste ich ihr allerdings erzählen, also begann ich, von Frau Fialla zu sprechen. Nachdem ich in aller Kürze ihr außergewöhnliches Erscheinungsbild und ihre womöglich hochadelige Abstammung dargelegt hatte, war es am anderen Ende der Leitung für einige Sekunden still. Und das passierte selten. »Wenn das wirklich wahr ist«, sagte Dani schließlich und lachte ein wenig ungläubig, »dann musst du ein Buch darüber schreiben!« Und Dani ist immerhin vom Fach und hat schon ein bisschen Ahnung davon, was wirklich drinzustehen hat in so einem Buch.

Meine Eltern sind nicht vom Fach, die Idee mit dem Buch fanden sie trotzdem ganz großartig. Mein Vater hatte schließlich gerade erst irgendwo gelesen, wie viel Geld Stephen King in seinem Leben gescheffelt hatte. »Unsereiner muss für einen Bruchteil davon ein Leben lang richtig arbeiten«, empörte er sich. Aber wenn ich mit einem läppischen Buch so viel verdienen würde, wäre das für ihn selbstverständlich in Ordnung. Ihm fielen sogar gleich einige Dinge ein, die am Wirtshaus dringend renoviert werden mussten. Ich erinnerte meine Eltern an das Dilemma mit den Schulaufsätzen, meine Mutter jedoch entgegnete: »Das ist etwas komplett anderes! Die Geschichte von der Fialla ist ja wahr!« Und damit hatte sie natürlich recht. Ich würde einfach alles Wort für Wort auf Papier bringen, was auf den Sprachaufnahmen zu hören war. Im Grunde wäre ich also keine richtige Schriftstellerin, sondern nur eine Art sprachbetriebene Schreibmaschine für Frau Fialla. Und eine sprachbetriebene Schreibmaschine zu sein, das traute ich mir zu.

Am darauffolgenden Montag stieg ich also in die für Gäste geschlossene Wirtsstube hinunter, backte einen Gugelhupf und bereitete den panierten Zander vor. Frau Fialla kam nachmittags zur selben Zeit wie immer, ließ sich Hut und Mantel abnehmen und zu ihrem Stammplatz in Blickweite des Kaisers führen. Diesmal verlangte sie nicht nach der Karte, das Himbeerwasser stand schon bereit.

»So, junges Fräulein«, sagte sie, nachdem sie Platz genommen hatte, »wenn ich Ihnen alles von Anfang an erzählen soll, muss ich aber zuerst auch Ihren Namen wissen!«

Ich nannte ihn und setzte mich gespannt ihr gegenüber.

»Also, Fräulein Claudia«, begann Frau Fialla, doch bevor sie weitersprechen konnte, fiel mir der Auftrag meiner Mutter ein.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie jetzt schon unterbreche, Frau Fialla, aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«

Zu meiner großen Überraschung hatte Frau Fialla nicht nur nichts dagegen, sie schien sogar hocherfreut zu sein. Sofort hielt sie Ausschau nach technischer Ausstattung, die ich wo auch immer im Raum deponiert haben könnte, nach großen Kameras und Mikrofonen. Als ich lediglich mein Mobiltelefon auf die Tischfläche legte, blickte sie ziemlich enttäuscht drein.

»Und das reicht?«, fragte sie. Ich erklärte ihr, dass in so einem Handy heutzutage mehr hochleistungsfähige Technik verarbeitet wäre als bei jenen Computern, die die erste Mondlandung gesteuert hatten.

»Die erste Mondlandung«, wiederholte Frau Fialla, »habe ich verschlafen.«

Sie sagte es in einem Tonfall, als wäre der ersten Mondlandung schon allein durch diesen Umstand keine größere Bedeutung beizumessen. Dennoch sah sie ein, dass sie heute mit meinem Handy vorliebnehmen musste, und seufzte.

Ich rückte sogleich mit meiner zweiten wichtigen Frage heraus: »Was würden Sie davon halten, wenn ich ein Buch über Sie schriebe?«

Frau Fialla ließ die Gabel sinken und blickte mich an. Ich hatte nicht gewusst, dass ihre Augen so groß werden konnten.

»Ja«, sagte sie, ihre Stimme war ganz leise vor Ehrfurcht, fast nur ein Hauchen: »Ein Buch. Ja. Das habe ich mir auch schon gedacht. Ein Buch.«

Dann fragte sie, ob man dieses Buch auch verfilmen würde. Ich lachte und antwortete, dass das wohl nicht in meiner Macht stünde. Sie nickte, ohne auch nur den Ansatz eines Lächelns zu zeigen: »Das Kino ist ohnehin furchtbar vulgär, finden Sie nicht?« Ich nickte, obwohl ich seit Jahren nicht mehr im Kino gewesen war. Frau Fialla schien zufrieden.

»Also, Fräulein Claudia«, setzte sie von Neuem an, »jetzt passen Sie gut auf. Denn so eine Geschichte haben Sie noch nie gehört.«

Und was soll ich sagen? So eine Geschichte hatte ich tatsächlich noch nie gehört.

Dieser eine Tag reichte natürlich bei Weitem nicht aus, um auch nur in Ansätzen alle Kuriositäten aus Frau Fiallas Leben zu erfahren. So saßen wir von da an Montag um Montag stundenlang beieinander und Frau Fialla erzählte.

So entstand also Stück für Stück jenes Buch, das Sie nun in Händen halten. Sie haben es vermutlich für gutes Geld im Buchhandel erworben oder in einer Bibliothek entliehen, oder aber es ist ein Geschenk einer älteren Verwandten gewesen, die noch Wert auf »sinnvolle Geschenke« legt. So oder so möchte ich es mir mit Ihnen nicht verscherzen, indem ich jetzt schon alles verrate und damit die eigentliche Lektüre verderbe. Nur so viel kann ich vorausschicken: Ein Aufsatz über Riesenfische im Stausee ist harmlos im Vergleich zur Biografie der Johanna Fialla. Wenn ich von Anfang an gewusst hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich mich womöglich gar nie dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Doch einerseits wollte ich mein Versprechen Frau Fialla gegenüber nicht brechen, andererseits hatte ich bald schon zu viel Zeit und Arbeit in dieses Buch gesteckt, um einfach aufzugeben. Und ja, ich gebe zu, manchmal dachte ich auch daran, was mein Vater über Stephen King und seine Einkünfte erzählt hat.

Nun wissen Sie jedenfalls alles, was Sie wissen müssen, um endlich mit der eigentlichen Lektüre beginnen zu können, nämlich mit der bemerkenswert merkwürdigen Lebensgeschichte der allerletzten Kaiserin.

DAS WICHTIGSTE VOM ANBEGINN BIS ZUR EMPFÄNGNIS DER JOHANNA FIALLA

Also, Fräulein Claudia, jetzt passen Sie gut auf. Denn so eine Geschichte haben Sie noch nie gehört.

Wo soll ich anfangen? Am Anfang? Nur ist die Geburt doch kein Anfang. Höchstens der Anfang vom Ende. Das Entscheidende hingegen entscheidet sich viel früher.

Vielleicht sollte ich beim Bruderzwist anfangen oder bei Rudolf dem Ersten, der die Stammburg in der heutigen Schweiz verlässt und Kaiser wird. Aber dann wiederum bin ich weit über neunzig Jahre alt. Und mit Verlaub, Fräulein Claudia, Sie sehen auch nicht mehr ganz frisch aus. Daher sparen wir uns lieber die Zeit. Sie können das alles ohnehin in jedem Geschichtsbuch nachlesen, möglicherweise finden Sie es ja sogar in Ihrem Internet.

Ich beginne also besser bei meinen Großeltern. Mein einer Großvater war nämlich der Kronprinz Rudolf. So, jetzt ist es heraußen. Aber zu dem komme ich später.

Mein anderer Großvater war ein Pionier. Wissen Sie, das gibt es manchmal, ganz selten: Menschen, die sehr bedeutend sind, allerdings nur aufgrund ihrer Taten. Mein Großvater mütterlicherseits war so einer. Genauer gesagt war er ein Radfahrpionier. Als einer der Ersten überhaupt ist er auf einem waschechten Fahrrad durch Wien gerast. Damals war er freilich noch bitterarm und musste es sich selbst zusammenbauen aus Schrott und Küchenrat und so weiter. Schön gescheppert muss das haben, aber da ein geräuschlos dahingleitendes Fahrrad damals im Allgemeinen als große Gefahr galt, im Gegensatz etwa zu den Fiakern, die am Pferdegetrampel und dem Rülpsen der Kutscher schon von Weitem zu hören gewesen sind, war dieser Lärm durchaus erwünscht. Eine Zeit lang gab es sogar ein Gesetz, welches vorschrieb, dass jeder Fahrradfahrer alle paar Sekunden die Klingel zu betätigen hätte, um andere Verkehrsteilnehmer vor sich zu warnen. Das ging gut, solange nur wenige Leute, die Pioniere eben, mit dem Fahrrad fuhren. Als aber immer mehr und mehr Menschen zu Fahrradfahrern wurden, hat man dieses ohrenbetäubende Gesetz abgeschafft. Jetzt wissen Sie das auch, Fräulein Claudia.

Mein Großvater mütterlicherseits jedenfalls war nicht nur ein Pionier, sondern auch geschäftstüchtig und heiratete ein Mädchen mit Mitgift und dem Namen Else. Er selbst übrigens hieß Schleyermann, Alois Schleyermann, und mit Elses Geld und eigenem Eifer gründete er die Schleyermann-AG, was ein Geschäft für Fahrräder und Nähmaschinen war. Die Nähmaschinen bräuchte es, dachte mein Großvater, um eine weibliche Käuferschaft anzuziehen, bei dem die Kronen traditionell lockerer sitzen als bei den Herren. Also, die Kronen in den Brieftaschen, nicht in den Zähnen. Sehr schnell jedoch zeigte sich, dass die häuslichen Verlockungen einer Nähmaschine die Damenwelt weitaus weniger reizten als die Aussicht auf eigene Mobilität. Und schon bald sah man meine Großmutter Else in Puffhosen durch die Straßen radeln, als lebende Reklame sozusagen. Da allerdings hatte mein Großvater, Pionier, wie er war, eigentlich schon ganz andere Dinge im Sinn. Voller Inbrunst und Finanzkraft wandte er sich den motorisierten Fahrzeugen zu, den Motorrädern zuerst, und schließlich den Automobilen. Da staunten sie wieder nicht schlecht, die Wiener, den einst so arm dahinscheppernden Fahrradbastler auf dem pferdelosen Kutschbock solch einer rauchenden und puffenden Maschine zu erspähen. Außerdem eröffnete mein Großvater die erste Autofahrschule Wiens, und seine erste Schülerin war, natürlich, seine Frau. Wenn Else nun mit dem Auto herumkurvte, im feinsten Sonntagskleid und mit prächtigem Hut und Handschuhen und allem Drum und Dran, holla, das war ein Auflauf dann, nur zu vergleichen mit dem Korso auf der Ringstraße zu Mittag. Der Mittagskorso, Fräulein Claudia, der ist Ihnen doch ein Begriff? Also, da sind die Schönen und Reichen auf der Prachtstraße spazieren gegangen und die weniger Schönen und Reichen haben gegafft. So war das damals. Und meine Großeltern waren natürlich schön und reich und haben immer gewusst, wen man wie zu grüßen hatte und welcher Gräfin man ein besonders unehrliches Kompliment zu ihrer Garderobe aussprechen musste, um noch schöner und reicher zu werden. Das war, als der Pioniergeist mit dem Alter langsam nachließ, das Geheimnis ihres Erfolges.

Ausgerechnet das Jahr neunzehnhundert haben meine Großeltern dann auserkoren, um Leben in die Welt zu setzen. Man kann es ihnen nicht übelnehmen, so ein Jahrhundertwechsel reizt zu Naivität. Mein Großvater hätte gerne einen Erben gehabt, doch meine Großmutter gebar ihm Zwillinge des völlig falschen Geschlechts. Zu allem Überfluss wäre sie dabei beinahe draufgegangen. Sie ging dann zwar doch nicht drauf, aber Kinder kriegen konnte sie hinterher auch keine mehr, und Alois Schleyermann musste sich also zufriedengeben mit seinen beiden Mädchen.

Das ältere hieß Klara und war meine Tante Klara.

Das jüngere hieß Katharina und war meine Mutter. Ich selbst habe sie ebenfalls immer nur »Katharina« genannt und nicht etwa »Mama« oder »Mutti«, was seine Gründe hat, dazu komme ich später.

Klara und Katharina Schleyermann waren glückliche Kinder, weil sie in ein großes Haus an der noblen Ringstraße hineingeboren worden sind, mit Stuck an der Decke und Goldrändern am Geschirr. Samstags ließen sie sich zum Einkaufen chauffieren, manchmal unter großem Hallo von der eigenen Mutter, die hoheitlich hinter dem Lenkrad hervorgrüßte, meist aber standesgemäß von einem Chauffeur. Sonntags fuhren sie alle samt Großvater zum Gottesdienst im Stephansdom, damit nur ja jeder sehen konnte, dass sie auch wirklich keine Juden waren. Und im Sommer ging’s ins Salzkammergut, wo man den Kaiser beim Spazierengehen beobachten konnte, wenn man früh genug aufstand. Mit seiner steifen Hüfte hatschte der, das ist noch von Bedeutung, dazu komme ich ebenfalls später.

Da fällt mir ein, vielleicht sollte ich Ihnen beschreiben, wie all die Leute ausgesehen haben, von denen ich erzähle, damit Sie sich das auch richtig vorstellen können. Wie der Kaiser aussieht, wissen Sie ja. Zum Kronprinz Rudolf komme ich noch. Vom Rest meiner Familie gibt es einige Fotografien, nur leider sind diese allesamt in dem Haus zurückgeblieben, das jetzt meinem dämlichen Cousin gehört, und mit dem spreche ich nicht mehr. Zum Glück aber habe ich ein wunderbares Gedächtnis.

Mein Großvater Alois war ein stattlicher Mann mit einem gewaltigen Bart und einem gewaltigen Bauch, wie ein Mann von Welt damals beides zu tragen pflegte. Weil er ein wenig zum Abmagern neigte, auch wegen dem vielen Radfahren, mussten ihn die böhmischen Köchinnen häufig mit Knödeln mästen. Später, als er sich ganz und gar den Automobilen verschrieben hatte, magerte er zwar nicht mehr ab, Knödel aß er trotzdem noch gern und ausgiebig.

Meine Großmutter Else war klein und blond und als junge Frau bestimmt das, was man eine Augenweide nannte, und im Grunde eine Pionierin wie ihr Mann. Nur leider hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, in Würde zu altern, was so viel hieß, wie Jahr für Jahr ein wenig unscheinbarer zu werden und schließlich ganz aufzugehen in der absoluten Durchsichtigkeit. In meiner Erinnerung ist sie bereits ziemlich alt und grau, lenkt keine Autos mehr und tut auch sonst nichts, was nur irgendwie für ein bisschen Aufmerksamkeit sorgen könnte. Wenn sie etwas sagte, dann ausschließlich mit leiser Stimme, aber viel häufiger seufzte sie ganz unvermittelt, und man wusste dann nie recht, worüber. Ob sie das schon als junge Frau getan hat oder ob das Seufzen erst eine Folge ihres würdigen Alterns gewesen ist, weiß ich leider nicht.

Meine Tante Klara und meine Mutter Katharina waren wie gesagt Zwillingsschwestern und eineiig, und bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr glichen sie einander tatsächlich wie ein Ei dem anderen: Sie hatten ebenmäßige, weiße Katzengesichter, mit hellen Mandelaugen, spitzen Stupsnäschen und weißblonden Locken, in die riesige Stoffschleifen gedreht wurden wie Propeller. Das weiß ich so genau, weil meine Großeltern ihre Zwillinge einmal im Jahr in den Prater und dort in das Atelier einer Fotografin schleppten. Da wurden die Mädchen dann vor Vorhängen und künstlichen Blumen und so weiter hübsch drapiert, und niemand hätte sagen können, wer von den beiden nun Klara war und wer Katharina.

Nun ja, dann brach zugleich mit ihrer Backfischzeit ein Weltkrieg aus, der später leider »der Erste« genannt werden musste. Und schon ein Jahr nach Kriegsbeginn hätte kein Uneingeweihter mehr die beiden Schwestern auch nur im Entferntesten für Zwillinge halten können.

Meine Tante Klara wurde nämlich ein Blaustrumpf. Wissen Sie, was das ist, ein Blaustrumpf? Also, das ist eine Dame von Welt, die sehr belesen und gebildet ist, und dies auch jedermann wissen lässt. So trug meine Tante beispielsweise schon bald eine Brille, obwohl sie gar keine benötigte, es war bloß so ein Drahtgestell mit Fensterglas drin. Später, als ihre Sehkraft nachließ und sie dann tatsächlich eine Brille gebraucht hätte, wurde sie eitel und trug keine mehr. So war sie eben, meine Tante Klara. Damals aber tauschte sie willfährig ihre Seidenkleider gegen die alten Radfahrhosen ihrer Mutter ein und legte Wert darauf, Tag für Tag dieselbe trostlose Flechtfrisur zu tragen. Jeden Nachmittag ging sie zu einem Vortrag oder einer Lesung, um dort mit Männern zu diskutieren. Das war überhaupt das Einzige, was Klara damals an den Männern interessierte: eine gesalzene Meinungsverschiedenheit. Während eines psychoanalytischen Vortrags über den Penisneid, jetzt kichern Sie nicht so juvenil, Fräulein Claudia, so heißt das eben!, während eines solchen Vortrags also ist Klara einmal von ihrem Sitzplatz aufgesprungen und anschließend dem Herrn Doktor Freud so vehement und langatmig ins Wort gefallen, dass er sich kurz darauf mit einer Rechnung für eine Behandlungsstunde revanchierte. Er wäre durchaus daran gewöhnt, überspannten jungen Damen zuzuhören, schrieb er in seinem Begleitbrief, nur täte er das eben nicht gratis. Mein Großvater fürchtete einen Skandal und zahlte. Dann war er einige Tage lang sehr böse auf Klara, aber ansonsten war er trotz allem vernarrt in sie, weil sie wiederum in die geschäftlichen Angelegenheiten vernarrt war. Tante Klara wurde der Sohn, den mein Großvater nie hatte, und obwohl sie artgerecht eine Schule für höhere Töchter besuchte, war sie in Wahrheit sein Lehrling im Geschäft sowie seine rechte Hand. Und klug ist sie ja schon irgendwie gewesen, die Tante Klara.

Katharina war anders. Sie interessierte sich für nichts anderes als das, was im weitesten Sinne mit Eheanbahnung zu tun hatte, das heißt also Kleider, Schmuck, Modefrisuren, den Krieg mit all seinen schneidigen Soldaten, Blumen und dergleichen. Während Klara durch die Vortragssäle der Stadt zog, lag Katharina zu Hause auf dem Kanapee und las Romane, in denen Frauen stets holde Jungfern und die Männer tapfere Ritter waren, und alles hieß Adelgunde oder Adalbert, sodass ihnen die Noblesse schon aus den Vornamen triefte. Dann musste Katharina immer daran denken, dass es Dinge in der Welt gab, die nicht einmal ihr Vater mit all seinem Geld kaufen konnte, und daraufhin seufzte sie herzerweichend.

In der Wiener Gesellschaft war man sich einig, dass Katharina die Begehrenswertere der beiden Schwestern wäre, wenn auch leider ein wenig albern. Aber über Klara sagte man ebenfalls, dass sie ein wenig albern wäre, und überhaupt war es damals als junges Mädchen völlig unmöglich, nicht albern zu sein. Und auch später, meine Güte, was die Leute über mich nicht alles gesagt haben, na ja, dazu komme ich noch. Jedenfalls galt Katharina als ausgesprochen gute Partie und hatte deshalb viele Verehrer, von denen bedauerlicherweise kein einziger ein Ritter war.

Und nun komme ich zum zweitwichtigsten Ereignis in meinem Leben, obwohl ich da noch gar nicht auf der Welt war. Aber das meinte ich vorhin: Mit der Geburt hört ja alles auf!

Also, es war ein hübsch verschneiter Abend im Jänner neunzehnhundertachtzehn. Ein dreißigster Jänner, um genau zu sein, merken Sie sich das gut, das ist ein bedeutsames Datum. Die Zwillingsschwestern Schleyermann wurden als Aufputz zu irgendeiner Feierlichkeit auf ein Schloss beordert, wo Kriegshelden ausgezeichnet werden sollten. Die Mädchen freuten sich beide darauf, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Klara hoffte, mit einem erfahrenen General über strategische Kriegsführung diskutieren zu können. Katharina hoffte auf einen Adeligen. Zu diesem Zweck hatte sie sich ein neues Kleid anfertigen lassen, in der Farbe von Erdbeerdessertcreme, und trug Perlen wie Zuckerl auf ihrem Busen, den sie mit Watte und zerknüllten Tüchern ein wenig üppiger gestaltet hatte. Tante Klara war scheußlich angezogen wie immer und taugte wenig zur Konkurrenz. Die Schwestern bekamen das schönste Auto und den diskretesten Chauffeur zur Verfügung gestellt und fuhren durch das Schneetreiben hinaus zu diesem Schloss. Als sie dort ankamen, stellte sich allerdings erst mal alles als große Enttäuschung heraus. Die Schwestern schritten würdevoll durch das herrschaftliche Tor hinein – und fanden sich in einem Lazarett wieder.

Nein, bitte, rief eine Rotkreuzschwester mit blutiger Schürze, sie müssten sich geirrt haben, die Feierlichkeiten zu Ehren der Kriegshelden fänden im Nebenzimmer statt.

Die Krieger, die keine Helden waren, stöhnten und schrien dazu in ihren Betten, »Ruhe!«, brüllte die Krankenschwester.

Das Nebenzimmer stellte sich tatsächlich als Festsaal heraus, mit Rosenschmuck und livrierten Dienern ausstaffiert, allerdings fand Katharina es etwas staubig und muffig, und jedes Mal, wenn das Streichquartett zu spielen aufhörte, drangen die unappetitlichen Geräusche vom Krankenzimmer herüber. Die Helden hier unterschieden sich aber auch gar nicht allzu sehr von den Krüppeln nebenan, fand Katharina, nur dass diese hier gerade so noch aufrecht stehen konnten. In den Gesichtern jedoch waren sie genauso kränklich und verhärmt wie die anderen, die prachtvollen Paradeuniformen hingen freudlos an ihren hageren Körpern herunter. Mit einem Ausdruck sturer Tapferkeit ließen diese sogenannten Helden alle Würdigungen über sich ergehen, und Katharina lauschte konzentriert auf die Namen, nur um enttäuscht festzustellen, dass kein einziger »von« oder »zu« dabei war. Und selbst der, der die Orden ansteckte, war nur ein einfacher Freiherr. Katharina gähnte in ihren Fächer hinein. Nachdem die notwendige Pein der Ehrbekundungen vorüber war, begann das Streichquartett wieder zu spielen, mit demselben musikalischen Übereifer, mit dem nur wenige Jahre zuvor die Kapelle auf der sinkenden Titanic gespielt haben muss.

Als Katharina von einem der frisch ausgezeichneten Helden zum Tanz gebeten wurde nahm sie die Aufforderung artig an, dafür war sie ja immerhin hergekommen. Aber sie kamen nicht recht in Schwung, ihr Kavalier war zittrig und Katharina in ständiger Sorge, ihr Kleid könnte dreckig werden. Sie fürchtete, an seinen Händen würden immer noch die Spuren des Schützengrabens kleben, in seinem Gesicht sah’s nämlich so aus. Und immerfort blickte er ihr so unverschämt in den Ausschnitt, oder vielleicht gierig auf die Perlen, die darüber baumelten, oder gedankenverloren durch sie hindurch. Überhaupt, dachte Katharina, so hatte sie sich den Krieg nicht vorgestellt damals, als sie am Bahnhof Fähnchen schwingend die ersten Soldaten verabschiedet hatte, Serbien muss Sterbien und so weiter, geblieben ist davon nichts als ein hinkender Lamourhatscher. Lamourhatscher, Fräulein Claudia, so sagt man in Wien zu einem sehr langsamen Tanz. Und ein wenig eifersüchtig hat Katharina über die Schulter ihres Tänzers hinweggelugt und Klara beobachtet, die so viel weniger fehl am Platz wirkte, wie sie mit ihren großen Schritten den Saal durchmaß, gefolgt von einem Schwall Soldaten. Dabei redete sie temperamentvoll und gestikulierte, und die Männer, plötzlich zu neuen Kräften erwacht, antworteten ebenso lebhaft. Klara passte hervorragend hierher, dachte Katharina bitter, sogar ihre mausgraue Aufmachung hatte etwas von Feld, eine Feldmaus mit völlig nutzlosen Brillengläsern.

Nachdem das erste Stück verklungen war, sagte Katharina zu ihrem Tänzer, sie wäre jetzt müde und müsste sitzen, und fürchtete schon, er wollte nun Konversation treiben. Aber glücklicherweise hatte er keinerlei Manieren und schlich wortlos davon, die weichen Knie immer etwas zu stark einknickend und den Blick starr geradeaus.

Kriegszitterer nannte man solche, für die holde Weiblichkeit in alle Ewigkeit verloren. Arme Katharina!

Nun, ich sage jetzt arme Katharina, weil sie sich das selbst gesagt hat, und jedes Mal, wenn sie mir später die Geschichte erzählte, genau diese Worte wiederholte. So gut wie alles, was ich Ihnen bisher berichtet habe, habe ich nämlich aus Katharinas Mund erfahren, allerdings erst Jahrzehnte später. Zum Glück hat sie ein ebenso famoses Gedächtnis wie ich selbst, deswegen kann ich mich dafür verbürgen, dass alles haargenau so war, wie ich es Ihnen nun darlege.

Arme Katharina!, sagte sie sich also, und wie sie so allein und verloren dasaß inmitten der ganzen Trostlosigkeit, hat sie doch noch jemand anderem leidgetan als nur sich selbst. Einer der Kellner trat an sie heran, in der Hand eine Champagnerflasche.

»Gnäd’ges Fräulein«, sagte er, da hob Katharina den Blick und schaute in Augen. Man möchte meinen, dass sie in schöne Augen geschaut hätte, oder in interessante oder gar magische, aber wenn Katharina die Geschichte später erzählte, sagte sie immer nur, sie hätte eben in Augen geschaut. In diesem Moment wäre ihr das nämlich vollkommen ausreichend erschienen: jemand, der sie anschaute. Der in all dieser Tristesse ihre einmalige Eleganz bemerkte und sie ihr nicht als Genusssucht anlastete. Der noch dazu Champagner dabeihatte. Nur deshalb schenkte sie ihm also ein Lächeln, obwohl er ihr so gar nicht gefiel, weil er einen fliehenden Haaransatz hatte und ein ebenso fliehendes Kinn, wissen Sie, so einen Vorbiss. Der Kellner schenkte ein. Während Katharina trank, stellte er sich als Johann Witz vor.

Witz, dachte Katharina, kein gerade ritterlicher Name.