Malvita - Irene Diwiak - E-Book

Malvita E-Book

Irene Diwiak

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Beschreibung

Irene Diwiak beleuchtet in ihrem neuen Roman die faszinierende Welt der Reichen und Schönen in Italien. Und sie zeigt auch deren Abgründe.

Christina reist nach Italien, um bei der Hochzeit ihrer Cousine Marietta zu fotografieren; sie kennt bisher weder die Braut noch deren Geschwister. Der Reichtum der Familie ist beeindruckend: Sie wohnen in einer schlossartigen Villa, und alle im Dorf scheinen für sie zu arbeiten und vor allem auf die Frauen der Familie zu hören.
Doch die Idylle ist trügerisch: Nach wenigen Tagen findet Christina die Leiche von Blanca, die zuvor als Fotografin vorgesehen war. Und auch sie hat das Gefühl, auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden.
Irene Diwiak gelingt es meisterhaft, uns in eine faszinierende Welt zu entführen, in der man sich wenig Mühe gibt, den Eingang zur Hölle zu verstecken.

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Das ist das Cover von Malvita

Über das Buch

Irene Diwiak beleuchtet in ihrem neuen Roman die faszinierende Welt der Reichen und Schönen in Italien. Und sie zeigt auch deren Abgründe.Christina reist nach Italien, um bei der Hochzeit ihrer Cousine Marietta zu fotografieren; sie kennt bisher weder die Braut noch deren Geschwister. Der Reichtum der Familie ist beeindruckend: Sie wohnen in einer schlossartigen Villa, und alle im Dorf scheinen für sie zu arbeiten und vor allem auf die Frauen der Familie zu hören.Doch die Idylle ist trügerisch: Nach wenigen Tagen findet Christina die Leiche von Blanca, die zuvor als Fotografin vorgesehen war. Und auch sie hat das Gefühl, auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden.Irene Diwiak gelingt es meisterhaft, uns in eine faszinierende Welt zu entführen, in der man sich wenig Mühe gibt, den Eingang zur Hölle zu verstecken.

Irene Diwiak

Malvita

Roman

Paul Zsolnay Verlag

1. Endstation

Zuerst war da dieser Geruch.

Dieser altbekannte Geruch, gemischt mit irgendetwas Neuem, Fremdem; sonst war da nichts. Dann war da Christina, in ihren Armen braune Papiertüten, wie man sie in amerikanischen Grocery-Stores bekommt, gefüllt mit Schwerem. Sie kam gerade nach Hause oder sonst wohin, in irgendein Haus, das sie für das ihre hielt. Es gab Treppen hinauf in ein Obergeschoß, und da war dieser Geruch. Und dann war da dieses Geräusch. Christina lief die Treppen hinauf, in den Armen immer noch die Einkaufstüten, die jedoch leichter und leichter wurden, bis sie sich in Luft auflösten, eine endlos lange Treppe, und mittlerweile wusste Christina schon, was das für ein Geruch war und was für ein Geräusch. Dann hörte sie Stimmen. Sie stand in ihrem Zimmer, in ihrem wirklichen Zimmer, so wie sie es kannte, sie stand vor ihrem eigenen Bett, und darin lagen Miri und David, nackt, und grinsten sie an. Beide waren sie unheimlich schön, unheimlich und schön, wie eine Fotografie, die man zu Tode gephotoshopt hatte, zur Unkenntlichkeit verschönte Fratzen, und Christina schrie. Dann stieß ihr Kopf gegen eine Scheibe und Miri und David verschwanden und mit ihnen das Zimmer und mit dem Zimmer der Geruch.

Christina wachte auf. Der Zug hatte unsanft gehalten. Hier war gar kein Bahnhof. Sie hasste es, im Zug einzuschlafen, überhaupt einzuschlafen, sie hasste die Träume. Sofort griff sie nach ihrer Kamera, die sich glücklicherweise immer noch in der Reisetasche auf ihrem Schoß befand, ungestohlen. Die Kamera hatte mehr gekostet, als Christina im ganzen letzten Jahr verdient hatte. Genau genommen hatte sie im ganzen letzten Jahr überhaupt kein Geld verdient. Sie hatte studiert (irgendetwas) und sich auf diese Aufnahmeprüfung vorbereitet (Fotografie an der Kunstakademie). Und sie hatte gelitten. Nicht wegen der Aufnahmeprüfung, die würde sie nächstes Jahr noch einmal machen können.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Wagons waren älter als Christina, mindestens doppelt so alt. Die Sitze waren hart. Man musste schon ein großes Schlafdefizit haben, um in einem solchen Zug schlafen zu können. Außerdem war die Landschaft so schön vor den Fenstern: Mohnblumenfelder auf sanften Hügeln, in der Ferne ein Dörfchen, dann wieder Hügel, diesmal mit Weinreben bespannt, Sonnenstrahlen überall. Grüne Wiesen, gelbe Felder. Ja, selbst Christina musste zugeben, dass es hier schön war, auch wenn sie eigentlich geglaubt hatte, gar nichts mehr schön zu finden. Sie holte den Fotoapparat aus der Tasche, aber sie spiegelte sich in der Fensterscheibe, fotografierte nur sich selbst. Die Landschaft dahinter war verschwommen, eigentlich nicht zu erkennen. Sie löschte die Fotos.

Christina war auf dem Weg zu einer Hochzeit oder, besser gesagt, zu den Vorbereitungen zu einer Hochzeit. Die Braut war ihre Cousine, aber deswegen fuhr sie nicht hin, schließlich hatte sie Marietta noch nie in ihrem Leben gesehen. Christina war kein Gast, sie war die Fotografin. Das hatte ihre Mutter für sie eingefädelt. Deren Schwester Adelheid, aber jetzt nannte sie sich Ada, war die Brautmutter. Viel mehr wusste Christina auch von dieser Tante nicht, die sie auch nie kennen gelernt hatte. Die Mutter war jedenfalls der Meinung gewesen, dass eine Hochzeit Christina ablenken würde. Und dann noch Italien, und dann noch die Toskana. Christina wusste nicht, ob ihre Mutter selbst schon einmal dort gewesen war, vermutlich nicht. Aber andererseits hatte Christina auch nicht gewusst, dass die Mutter noch zu irgendjemanden von ihrer Familie Kontakt pflegte. Dass es eine Tante Ada gab, irgendwo im Süden, dass diese mit einem Italiener verheiratet war und dass Cousinen und Cousins existierten, hatte die Mutter hin und wieder erzählt, aber das war es auch schon. Dabei musste sie mit Tante Ada die ganze Zeit über heimlich in Verbindung gestanden sein. Vielleicht telefonierten sie manchmal, wenn Christina ausgegangen war, schrieben sich E-Mails vom Büro aus oder SMS, die sie nach Erhalt sofort löschten. Vielleicht war ihr Kontakt aber auch gar nicht so geheimniskrämerisch, wie Christina ihn sich jetzt vorstellte, sie hatte sich ja nie besonders für die Angelegenheiten ihrer Mutter interessiert, und in den letzten Wochen erst recht nicht.

Tante Ada hatte der Mutter jedenfalls von Marietta erzählt und dass die Fotografin abgesprungen war, nur eine Woche vor der Hochzeit, da hatte die Mutter sofort zugeschlagen. Weiß Gott, was sie Tante Ada von Christinas Fotografie-Kenntnissen vorgelogen hatte. Keine Ausbildung, keine Erfahrung, nicht einmal ein Zertifikat eines erfolgreich bestandenen Volkshochschulkurses, sogar den hatte sie vorzeitig abgebrochen. Christina war keine Fotografin, sie war die Besitzerin von teurer Ausrüstung, und die war ein Geschenk gewesen. Aber die Mutter musste gut gelogen haben, oder Tante Ada hatte einfach Mitleid: Christina sollte auf der Stelle anreisen, um alle kennen zu lernen und sich im Vorhinein die Locations anzusehen, Lichtverhältnisse und so weiter, es gab auch ein Honorar. Und überhaupt wäre es eine Abwechslung, sagte Christinas Mutter. Christina hatte sich willenlos zum Bahnhof bringen lassen. Die Reisetasche hatte ihre Mutter gepackt, wobei sie beinahe auf den Fotoapparat vergessen hätte, in letzter Sekunde fiel ihr das noch auf. Am Bahnhof umarmte sie Christina und sagte: »Grüß Adelheid von mir«, und es klang bedeutungsschwer, schon einmal deswegen, weil sie »Adelheid« und nicht wie sonst immer »Ada« sagte. Später stand sie am Bahnsteig und winkte pathetisch mit einem Papiertaschentuch, während Christina davonfuhr, mit stumpfem Blick wie immer, immer Richtung Süden.

Christina spürte, dass ihr Magen knurrte. Sie hätte in Florenz noch etwas essen sollen, aber da war sie nicht in der Stimmung dazu gewesen. Ihre Mutter hatte absichtlich eine Bahnverbindung mit besonders langer Umsteigezeit in Florenz gebucht, damit Christina sich ein bisschen in der Stadt umschauen könnte. Am Bahnhof aber befand sich ein Café, Christina kaufte dort einen quietschbunten Cupcake, im Radio brummte Leonard Cohen, sie setzte sich an einen freien Tisch und heulte drei Stunden lang. Den Cupcake rührte sie nicht an. Sie musste ihn dann einfach am Tisch stehen gelassen haben, als sie ging. Das bereute sie jetzt. Sie drückte die Reisetasche an ihre Brust und machte sich auf die Suche, aber natürlich gab es in einem so kleinen Regionalzug keinen Speisewagen. Nur wenige Plätze waren besetzt, keine Touristen, oder zumindest keine, die man als solche erkannt hätte. Vermutlich waren das alles Pendler, die jeden Tag diese Strecke auf- und abfuhren, manche drückten auf ihren Smartphones herum, andere lasen Zeitschriften. Die Landschaft vor dem Fenster ließ sie völlig kalt. Christinas Abwechslung war für sie Alltag. Christina ging zu ihrem Platz zurück und setzte sich, sie holte ihr Zugticket hervor und las darauf noch einmal den Namen der Destination: Villagio Malvita. Malvita — das klang irgendwie süß, fast wie ein Mädchenname. Dann fand sie in ihrer Hosentasche ein Bonbon, das sie lutschen konnte, um den Magen auszutricksen, es funktionierte einigermaßen. Sie schlief nicht mehr ein, obwohl die Weinstauden und Mohnblumenfelder hypnotisch wirkten, rot und gelb und grün im Wechsel, eine Ampellandschaft, die Farben verschwammen vor Christinas Augen zu matschigem Braun: Sie weinte schon wieder. Bahnhofhäuschen ruckelten an ihr vorbei, hin und wieder hielt der Zug, dann musste sie sich festhalten. Immer wieder stiegen Leute aus, nie jemand zu, irgendwann verließen auch die Allerletzten den Zug und Christina war allein. Ihr fiel auf, dass sie bisher noch nie allein verreist war. Früher wäre ihre Mutter dabei gewesen, aber da waren sie nicht so richtig verreist, hatten höchstens Besuche gemacht, und auch das selten. Die obligatorische Interrailtour im Teenageralter hatte sie mit Schulfreundinnen gemacht, und später verreiste sie dann nie ohne David. Einen Moment lang hatte Christina jetzt das Gefühl, sie würde gar nicht wissen, wie das Reisen ginge, sie würde es versauen, sie würde in Malvita nicht aussteigen können, sie würde bis zur Endstation fahren und sich von ihrer Mutter abholen lassen, etwas anderes würde sie nicht fertigbringen, nicht allein. Aber dann war da der Bahnsteig vor dem Fenster, und ein Schild, auf dem »Malvita« stand, und Christina stieg aus, einfach so, die Reisetasche in der Hand. Hinter ihrem Rücken ruckelte der alte Zug, nun völlig passagierlos, weiter, näherte sich seinem Zielendbahnhof, dessen Namen Christina vergessen hatte. Malvita war keine Endstation.

2. Das Model

Am Bahnsteig stand ein Model. Dass es ein Model war, konnte man auf den ersten Blick erkennen: Die Frau war zwei Meter groß, ihre Beine und Arme Fäden, sie war dürr. Kein hübsches Gesicht, aber faszinierend, hart und kantig, fast ein bisschen männlich. Scharf schnitten ihre Wangenknochen, ihre Augen waren unheimlich dunkel, ihre Mundwinkel zwei perfekt gerade Linien, die weder eine Neigung zum Lachen noch zum Leiden erkennen ließen. Sie hatte das, was man in Frauenzeitschriften »olivfarbenen Teint« nannte, fast schon golden, eine mediterrane Modefantasie, ihr dunkles Haar trug sie auf dem Kopf verknotet, bemüht unordentlich, ein durchdesigntes Vogelnest. Ihre Ohren standen gerade so viel und so wenig ab, dass sie noch als begehrenswertes Markenzeichen durchgingen. Sie war ungeschminkt, sie hatte nichts zu kaschieren und trug einen violetten Jumpsuit, der an jeder anderen vermutlich furchtbar ausgesehen hätte. Aber mit Mode kannte Christina sich nicht aus. Sie selbst trug ausschließlich Schwarz, und das nicht erst seit der Sache mit David und Miri. Das wäre ja noch armseliger gewesen, als im Bahnhofscafé zu heulen oder im Bummelzug durch die toskanische Pampa. Sie hatte einfach einmal irgendwo gelesen, dass Schwarz schlank machte, und damit war ihre Kleidungswahl für alle Ewigkeit getroffen. Sie war ja kein Model, sie war Fotografin oder wollte es sein, sie kaschierte sich selbst, wo es nur ging: Sogar jetzt war sie noch stark geschminkt, mit wasserfestem Make-up.

»Hallo!« Das Model winkte, als ob man es übersehen hätte können. Vermutlich war Christina zu zögerlich gegangen, zögerlich vor Ehrfurcht, sie war beeindruckt von dieser Frau. Das Model war zu jung, um Tante Ada zu sein. War das Marietta?

»Ich bin Elena«, sagte das Model und beugte sich tief zu Christina hinunter, als wäre diese ein Kind, im Größenverhältnis war sie es. Küsschen links, Küsschen rechts, Elenas Wangen waren trotz der Hitze kühl, sie fühlten sich an wie kaltes Eisen. Christina musste verwirrt dreingeblickt haben, denn Elena ergänzte: »Ich bin Mariettas kleine Schwester.« Es war schwer vorstellbar, dass Elena kleiner war als irgendjemand, und Christina wusste nicht, ob der Witz beabsichtigt war. Vorsichtshalber lachte sie nicht. »Ich bin Christina — deine Cousine … Die Fotografin …«

»Das weiß ich doch alles«, entgegnete Elena, nicht barsch, aber auch nicht wirklich freundlich. Ihre Stimme war seltsam neutral und schnurgerade wie ihr Mund: Weder hoch noch tief, irgendwo mittendrin eintönig, ließ sie weder Gefühlslage noch Dialektfärbung erahnen. Waren Tante Adas Kinder eigentlich zweisprachig aufgewachsen, sprachen sie Italienisch und Deutsch gleichermaßen oder hatten sie das eine nach dem anderen erlernt?

»Mein Auto steht da drüben. Soll ich dir die Tasche abnehmen?«

»Geht schon, danke.«

Die Welt war Elenas Laufsteg und musste im Laufschritt beschritten werden, Christina stolperte hinter ihr her. Der Wagen war nicht sofort zu sehen, Elena hatte ihn direkt hinter dem Bahnhofshäuschen geparkt, in dem niemand saß und vermutlich auch lange keiner gesessen hatte, es sah baufällig aus. Elena drehte sich um und wartete, als wäre sie die Lehrerin und Christina eine Schulwandergruppe. Bei dem Auto handelte es sich um einen roten, tiefgelegten Sportwagen, der in der Sonne glitzerte wie ein Rubin und vermutlich um ein Vielfaches wertvoller war. Christina hatte genau so wenig Ahnung von Autos wie von Mode. Sie war nicht einmal besonders beeindruckt.

»Wow«, sagte sie, um Elena nicht zu enttäuschen.

»Ach das«, antwortete Elena, wieder weder freundlich noch unfreundlich, und Christina sah ein, dass sie sich an diese Stimme und diese Sprechweise würde gewöhnen müssen. Wahrscheinlich war Elena ganz nett, wenn man sie erst einmal richtig kannte. Sie nahm Christina die Reisetasche ab und stellte sie auf den Rücksitz, Christina nahm am Beifahrersitz Platz. Das Auto lag noch tiefer, als es von außen ausgesehen hatte. Christina fragte sich, wie Elena hier ihre langen Beine unterbringen konnte, ob sie sie durch den Autoboden rammen und laufen würde wie Fred Feuerstein. Stattdessen aber schwang Elena sich elegant hinters Steuer, mit geradem Rücken und sanft angewinkelten Beinen, während Christina sich irgendwie zerknautscht und verbogen fühlte. Alles in dem Wagen war mit Leder überzogen: Die Sitze, das Lenkrad, aber auch die Decke und der Boden waren aus Leder oder einem Material, das wie Leder aussah, und irgendwie passte Elenas violettes Outfit haargenau zu diesem Braunton, als hätte sie beides aufeinander abgestimmt, den Jumpsuit zum Auto gekauft oder umgekehrt. Vielleicht hatte sie das sogar wirklich. Tante Adas Mann war sehr vermögend, hatte Christinas Mutter erzählt.

Elena startete den Wagen. Beim Fahren blickte sie gar nicht auf die Straße, sondern auf das Autoradio, eine regelrechte Soundanlage, sie fummelte mit einer Hand daran herum, bis Drum’ n’ Bass-Musik erschallte. Die andere lag lasch am Lenkrad, eigentlich waren es nur zwei Finger derselben, und selbst diese waren lasch. Elena musste die Strecke gut kennen. Christina blickte aus dem Fenster. Der Geschwindigkeit der vorbeiziehenden Landschaft nach zu urteilen, fuhren sie um einiges schneller als der Bummelzug. Es gab keinen Gegenverkehr.

»Wir sind also Cousinen«, sagte Elena plötzlich.

»Ja«, antwortete Christina.

»Wir haben dich nie kennengelernt.«

»Wir dich auch nicht«, wollte Christina sagen, aber dann dachte sie darüber nach, wer dieses »wir« eigentlich sein sollte: Sie selbst und ihre Mutter, aber ihre Mutter kannte immerhin Tante Ada und sie kannte irgendwie auch Marietta, warum sollte sie nicht auch Elena kennen? Christina zuckte mit den Schultern.

»Wir sind drei«, redete Elena nach kurzer Pause weiter. Der Wagen holperte einen Weinberg hinauf und Elena zog ihren Kopf genau so viel ein, dass sie ihn sich nicht an der Decke anschlug. Die Toskana war Gelände, das Auto kein Geländewagen.

»Marietta und ich und Jordie.«

»Jordie … ist dein Bruder?«

»Ja.«

Christina konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob ihre Mutter auch von ihm erzählt hatte, und wenn ja, was. Sie konnte sich allerdings an kaum etwas von dem erinnern, was ihre Mutter gesagt hatte: Marietta heiratete, Toskana, vermögender Onkel.

»Was machst du eigentlich beruflich?«, fragte Christina, um das Gespräch am Laufen zu halten.

»Ich bin Model«, antwortete Elena.

Christina tat, als würde sie das überraschen.

»Ich habe noch nie so ein echtes, professionelles Model kennengelernt!«

»Dafür habe ich schon sehr viele echte, professionelle Fotografen kennengelernt«, antwortete Elena.

Das war jetzt eindeutig ein Witz, dachte Christina, aber Elenas Stimme klang so trocken und gleichgültig wie bei allem, was sie sagte, dass Christina nur hüstelte, ein Geräusch zwischen Lachen und Räuspern, sollte Elena darunter verstehen, was sie wollte. Nun war für Christina eigentlich der ideale Zeitpunkt gekommen, um zu gestehen, dass sie selbst in Wahrheit gar keine echte, professionelle Fotografin war, sondern nur eine gut ausgerüstete Studentin.

»Und was ist Marietta von Beruf?«, fragte sie stattdessen.

Elena wirkte sogar respekteinflößend, wenn sie nur dasaß und starr vor sich hinschaute, nicht unbedingt auf die Straße, sondern immer nur geradeaus. Von der Seite glich sie ganz und gar einem mageren Mann, ein Hungerkünstler in modischem Jumpsuit.

»Marietta arbeitet …«, antwortete Elena, aber dann stockte sie kurz, als müsste sie darüber nachdenken, »… in einer Bank.«

»Und wo arbeitet Jordie?«

Da brach Elena plötzlich in ein solches Lachen aus, dass sie den Wagen kurzfristig in Schlangenlinien lenkte. Zum ersten Mal hörte Christina Elenas Lachen, und dieses Lachen war so viel sympathischer als ihre Sprechstimme, es war hoch und melodisch und klang ein wenig wie das Klingeln von Weihnachtsglöckchen, so einladend süß, dass Christina einfach mitlachen musste.

»Jordie arbeitet doch noch nicht!«, antwortete Elena, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, aber das Gelächter klang noch in ihrem Sprechen nach. »Jordie ist ein kleiner Engel, ich bringe ihm immer etwas mit, wenn ich aus der Stadt komme.«

Sie griff mit jener Hand, die sie nicht zum Lenken benutzte, in die Tasche ihres Suits und holte eine Maus aus Plüsch heraus. Sie lachte noch einmal ausgiebig, dann packte sie das Stofftier wieder weg, und ihr Gesicht wurde starr, als hätte sie sich gerade jetzt daran erinnert, dass Lachen Falten machte, oder dass Christina keine war, mit der man lachen durfte. Das Bumm-Bumm-Bumm im Radio wich einem Rauschen, kein Empfang. Elena hämmerte auf dem Gerät herum, schließlich ertönten italienische Schlager. Quando, quando, quando. Christina fiel nichts mehr ein, wovon sie sprechen hätte können, und auch Elena schwieg. Vor dem Fenster wiederholte sich das ständig Gleiche: Wein, Hügel, Mohn, Wein, Hügel, Mohn. Wieder begann sich dieser Geruch in Christinas Gedanken einzuschleichen, und Miris Stimme, diesmal gar nicht traumhaft, sondern beinharte Erinnerung: »David und ich haben uns ineinander verliebt …«

»Sie ist eine Verräterin!«, rief Elena plötzlich. Christina zuckte zusammen und war wieder hellwach. Ihre Cousine war ein Model und las ihre Gedanken wie andere Leute Zeitungen.

»Wie bitte?!«

»Ich meine Blanca. Blanca ist eine Verräterin.«

Jetzt musste Christina wieder lachen, nicht so wirklich unbeschwert, nicht so heiter wie zuvor, zu echt und deutlich klang noch Miris Stimme in ihren Gedanken nach, aber sie war doch ein bisschen amüsiert über die eigene Blödheit. Elena schaute sie an. Ihr Blick war völlig ausdruckslos. Trotzdem sagte Christina schnell: »Entschuldigung.«

Elena blickte wieder nach vorne und fuhr fort: »Blanca war unsere ursprüngliche Fotografin. Sie war Mariettas beste Freundin und ihre Trauzeugin. Vor einigen Tagen ist sie einfach verschwunden. Unauffindbar.«

Diese Geschichte hatte Christina zwar schon von ihrer Mutter gehört, fand sie aber immer noch rätselhaft: Es war schon einigermaßen unorthodox, dass die Trauzeugin gleichzeitig die Fotografin war, noch seltsamer war aber natürlich, dass diese sich einfach in Luft auflöste, so kurz vor der Hochzeit. Vielleicht hatte sie mit dem Bräutigam geschlafen.

»Freundinnen sind Schweine«, stellte Christina fest.

»Nein«, sagte Elena, »Männer sind Schweine. Das ist das Problem.«

Christina hatte noch nicht genug Vertrauen gefasst, würde vermutlich niemals genug Vertrauen fassen, um Elena von Miri und David zu erzählen. Also ließ sie diese Bemerkung unkommentiert stehen. Man musste Miri kennen, um zu wissen, wozu Freundinnen fähig waren.

Vor der Windschutzscheibe tauchten nun Häuser in der Landschaft auf, ein Dorf.

»Ist das Malvita?«, fragte Christina.

»Der alte Ortskern.«

»Der alte? Und wo ist der neue?«

»Es gibt keinen neuen.«

Die Ruine eines vielleicht sogar antiken Aquädukts stellte eine Art Stadtmauer dar, Elena raste an den Trümmern vorbei, ohne die Geschwindigkeit auch nur im Geringsten zu drosseln, der Wagen setzte hart auf alten Pflastersteinen auf. Aber Christina bemerkte die Erschütterung kaum, so hin und weg war sie von dem Anblick, der sich ihr bot: ein verträumter Platz, teilweise dunkelgrün von Pflanzen überwuchert, und in dessen Mitte befand sich ein alter Brunnen, der so voller Moos war, dass er aussah wie aus Samt gemacht. Rundherum standen eng aneinandergepfercht schmale Häuser mit verspielten Fassaden, die etwas breiteren unter ihnen verfügten auch über Arkadenvorhöfe. Man konnte sich bildlich vorstellen, wie spätmittelalterliche Kaufleute, feine Damen und Philosophen darin auf- und abmarschierten. Und ein wenig abseits, fast verschämt, als gebührte dieser Abstand von den Profanbauten dem Anstand, erhob sich eine Kirche, ein winziger Petersdom, das mutterlose Kind des Petersdoms, bis zum Bauchnabel eingehüllt in Pflanzensamt. Es war nicht mehr als ein Augenblick, in dem sich Malvitas alter Ortskern Christina in seiner vollen Pracht darbot, denn Elena bog sofort in eine schmale, dunkle Gasse ein. Auch hier waren die Häuser alt, aber verfallener und vermutlich schon in ihrer besten Zeit nicht ganz so kunstvoll gewesen wie die Bauten auf dem Kopfsteinpflasterplatz. Weder dort noch in dieser Gasse war eine Menschenseele zu sehen gewesen. Im Fall der Gasse zumindest war das ausgesprochen positiv, denn Elenas Auto nahm ihre gesamte Breite ein.

»Wird Marietta in dieser Kirche heiraten?«, fragte Christina.

Elena lachte wieder, diesmal verächtlich.

»Nein«, sagte sie, »unsere Familie ist nicht religiös.« Dann überlegte sie kurz und fügte hinzu: »Auf jeden Fall sind wir nicht katholisch.«

»Ich auch nicht«, sagte Christina, »also, weder religiös noch katholisch.«

Elena nickte.

Sie ließen das Dorf hinter sich und fuhren nun wieder eine Landstraße entlang, kein Ende in Sicht.

»Lebt denn niemand in Malvita?«, fragte Christina.

»Nicht, seit die Lederfabrik eingegangen ist«, antwortete Elena.

»Wann war das denn?«

»Zweitausendacht. Die Wirtschaftskrise.«

Das Wort »Wirtschaftskrise« stand in Christinas Hirn zwischen Weltkrieg Eins und Weltkrieg Zwei geschrieben, unverschiebbar stand es dort, und gleich daneben die »geschlossenen Fabriken«. Das war alles noch vor der Geburt des Großvaters gewesen, das gehörte in die Geschichtsbücher, also nirgendwohin. Zweitausendacht war kein Wirtschaftskrisenjahr, es war irgendein Jahr in Christinas Teenagerzeit, sie war unglücklich verliebt gewesen und hatte »My Chemical Romance« gehört, bis es ihr in den Ohren summte.

»Wo war denn diese Fabrik?«, fragte sie.

»Wären wir in Malvita nicht abgebogen, sondern immer nur geradeaus gefahren, wären wir ungefähr jetzt an der alten Fabrikhalle vorbeigekommen. Die steht nun natürlich leer.«

»Und was ist seitdem geschehen? Ich meine, seit die Fabrik geschlossen worden ist?«

Elena zuckte mit den Schultern.

»Nicht viel.«

»Aber was ist mit den Leuten geschehen? Mit den Bewohnern von Malvita?«

»Die sind weggezogen.«

»Alle?«

»Die meisten. Einige arbeiten bei uns.«

»Bei euch?«

»Sie leben auch bei uns. Sie sind Hausangestellte. Ihnen ist es egal, ob sie in der Fabrik arbeiten oder in unserem Haus. Es läuft für sie aufs Gleiche hinaus: Am Ende des Monats kriegen sie ein Gehalt überwiesen, das zum Leben reicht, und noch ein bisschen darüber hinaus. Bei uns bekommen sie zudem eine kostenlose Wohnung und im Winter wird geheizt.«

Christina hatte bis jetzt keinen einzigen Menschen kennengelernt, der über Hausangestellte verfügte. Gut, Davids Eltern hatten eine Putzfrau beschäftigt, aber das war doch noch einmal etwas ganz anderes.

»Wow«, sagte sie, und diesmal meinte sie es ernst. Der Weg vor ihnen begann sich in scharfen Kurven zu schlängeln, aber auch das bewegte Elena nicht dazu, langsamer zu fahren oder wenigstens die zweite Hand ans Lenkrad zu legen. Christina fragte sich, ob Elena das teure Auto selbst bezahlt oder ob es ihr Vater für sie gekauft hatte. Dieser musste noch reicher sein, als Christina bisher angenommen hatte. Er besaß ein ganzes Dorf als Hauspersonal. Ihr wurde ein bisschen schlecht, von den vielen Kurven und dem Gedanken an so viel Geld. Plötzlich sagte Elena: »Siehst du das Haus dort auf dem Hügel?«

Christina sah es, aber es war kein Haus, es war viel größer. Es war größer als der Hauptplatz von Malvita, vielleicht sogar größer als das ganze Dorf, als die ganze Umgebung vom Bahnhof bis zur Fabrikhalle.

»Das ist die Villa Esposito.«

3. Villa Esposito

Der Name des Hauses war so fantasielos wie passend. Esposito war der Familienname von Tonio, Adas Ehemann und somit Christinas Onkel, was wiederum seine ganze Sippe zu Espositos machte: Ada Esposito und Marietta Esposito und Elena Esposito und Jordie Esposito. Im Grunde war es ein trauriger Name, denn er bedeutete so viel wie »die Ausgesetzten«: Die Espositos waren ausgestoßene, verlorene, ungewollte Kinder gewesen. Dabei war es einer der häufigsten Namen Italiens, früher hatte es offensichtlich viele ausgestoßene, verlorene, ungewollte Kinder gegeben. Aber diese Familie Esposito gehörte schon lange nicht mehr dazu.

Die Bezeichnung »Esposito« passte aber auch deswegen zu der Villa, weil sie in der Landschaft stand, als wäre sie selbst ausgesetzt worden, ein ausgesetztes, ein aussätziges Haus, mit dem andere Häuser nichts zu tun haben wollten. Das tote Dorf Malvita mit seinem halbtoten Bahnhof lag schon abgelegen, der nächste lebendige Ort war jedoch Florenz, und Florenz war eine Welt weit weg. Aber diese Einsamkeit schien die Villa Esposito nicht zu stören, ganz im Gegenteil: Sie hatte sich ausgebreitet, jedes halbe Jahrhundert wurde sie um einen Trakt erweitert, und mittlerweile bedeckte sie den Hügel schon so weit, dass die Gärten und Hinterhöfe auf steilen Hängen lagen.

Das Innerste, das »Herz« des Hauses, konnte man bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Ursprünglich war es ein einfacher Bauernhof gewesen und wurde schon damals von einem Esposito bewohnt, ein Vorfahre von Tonio, ein noch voriger Vorfahre von Marietta, Elena und Jordie. Dessen Erben nahmen dann bereits den ersten Ausbau vor, und so ging es weiter und weiter, bis die Villa Esposito ein Ungeheuer war, ungemein groß und verworren. Sie wuchs vor sich hin, wie sonst nur Städte oder die Wirtschaft, solange alles gut ging. Immer wurde dazugebaut, nie abgerissen, und schließlich war die Villa Esposito ein unüberschaubares Konglomerat aus verschiedenen Baustilen und eklektischer Einrichtung. Im Herzen immer noch ein traditionell-toskanisches Landhaus, welches in einer Schale aus Barock steckte, links davon wucherte das 18. Jahrhundert mit seinem Klassizismus, rechts historistisch das 19. Der hinterste Teil war zur Zeit des Faschismus gebaut worden, und es gab auch einen Wintergarten, an dem kein einziger Winkel rechteckig war.

Das alles konnte Christina nicht wissen, während sie im Auto saß und die Villa vor ihr immer größer und ungeheuerlicher wurde, sie dachte nur: Was für ein hässliches Gebäude. Geschmack konnte man sich bekanntlich nicht kaufen. »Wow«, sagte sie und meinte es wieder ernst, aber nicht im positiven Sinne. Elena lächelte einen Augenblick lang, dann glättete sie ihren Mund wieder zur üblichen Linie. Die Straße führte spiralförmig auf den Hügel hinauf, der nicht hoch, jedoch breit war: Immer wieder fuhr Elena die gleichen Stellen ab, jedes Mal nur ein paar Meter weiter oben als zuvor, und zwischen den Straßen wucherten die Weinreben. Christina fragte sich, ob die Serpentinen überhaupt notwendig waren, ob der Hang wirklich zu steil war, um eine direkte Straße hinaufzubauen. Vielleicht war dieses schwindelerregende Rundherumfahren schon ein Teil der verwirrenden Villenarchitektur, ein würdiger Einstieg in die Untiefen der Villa Esposito.

Das erste Mal, seit Christina aus dem Zug gestiegen war, waren hier andere Menschen zu sehen: Ein Grüppchen Fußgänger kam ihnen entgegen, Männer in marineblauen Anzügen und Frauen in knielangen Kleidern derselben Farbe, als sie den roten Sportwagen erblickten, grüßten sie militärisch, zwei Finger an unsichtbaren Mützenschirmen. Christina fand das ulkig und drehte sich nach ihnen um, Elena beachtete sie nicht weiter. Dann waren da Männer, die im Weingarten arbeiteten, und Frauen, die Einkaufskörbe den Hügel hinaufschleppten, sie alle trugen Blau und alle grüßten auf die gleiche, lächerliche Weise.

»Sind das die Bediensteten?«, fragte Christina. Elena nickte.

Sie erreichten einen Parkplatz, der vollständig in der Schräge lag. Christina konnte die Beifahrertür nicht ohne Anstrengung öffnen, die Schwerkraft arbeitete gegen sie. Elena hingegen stieg elegant aus dem Wagen und nahm die Reisetasche vom Rücksitz. Sie hielt Ausschau, vermutlich nach einer dieser dunkelblauen Figuren, die den Hügel bevölkerten. Vom Haus her kam ein junger Mann gelaufen. Er trug ein weißes Hemd und schwarze Hosen, kein Dunkelblau, keine Schuhe, sein Haar war lockig und kupferbraun. An seine Brust gedrückt hielt er eine fette orangegetigerte Katze. Sofort verlor Elenas Gesicht jede Härte. »Jordie!«, rief sie.

Christina hatte ihn sich als kleines Kind vorgestellt, ein allerhöchstens Fünfjähriger, der mit Kuscheltieren spielte und noch nicht einmal zur Schule ging, denn genauso hatte Elena von ihm gesprochen. Aber der Junge war ausgewachsen, kleiner als Elena zwar und doch sehr groß, mit langen, dünnen Armen und Beinen, er musste mindestens siebzehn sein. Er lief nun immer schneller auf Elena zu. Die Katze nutzte die Gelegenheit und befreite sich aus seinem Griff, er schien es nicht einmal zu merken, im selben Moment ließ Elena die Reisetasche fallen. Christina dachte an ihre teure Kamera und zuckte zusammen. »Elena«, rief der Junge, und als er seine Schwester erreicht hatte, hob Elena ihn mit ihren dürren Armen in die Luft und drehte sich auf ihren hohen Hacken, wirbelte den ganzen Mann im Kreis, als würde er rein gar nichts wiegen, als wäre er tatsächlich das Kind aus Christinas Vorstellung.

»Das ist Christina. Unsere Cousine«, sagte Elena, nachdem sie Jordie wieder abgestellt hatte, immer noch waren ihre Gesichtszüge weich, ihre Stimme zart und lieb wie ihr Lachen.

»Hallo Christina«, sagte Jordie und hielt ihr die Hand hin. Sein fester Händedruck stand im Kontrast zu seinem federleichten Wirbeln, Christina versuchte, sich ihre Verwunderung nicht anmerken zu lassen.

Jordie blickte sie an. Seine Augen waren groß und braun, aber heller als die seiner Schwester, oder vielleicht waren sie auch gar nicht heller, sondern nur durchlässiger: Sie ließen Licht in sich fallen und Blicke in sich dringen, wie es Elenas Augen niemals zugelassen hätten, und plötzlich war Christina die ganze Situation furchtbar unangenehm. Nicht, wie Jordie sie anblickte, störte sie, sondern wie sie ihn anschaute, wie seine Augen ihren Blick nicht bremsen konnten, da war kein Widerstand in ihnen. Es waren Kinderaugen im Gesicht eines Erwachsenen, und das war unheimlich.

»Ich hab dir etwas mitgebracht!«, sagte Elena und holte die Stoffmaus hervor. Erst jetzt sah Christina, dass diese an einer Schnur befestigt war, kein Kinderspielzeug also, ein Spielzeug für Katzen. Jordie freute sich, er küsste Elena auf beide Wangen und drehte sich nach der eigentlich Beschenkten, nämlich seiner Katze um, diese aber war nirgends mehr zu sehen. Jordie seufzte. »Entschuldigt mich, aber ich muss Paola suchen«, sagte er, dann lief er wieder den Hügel hinauf, bis die Villa ihn schließlich verschluckte. Was für ein Name für eine Katze, dachte Christina: Paola.

Kaum war Jordie außer Sichtweite, war Elenas Gesicht wieder das alte, ausdruckslose, und mit alter, ausdrucksloser Stimme sagte sie: »Komm mit.« Christina nahm die Reisetasche und folgte ihr.

Die Haustür, aber vermutlich war das nur einer von zahllosen Eingängen, war groß und schwer wie eine Kerkertür, sie hatte fünf Schlösser. Elena sperrte eines nach dem anderen auf, mit fünf unterschiedlichen Schlüsseln, die sie hintereinander aus den Jumpsuittäschchen zog, als handelte es sich dabei um ein Zaubergewand. Wenn alle Türen so verriegelt waren wie diese, war die Villa Esposito ein Hochsicherheitstrakt.

Sie betraten eine Säulenhalle, die ganz und gar aus Marmor bestand, ein breiter roter Teppich führte über den weißen Boden wie ein Fluss aus Blut, an der gegenüberliegenden Seite des Raumes floss er ein prächtiges Treppenhaus empor. Christina konnte sich gut vorstellen, wie Elena diese Stufen in Zeitlupe hinunterschritt, im Ballkleid und mit Windmaschine, eine solche Art von Treppe war das. In der Mitte der Säulenhalle stand ein Zimmerspringbrunnen, dessen Krönung eine Pallas Athene in Kampfmontur darstellte, unter ihrem Mamorschwert plätscherte das Wasser. Sie hatte Ähnlichkeiten mit Elena, fand Christina, auch ihr stand eine gewisse Männlichkeit ins Steingesicht gemeißelt. Bis zum Springbrunnen war Elena gegangen, ohne anzuhalten, jetzt aber blieb sie stehen, drehte sich zu Christina um und schien darüber nachzudenken, auf wen sie die Verantwortung für die lästige Cousine nun abwälzen könnte. In diesem Moment kam ein dunkelblaues Mädchen die Treppen herunter, es trug einen Wäschekorb, und Elena rief ihm erleichtert (nicht sichtlich, aber Christina wusste es doch) zu: »Vieni qui!« Das Mädchen kam zu ihr, und Christina bemerkte, wie es dabei den Kopf senkte, ein kleines bisschen nur, aber doch, dann stellte es den Wäschekorb ab und holte eilig den üblichen Gruß nach: zwei gestreckte Finger an der Schläfe. Elena sprach zu ihm auf Italienisch, das Mädchen antwortete immer nur mit »Sì, signorina, sì«. Danach wandte Elena sich an Christina: »Verstehst du Italienisch?«

»Nein.«

Elena sagte noch etwas zu dem Mädchen, dieses senkte den Kopf etwas tiefer, dann nahm es wieder den Wäschekorb und eilte die Treppen hinauf, dorthin, wo es hergekommen war.

»Nino wird sich um dich kümmern«, sagte Elena.

»Wer ist Nino?«, fragte Christina.

»Er spricht Englisch. Du verstehst doch Englisch?«

»Ja.«

Dann sagten sie beide nichts mehr und warteten auf Nino. Elenas Finger spielten am Brunnenrand Klavier, die Fingernägel klapperten auf dem Marmor. Ihre tägliche Ration an Smalltalk schien aufgebraucht zu sein, und Christina war viel zu überwältigt von der Villa, dem Saal und den Dienern, als dass sie hätte sprechen wollen. Sie hatte ja gewusst, dass Tante Ada »gut geheiratet« hatte, aber wenn man das Vermögen nun in Form von Haus und Hauspersonal so plastisch vor sich aufgehäuft sah, verschlug es einem dann doch die Sprache.

Immer wieder kamen Männer und Frauen in Dunkelblau herein, immer salutierten sie im Vorbeigehen vor Elena, die ihnen keine Beachtung schenkte. Manchmal musterten sie dabei Christina aus den Augenwinkeln, dann wirkten sie sogar ein wenig amüsiert. Es musste sich herumgesprochen haben, dass eine neue Fotografin kommen würde, vielleicht war sogar das Wort »Cousine« gefallen, und da stand sie jetzt leibhaftig in schwarzen Jeans und schwarzem Shirt und schwarzen Turnschuhen, normalgroß und einigermaßen normalgewichtig, aber neben Elena eben doch eine fette Zwergin. Hier gab es ja auch sonst nicht viel zu sehen: Wenn man sich erst einmal an das Monstrum von Haus gewöhnt hatte, alle Räume und Gänge in- und auswendig kannte, blieb nicht viel mehr an Unterhaltung über als die toskanische Landschaft vor den Fenstern, und selbst an die konnte man sich gewöhnen. Der nächste Bahnhof war kilometerweit entfernt, Christina war noch nie gut darin gewesen, Entfernungen zu schätzen. Wie lange waren Elena und sie im Auto gesessen? Und wie viele der Bediensteten verfügten wohl über ein eigenes Auto? Und wie viele Hügel waren zu überqueren bis zur nächsten Stadt, zum nächsten Dorf, zum nächsten Haus? Christina versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten, um den Starrenden keinen Anlass zu bieten, schließlich beobachtete sie nur noch ihre eigenen Schuhspitzen, wie sie auf- und abtanzten, wenn sie mit den Zehen wackelte.

»Ah, Nino! Finalmente!«

Elenas so plötzlich erschallende Stimme ließ Christina zusammenzucken, sie hob den Blick. Ein großer, blonder Kerl kam die Treppe heruntergelaufen, Elena redete schon auf ihn ein, noch bevor er am Treppenende angekommen war, sie schien ihm allerhand zu erklären, immer wieder hörte Christina ihren eigenen Namen. Sie hatte Elena selbst gar nicht so viel über sich erzählt, wie diese jetzt Nino weiterzusagen schien, der immer wieder nickte mit seinem komisch quadratischen Kopf. Er war gleich groß wie Elena und fünf- oder sechsmal so breit, die blaue Uniform spannte an Brust und Schultern. Seine Augen erinnerten Christina an die eines Huskys, schmal und wässrigblau. Dieser Nino sah aus wie eine nordische Gottheit, die man in eine lächerliche Uniform gesteckt hatte.

»Nino führt dich jetzt zu deinem Zimmer«, sagte Elena nun wieder in tonlosem Deutsch zu Christina, »er wird dir für die Zeit deines Aufenthaltes zur Verfügung stehen. Solltest du irgendwelche Fragen oder Wünsche haben, wende dich an ihn.« Christina konnte den unausgesprochenen Nachsatz »… und nicht an mich!« deutlich heraushören. Elena machte eine seltsame Handbewegung, halb Winken, halb Wegscheuchen, und verschwand so plötzlich durch eine Seitentür, als hätte sie es auf einmal furchtbar eilig. Vielleicht musste sie dringend auf die Toilette. Christina grinste bei dem Gedanken daran, wie jemand auf der Toilette sitzen musste, der einen Jumpsuit trug: völlig entblößt. Auch Nino grinste und sein Gesicht sah gar nicht mehr so kalt aus, wie es eben noch gewirkt hatte: »Offensichtlich gefällt es dir hier«, sagte er auf Englisch.

»Oh, ich habe nicht deshalb gelächelt, sondern weil …«

Im letzten Augenblick fiel Christina ein, dass die Ursache ihres Grinsens ein nicht unbedingt angebrachter Gedanke gewesen war. Sie tat, als wäre ihr eine Vokabel entfallen.

»Macht nichts, ich verstehe das. Sie ist nett. Die ganze Familie Esposito ist nett. Aber Elena …« Jetzt suchte er nach einer Vokabel oder tat so, als ob. Sein Englisch war im Grunde fließend und grammatikalisch fehlerfrei, trotzdem war nicht zu überhören, dass er Italiener war — er klang wie die stereotypen Mafiosi in amerikanischen Gangsterfilmen. Wahrscheinlich klang Christinas Englisch für ihn nach den stereotypen Nazis in amerikanischen Kriegsfilmen. Sie grinsten einander an: In dieser Sprache waren sie beide irgendwie Fremde.

»Ja, genau. Aber Elena«, antwortete Christina. Dann nahm Nino ihr die Reisetasche ab und sie gingen los.

4. Das Zimmer

Christina war mit der Geschichte, dem historischen Gewachsen-Sein der Villa noch nicht vertraut, und so überraschte es sie, dass das obere Ende des Treppenhauses Welten entfernt schien vom unteren: Statt in antiker Lichtflut standen sie nun in gotischer Finsternis. Der Gang, den sie entlanggingen, war fast zu eng für Ninos breite Schultern. Links und rechts hingen Gemälde, die Gesichter der gewesenen Espositos — eine Ahnengalerie. Hin und wieder ließ Nino einen Namen fallen, dessen verblichener Besitzer besondere Bedeutung gehabt haben musste, Christina kannte keinen von ihnen. Sie stiegen noch eine Treppe hinauf und alles war hölzern; eine Treppe hinunter und in den Regalen an den Wänden stapelte sich zart geblümt das Porzellan. Auf den ersten Blick schien das Haus ausschließlich aus Gängen und Durchgangszimmern zu bestehen, aber da waren auch noch Türen: die meisten geschlossen, manche halb geöffnet, wenn Christina einen Blick hinein erhaschen konnte, sah sie Räume ohne klare Funktion. Meist stand ein Tischchen mit ein paar Stühlen darin, manchmal gab es Bücherregale oder Kommoden, kunstvolle Vorhänge oder gar keine Fenster, manche Zimmer waren vollgestopft mit Zierrat, andere standen leer. In keinem der offenstehenden Zimmer waren Menschen zu sehen, manchmal aber kamen ihnen Dunkelblaue am Gang entgegen, dann blieb Nino kurz stehen und wechselte ein paar Worte mit ihnen, »Christina« sagte er häufig, meist endete das kurze Gespräch in einem Lachen und sie gingen weiter. Nino trug die Reisetasche mit nur zwei Fingern, sie schwang an seiner Seite wie ein Handtäschchen. Christina dachte daran, wie ihr wertvoller Fotoapparat darin durchgeschüttelt wurde, und gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass wohl jedes Zierdeckchen in diesem Haus weit mehr gekostet haben musste als dieser.

Anfangs hatte sie sich noch die Mühe machen wollen, sich den Weg zu merken. Sie hatte markante Punkte in ihren Gedanken notiert: Die Ahnengalerie, das Porzellanzimmer, die Glastür, links abbiegen, rechts die Treppen hinauf, wieder Treppen, noch mehr Treppen. Aber manchmal schien ihr, die Treppen würden im Hinaufgehen ihre Richtung ändern wie in Harry Potters Zauberschule, oder dass sie Zimmer, die sie bereits durchquert hatten, ein weiteres Mal durchquerten, nur dass sich diese nun an einer völlig anderen Stelle im Haus befanden. Christina musste schnell einsehen, dass es für sie unmöglich sein würde, sich nicht zu verirren, und dass sie, wenn sie sich hier zurechtfinden wollte, ganz und gar abhängig sein würde von Nino. Nachdem sie das letztendlich akzeptiert hatte, folgte sie Nino, ohne mitzudenken, ohne mitzudenken hörte sie zu, wenn er ihr etwas erklärte, wartete geduldig, während er sich mit anderen Dienstboten unterhielt. Sie ließ das Haus auf sich wirken wie ein Gemälde, ein Meisterwerk moderner Kunst, von dem sie nichts verstand. So kamen sie irgendwann und auf unergründlichen Wegen in einen Bereich des Hauses, der ordinärer und wohnlicher wirkte als die anderen: Hier gab es stinknormale Parkettböden und weiß verputzte Wände, dort und da hingen Filmplakate oder Fotos von berühmten Schauspielerinnen, die Teppiche waren fransig, die Möbel alle von Ikea, aus den Zimmern drangen Stimmen, irgendwo lief ein Fernseher.

»Das ist der Wohnbereich für das Personal«, erklärte Nino, während er schon wieder abbog und erneut eine Treppe hinaufstieg, Christina immer ein paar Schritte hinter ihm.

»Ihr lebt also auch hier?«, fragte Christina, obwohl Elena ihr das ja eigentlich schon erzählt hatte, sie konnte es nur immer noch nicht so ganz glauben.

»Natürlich«, antwortete Nino, »wo sollten wir denn sonst wohnen?«

»In Malvita.«

»Das ist doch viel zu weit weg. Und überhaupt …« Er überlegte.

»Und überhaupt?«, hakte Christina nach.

»In Malvita gibt es doch nichts mehr.«

»Seit die Fabrik zugesperrt worden ist?«

»Genau. Hier gibt es alles. Hinter dieser Tür dort ist übrigens der Schlafsaal der Zimmermädchen …«

Jetzt nahmen die Treppen kein Ende mehr. Christina kam ganz außer Atem. »Hast du auch gearbeitet … damals … in der Fabrik?«, schnaufte sie.

»Natürlich«, antwortete Nino, ihm machten die Treppen ebenso wenig Mühe wie die Reisetasche. Der Abstand zwischen Christina und ihm wurde so groß, dass er kurz stehen bleiben musste, damit sie aufholen konnte.

»Und als was hast du gearbeitet?«, fragte sie.

Die Frage schien Nino zu gefallen, er lächelte stolz, seine Huskyaugen blitzten: »Im internationalen Marketing. Wir haben diese Schuhe bis nach Amerika verkauft.«

»Warst du dort? Ich meine, in Amerika?«

»Logisch. In New York, in San Fransisco, in L. A. …« Plötzlich kam er ins Stocken, unterbrach sich selbst: »Aber das ist schon lange her. Hier verdiene ich besser.«

Dann ging er wieder los, diesmal noch schneller als zuvor.

Sie stiegen ganz in den Dachboden hinauf, und mit jedem Stockwerk wurde es schwüler. Christina hätte gerne noch weitergeredet, ihn ausgefragt über die Fabrik und Amerika, aber sie war zu sehr mit dem Atmen beschäftigt. Endlich erreichten sie das oberste Stockwerk: ein schmaler, kurzer Gang, an den nur noch zwei Türen grenzten.

»Hier ist es«, sagte Nino und öffnete die rechte. Sofort stieg ihnen der Geruch von Holz und Putzmittel in die Nase. Die Dielen knarrten laut, als sie den Raum betraten, und dann ein zweites Mal, als Nino die Tasche abstellte. Das Zimmer sah aus wie aus einer älteren, etwas schäbigen Frühstückspension herausoperiert, eine wenig luxuriöse Organspende. Die Möbel (ein Bett, ein Nachtkästchen, ein Kleiderschrank) waren aus dunklem Holz, eckig und unelegant, aber sie erfüllten ihren Zweck. Da sich das Zimmer im Dachboden befand, verlief die rechte Zimmerwand spitzwinkelig als Schräge, das Bett war so gut es ging darunter hineingeschoben. Christina wusste jetzt schon, dass sie sich jeden Morgen beim Aufwachen daran den Kopf anschlagen würde. An der geraden, linken Zimmerwand waren ein Waschbecken und eine Dusche angebracht, hinter einer Plastiktrennwand versteckt sogar eine Toilette. Christina widerte der Gedanke an, mitten in ihrem Schlafzimmer aufs Klo zu gehen, allerdings war es wohl ein Ding der Unmöglichkeit, in diesem Haus eine andere Toilette zu finden, und selbst wenn es ihr gelingen würde, würde sie spätestens am Weg zurück verloren gehen.

Alles in allem musste Christina erkennen, dass ihr ihre Tante (oder war es Onkel Tonio oder Marietta oder Elena gewesen) nicht unbedingt das schönste Zimmer der Villa zugeteilt hatte. Vielleicht wurden die anderen ja auch für die »echten« Gäste benötigt. Christina setzte sich aufs Bett, Nino öffnete das Fenster. Die Luft, die hereinströmte, war sehr warm, aber sie roch angenehm nach Wiese und Erde und Frühsommer. Wenn Christina zu Hause in ihrem Zimmer das Fenster öffnete, roch es nach Autoabgasen, egal zu welcher Jahreszeit.

»Das ist dein kleines Reich für diese Woche. Oder bleibst du auch noch nach der Hochzeit?«

Über die Abreise hatte Christina noch gar nicht nachgedacht. Sie hatte auch noch nicht darüber nachgedacht, wie sie sich hier die Zeit bis zur Hochzeit vertreiben sollte. Die Feierlokalitäten waren sicher innerhalb eines einzigen Tages besichtigt, vielleicht wollte Marietta ja auch noch Fotos von den Vorbereitungen haben oder ein Probeshooting, eine Art Eignungstest?

»Ich glaube, ich werde am Tag nach der Hochzeit abreisen. Wann lerne ich die Braut eigentlich kennen?«

»Beim Abendessen«, antwortete Nino. Das erinnerte Christina daran, wie hungrig sie eigentlich war. Ganz leicht klebte immer noch der süße Bonbongeschmack an ihrem Gaumen.

»Und Tante Ada und Onkel Tonio?«

»Auch beim Abendessen.«

»Und wann gibt es dieses Abendessen? Und wo?«

»Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich hier abholen.«

Das hieß auch: Bleibe in diesem Zimmer, bis ich dich abhole. Christina fand den Gedanken daran zwar nicht besonders prickelnd, sie hätte sich aber andererseits auch gar nicht getraut, auf eigene Faust im Haus herumzuirren. Müde war sie außerdem. Nino blieb noch einen Augenblick lang stehen, mitten im Zimmer, wahrscheinlich wartete er darauf, dass Christina irgendeinen Wunsch oder Befehl äußerte, aber sie saß nur da auf der Bettkante, ein bisschen verloren, und starrte ihn an.

»Na dann«, sagte er (eigentlich war es ein langgezogenes »weeeell«), »solltest du irgendetwas brauchen: Du findest mich in der Küche.«

»Okay«, antwortete Christina. Sie hatte keine Ahnung, wo sich die Küche befand.

»Okay«, sagte Nino. Er öffnete die Tür und blieb noch einmal kurz stehen. Er schien zu überlegen, ob jene Grußgeste, die er der Familie Esposito entgegenbringen musste, auch für Christina galt, konnte sich offensichtlich nicht entscheiden, hob seine rechte Hand ein wenig und ließ sie wieder sinken, dann ging er.

Christina zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett, die Wand führte beängstigend nah an ihrer Nase vorbei. Ihr Magen grummelte und sie war schrecklich müde. Sie musste eigentlich auch schon auf die Toilette, wollte das aber so lange wie möglich hinauszögern. Hoffentlich funktionierte die Spülung wenigstens. Es war noch Zeit bis zum Abendessen. Sie schloss ihre Augen.

Sie wusste, dass gleich dieser Geruch kommen würde, dieser fremde und zugleich allzu bekannte Geruch, aber diesmal kam er nicht, und in ihrem Traum irrte sie durch die zahllosen Gänge und Zimmer und Treppenhäuser der Villa Esposito.

5. Christina