Die Alten von Gerschauen - Artur Brausewetter - E-Book

Die Alten von Gerschauen E-Book

Artur Brausewetter

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Beschreibung

In einer stürmischen Nacht zu Zeiten des Ersten Weltkriegs ist die gefeierte junge Schauspielerin Camilla Normann aus Versehen drei Stationen zu früh aus dem Zug ausgestiegen und in einem winzigen ostpreußischen Provinznest gelandet. Der Wagen zum Gut Gerschauen, wo sie um ein Nachtlager bitten will, ist ihre letzte Rettung. Im Wagen lernt sie den Gutserben Hans Bendemann kennen. Auf dem Gut angelangt, trifft sie auf Die Alten von Gerschauen, eine alte preußische, vom Militär geprägte Familie, die sich dort zur Feier des achtzigsten Geburtstags des alten Majors Bendemann versammelt hat. Die Alten begegnen der jungen Frau mit dem etwas anrüchigen Beruf zunächst mit distanziertem Argwohn, doch rasch entwickelt sich eine eigenartige Zuneigung zwischen den so unterschiedlichen Menschen. Nur der junge Hans Bendemann scheint der schönen Camilla, sehr zu ihrem Bedauern, aus dem Wege zu gehen ... Eine mit ruhiger Hand glänzend und höchst einfühlsam erzählte Meistererzählung Brausewetters!-

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Artur Brausewetter

Die Alten von Gerschauen

Erzählung

Saga

Ebook-Kolophon

Artur Brausewetter: Die Alten von Gerschauen. © 1916 Artur Brausewetter. Originaltitel: Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711448236

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Seiner lieben Frau Elsezu eigen

Der Abend dämmerte auf. Der Zug, der eine Anhöhe zu überwinden hatte, fuhr langsamer. Über die Berglehne voll jungen Waldes krochen weitgedehnte Schatten, nichts hörte man als das Fauchen der Maschine, die alle Kraft anstrengte, das Hindernis zu nehmen.

Der Zug war anfangs stark besetzt gewesen, denn die Pfingstferien, die in diesem Jahre früh fielen, hatten begonnen. Je weiter der Abend vorschritt, um so mehr leerten sich die Abteile. Frische junge Mädchen mit blühenden Augen und Wangen sprangen vom Trittbrett, einer Mutter oder Geschwistern entgegen, die auf dem Bahnsteig ihrer harrten. Ein freudiges Begrüssen und Umarmen, ein lebhaftes Fragen und Erzählen, dann wurde der Wagen bestiegen, der auf dem kleinen Haltepunkt wartete, und hinaus ging es mit pochendem Herzen in die Freiheit, in die Heimat, in das Leben.

Mehrere Male schon hatte Camilla das Bild beobachtet, denn der Zug, der es wohl nie sehr eilig hatte, weilte heute auf jedem Haltepunkt eine kleine Ewigkeit. Ihre eignen Kindheitstage waren mit ihm wach geworden, wo sie auch an solch einem Abend in die Ferien fuhr, wenn auch nicht ins Elternhaus, so doch zu einem entfernten Verwandten, der sie aus der Pension der dumpfen Stadt auf sein schönes Gut, in sein lichtes Haus lud.

Jetzt machte sie nach langer, sehr langer Pause wieder eine Reise aufs Land. Eine Freundin, deren Mann im Felde stand, hatte sie auf ihr grosses Gut gebeten, aus dem sie im Herbst hatte fliehen müssen, und auf dem sie jetzt wieder friedlich und sicher wohnte.

Ihr war diese Einladung gerade recht gekommen. Ihr Gastspiel als Mariamne und Judith in dem Neuen Schauspielhause der Provinzialhauptstadt, das einen dieser Zeit angemessenen ernsten Spielplan pflegte, war beendet, und die schönen Frühlingstage sollten ihr eine kurze Erholungsfrist gewähren. Wie freute sie sich auf die Stille und auf die erquickende Luft des Landes, die sie wer weiss wie lange nicht geatmet hatte, und die sie nach mancher Arbeit und inneren Erregung wieder jung und stark machen sollten!

Sie sah aus dem Fenster. Alles um sie her so still und geborgen, verheissendes Keimen, fleissiges Arbeiten, jetzt noch zu so später Stunde, vor der Pflugschar die dampfenden Pferde — man sollte es nicht glauben, dass hier in der nächsten Nähe einmal der Feind gewütet. Aber bis an diesen Strich des gesegneten ostpreussischen Landes konnte er nicht gedrungen sein. Keine leise Spur der Verwüstung, nicht einmal der Unordnung, war zu sehen.

Langsam wie der Zug kroch die Zeit. Trübe und regenschwer hing der Himmel über der dunkelnden Erde. Das Abendrot verblasste, die ersten Tropfen fielen, wie harte Finger pochten sie an die Scheiben. Die Nacht herrschte, der Zug stampfte durch ihr dunkles Reich.

Camilla hatte sich in die Kissen zurückgelehnt. Draussen war nichts mehr zu sehen als einige Funken, die durch den dichten Rauch der Lokomotive sprühten, hier und da das Licht eines vorübergleitenden Wärterhäuschens oder die bunten Laternen der nahenden Station. Nur kurze Zeit noch, dann war auch ihr Ziel erreicht.

Sie war müde. Halbwach blinzelte ihr Auge in die Flamme da oben in dem runden Glase, die in ihrem Gefängnis unruhig hin und her flackerte. Allerlei Bilder zogen durch ihre Seele: die verschiedenen Rollen, in denen sie in der letzten Zeit aufgetreten war, dann waren es wieder Verwundete, vor denen sie so manches Mal ihre Kunst gezeigt, oder einige Schreckensszenen aus dem Kriege, von denen sie eben in der Zeitung gelesen. Nun schoben sich die verschiedenen Bilder eins in das andre, verwirrten sich in dem regelmässigen, einschläfernden Stampfen der ratternden Räder und lösten sich schliesslich in lauter wirre, bald komische, bald verzerrte Gestaltungen.

„Perditten!“

Sie fuhr auf, ganz laut und deutlich hatte sie es rufen hören — richtig, der Zug hielt; sie musste eingeschlafen sein, denn sie hatte nicht gemerkt, dass er langsamer gefahren war.

Es war allerhöchste Zeit. Sie raffte ihre Sachen zusammen, die glücklicherweise alle geordnet waren, und stand nun im feuchten, dunklen Abend auf einem einsamen Bahnsteig, indes der Zug sich langsam entfernte.

Kein Mensch war zu sehen, ausser einem Postschaffner, der einen kleinen Gepäckwagen, der kaum halb gefüllt war, davonschob, und dem Stationsbeamten mit der roten Mütze, einem älteren Manne, der sich aus dem unwirschen Wetter so schnell wie möglich in sein schützendes Verlies zu flüchten suchte. Sie hatte ihn eingeholt.

„Können Sie mir vielleicht sagen, ob ein Wagen aus Alt-Drosseln für mich da ist?“

„Alt-Drosseln?“ fragte der Beamte und sah sie erstaunt an. „Alt-Drosseln? Solch ein Gut kenne ich gar nicht.“

„Kennen Sie gar nicht? Es soll doch nur eine Stunde von der Bahnstation entfernt liegen.“

„Das ist unmöglich. Ich bin seit fünf Jahren hier und kenne jedes Gut in der ganzen Umgebung — ein Alt-Drosseln gibt es wohl. Aber es liegt bei Perditten.“

„Nun ja, das meine ich; wir sind doch hier in Perditten.“

Der Alte sah sie noch erstaunter an. „Wir sind in Mellbitten. Perditten kommt erst drei Stationen später.“

„Kommt erst drei Stationen später —?“

Sie konnte die Worte kaum herausbringen, ein tödlicher Schrecken lähmte ihr die Zunge. Nun war ihr alles klar. Sie war gerade ein wenig eingeschlummert, als der Schaffner den Namen der Station rief, hatte das ähnlich klingende Mellbitten als Perditten verstanden und war in aller Eile aus dem Zuge gestürzt — drei Stationen zu früh. Herrlich!

Der Regen, der ein wenig nachgelassen, setzte jetzt mit erneuter Stärke ein, mit ihm wuchs der Sturm und heulte um das freiliegende Stationsgebäude, in dessen Halle sie mit dem Vorsteher getreten war. Am fernen Horizont zuckten hastende Lichter auf, die schnell emporsprangen und wieder verschwanden, dazu grollte ein dumpfer Donner, obwohl die Luft frisch, ja kalt war.

„Geht noch ein Zug nach Perditten?“

„Es war der letzte.“

„Wie weit wäre es für einen Wagen von hier bis Alt-Drosseln?“

„Mindestens vier Stunden.“

„Würde man hier oder in der Nähe ein Fuhrwerk bekommen?“

„Es ist ausgeschlossen. In dieser Zeit gibt Ihnen niemand Wagen und Pferde, noch dazu bei diesem Wetter und in der Nacht.“

„Könnte man nicht nach Perditten drahten, dass der Wagen aus Alt-Drosseln, der dort auf mich wartet, hierherkäme?“

„Er würde fünf Stunden brauchen. Perditten liegt eine kleine Meile jenseit von Alt-Drosseln.“

Camilla war in ihrem bewegten Leben in manche unbehagliche Lage gekommen. Sie hatte nie den Mut verloren und war durch ihre Klugheit und Tatkraft immer Siegerin geblieben. Dies aber war zuviel. Fremd und allein in der dunklen Nacht auf einer kleinen Haltestelle im strömenden Regen zu stehen und keinen Ausweg zu wissen!

Sie kämpfte mit den Tränen. Der Beamte merkte es nicht; seine Arbeit war getan, er erledigte schnell die abgegebene Post und wollte in sein Bett oder an sein Glas wärmenden Tees.

„Ist hier ein Gasthaus, in dem ich unterkommen könnte?“

„Ein kleines — aber ob es zur Aufnahme für eine Dame geeignet ist, weiss ich nicht. Es sind einige Soldaten dort einquartiert.“

„Wo liegt es?“

„Gerade über die Strasse, zur linken Hand.“

„Und kein Gut in der Nähe, auf dem ich wenigstens für die Nacht bleiben könnte?“

Der Beamte zuckte die Achseln. „In der Nähe ist nichts.“

Camilla horchte auf; ihr war, als hörte sie das Rattern eines Wagens über den holprigen Damm auf der andern Seite des Stationsgebäudes.

„Der Gerschauer Wagen,“ sagte der Beamte, „er brachte einen Besucher zur Bahn.“

„Und fährt jetzt nach Hause?“ fragte Camilla schnell. Und dann: „Rufen Sie ihn zurück!“

Der Beamte machte eine bedenkliche Miene. „Das kann ich nicht. Aber der alte Ludwig kehrt erst da drüben ein und nimmt seinen Korn.“

Camilla merkte, dass mit dem Manne nichts anzufangen war, sie musste auf eigne Faust handeln.

„Ich will sehen, ob ich da drüben eine Unterkunft finde,“ sagte sie.

Der Beamte, froh, so leichten Kaufs von der Fremden loszukommen, der er beim besten Willen nicht helfen konnte, winkte dem Manne, der vorhin die Post vom Zuge geholt, dass er die Sachen der Dame nehme und sie zum Krugwirt führte.

Sie drahtete nach Perditten, dass sie den Anschluss verfehlt und der Wagen nicht warten sollte. Dann machte sie sich auf den Weg.

In der niedrigen Gaststube sassen beim trüben Licht einer von der Decke herabhängenden schwelenden Petroleumlampe einige Bahnarbeiter und bliesen dichte Wolken starkduftenden Tabaks aus kurzen Pfeifen, während eine Anzahl von Soldaten in feldgrauer Uniform an einem Tische, der zur Auszeichnung mit einer geblümten, wenig sauberen Decke belegt war, ihre Flasche Bier tranken.

Mit grossen Augen starrten jetzt sowohl die Arbeiter wie die Soldaten die eintretende vornehme Dame an, so dass Camilla hier noch unbehaglicher zumute wurde als vorhin bei dem unzugänglichen Beamten.

„Kann ich die Wirtin sprechen?“ fragte sie einen Mann, der, ein grosses Seidel mit Bier neben sich, am Schenktisch stand.

„Marieke!“ rief der.

Eine behäbige Frau mit runden Wangen und wässerigen, gutmütigen Augen erschien, und Camilla äusserte ihre Bitte nach einem Zimmer.

„Es wird sich schwer machen lassen,“ meinte die Frau. Aber sie schien nachzudenken, tauschte ein Wort mit ihrem Manne und stieg dann eine knarrende Treppe mit rohgezimmertem Geländer nach oben hinauf.

Da erhob sich von einem kleinen Tische, der ganz im Dunkeln in einer Ecke gestanden, ein alter grauhaariger Mann in einem vom Regen durchnässten Kutscheranzug mit blanken Knöpfen, legte seinen Nickel auf den Schenktisch, wünschte gute Nacht und verliess die Stube.

Aber schon war ihm Camilla gefolgt. „Sie sind der Kutscher aus Gerschauen?“ fragte sie.

„Das bin ich.“

„Wie heisst Ihr Herr?“

„Major Bendemann.“

„Wie weit ist es bis Gerschauen?“

„Bei den Wägen ein’ Stund’ — aber ein’ chute.“

„Sie werden mich mitnehmen.“

Der Alte sah sie mit einem halben Blicke an und schüttelte den Kopf. „Dazu hab’ ich keinen Auftrag.“

„Sie werden es dennoch tun!“

„Ich wärd’s nich tun.“

„Dachten Sie, ich würde hier auf der Strasse übernachten? Oder in dieser elenden Baracke?“

„Das könne Se halten, wie Se wolle. Das is meine Sach nich. Aber mitnähme is nich. Der Herr Major habe mir ein für alle Male gesagt: ‚Ludwich, du nimmst nie einen Menschen von unterwägens mit!“

Trotz dem Ernst ihrer Lage musste Camilla lächeln. „Ich bin kein Mensch von unterwegens. Ich bin eine Dame gerade wie Ihre gnädige Frau auf Gerschauen. Und nun, Ludwig, keine Umstände! Öffnen Sie den Schlag, und dann vorwärts! Alles andre wird meine Sache sein.“

Sie sprach es so bestimmt, ein so starker Herrenwille glühte durch ihre Worte, dass Ludwigs Gegenwille versagte. Ärgerlich und knurrend, aber doch gehorsam öffnete er den Schlag des alten Halbwagens, nahm den Koffer der Dame auf den Bock, verpackte ihre kleineren Sachen unter den grossen ledernen Tambour, schloss diesen sorgsam, knüpfte ihn an beiden Seiten fest, kletterte auf seinen Kutschersitz und ergriff die Leine.