Die Amato-Schwestern: Der Stoff der Träume - Jo Kommer - E-Book

Die Amato-Schwestern: Der Stoff der Träume E-Book

Jo Kommer

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Santiago de Chile, Ende der 1970er-Jahre: Nach dem tragischen Tod ihres Vaters steht Teresa vor den Trümmern des Familienunternehmens. Entschlossen, die Erinnerung an Giuseppe zu bewahren, setzt sie alles daran, die Amato-Strumpffabrik wiederaufzubauen. Doch das Schicksal hält zahlreiche Herausforderungen bereit.
Während Teresa mit Hingabe an ihrem Traum arbeitet, bricht ihre Familie auseinander: Ihr Sohn Felipe gerät auf die schiefe Bahn, und ihr Ehemann Raúl verliert sich im Strudel von Arbeitslosigkeit und Alkohol. Als auch noch ihre geliebte Mutter María schwer erkrankt, droht Teresa den Boden unter den Füßen zu verlieren. Doch inmitten des Chaos findet Teresa unerwartete Unterstützung ...

Eine emotionale Reise mit Liebe, Verlust und der Kraft der Familie. »Die Amato-Schwestern - Der Stoff der Träume« erzählt die bewegende Geschichte einer Frau, die gegen alle Widerstände kämpft, um ihr Erbe zu bewahren und ihre Familie wieder zu vereinen.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.



Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51DanksagungÜber die AutorinImpressum

Liebe Leserin, lieber Leser,

herzlichen Dank, dass du dich für ein Buch von beHEARTBEAT entschieden hast. Die Bücher in unserem Programm haben wir mit viel Liebe ausgewählt und mit Leidenschaft lektoriert. Denn wir möchten, dass du bei jedem beHEARTBEAT-Buch dieses unbeschreibliche Herzklopfen verspürst.

Wir freuen uns, wenn du Teil der beHEARTBEAT-Community werden möchtest und deine Liebe fürs Lesen mit uns und anderen Leserinnen und Lesern teilst. Du findest uns unter be-heartbeat.de oder auf Instagram und Facebook.

Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich für unseren kostenlosen Newsletter an: be-heartbeat.de/newsletter

Viel Freude beim Lesen und Verlieben!

Dein beHEARTBEAT-Team

Melde dich hier für unseren Newsletter an:

Über dieses Buch

Santiago de Chile, Ende der 1970er-Jahre: Nach dem tragischen Tod ihres Vaters steht Teresa vor den Trümmern des Familienunternehmens. Entschlossen, die Erinnerung an Giuseppe zu bewahren, setzt sie alles daran, die Amato-Strumpffabrik wiederaufzubauen. Doch das Schicksal hält zahlreiche Herausforderungen bereit.

Während Teresa mit Hingabe an ihrem Traum arbeitet, bricht ihre Familie auseinander: Ihr Sohn Felipe gerät auf die schiefe Bahn, und ihr Ehemann Raúl verliert sich im Strudel von Arbeitslosigkeit und Alkohol. Als auch noch ihre geliebte Mutter María schwer erkrankt, droht Teresa den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Doch inmitten des Chaos findet Teresa unerwartete Unterstützung …

Für alle Frauen,die Träume haben

Kapitel 1

Santiago de Chile, Anwesen der Amatos, 18. April 1978

Teresa Amato saß auf der Veranda. Sie ließ sich von den letzten Sonnenstrahlen wärmen und beobachtete gedankenverloren, wie die Kinder um sie herum spielten. Ihre Söhne Joaquín und Felipe waren damit beschäftigt, die drei Mädchen, die Teresa hütete, während ihre Mütter in der Fabrik waren, in die Kunst des Murmelspielens einzuführen.

Bald würden die Arbeiterinnen die letzten Strümpfe für den Tag hergestellt haben und aus der Fabrikhalle strömen, um den Heimweg anzutreten. Die Frauen würden ihre Töchter einsammeln, und Teresas Vater Giuseppe würde zum Abendessen erscheinen, das María und Gabriela gerade zubereiteten.

Bei dem Gedanken an die köstlichen Speisen knurrte Teresa der Magen. Ihre Mutter war eine hervorragende Köchin, genauso wie die Haushälterin Gabriela, die schon seit über dreißig Jahren bei der Familie war. Die beiden ergänzten sich in der Küche und zauberten sowohl ausgefallene als auch traditionelle kulinarische Kreationen.

Teresa seufzte leise und blinzelte in die Abendsonne, deren letzte Strahlen über die hohe, weinberankte Mauer kletterten, die das Amato-Anwesen umgab. Dann nahm sie den Brief von ihrer Schwester, der neben ihr auf der Bank lag, und faltete ihn auseinander. Sie hatte ihn schon mehrfach gelesen, und trotzdem musste sie ihre Augen immer wieder über die geschwungene Schrift gleiten lassen.

Amelia lebte nun schon seit fünf Jahren in Schweden. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht, dachte Teresa. Für sie fühlte es sich so an, als hätten der folgenträchtige Putsch und Amelias Flucht ins Exil erst gestern stattgefunden. Bei den lebhaften Erinnerungen an diese traumatischen Ereignisse lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Ihre Schwester schien sich von dem radikalen Einschnitt in ihrem Leben jedoch erholt zu haben. Sie berichtete in ihrem Brief mit Freude darüber, dass sie nun endlich die schwedische Staatsbürgerschaft bekäme und nicht länger mit einem Pass für Staatenlose unterwegs sein müsse. Außerdem habe sie ein Angebot für eine Anstellung in Guinea-Bissau erhalten, wo sie mit ihrer Tochter Sofía hinziehen wolle.

Teresa legte den Brief zur Seite und schaute zu den Kindern hinüber, die auf den Holzdielen der Veranda die kleinen Glaskugeln hin und her schossen. Nachdem sie Amelias Schreiben zum ersten Mal gelesen hatte, war sie in den Salon der Amato-Villa gegangen, hatte den Atlas aus dem großen Bücherschrank gezogen und nachgeschlagen, wo dieses Guinea-Bissau lag. Als sie feststellte, dass es ein Land an Afrikas Westküste war, hatte ihr der Atem gestockt. Die anschließende Recherche in einem Lexikon hatte ergeben, dass es zu den ärmsten Ländern der Erde gehörte.

Man sprach dort portugiesisch. Es war dem Spanischen nicht ganz unähnlich, und so war es Amelia leichtgefallen, diese Sprache bei ihrem Aufenthalt in Portugal zu erlernen. In dieses Land hatte sie ihre erste Anstellung nach dem Aufbaustudium im Stockholm geführt.

Teresa atmete tief durch. Sie hatte ihre Schwester seit dem Putsch nicht mehr gesehen. Amelia konnte nicht nach Chile zurückkehren, die Diktatur verhinderte das. Im eigenen Land wurden immer noch Leute verfolgt, und selbst im Ausland spürte der Geheimdienst Feinde des Regimes auf und brachte sie um. Amelia war also nicht gänzlich in Sicherheit, nur sicherer als in ihrer Heimat.

Teresas Traum war es immer gewesen, ihre Schwester eines Tages in Schweden zu besuchen, aber nun ging Amelia nach Afrika. Das Leben ist so unendlich verworren, dachte Teresa, dass es schwerfällt, Pläne für die Zukunft zu schmieden, denn früher oder später werden sie doch vom Schicksal oder von bösen Geistern über den Haufen geworfen.

Plötzlich wurde sie von aufgebrachten Rufen aus ihren Gedanken gerissen. Alarmiert sah sie auf und entdeckte eine der Arbeiterinnen, die über den Hof auf die Veranda zugerannt kam.

»Doña Teresa! Ihr Vater!«

Erschrocken sprang sie auf und starrte die herbeieilende Frau mit aufgerissenen Augen an. Ihr Puls war schlagartig in die Höhe geschossen, und ihre Hände zitterten. Sie wusste, dass etwas passiert sein musste, und doch stand sie wie angewurzelt da, konnte sich nicht rühren. Sie war in einer Schockstarre.

»Er ist zusammengebrochen«, keuchte die Arbeiterin atemlos, nachdem sie die Veranda erreicht hatte.

Erst jetzt war Teresa in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Sagen Sie meiner Mutter Bescheid. Sie ist in der Küche!«, wies sie die Frau an. Dann stürmte sie von der Veranda, durch das Murmelspiel hindurch, über den Hof in die Fabrik.

Die Maschinen in der Halle ratterten, als wäre nichts geschehen, doch keiner bediente sie. Alle standen in einer Traube versammelt um den Patrón der Strumpffabrik, der reglos auf dem Boden lag. Einige Frauen hatten sich neben ihn gekniet, um Erste Hilfe zu leisten. Eine hielt seinen Kopf, eine andere fächelte ihm Luft zu, und alle redeten auf ihn ein, um ihn wieder ins Hier und Jetzt zu holen.

Teresa schob die Frauen auseinander, die ihren Vater Giuseppe umringten, und warf sich zu ihm auf den Boden.

»Papá!«, sprach sie ihn verängstigt an und rüttelte sanft an seinen Schultern.

»Der Krankenwagen ist unterwegs!«, informierte sie Juan, Giuseppes Assistent, der aus dem Büro durch die Fabrikationshalle herbeigeeilt war, wo er den Notruf abgesetzt hatte. Obwohl seine Worte bedeuteten, dass Hilfe unterwegs war, atmete niemand auf. Erst als sich Teresas Mutter María ihren Weg durch die Menschenansammlung gebahnt und zu ihrem Mann gesprochen hatte, ging ein Raunen der Erleichterung durch die Runde, denn beim Klang der Stimme seiner Frau hob Giuseppe die Lider.

»Oh Gott, Papá, was ist mit dir los?«, fragte Teresa mit zitternder Stimme und blickte in seine glasigen Augen, die die Ratlosigkeit aller Anwesenden widerspiegelten.

Kapitel 2

Santiago de Chile, Villa der Amatos, Mai 1978

Teresa zog ihrem Vater warme Strümpfe an und deckte ihn zu. Dann setzte sie sich zu ihm ans Bett.

Seit seinem Zusammenbruch in der Fabrik hatte er sich nicht wieder erholt. Sein Zustand war delikat, man hatte im Krankenhaus eine fortgeschrittene Krebserkrankung festgestellt. Keiner wusste, woher sie kam. Was war der Grund? Das Schicksal, ein böser Fluch, die Zigarren oder der Stress, dem Giuseppe durch die angespannte politische und wirtschaftliche Lage mit seinem Unternehmen lange Zeit ausgesetzt war? Selbst wenn sie es herausgefunden hätten, würde es keinen Unterschied machen.

Teresa ließ ihren Blick über den hageren Körper schweifen, der sich unter der Bettdecke abbildete. Schon lange hatte ihr Vater nicht mehr richtig gegessen und war immer weniger geworden. Damals dachte sie, dass es der Kummer war, der ihm Amelias Flucht ins Exil beschert hatte und der schwindende Erfolg der Fabrik. Vielleicht war es auch so gewesen. Jetzt aber war es der Krebs, der ihn auffraß. Giuseppe hatte so stark abgenommen, dass er nur noch Haut und Knochen war. Es war unendlich traurig, mit anzusehen, wie er jeden Tag weiter abbaute.

Oft war er nicht klar im Kopf und schien vergessen zu haben, wer seine Enkelkinder waren. Dann wusste er auch nicht, welcher Monat, geschweige denn welcher Tag war. In solchen Momenten dachte er, dass Amelia noch immer mit ihrer großen Liebe Ignacio im Süden Chiles auf einem Landgut wohnte. Die dramatischen Ereignisse, die die beiden auseinandergerissen hatten, schienen in Vergessenheit geraten zu sein. Teresa brachte es nicht übers Herz, ihm die Wahrheit zu erzählen. Über Amelia, die in Europa im Exil lebte, bald nach Afrika gehen würde, und den Schwiegersohn Ignacio, der allein in den Süden zurückgekehrt war, wo er sich ein neues Leben in seiner Heimat aufgebaut hatte.

Manchmal jedoch war Giuseppe klar im Kopf, und dann sprach er mit schwacher Stimme zu seiner Tochter, so wie an diesem Nachmittag.

»Hija«, hörte sie ihn leise sagen.

»Ja, Papá«, antwortete Teresa aufmerksam und nahm seine Hand.

»Wenn ich mal nicht mehr bin, dann möchte ich, dass du alles dafür tust, dass die Fabrik weiterläuft.«

Teresa hielt den Atem an. Sie hatte das Gefühl, ihn nicht richtig verstanden zu haben. Seit ihrer Kindheit war es ihr Traum gewesen, den Familienbetrieb zu übernehmen. Aber ihr Vater war sehr traditionsbewusst und wollte die Strumpffabrik dem erstgeborenen Sohn übergeben, ihrem Bruder Sergio.

»Wie meinst du das?«, fragte sie deshalb vorsichtig.

»Ich möchte, dass du Sergio unterstützt. Ich glaube, er schafft das nicht allein«, erklärte er.

Teresa war enttäuscht, das zu hören. Sie hatte gehofft, er würde ihr die Leitung des Unternehmens am Ende doch übertragen. Sie sollte aber nur ihrem Bruder helfen, sie zu führen. Dennoch empfand sie diese Geste als Anerkennung ihres jahrelangen Bemühens, in der Fabrik etwas tun zu dürfen. Ihr Vater hatte sie also nicht die ganze Zeit verschmäht und aus dem Betrieb ferngehalten, weil er ihr die dortigen Aufgaben nicht zugetraut hätte, sondern schlicht, weil er immer auf seinen Sohn fixiert gewesen war.

Nach Giuseppes Zusammenbruch war Sergio eingesprungen und führte nun das Unternehmen, das sein Vater mühsam aufgebaut hatte. Doch obwohl dieser die meiste Zeit ans Bett gefesselt war, entging ihm nicht, dass sein Sohn nur halbherzig bei der Sache war. Die Leidenschaft, die er als Patrón in seine Fabrik hatte einfließen lassen, fehlte Sergio.

Teresa fühlte, dass ihr Vater Angst hatte, ihr Bruder könnte unüberlegte Entscheidungen treffen oder gar die Lust verlieren, und so sein Lebenswerk zerstören. Er hatte sich nie sonderlich für das Familienunternehmen interessiert und hatte nun zwangsweise eintreten müssen. Er war im Grunde ins kalte Wasser geworfen worden, denn als Giuseppe noch aktiv gewesen war und ihn in die Geschäfte hätte einweisen können, hatte er sich fast nie in der Fabrik blicken lassen.

»Ich habe diese Firma aufgebaut, damit ihr alle etwas davon habt«, fuhr Giuseppe mit zerbrechlicher Stimme fort. »Ich möchte, dass auch meine Enkelkinder noch davon profitieren.«

Teresa nickte und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Ein Gefühlschaos brach in ihr aus.

»Ich habe so viele schwere Zeiten mit der Fabrik durchgestanden«, sprach ihr Vater weiter. »Ich möchte nicht, dass sie untergeht.«

»Ja, Papá, das verstehe ich«, sagte Teresa in beruhigendem Tonfall und kämpfte mit den Tränen. Die Vorstellung daran, die Firma könnte mit Giuseppes Ableben der Vergangenheit angehören, fraßen sie fast auf.

»Ich möchte, dass du alles dafür gibst, dass Sergio sie gut führt.« Teresa nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie wollte stark sein und ihrem Vater den Eindruck vermitteln, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte.

»Versprichst du mir, dass du alles tun wirst, damit das Unternehmen weiter besteht?«

»Ja, Papá, das verspreche ich dir.«

Er nickte ihr dankbar zu, dann sah er ihr in die Augen, und Teresa konnte darin lesen, dass er stolz auf sie war. All die Male, die er sie dabei erwischt hatte, den Fabrikfrauen bei der Produktion zu helfen. Wie sie sich von ihnen in die Maschinen hatte einweisen lassen, mit ihnen gemeinsam die gefärbten Strümpfe auf den Leinen hinter der Fabrik zum Trocknen aufgehängt hatte. Und wie sie ihm im Büro beim Versiegeln der Briefe geholfen hatte. Er wusste also, dass sie bei diesen Gelegenheiten nicht nur Stempel in rotes Siegelwachs gedrückt, sondern auch ihre Nase in die Geschäftsunterlagen gesteckt hatte – weil sie so sehr für die Strumpffabrik der Amatos brannte.

»Wieso gehst du nicht auf die Sekretärinnenschule?«, holten Giuseppes leise Worte sie aus ihren Gedanken. »Das würde dir sicher helfen, im Büro den Überblick zu behalten.« Er lächelte schwach und sorgte dafür, dass sich auch Teresas Lippen zu einem Lächeln verzogen. Zärtlich streichelte sie seine Hand und nickte dankbar.

***

Kurz nach diesem Gespräch hatte sie einen Intensivkurs belegt, um sich so schnell wie möglich das nötige Wissen anzueignen. Sie war mit Leidenschaft dabei und eine der besten Schülerinnen.

Wie immer opferte sie sich vollkommen auf, um alles unter einen Hut zu bekommen. Die Kinderbetreuung der Fabrikfrauen organisierte sie um, sodass sie selbst nur noch am Nachmittag gebraucht wurde. Morgens brachte sie die Kleinen in den Kindergarten, ihre eigenen Söhne gingen schon in die Schule. Wann immer sie konnte, sah sie in der Fabrik nach dem Rechten und half bei der Pflege ihres Vaters. Er war kein einfacher Patient, und er weigerte sich, in einem Krankenhaus behandelt zu werden. Es kamen Krankenschwestern in die Amato-Villa, um sein Leiden zu lindern, aber selbst diese Maßnahme duldete er nur widerwillig. Im kühlen Morgengrauen eines Montags erlag er schließlich im Beisein von Teresa und María seiner Krankheit.

Kapitel 3

Santiago de Chile, Cementerio General, 25. August 1978

Für einen Moment stand alles still. Die Welt um Teresa, die Maschinen der Fabrik, das rege Treiben in der Amato-Villa. Alle hielten inne. Es war eine Ära zu Ende gegangen. Der Patrón der Strumpffabrik war gestorben.

Es war traurig, und doch tat es gut, so viele Menschen zu sehen, die an diesem Tag zur Beerdigung gekommen waren. Neben zahlreichen Geschäftspartnern, Kunden und Nachbarn hatten auch etliche Arbeiterinnen ihren Weg auf den Friedhof gefunden. Teresa war dankbar dafür, denn für sie waren sie wie Familie. Viele von ihnen kannte sie schon, seit sie klein war. Sie hatten ihr die Abläufe in der Fabrik gezeigt und ihr die Maschinen erklärt. Immer heimlich, denn der Patrón hatte angeblich nicht gewollt, dass seine Tochter in der Produktionshalle herumlungerte. Teresa musste lächeln, als sie daran dachte. Oft hatte sie sich vor ihrem Vater in der Fabrik versteckt, und die Arbeiterinnen hatten sie dabei gedeckt. Es war wie ein Spiel, das Teresa als Kind große Freude bereitet hatte. Jetzt als Erwachsene wusste sie jedoch, dass ihr Vater sehr wohl immer darüber informiert gewesen war, dass sie Verstecken mit ihm gespielt hatte. Er war so gutmütig gewesen, dass er beide Augen zugedrückt und ihr ihren Spaß gelassen hatte.

Neben den Fabrikfrauen waren auch Giuseppes Assistent Juan gekommen sowie der Mechaniker, der in der Fabrik dafür verantwortlich war, alle Geräte in Schuss zu halten. Gabriela, die Haushälterin, stand neben María. Sie war ebenfalls ein Teil der Familie und in Teresas Leben, seit sie denken konnte. Unter den Trauergästen war auch Giuseppes langjähriger Freund Eduardo. Wie ihr Vater hatte er aus dem Nichts ein Unternehmen aufgebaut, eine Hemdenfabrik. Trotz Höhen und Tiefen hatte ihre Freundschaft bis zum Schluss Bestand gehabt.

Am meisten berührte Teresa aber die Tatsache, dass Ignacio aus dem Süden angereist war, um seinem Schwiegervater die letzte Ehre zu erweisen. Als er vor ihr stand, wurde ihr erst bewusst, wie tragisch es war, dass Amelia nicht anwesend sein konnte. Auch Sofía, die gemeinsame Tochter der beiden, fehlte. Es war ein bittersüßes Wiedersehen mit ihrem Schwager, das viele dramatische Momente in Erinnerung rief, aber sie war froh, dass er gekommen war. So wusste sie, dass er die Familie Amato und ihre Schwester noch immer im Herzen trug.

Nach Giuseppes Beisetzung auf dem Cementerio General sank María erschöpft in ihren Ohrensessel im Salon der Amato-Villa, und Teresa setzte sich zu ihr. Sergio war mit seiner Frau nach Hause gefahren, sie wohnten nicht auf dem Familienanwesen. Gabriela schlich in den Raum und stellte schweigend jedem eine Tasse Tee auf den Couchtisch. Dann verschwand sie wieder genauso leise, wie sie gekommen war.

»Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich deinen Vater kennenlernte«, sagte María auf einmal in die drückende Stille hinein.

Teresa blickte auf und sah ihre Mutter an.

»Es war an einem Sonntag«, wisperte sie und verlor sich einen Moment in ihren Gedanken. »Ich hatte mich extra hübsch gemacht für die Kirche. Nach dem Gottesdienst wollte ich mit meinen Schwestern zum Essen ausgehen. In einem Restaurant an der Plaza de Armas.«

Teresa folgte den Ausführungen ihrer Mutter aufmerksam und reiste gedanklich zu dem großen Platz im Stadtzentrum von Santiago.

»Vor dem Essen spazierten wir über die plaza und waren dabei in ein heiteres Gespräch versunken.«

Teresa konnte sich bildlich vorstellen, wie ihre Mutter und ihre Tanten auf den geschwungenen Wegen flanierten, die durch die stilvoll angelegte Anlage des weitläufigen Platzes führten.

»Es war ein sonniger Sommertag im Januar«, fuhr María fort. »Aber es war nicht zu heiß, und unter den großen Palmen und Bäumen auf dem Platz war es angenehm schattig.«

Sie zog ihr schwarzes Dreiecktuch etwas enger um die Schultern, so als ob ihr bei dem Gedanken an schattenspendende Palmen kalt würde.

»Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhalten haben, aber plötzlich hörten wir eine tiefe Stimme, die uns aus unserer Unterhaltung riss. Sie rief meine Schwester Rosa, und wir drehten uns um.« Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Vor uns stand ein großer Mann, den uns Rosa als Eduardo vorstellte.«

»Eduardo«, warf Teresa ein, »der Eduardo?« Sie dachte an den langjährigen Freund ihres Vaters, den mit der Hemdenfabrik.

»Ja genau, der Eduardo.« Ihre Mutter nickte. »Er war ein Bekannter einer Freundin von Rosa. Ich konnte ihren komplizierten Ausführungen, woher sie ihn genau kannte, allerdings nicht folgen.«

»Wieso nicht?«, fragte Teresa leicht amüsiert, denn sie konnte sich alles lebhaft vorstellen.

»Weil ich plötzlich furchtbar Herzrasen bekommen habe und mir ganz heiß wurde.«

Teresa hob die Augenbrauen und sah ihre Mutter fragend an.

»Ich hatte Angst, man könnte mir meine Verlegenheit ansehen«, fuhr diese fort, »und wusste überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte.«

»Wegen Eduardo?«, hakte Teresa nach.

»Nein.« María lachte leise und schüttelte den Kopf, »wegen seines Begleiters.«

»Papá?«

»Ja, genau.«

Teresas Gesicht erhellte sich, und gespannt lauschte sie den weiteren Ausführungen ihrer Mutter.

»Er trug einen feinen Anzug und eine Fliege. Die Schuhe waren poliert, und er sah einfach hinreißend aus. Seine Statur, sein Körper, seine Ausstrahlung, alles.« María schloss einen Moment die Augen. An ihrem seligen Gesichtsausdruck konnte Teresa erahnen, dass sie genau dieses Bild in ihrem Geiste sah. »Ich konnte nicht anders, als ihn von oben bis unten zu mustern«, verriet María und schlug die Lider wieder auf. »Was mich in diesem Moment am meisten an ihm faszinierte, waren seine auffallend blauen Augen.«

»Ja, seine Augen waren besonders«, murmelte Teresa. María nickte zustimmend und nahm wieder den Faden auf. »Ich war mit einem Mal so nervös, dass ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte. Seine Erscheinung war so umwerfend, dass sie mich völlig aus der Fassung brachte.«

Teresa lächelte verschmitzt.

»Ich hatte mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich brachte kein Wort heraus und habe mir ständig an die Frisur gefasst, um zu überprüfen, dass alles noch an Ort und Stelle saß.« Gedankenverloren wanderte ihre Hand an ihren Kopf und tastete nach den Haaren, als erlebe sie die Situation aufs Neue.

»Sie unterhielten sich über irgendetwas, aber ich hatte solches Herzklopfen, dass ich nichts davon mitbekam«, fuhr sie versonnen fort. »Irgendwann erklärten sie mir dann, dass Eduardo und Giuseppe uns zum Essen begleiten würden.« Sie lachte und schüttelte, wie in eine andere Welt versunken, leicht den Kopf. »Ich saß in dem Restaurant und bekam keinen Bissen herunter. Mir war übel. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch.« Sie sah Teresa mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich hatte mich Hals über Kopf verliebt!«

Sie beugte sich nach vorn und nahm die Tasse in die Hand.

»Ich war fasziniert von dem italienischen Akzent deines Vaters. Damals war er noch stärker ausgeprägt. Für mich war das etwas unglaublich Exotisches. Er sprach so klangvoll.« Sie nahm einen Schluck von dem heißen Tee und sah Teresa wieder an.

»Er hatte natürlich bemerkt, dass ich ihn ununterbrochen anstarrte und gebannt an seinen Lippen hing. Später hat er mir erzählt, dass er bei diesem Essen genauso nervös war wie ich und nur mit Mühe überhaupt etwas heruntergebracht hatte.«

Ein Lächeln erhellte Teresas trauriges Gesicht, während sie den Erzählungen ihrer Mutter lauschte.

»Es war Liebe auf den ersten Blick«, schloss María. »Wir waren einfach füreinander geschaffen.« Sie hatte Mühe, den letzten Satz auszusprechen, ohne wieder in Tränen auszubrechen.

Teresa nickte verständnisvoll und dachte an die vielen Momente zurück, in denen sie ihre Eltern als Paar erlebt hatte. Sie schienen wirklich glücklich gewesen zu sein, und ihre Ehe hatte bis zum Ende gehalten. Teresa selbst wünschte sich auch so ein Glück. Ihre erste Ehe war nach kürzester Zeit katastrophal gescheitert. Seitdem war sie die alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Ob sie damit jemals wieder einen Mann finden würde, der sie liebte und mit dem sie alt werden konnte, wie ihre Eltern, wusste sie nicht. Sie atmete tief durch und riss sich zusammen, damit die Tränen sie nicht wieder überkamen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich um ihre Zukunft zu sorgen.

»Ich möchte dir etwas geben, hija«, sagte María und riss sie aus ihren Gedanken.

Erstaunt sah Teresa ihre Mutter an, die sich aus ihrem Sessel erhob.

»Komm mit«, forderte sie sie auf.

Sie gingen durch den Flur in Giuseppes Arbeitszimmer, das er sich in der Villa eingerichtet hatte. Er hatte es kaum benutzt, weil er die meiste Zeit in seinem Büro in der Fabrik verbracht hatte. María ging auf den Schreibtisch zu, öffnete eine Schublade und zog drei in Leder eingebundene Notizbücher heraus.

»Was ist das?«, fragte Teresa. Sie hatte diese Bücher noch nie zuvor gesehen.

»Er hat dir das Versprechen abgenommen«, begann María und schaute sie ernst an, »dass du dafür sorgst, dass die Fabrik weiterläuft.«

Teresa nickte.

»In diesen Tagebüchern steht, wie wichtig ihm die Fabrik war und wie viel Kraft es ihn gekostet hat, sie aufzubauen.«

Teresa war erstaunt. Sie wusste nicht, dass ihr Vater sein Leben schriftlich festgehalten hatte.

»Nimm sie«, forderte María sie auf.

Ehrfürchtig trat Teresa näher und nahm das Vermächtnis ihres Vaters in Empfang. Ihre Hände zitterten, als sie das Leder umfassten. Ihr war bewusst, wie wertvoll die Bücher waren.

Kapitel 4

Santiago de Chile, Strumpffabrik Amato, September 1978

Als die Benommenheit der ersten Tage nach Giuseppes Tod vorüber war, setzte die nüchterne Realität wieder ein. Sie ließ deutlich werden, wie groß die Lücke war, die der Patrón hinterlassen hatte.

Laut Testament war die Fabrik und alles, was dazugehörte, an Teresas Bruder Sergio übergegangen. Mit der Verkündung dieser Tatsachen verschwand das letzte Fünkchen Hoffnung, das noch in Teresa gewohnt hatte. Es gab nun keinen Zweifel mehr, dass ihr Vater an seinen traditionellen Vorstellungen festgehalten hatte, obwohl er auf seinem Sterbebett Bedenken geäußert hatte. Teresa war sich nicht sicher, wie sie unter diesen Voraussetzungen den Fortbestand der Firma sichern sollte.

Mit zugeschnürter Kehle fand sie jeden Tag den Weg in das alte Büro ihres Vaters und erkundigte sich nach dem neusten Stand der Dinge. Oft saß ihr Bruder apathisch hinter dem großen Holzschreibtisch, rauchte Zigarren und kippte flaschenweise Pisco in sich hinein. Er verließ den Raum nicht, und so unternahm er auch keine Rundgänge durch den Betrieb, um sich vom ordnungsgemäßen Ablauf zu überzeugen, wie es sein Vater zu tun pflegte. Er sprach nicht mit den Arbeiterinnen und drehte nur selten seinen Kopf zur Seite, um einen Blick durch die große Scheibe in die Fabrikationshalle zu werfen.

Eines Tages kam Juan, Giuseppes alter Assistent, auf sie zu. »Doña Teresa.« Seit Sergio der neue Patrón war, stand er ihm zur Seite, doch das schien schwieriger zu sein, als erwartet. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten oder schlecht über Ihren Bruder reden, aber«, er hielt inne und beugte sich etwas nach vorn, um flüsternd fortzufahren, »das kann so nicht weitergehen.«

»Wieso nicht?«, wisperte Teresa zurück.

Juan sah sich besorgt um, als wolle er sich vergewissern, dass der junge Patrón nicht hinter ihm lauerte und mithörte. »Don Sergio ist etwas, wie soll ich sagen …« Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, bevor er das Wort fand, das er suchte. »… zurückhaltend.«

Teresa runzelte die Stirn.

»Wissen Sie, er rührt keinen Finger.« Juan hob die Hände in die Höhe und ließ sie hilflos wieder fallen. »Aber die Fabrik läuft nicht von allein. Sie braucht jemanden, der nach dem Rechten sieht, die Abläufe organisiert, rechtzeitig Bestellungen bei den Lieferanten aufgibt und vor allem auch die Rechnungen bezahlt.« Er atmete tief durch und fasste sich mit zitternder Hand an die Stirn.

Teresa nickte. Sie hatte Juan verstanden. Ihr war selbst bewusst, dass ihr Bruder nichts tat. Er ließ die Fabrik den Bach hinuntergehen. Alle Versuche, mit Sergio darüber zu sprechen, waren bisher gescheitert. Sie betete, dass diese Phase, in der er steckte, vorübergehend war, dass es seine Form war, zu trauern. Aber er durfte die Geschäfte nach dem Tod ihres Vaters nicht so schleifen lassen!

Bald erwachte Sergio jedoch aus seiner Lähmung, und es kam Bewegung in die Fabrik. Zunächst konnte Teresa die neue Motivation ihres Bruders nicht einordnen. Sie hoffte das Beste, konnte sich aber nicht sicher sein, dass er endlich das Ruder übernehmen und die Strumpffabrik der Amatos in eine rosige Zukunft steuern würde. Denn für sie hatte sich nach dem Inhaberwechsel nicht viel geändert. Nach wie vor versuchte der Patrón, sie von den Geschäften fernzuhalten und enthielt ihr die wichtigen Zahlen und Fakten vor.

Dann aber weihte Sergio sie in seine Pläne ein. Dazu hatte er sich extra die Zeit genommen, zum Abendessen in der Amato-Villa zu erscheinen. So war auch María anwesend und konnte mit eigenen Ohren hören, was ihr Sohn zu sagen hatte.

»Ich werde die Fabrik verkaufen«, verkündete er.

Teresa verschluckte sich fast an dem Stück Brot, das sie aß, und ihre Mutter wurde schlagartig so blass, dass sie befürchtete, sie würde jeden Augenblick ohnmächtig vom Stuhl sinken.

»Wie bitte?«, fragte Teresa, als sie wieder Luft holen konnte.

»Ich werde die Fabrik verkaufen«, wiederholte Sergio tonlos.

»Das kannst du nicht machen«, sagte Teresa heiser. Ihr Mund war auf einmal ganz trocken, und sie hatte Schwierigkeiten, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. Fahrig griff sie nach ihrem Glas und kippte einen großen Schluck Wasser hinunter.

»Es ist der einzige Weg, schuldenfrei aus dieser Situation zu kommen«, erwiderte Sergio.

»Was für eine Situation?«, entfuhr es Teresa schrill.

»Die Zahlen sind im Keller. Die Fabrik läuft schlecht.«

»Dein Vater hatte schon oft mit finanziell schwierigen Zeiten zu kämpfen«, schaltete sich María ein, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte. »Er hat immer eine Lösung gefunden und dafür gesorgt, dass das Unternehmen wieder schwarze Zahlen schreibt.«

»Diesmal ist es anders.«

»Wieso?«, fragte Teresa verzweifelt. Sie wollte nicht wahrhaben, was für Absichten ihr Bruder hatte.

»Diesmal ist Papá nicht mehr da, um die Fabrik zu retten«, erklärte Sergio.

»Dafür gibt es jetzt ja dich! Es ist deine Aufgabe!« Teresa versuchte ihn, aus seiner Gleichgültigkeit zu reißen.

»Und wir helfen dir«, beteuerte María. »Wir schaffen das gemeinsam.«

»Nein«, sagte Sergio bestimmt.

»Dein Vater hätte das nicht gewollt.« María hatte das Besteck niedergelegt und ließ die Hände kraftlos auf der feinen Tischdecke ruhen. Ihr Gesicht spiegelte Entsetzen wider, genauso wie ihre Stimme, die schwach und zerbrechlich klang.

Teresa erkannte, dass ihrer Mutter gerade das Herz gebrochen wurde, und versuchte noch einmal, ihren Bruder umzustimmen: »Er hat mir auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, dass wir alles für die Fabrik tun.« Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Dass wir alles dafür tun, dass sie weiterläuft. Wir können ihn nicht so hintergehen.«

»Er ist tot«, murmelte Sergio.

»Es war sein letzter Wille!« Teresa konnte sich nicht mehr zusammenreißen, und die Worte peitschten über den Esstisch in Sergios Gesicht.

»Ich habe meine Entscheidung getroffen«, erwiderte er und sah Teresa in die Augen. »Ich werde die Fabrik verkaufen und die Arbeiter auszahlen.«

»Und dann?«, fragte sie scharf.

»Dann wird nicht mehr viel übrig sein. Das, was noch bleibt, werde ich gleichmäßig auf alle verteilen. Auf euch, Amelia und mich.«

»Wenn du dein Erbe schon teilen willst, dann teile es jetzt. Jetzt, wo die Fabrik noch da ist!«, konterte Teresa. »Gib uns eine Teilhaberschaft und die Chance, das Ruder rumzureißen.«

»Das geht nicht«, sagte Sergio hartnäckig.

»Wieso nicht?«

»Weil sie untergeht!«, platze es aus ihm heraus. »Und ich nicht mein Leben opfern möchte, um sie zu retten.«

»Dann übertrag sie mir eben komplett!«, erwiderte Teresa ungehalten. »Ich werde mich aufopfern, um sie zu retten.«

»Nein.«

»Wieso nicht?« Sie wäre ihrem Bruder am liebsten an die Kehle gegangen, hätte ihn geschüttelt, bis er zur Besinnung gekommen wäre.

»Es ist mein Erbe, ich habe entschieden, das Unternehmen zu verkaufen.«

»Alles?«, fragte María fast unhörbar.

Er nickte.

»Alles?«, hakte Teresa nach. »Auch das Haus?«

Er nickte wieder.

»Das kannst du nicht machen!« Sie sprang auf. So energisch, dass sie beinahe die Tischdecke mitriss. Das Wasser schwappte aus den Gläsern, und das restliche Geschirr klirrte aufgebracht.

»Hija«, versuchte María, sie zu besänftigen, »setz dich wieder.«

»Es ist der einzige Weg, um nicht in Armut zu versinken und in Schulden zu ersticken«, erklärte Sergio ein weiteres Mal.

Teresa war schlecht. Ihrer Mutter zuliebe setzte sie sich wieder und versuchte, sich zusammenzureißen. Ihr war der Appetit vergangen. Die Köstlichkeiten, die Gabriela aufgetragen hatte, blieben unangetastet auf dem Tisch stehen, und das Essen auf ihrem Teller wurde kalt.

»Deine Frau hat unglaublich viel Geld«, ergriff sie mit bebender Stimme wieder das Wort. »Du wirst nicht in Armut versinken, selbst, wenn du die Fabrik nicht verkaufst.«

»Es geht nicht nur um mich. Es geht auch um euch.«

»Und wir möchten sie behalten«, beharrte Teresa.

Er schüttelte den Kopf. »Glaubt mir, es ist besser so. Die Firma ist schon zu Papás Lebzeiten nicht mehr gut gelaufen. Sie zu verkaufen, ist die vernünftigste Entscheidung.«

Teresa presste die Lippen aufeinander. Für sie war es nicht die vernünftigste Entscheidung. Für sie war es die falsche. Die entsetzlichste, die jemand treffen konnte.

»Ich möchte nicht weiter darüber sprechen«, sagte Sergio. »Ich habe mich entschieden.«

Kapitel 5

Santiago de Chile, Villa der Amatos, September 1978

Mit zitternden Händen blätterte Teresa in einem der Tagebücher ihres Vaters. Sie versuchte Antworten darin zu finden, Hinweise, Nachrichten, die an sie gerichtet waren, Anweisungen, was zu tun wäre in einem Fall wie diesem. In dem Fall, dass das Familienunternehmen in Gefahr war.

Seit ihre Mutter ihr die Bücher übergeben hatte, hatte sie eifrig darin gelesen. Es fiel ihr nicht leicht, denn sie waren auf Italienisch verfasst, sie beherrschte die Sprache, aber nicht so sicher, wie ihre Muttersprache Spanisch. Sie hatte vieles über ihren Vater erfahren, was sie vorher nicht gewusst hatte. Er hatte den Kindern nicht im Detail von seiner Vergangenheit erzählt. Nur, dass er sein Heimatland Italien aufgrund des Faschismus hatte verlassen müssen und in verschiedenen Ländern sein Glück versucht hatte, bevor er in Chile endlich mit seiner eigenen Strumpffabrik erfolgreich geworden war. Ein Unternehmen in der Modeindustrie zu gründen, war schon immer sein Traum gewesen. Stoffe hatten es ihm angetan, deshalb sollte es eine Textilfabrik werden. Die Details dieses ereignisreichen Lebenswegs erfuhr Teresa aber erst durch seine Notizen in den Tagebüchern.

Überrascht hatte sie die Tatsache, dass ihr Vater selbst aus einer Fabrikantenfamilie stammte. Teresas Großeltern waren Besitzer einer Nadelfabrik vor den Toren Mailands gewesen. Dort hatten sie die spitzen Instrumente hergestellt, die Schneider zum Nähen verwendeten. Teresa hatte ihre Vorfahren nie kennengelernt, denn ihr Vater Giuseppe kehrte nach seiner Auswanderung nie wieder nach Italien zurück und somit auch nicht seine Kinder. Sie kannte ihre Großeltern nur von Fotos.

Aus den Tagebüchern konnte Teresa entnehmen, dass sie Giuseppe finanziell unterstützt hatten. Sie waren es gewesen, die ihm das nötige Startkapital gegeben hatten, um die Fabrik zu gründen, und ihm mehrmals größere Summen hatten zukommen lassen. Teresas Vater hatte nämlich einige Anläufe gebraucht, bevor er sich den Traum einer funktionierenden Fabrik erfüllen konnte. Zuvor war er des Öfteren gescheitert.

Fieberhaft blätterte sie in dem kleinen Buch nach vorn, um mehr über ihre Großeltern zu erfahren. Sie hoffte, dass sie ihren Reichtum an Nachkommen vererbt hatten. Teresa musste in Italien Cousins haben, denn ihr Vater hatte einen Bruder gehabt. Vielleicht konnten sie helfen, die Fabrik der Amatos zu retten. Die Fabrik, die auch ihren Namen trug.

Aber Teresa wurde schnell enttäuscht. Mit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem las sie, dass der Zweite Weltkrieg alles zerstört hatte. Von der Nadelfabrik war am Ende nichts mehr übrig und der Reichtum rasch aufgebraucht gewesen. Giuseppe hatte seinen Eltern bis an deren Lebensende Geld über den Atlantik schicken müssen, damit sie in Würde alt werden konnten.

Mit einem resignierten Seufzer klappte Teresa das Büchlein zu. Hierin fand sich keine Lösung. Ihr lief die Zeit davon, denn Sergio hatte eine ungeahnte Leidenschaft entwickelt, mit der er die Vorbereitungen für den Verkauf der Fabrik traf. Hätte er sich mit der gleichen Hingabe in die Rettung des Unternehmens gekniet, wäre es den Amatos sicher möglich gewesen, das Unheil abzuwenden. Aber ihr Bruder war nicht von seinem Kurs abzubringen.

Teresa atmete tief durch und biss ich auf die Unterlippe. Sie fühlte sich so allein wie noch nie. Amelia war weit weg, auf der anderen Seite der Erde. Wäre sie hier, hätte sie sicher geholfen. Gemeinsam wäre es den Schwestern vielleicht gelungen, ihren Bruder umzustimmen. Auch ihre Mutter war keine Hilfe. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Seit dem Tod Giuseppes war die Lebensfreude aus María gewichen. Ihre Trauer war tief, und sie konnte sich kaum dazu aufraffen, irgendeiner Beschäftigung nachzugehen. Nicht einmal das Kochen mit Gabriela holte sie aus ihrer endlosen Traurigkeit. Das Haus verließ sie nur noch selten. Selbst die ausgedehnten Einkaufstouren, die sie früher so gern in ihrem Cabrio unternommen hatte, lockten sie nicht nach draußen.

»Wozu soll ich mir jetzt noch schöne Kleider kaufen?«, fragte sie. »Für wen soll ich mich noch hübsch anziehen? Jetzt, wo Giuseppe nicht mehr da ist …«

Teresa versetzte es einen Stich ins Herz, wenn sie das hörte. Auch die Antriebslosigkeit ihrer Mutter belastete sie sehr. Es war fast wie damals nach dem Putsch, als María tagelang apathisch in ihrem Ohrensessel gesessen hatte, bevor sie die neue Realität akzeptieren und ihr Leben weiterleben konnte. Nur diesmal war es viel schlimmer, denn es war kein Putsch. Es war der Verlust ihres treuen Gefährten, ihres Seelenverwandten, der sie so viele Jahre in ihrem Leben begleitet hatte.

Sergios Entschluss, das gesamte Anwesen der Amatos, mitsamt der Fabrik und der Villa, zu verkaufen, verschärfte die Situation zusätzlich. Zu der Trauer um Giuseppe kamen nun auch Zukunftsängste hinzu. Teresa und María würden wegziehen müssen. Die Villa, die so lange ihr Zuhause und ein sicheres Heim für alle Amatos gewesen war, würde veräußert werden.

Teresa war in diesem Haus aufgewachsen und ihre eigenen Kinder ebenfalls. Joaquín und Felipe liebten es, in die große Küche zu schleichen und sich dort von Gabriela mit Keksen verwöhnen zu lassen. Sie tobten durch die langen Flure und turnten auf der Veranda herum. Der große Hof mit der Fabrik und dem dahinterliegenden Garten mit den Zitronenbäumen und den Hühnern waren ihre Welt. Es war ihr Reich, in dem sie spielen konnten und sicher vor den gefährlichen Einflüssen waren, die sie jenseits der Tore des Amato-Anwesens auf den Straßen Santiagos in ihren Bann ziehen konnten.

Teresas Magen zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie an die Zukunft dachte. Es war die Ungewissheit, die ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Der Gedanke an Veränderung jagte ihr Angst ein. Veränderung war immer eine Herausforderung, etwas, auf das die Menschen gern verzichten konnten. Sie waren Gewohnheitstiere. Teresa würde sich ihr aber stellen müssen, denn es schien kein Weg daran vorbeizuführen. Sie hoffte nur, bald Nachricht von ihrer Schwester Amelia zu erhalten. Ihre Meinung war ihr wichtig, ihre Einschätzung der Lage. Und vielleicht wusste sie sogar eine Lösung.

Kapitel 6

Stockholm, Oktober 1978

Die Nachricht vom Tod ihres Vaters traf Amelia hart. Auch der bevorstehende Verkauf der Fabrik und der Familienvilla war ein Schock. Sie hatte die Briefe, in denen ihr die Schreckensbotschaften übermittelt worden waren, mehrmals durchlesen müssen, um zu begreifen, was in Santiago vor sich ging. Die Ereignisse dort schienen sich regelrecht zu überschlagen. Nur war es diesmal keine politische Tragödie, die sich in ihrer Heimat abspielte, sondern eine familiäre.

Selbst nach dem sechsten Durchlesen fiel es ihr schwer, zu fassen, dass nichts mehr so war wie einst. Ihr Vater war gestorben, und sie hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Sie hatte ihn das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen, als sie die elterliche Villa verlassen hatte, um sich vor der Militärjunta zu verstecken. Sie konnte nicht glauben, dass er nicht mehr da war und dass sie ihn nie wiedersehen würde, niemals mehr in die Arme schließen und nie wieder seinen weisen Worten lauschen konnte.

Eine Träne kullerte über ihre Wange und fand den Weg auf das feine Briefpapier, das Teresa benutzt hatte, um die traurige Nachricht niederzuschreiben. Amelia trocknete das Blatt mit ihrem Blusenärmel und sah auf. Sie blinzelte, damit nicht weitere Tränen darauf tropften. Mit verschwommenem Blick tastete sie nach einem Taschentuch und presste es sich auf die Augen, als sie ein regelrechter Weinkrampf überfiel. Amelia stand auf und ging zum Fenster.

Draußen färbten sich die Blätter und rieselten leise zu Boden. Der Herbst war über Schweden hereingebrochen. Sie dachte an Chile, wo der Sommer vor der Tür stand. In ihren Gedanken spazierte sie durch den Garten ihres elterlichen Anwesens, verweilte unter den Zitronenbäumen, flanierte an den Weinranken entlang, die die Mauer hinaufkletterten, und betrat die Veranda der Villa, wo sie sich die wärmende Sonne ins Gesicht scheinen ließ. Sie atmete tief durch und trocknete sich erneut die Tränen. Es durfte nicht wahr sein, dass ihr Bruder Sergio nach dem Tod ihres Vaters einfach alles verkaufen wollte.

Ihrer Traurigkeit wich Zorn. Energisch wandte sie sich vom Fenster ab und ging zurück zu den Briefen, die sie auf dem Tisch hatte liegen lassen. Sie setzte sich wieder und nahm den zweiten Umschlag an sich, den Teresa ihr geschickt hatte. Mit fahrigen Handbewegungen zog sie die beschriebenen Blätter heraus und überflog mit schüttelndem Kopf noch einmal die dramatischen Schilderungen ihrer Schwester.

Mit jedem Wort, das sie las, wuchs ihr Unverständnis für Sergio. Und je länger sie alles auf sich wirken ließ, desto stärker drängte sich ihr der Verdacht auf, dass ihr Bruder nie die Absicht gehabt hatte, die Fabrik weiterzuführen. Insgeheim hatte er sie schon immer loswerden wollen. Das war der Plan gewesen. Er hatte nur auf Giuseppes Tod gewartet, um freie Hand zu haben.

Mit einem Schnauben warf Amelia den Brief auf die Tischplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. Nachdenklich presste sie die Lippen aufeinander. Wie gern wäre sie in Chile gewesen, um ihrer Schwester und ihrer Mutter zu helfen. Gemeinsam hätten sie sich gegen ihren Bruder auflehnen und sein furchtbares Vorhaben abwenden können. Aber sie war nicht in Chile, und sie konnte auch nicht dorthin zurück, denn sie war im Exil. Sobald sie einen Fuß auf chilenischen Boden setzte, würde man sie verhaften und möglicherweise umbringen. Sie konnte nicht helfen, zumindest nicht vor Ort. Aber sie musste etwas tun, und so legte sie einen Briefbogen vor sich auf den Tisch und nahm einen Stift in die Hand.

Liebe Teresa,

vielen Dank für Deine Briefe. Die Nachrichten aus der Heimat haben mich in tiefe Trauer gestürzt. Es bricht mir fast das Herz, dass ich nicht bei der Beerdigung unseres Vaters sein konnte. Und die Entscheidung unseres Bruders, die Fabrik zu verkaufen, gibt mir fast den Rest.

Es tut mir so leid, dass ich nicht bei Dir und Mamá sein kann, um diese schwere Zeit gemeinsam mit Euch durchzustehen. Ich fühle mich so hilflos. Ich habe von hier aus keinerlei Einfluss auf Sergio und kann auch sonst nichts tun, um den Verkauf zu verhindern.

Sie hielt mit dem Schreiben inne und blickte auf. Ihre Augen hatten sich erneut mit Tränen gefüllt. Sie wollte auf keinen Fall, dass sie unkontrolliert auf den Brief fielen und dort Zeichen ihrer Wut und Traurigkeit hinterließen. Sie blinzelte und tupfte sich ihre feuchten Seelenfenster trocken. Dann atmete sie tief durch und schrieb tapfer weiter.